Seit dem Jahre 1893, als Cavalleria rusticana und Pagliacci oft an einem Abend aufgeführt wurden, wurde es üblich, beide Einakter fast als eine einzige Oper zu betrachten — in Amerika wie eine Handelsfirma kurz »Cav and Pag« genannt. Und die Komponisten Mascagni und Leoncavallo galten als siamesische Zwillinge. De facto aber sind es zwei Opern grundverschiedenen Charakters und zwei ihrem Wesen nach grundverschiedene Komponisten, über die man nördlich der Alpen viele falsche Berichte liest. Cavalleria rusticana – die erste Oper des Verismo? Das stimmt nur sehr bedingt. Wenn man nämlich unter »Verismo« den Naturalismus auf der Opernbühne, die Blut- und Dolch-Stories unter einfachen Leuten, der sogenannten »Menschen wie du und ich« als Gegensatz zu den herkömmlichen Opernhelden versteht, dann sind Cavalleria und Pagliacci die einzigen Erfolgsopern des Verismo, denn auf die anderen Meisterwerke dieser Stilrichtung — etwa Andrea Chénier von Giordano, Adriana Lecouvreur von Cilèa, Francesca da Rimini von Zandonai — trifft diese Beschreibung überhaupt nicht zu. In Wirklichkeit beruht der fast ein Jahrhundert dauernde Welterfolg der Oper Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni darauf, dass darin das wirklich »veristische« Volksstück gleichen Namens des sizilianischen Volksdichters Giovanni Verga vom Verismo zum großen Teil befreit wurde. Die Oper umwebt die veristischen Szenen mit irreale Geheimnissen — die (in den ersten Inszenierungen immer unsichbare) »Siciliana« des Turiddu, der Mord hinter der Szene, die langen oratorienhaften Chöre und der wahrlich unveristische Geniestreich des orchestralen Intermezzos bei offenem Vorhang. Nur mit Mühe haben verständnisvolle Freunde den Komponisten davon abgehalten, die Oper als Pendant zur »Siciliana« sogar mit einem Requiem für den ermordeten Turiddu bei geschlossenem Vorhang enden zu lassen. Vielleicht sogar hasste Mascagni den Verismo zu sehr, so dass er deshalb den Erfolg der Cavalleria nicht wiederholen konnte. Es ist aber völlig falsch, ihn als den »Komponisten nur einer Oper« zu bezeichnen. Fast alle anderen Opern von Mascagni sind voll von herrlicher Musik, nach Meinung vieler Mascagni-Fans sogar Cavalleria übertreffend – das herrliche Kirschenduett aus L’amico Fritz (1891) steht aber in einer weniger kongenialen ländlichen Idylle, die grandiose Hymne an die Sonne aus Iris (1898) ist Eröffnung und Ende eines Werkes von nicht leicht zu verstehendem symbolischem Charakter, die geistvolle Ouvertüre zu Le Maschere (1901) leitet eine Commediadell’arte-Oper ein, in der die leidenschaftliche Triole der Mascagni-Musik fehl am Platze ist. Puccini wusste, welche Stoffe seiner Begabung lagen, Mascagi nicht. Puccini hätte sich nie, wie Mascagni, auf das Abenteuer eines Opernbuches von Gabriele d’Annunzio eingelassen, für den vielleicht Richard Strauss der richtige Komponist gewesen wäre. Viele der anderen Opern Mascagnis waren sehr erfolgreich und werden auch heute noch gespielt. Am 13. April 1985 hatte ich die Ehre, das MascagniMuseum in der Heimatstadt des Komponisten, Livorno, mit einer Festrede 35
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