Wystan Hugh Auden
ILLUSION UND REALITÄT Anmerkungen zu Pagliacci
Wenn schon das Ineinanderspiel von Ritus und persönlicher Handlung, die- Johan Botha als ses Geheimnis von Cavalleria rusticana, nicht gerade das spezifische Anliegen Canio, 1999 → der Verismo-Schule ist, so hat das Libretto von Pagliacci ein noch geringeres naturalistisches Interesse, denn das Thema hier ist die psychologische Vexierfrage: »Wer bin ich eigentlich? Wer bist du eigentlich?« Sie wird durch drei Widersprüche dargetan. Erstens durch den Widerspruch zwischen dem Künstler, der aus reinen Freuden und Leiden sein Werk schafft, und seinem Publikum, das sich an diesem Werk ergötzt, das die imaginären Freuden und Leiden, welche wahrscheinlich von denen seines Schöpfers sehr verschieden sind, genießt. Zweitens durch den Widerspruch zwischen den Schauspielern, welche die Gefühlsregungen zumindest imaginativ empfinden. Und schließlich durch den Widerspruch zwischen den Schauspielern als Berufsschauspieler, die imaginäre Gefühle darstellen müssen, und den Schauspielern als Männer und Frauen, die ihre eigenen realen Empfindungen haben. Wir sind alle Schauspieler, wir müssen sehr oft die wahren Gefühle, die wir füreinander hegen, verbergen, und uns selbst überlassen, werden wir beständig das Opfer von Selbsttäuschungen. Wie sind nie dessen sicher, was im Herzen anderer vorgehen mag, wiewohl wir gewöhnlich unsere Kenntnis dieser Vorgänge überschätzen — doch das Entsetzen über die Aufdeckung einer Treulosigkeit und die Martern der Eifersucht entspringen dieser Ahnungslosigkeit. Andererseits sind wir überzeugt, dass niemand uns so sieht, wie wir wirklich sind. Im Prolog spricht Tonio von der Rollenbesetzung und erinnert die Zuschauer daran, dass Künstler und Schauspieler Menschen sind. Wenn wir zum Spiel im Spiel gelangen, kommen alle Widersprüche gleichzeitig zur Auswirkung. Nedda ist halb Schauspielerin, halb Frau, denn sie drückt ihre W YSTA N H UGH AU DEN
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