Tina Modotti. Fotografien einer Revolutionärin

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TINA MODOTTI FOTOR A FIEN einer Revolutionärin

2012 • Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund



Manifest über Fotografie

Im Dezember 1929 wurde Tina Modottis erste und einzige Einzelausstellung in Mexiko eröffnet. An die Besucher der Ausstellung ließ sie ein »Manifest über Fotografie« verteilen, ihre einzige öffentliche Äußerung über ihre Kunst.

»Ich betrachte mich als Fotografin, mehr nicht, und wenn sich meine Fotografien von dem unterscheiden, was allgemein auf diesem Gebiet gemacht wird, so deshalb, weil ich eben gerade versuche, nicht Kunst zu produzieren, sondern ehrliche Fotografien, ohne Tricks oder Manipulationen, während die Mehrheit der Fotografen noch immer nach künstlerischen Effekten oder nach der Imitation anderer bildnerischer Darstellungsweisen sucht, woraus ein zwitterähnliches

Produkt entsteht. Es geht auch nicht darum, ob die Fotografie Kunst ist oder nicht; worum es geht, ist zwischen guter und schlechter Fotografie zu unterscheiden. Unter guter muss man jene verstehen, die alle der fotografischen Technik innewohnenden Grenzen akzeptiert und alle Möglichkeiten und Mittel nutzt, die das Medium bietet ( … ) Allein deshalb, weil sie nur in der Gegenwart und auf der Grundlage dessen, was objektiv vor der Kamera existiert, hergestellt werden

kann, ist die Fotografie das befriedigendste Mittel, um das objektive Leben in allen seinen Erscheinungsformen zu registrieren, daher ihr dokumentarischer Wert. Und wenn dazu noch Sensibilität und Sachkenntnis kommen und vor allem eine klare Orientierung hinsichtlich ihrer Stellung innerhalb der historischen Entwicklung, dann ist das Ergebnis, wie ich glaube, würdig, einen Platz in der gesellschaftlichen Produktion einzunehmen, zu der wir alle einen Beitrag zu leisten haben.«

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Tina Modotti | San Franciso, ca. 1919

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Fläche und Struktur Tina Modottis architektonische Detailstudien und Aufnahmen von Objekten entstanden zunächst aus der Anlehnung an Edward Weston, durch den sie das fotografische Handwerk erlernt hatte. Schon früh zeigten sich aber auch eigenständige Ansätze in der Gestaltung und bei den Inhalten der Bilder. Interessant ist der Vergleich von zwei Fotografien, die mit Westons Graflex 1924 im Gran Circo Ruso gemacht wurden und von denen die eine von Tina Modotti stammt ( S.  6 ). In beiden Aufnahmen dominieren die grafischen Strukturen des Zeltes. Im Gegensatz zur reinen Abstraktion bei Weston wurden bei Modotti vier Zuschauer ins Bild integriert.

Aber auch sie hat Bilder geschaffen, bei denen es nur um die Formen und Strukturen der Dinge geht, um Schattierungen und Licht. Dazu gehören die »Weingläser«, die »Telefonleitungen« und die Bilder, die sie 1927 beim Bau des Stadions in Mexiko-Stadt machte. Bei dem Foto vom Inneren des Stadions ( S. 8 ) fällt eine gewisse Nähe zu einem Bild auf, das Imogen Cunningham um 1920 vom Amphitheater im Mills College gemacht hatte und das ebenfalls steinerne Sitzreihen zeigt. 1927 entstand auch der »Tank Nr. 1« ( S. 12 ) – ein Bild das Fläche und Struktur formal vollendet nutzt, um letztendlich den Menschen bei der Arbeit zu zeigen – ein Thema, das in dieser Zeit in den Vordergrund rückte.

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Zirkuszelt ( Großer Russischer Zirkus ) | Mexiko, 1924

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Experiment mit ähnlichen Formen ( Weingläser ) | Mexiko, 1925

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Treppen | Mexiko-Stadt, ca. 1924

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Stadion | Mexiko-Stadt, 1927


Im Kloster von Tepoztlรกn | Mexiko 1924

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Ger端stbau im Stadion | Mexiko-Stadt, 1927

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Telefonleitungen | Mexiko, 1925

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Tank Nr. 1 | Mexiko, 1927

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Blumen und Pflanzen Bei Tina Modottis Pflanzenfotos handelt es sich um Bilder, die im Freien gemacht wurden und nach grafischen Gesichtspunkten angelegt sind. Licht und Schatten spielen dabei eine bedeutende Rolle – insbesondere bei »Mais« und »Zuckerrohr« ( S.  16 ), dem letzten und stärksten dieser Bilder. Über die symbolische Bedeutung von Modottis Foto »Rosen« ( S. 14 ) ist viel geschrieben worden. Die einen spricht in erster Linie die weiße geballte Reinheit an. Andere spüren einer mysteriösen erotischen Substanz des Bildes nach. Tatsächlich thematisieren die Rosen auch die Vergänglichkeit des Schönen, die sich in den oberen Blättern der unteren Blüte bereits andeutet.

Blumen waren in den zwanziger Jahren ein sehr beliebtes Motiv. Imogen Cunningham fotografierte 1925 CallaBlüten in ihrem Studio – ebenso Tina Modottis Freund Johan Hagemeyer. Westons Gefährtin Margarethe Mather hatte sich schon um 1920 mit dem Thema befasst – auch bei ihr gehörten »Calla Lilies«, wie man sie in den USA nennt, zum Repertoire. Von der Aufnahme der einzelnen Calla-Blüte ( S.  14 ) hat Modotti nur wenige Abzüge gemacht. Einen davon schenkte sie der sowjetischen Botschafterin Alexandra Kollontai zum Abschied. Das Foto der Kaktusblüte ( Flor de manita oder El manito, S. 15 ) lässt sich als Metapher interpretieren. Das Bedrohliche ist eindeutig und man mag es als eine Widerspiegelung von Tina Modottis Situation im Frühjahr 1925 sehen.

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Calla | Mexiko-Stadt, 1925

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Rosen | Mexiko-Stadt, 1924


Flor de Manita ( Kaktusblüte ) | Mexiko-Stadt, 1925

Lilie mit Spross | Mexiko-Stadt, 1925

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Zuckerrohr | Mexiko, 1929

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Frauenporträts Die meisten Porträts von Frauen entstanden ab 1925, nachdem Weston Mexiko verlassen hatte. Die erste Kundin war die Schauspielerin Dolores del Rio ( S. 20 ). Einige der porträtierten Frauen aus dieser Zeit waren gute Freundinnen – wie etwa Riveras Schwägerin María Marín de Orozco ( S.  20 ) und María Orozco Romero ( S.  21 ). All diese Aufnahmen waren typisch für Modottis Studioarbeit, bei der die Porträtierten bei seitlichem Lichteinfall meist dicht vor dem Hintergrund plaziert wurden. Die Kamera ist leicht nach oben gerichtet und zeichnet häufig ein Bild mit geringen Kontrasten und reduzierter Schärfe. Durch das Weichzeichnen in der Porträtfotografie wurde das Retuschieren meist überflüssig und eine gewisse Idealisierung erzeugt, die den Vorstellungen des Publikums entgegenkam.

Diese Rücksichten musste Modotti bei ihren Aufnahmen im Freien, bei denen kommerzielle Motive keine Rolle spielten, nicht nehmen. So sind diese Bilder – etwa die Aufnahme ihrer knienden Hausangestellten Elisa Ortiz ( S. 19 ) – ganz ohne den Hauch romantischer Verklärung festgehalten, in einer Präzision, die selbst noch die Details des Hintergrundes offenbart. Die genaue Zahl der heute bekannten Porträts, die Tina Modotti in Mexiko gemacht hat, ist wahrscheinlich nicht sehr groß, in den Jahren 1923 bis 1929 waren es etwa 100 Aufnahmen. Allerdings reichten die Einnahmen zu keiner Zeit für den Lebensunterhalt aus.

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Frau mit Ohrring | Mexiko-Stadt, ca. 1928

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Elisa | Mexiko-Stadt, 1924

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MarĂ­a Marin de Orozco | Mexiko-Stadt, ca. 1925

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Dolores del Rio | Mexiko-Stadt, 1925


Ione Robinson | Mexiko-Stadt, 1929

MarĂ­a Orozco Romero | Mexiko-Stadt, ca. 1925

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Frau aus Tehuantepec | Mexiko, 1929

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Puppen und Marionetten 1929 lernte Tina Modotti den jungen Puppenspieler Louis Bunin aus Chicago kennen, der nach Mexiko gekommen war, um als Assistent bei Diego Rivera zu arbeiten. Neben seiner Tätigkeit im Nationalpalast, wo auch sein Landsmann Pablo O'Higgins tätig war, hatte Bunin das Theaterstück »The Hairy Ape« ( Der haarige Affe ) von Eugene O'Neill für seine Marionettenbühne adaptiert.

Louis Bunin verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in einem Altersheim in New Jersey. Im Mai 1989 erinnerte er sich dort an seine Zeit in Mexiko und fragte: »Lebt Tina noch ?« Dass seine Hände und Marionetten inzwischen in einigen Büchern veröffentlicht und in Ausstellungen gezeigt worden waren, erfuhr er erst kurz vor seinem Tod.

Tina machte zahlreiche Fotos von Bunins Aufführungen – insbesondere auch von Yank, dem Antihelden des Stückes von O'Neill ( S. 24 ). Berühmt wurden einige der Fotos von den Händen, die die Marionetten geführt haben ( S.  25 ).

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In der Gefängniszelle | Mexiko-Stadt, 1929

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Marionette von Louis Bunin für »The Hairy Ape« ( Eugene O'Neill ) | Mexiko-Stadt, 1929


Hände des Puppenspielers ( Louis Bunin ) | Mexiko-Stadt, 1929

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Hände des Puppenspielers ( Louis Bunin ) | Mexiko-Stadt, 1929

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Mutter und Kind Die Bilder der aztekischen Mutter Luz Jiménez mit ihrer Tochter Conchita waren die frühesten Aufnahmen zum Thema Mutter und Kind. Es sind auch die einzigen, in denen ein Baby gesäugt wird. Eine davon erregte Aufsehen in einer Gruppenausstellung mit Werken verschiedener Künstler in der Galeria de Arte Moderno und wurde in der Zeitschrift »El Universal Ilustrado« im Oktober 1926 abgedruckt. Im Februar 1930 erschien das Foto in »Deutsches Magazin von Mexiko«. Im selben Heft waren zwei weitere Bilder mit Kleinkindern zu sehen: Die »Frau mit Kind in Tehuantepec« ( S.  29 ) und »Lupe Rivera Marín« – die erste Tochter von Diego Rivera und Lupe Marín. Tina Modotti hat sie 1925 aufgenommen, als sie sich häufiger mit Rivera traf und mit Lupe noch eng befreundet war. Als Lupe 1927 mit

ihrem zweiten Kind schwanger ging, endete diese Freundschaft abrupt, nachdem Rivera sein Verhältnis mit Tina Modotti gestanden hatte. Nach 1926 entstanden auch Aufnahmen von älteren Kindern. Die ersten kommerziellen Porträts wurden wahrscheinlich in ihrem Studio angefertigt. Andere Fotos waren Teil einer Fotoreportage über Armut, aufgenommen in der »Colonia de Bolsa« in Mexiko-Stadt ( S.  32 ), oder entstanden bei Reisen zu Kundegebungen von Campesinos ( S.  31 ). Das Foto von Conchita beim Säugen ( S.  28 ) transzendiert die wenigen erkennbaren gesellschaftliche Bezüge weitgehend, weil es sich ganz auf das Gesicht des Kindes und die Brust der Mutter konzentriert. Das mag wohl auch der Grund sein, warum es eines der populärsten Fotos von Tina Modotti ist.

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Stillen eines Babies | Mexiko-Stadt, 1926

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Aztekisches Baby | Mexiko-Stadt, 1926

Frau mit Kind in Tehuantepec| Mexiko, 1929

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Aztekische Mutter | Mexiko-Stadt, 1926

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Kleiner stolzer ÂťAgrarierÂŤ, oder Kind eines Agrariers | Veracruz, Mexiko, 1927

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Mädchen in der »Colonia de Bolsa« | Mexiko-Stadt, 1928

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Campesinos 1926 erhielt Edward Weston von Anita Brenner den Auftrag, religiöse und volkstümliche Kunstwerke zu fotografieren. In dieser Zeit entstanden wahrscheinlich auch einige der ersten Fotos, die Tina Modotti vom Leben der Landbevölkerung gemacht hat. Die meisten Bilder mit Campesinos machte Tina in der Gegend von Jalapa, wo sie 1927 zusammen mit Xavier Guerrero und Julio Antonio Mella an einer politischen Konferenz teilnahm ( S. 55 ). Auf dieser Reise entstand auch das Foto von dem Jungen mit Sombrero ( S.  38 ), das 1928 als Titelblatt der AIZ in Berlin erschien. Möglicherweise wurden hier im Bundesstaat Veracruz auch die Särge der ermordeten Campesinos

aufgenommen ( S.  37 ), die 1928 in der AIZ erschienen. Die Angaben, die in den Zeitschriften dazu gemacht wurden, waren aber meist frei erfunden und sind aus heutiger Sicht nicht mehr überprüfbar. Ihr berühmtestes Foto von Campesinos machte Tina Modotti am 1. Mai 1926 am Zocalo ( »Marsch der Arbeiter«, S. 60 ). Die Campesinos mit ihren Sombreros sind auch in anderen Aufnahmen von dieser Kundgebung zu sehen. Der »Marsch der Arbeiter« wirkt zum einen durch die Unschärfe des Fotos, die den Eindruck der Bewegung des Demonstrationszuges vermittelt. Darüberhinaus ist durch die Hüte eine Geschlossenheit gegeben, in der die Kollektivität der Campesinos deutlich wird.

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Fischer mit ihren Netzen | Mexiko, ca. 1926

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Ochsenkarren | Mexiko, ca. 1927


M채dchen mit Wasser | Mexiko, 1927

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Campesino mit seinem Sohn | Veracruz, Mexiko, 1927

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Fest in Juchitán | Oaxaca, Mexiko, ca. 1927

Särge getöteter Bauernführer | Veracruz, Mexiko, 1927

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Campesino mit Heu | Mexiko, ca. 1926

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Arbeit Die Aufnahmen, die Tina Modotti zum Thema »Arbeit« machte, entstanden meist im Freien, nachdem Edward Weston Ende 1926 Mexiko endgültig verlassen hatte. Es handelt sich dabei oft um Tätigkeiten beim Bau an öffentlichen Plätzen. Ein zentrales Motiv dabei ist das Tragen von Lasten – wie etwa der riesig erscheinende Balken, den ein Arbeiter auf der Schulter balanciert ( S. 41 ) oder die Bananenstaude, die in ein Schiff im Hafen von Veracruz verladen wird ( S. 44 ). Das eigentliche Thema dieser Aufnahmen ist nicht die Erniedrigung des Arbeiters, sondern seine Würde, die am stärksten symbolisiert ist in dem Foto von den Händen eines Bauarbeiters, die auf dem Griff einer Schaufel ruhen ( S. 43 ). Das Bild erschien im Dezember 1928 auf dem Titel der New Yorker Zeitschrift »New Masses«.

Im Gegensatz zu den Bildern von Männern bei der Arbeit sind die Fotos von Frauen alle im privaten Bereich entstanden. Auch hier ist das Tragen einer Last ein zentrales Motiv ( S. 40 ), das in etlichen der Fotos auftaucht, die Tina Modotti 1929 in Tehuatepec gemacht hat und die jene unnachahmliche Eleganz zeigen, mit der diese Aufgabe bewältigt wird ( S. 71 ). Nur die Hände der Wäscherin sprechen von der Schwere ihrer Tätigkeit, die sie einen Moment lang unterbrochen hat, fast so, als wolle sie sich ausruhen ( S. 42 ).

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Frau mit Topf | Mexiko, 1927

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Bauarbeiter | Mexiko-Stadt, 1927

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H채nde einer W채scherin | Mexiko, 1926

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H채nde eines Bauarbeiters | Mexiko, 1926

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Arbeiter verl채dt Bananen | Veracruz, Mexiko, 1927

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Elend Im Frühjahr 1928 machte Tina Modotti einige Aufnahmen in der Colonia de la Bolsa in Mexiko‑Stadt, wo die Ärmsten der Armen lebten (S. 32, 46 ). Die Bilder erschienen in »El Machete« in der Zeit vom Mai bis zum September und wurden mit propagandistischen Legenden versehen. Obwohl alle von Tina Modotti stammten, wurde nur eines davon ihr zugeschrieben. Auch in der AIZ Nr. 48 ( 1928 ) wurden einige dieser Bilder ohne Nennung der Autorin verwendet. Sie dienten der Illustrierung eines Artikels über »Pulque, die Lasterhöhlen in Mexico«.

Für sich genommen haben die einzelnen Bilder eine stille Tiefe ohne pathetisch zu sein. Sie regen eher dazu an Fragen zu stellen, aber sie geben keine Antworten. In dieser Hinsicht haben sie etwas gemeinsam mit dem Foto der offenen Särge, das unter dem Titel »Särge ermordeter Bauernführer« mit der Ortsangabe Veracruz ( AIZ ) beziehungsweise Jalisco ( PUTR MOPRA ) publiziert wurde ( S.  37 ). Im ersten Moment hat dieses Bild etwas Bedrückendes. Beim genauen Hinsehen fällt dann auf, dass aus den Deckeln der Särge Nägel herausschauen – sie waren also geschlossen und wurden vielleicht für das Bild geöffnet.

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Elend | Mexiko-Stadt, 1928

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Symbole der Revolution Die magische Kraft der Symbole wollte auch Tina Modotti 1927 zum Einsatz bringen, als sie ihre berühmten Kompositionen mit Patronengurt, Maiskolben, Gitarre und Sombrero schuf. Es waren einerseits Stillleben von höchster Einfachheit, in denen die Revolution symbolisiert wurde, andererseits suggestive Propagandamittel – insbesondere das Foto mit Hammer und Sichel ( S. 51 ), ein Motiv das auch bei den Wandmalern sehr populär war. Die »Frau mit Fahne« ( S.  52 ) symbolisierte als »Mexikanische Bergarbeiterfrau« zum 1. Mai 1931 auf dem Titel der Berliner AIZ den »Kampftag der roten Weltarmee«. In der Sowjetunion war sie bereits im Januar 1929 im »Internationalni Majak« als »Frau beim

Bergarbeiterstreik in Jalisco, Mexiko 1928« veröffentlicht worden. Unter einem ähnlichen Titel erschien sie im Juni auf dem Titel der »New Masses«. Viele Jahre später wurde wegen des hohen Schwarzwerts der Fahne geschlossen, dass es sich um eine »Frau mit anarchosyndikalistischer schwarzer Fahne« handeln müsse. Als solche wurde sie dann des öfteren publiziert. In Wirklichkeit handelt es sich aber um ein Foto, das auf dem Dachgarten eines Hauses in Mexiko-Stadt gemacht worden war und das eigentlich nur eine »Frau mit Fahne« zeigt. Die Frau ist Luz Jiménez, jene aztekische Mutter, die Tina Modotti schon 1926 mit ihrer Tochter Conchita fotografiert hatte ( S. 30 ). Bei der Fahne handelt es sich um ein Tuch, das Weston zurückgelassen hatte.

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Sichel, Gitarre und Patronengurt | Mexiko-Stadt , 1927

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Sombrero mit Hammer und Sichel | Mexiko-Stadt, 1927

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Gitarre, Mais und Patronengurt | Mexiko-Stadt, 1927

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Hammer und Sichel | Mexiko-Stadt, 1927

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Frau mit Fahne | Mexiko-Stadt 1928

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Die revolutionäre Bewegung Der Einfachheit halber soll hier der Begriff der »revolutionären Bewegung« sehr weit gefasst werden und eine Vielzahl von politischen Aktivitäten mit einschließen, die das Ziel einer radikalen Veränderung der Verhältnisse in den zwanziger Jahren zum Ziel hatten. Der zeitliche Rahmen für die Fotos dieser Gruppe sind die Jahre 1926 und 1929. 1927 entstanden zwei Fotos bei einer Versammlung mit Campesinos in Jalapa, der Hauptstadt des Bundesstaates Veracruz (S. 55). Auf dem Bild mit dem Podium sitzen hinter dem Tisch die Genossen Xavier Guerrero und Julio Antonio Mella, mit denen

Tina Modotti gemeinsam die weite Reise in den Süden unternommen hat. Auf zwei Fotos aus dem Jahr 1928 wird die Führung der Pionier- sowie der Jugendorganisation der KPM vorgestellt (S. 58 / 59). Im Hintergrund ist jeweils ihr Schulungsleiter zu sehen, der Kommunist Russel Blackwell aus New York. Das Foto von Diego Rivera als Redner für die Rote Hilfe (Socorro Rojo International) bei einer Kundgebung in der Ortschaft Tizayuca im Bundesstaat Hidalgo 1929, ist eine der wenigen publizierten Aufnahmen von Modotti, die Rivera bei einem seiner politischen Auftritte zeigen (S. 56).

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Campesinos mit der Zeitung ÂťEl MacheteÂŤ | Mexiko-Stadt, 1929

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Versammlung mit Campesinos, am Tisch Xavier Guerrero und Julio Antonio Mella | Jalapa, Mexiko, 1927

Versammlung mit Campesinos | Jalapa, Mexiko, 1927

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Tag gegen die Reaktion | Mexiko-Stadt, 1929

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Diego Rivera bei einem Treffen der Internationalen Roten Hilfe | Tizayuca (Hidalgo), Mexiko, 4. April 1929


Arbeiter mit der Zeitung ÂťEl MacheteÂŤ | Mexiko-Stadt, 1925

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Nationalkomitee der Kommunistischen Jugendorganisation, Mexiko-Stadt, 1928

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Organisationskomitee der Pioniere der Kommunistischen Partei Mexikos, Mexiko-Stadt, 1928

Das Komitee »Hände weg von Nicaragua !«, Mexiko-Stadt, 1928

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Marsch der Arbeiter | Mexiko-Stadt, 1926

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Julio Antonio Mella Von Mella gibt es einige private Fotos – darunter sollen auch Aktaufnahmen gewesen sein, die auf der Dachterrasse entstanden. Ein Bild zeigt ihn im Cowboyhut an seiner Schreibmaschine, von der Tina eine Aufnahme machte, die sie »La Técnica« nannte ( S.  64 ). Berühmt ist jenes Bild von Mella, das ihn laut »AIZ« als »unvergesslichen Führer der südamerikanischen Arbeiterbewegung« zeigt ( S.  62 ). Als Tina Modotti 1942 in einem Taxi starb, trug sie einen kleinen Abzug davon in ihrer Handtasche bei sich. Kurz nach Mellas Tod war es auf dem Titel von »El Machete« erschienen. Im Jahr darauf wurde es im »Internationalnij Majak« veröffentlicht. Es passte gut zur Idealisierung seiner Person – im Halbprofil als kraftvoller und entschlossener Visionär.

In ganz Lateinamerika hat es ihn unsterblich gemacht. Ganz anders ist das Foto Mellas auf dem Totenbett ( S. 63 ), auf dem er zu schlafen scheint. Im April reiste Tina Modotti zusammen mit Rivera zu einer Kundgebung der Roten Hilfe in Tizayuca im Bundesstaat Hidalgo. Dort strömten Campesinos aus ganz Mexiko zusammen und es herrschte eine revolutionäre Stimmung. Bei einer der Kundgebungen wurde von Jugendlichen ein Porträt Mellas durch den Ort getragen ( S.  63 ). Für Tina Modotti führten der Tod Mellas und die politische Entwicklung in Mexiko in eine schwere persönliche Krise, die sie nachhaltig veränderte.

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Julio Antonio Mella | Mexiko-Stadt, 1928

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Kundgebung der Internationalen Roten Hilfe | Tizayuca (Hidalgo), Mexiko, 4. April 1929

Juli Antonio Mella auf dem Totenbett | Mexiko-Stadt, 1929

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»La Técnica« (Die Technik), die Schreibmaschine von Julio Antonio Mella | Mexiko-Stadt, 1928

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Tehuantepec Im August 1929 reiste Modotti in den Süden von Oaxaca, um Kraft zu schöpfen in einer entlegenen Landschaft, die berühmt war wegen der Schönheit und dem Stolz der Tehuanas, wie die Frauen aus Tehuantepec genannt werden. Oft erkannte man sie schon aus der Ferne an den Körben und Gefäßen, die sie auf dem Kopf trugen. Die Jüngeren von ihnen zeigten sich meist in außergewöhnlich schönen Röcken und Kleidern, wie sie auch von Frida Kahlo nach ihrer Hochzeit mit Rivera getragen wurden ( S.  71 ). Die Frauen aus Tehuantepec hatte Tina Modotti vor ihrer Reise bereits in Bildern von Rivera und anderen Künstlern gesehen. Sie kannte auch das Buch

»México pintoresco«,von Hugo Brehme. Im Gegensatz zu Modottis Aufnahmen wirken Brehmes Fotos eher gestellt. Die Gesichter der Frauen sind verschlossen und abweisend. Interessant ist der Vergleich zu einem Porträt, das Tina in Tehuantepec machte ( S.  72 ). Es erschien in Heft 4/1929 von »Mexican Folkways« mit der Unterschrift: »Die Frauen aus Tehuantepec tragen Früchte und Blumen auf ihren Köpfen in bemalten Kürbisschalen«. Es strahlt trotz aller Distanz menschliche Nähe und Hoffnung aus. Im Rückblick bewertet, kann man dieses Bild als Abschiedsfoto bezeichnen. Die Fotos aus Tehuantepec waren die umfangreichste Serie, die Tina Modotti in Mexiko gemacht hat und sie waren auch ihre letzte.

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StraĂ&#x;e in Tehuantepec | Mexiko, 1929

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Markt in Tehuantepec | Mexiko, 1929

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W채schewaschen im Fluss in der N채he von Tehuantepec | Mexiko, 1929

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Frauen in Tehuantepec | Mexiko, 1929

Frauen in Tehuantepec | Mexiko, 1929

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Markt in Tehuantepec | Mexiko, 1929

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Frau in Tehuantepec | Mexiko, 1929

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Frau in Tehuantepec | Mexiko, 1929

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Berlin Von Anfang an quälte Tina Modotti in Berlin die Frage, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen könnte. Sehr schnell hatte sie den Gedanken aufgegeben, ein Porträtstudio zu betreiben, von denen es bereits sehr viele gab. Von Eugen Heilig, der über die Agentur »Unionfoto« Bilder aus der Sowjetunion verbreitete, hatte Tina Modotti im Mai einen Presseausweis erhalten, aber es sind nur wenige ihrer Fotos 1930 in Berlin erschienen. Zwei davon wurden in der »AIZ« veröffentlicht. Das eine zeigt eine schwangere Frau mit Kind auf dem Arm und auf dem anderen sind vier junge Pioniere mit zwei Fahnen zu sehen ( S. 74 ). Das Foto erschien in zerschnittener Form als Puzzle.

Eugen Heilig hat auch eine Aufnahme von Tina gemacht, die sie mit ihrer unhandlichen Graflex in einem Berliner Strandbad zeigt. Das Foto, dass sie hier vielleicht gemacht hat, ist nicht bekannt. Den Kauf einer modernen Kamera konnte sich Tina Modotti in Berlin nicht mehr leisten und sie war sich auch nicht sicher, ob sie wirklich auf der Straße arbeiten wollte. Ihre Ausstellung fand schließlich in den Räumen der Fotografin Lotte Jacobi in der Joachimsthaler Straße 5 statt und bestand überwiegend aus Fotos, die Tina aus Mexiko mitgebracht hatte. Vielleicht war diese Ausstellung ihr Abschied von der Fotografie.

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Junge Pioniere | Berlin, 1930

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Im Zoo| Berlin, 1930


Freunde Die Geschichte von Tina Modottis Leben ist eine Geschichte von Kreativität und Engagement, des Kampfes, der Ambitionen, und in vielen Fällen des Überlebens. Es wird nicht leicht gewesen sein, arm, als Frau und Ausländerin zuerst in die Vereinigten Staaten und dann nach Lateinamerika zu kommen. Allerdings hatte sie den notwendigen Mut und genügend Instinkt, sich mit Menschen umgeben, die sie liebten und respektierten. Diese Serie zeigt einen kleinen Ausschnitt der Menschen, die fähig waren, diese Eigenschaften zu erkennen und zu bewundern, kombiniert mit ihrer Schönheit, der Fähigkeit, immer das Beste von sich zu geben und sich selbst treu zu bleiben. Auffälig ist, dass Tina ihren Lehrer und Liebhaber Edward Weston so wenig fotografierte, Weston sie

wiederum unzählige Male, so dass seine Bilder fast eine Geschichte der emotionalen Bindung zwischen beiden bilden. Anders ihr Foto von Edward Weston ( S.  76 ): Es scheint wie für eine Werbekampagne gemacht. Es ist ein etwas pompöses Bild, das wenig mit der Sensibilität und Leidenschaft Westons zu tun hat. Das Gegenteil zeigt ihr Foto von Julio Antonio Mella – eine heroische und romantische Darstellung des kubanischen Revolutionsführers ( S.  62 ), den sie sicher für seinen Mut als Revolutionär bewunderte. Er wurde praktisch an ihrer Seite getötet und blieb die wichtigste Liebesbeziehung ihres Lebens, so wie es vielleicht in politischer und emotionaler Hinsicht ihr Begleiter in den letzten Lebensjahren war, Vittorio Vidali ( S.  77 ).

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Edward Weston mit seiner Kamera »Seneca View, Improved« | Mexiko, 1924

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Vittorio Vidali (alias Enea Sormenti) | Mexiko, 1927

Vittorio Vidali w채hrend einer Bootsfahrt in der N채he von Moskau | ca. 1930

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Concha Michel mit Campesinos | Mexiko, ca. 1925

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Tina Diese Serie ist ein Gemälde, ein kurzer Rückblick auf den Schnitt aus der Zeit, den jeder fotografische Akt bedeutet. Ein Ausschnitt, der Augenblick ist, aber auch ein Übergang in eine andere Zeit, die Verewigung dessen, was einem Menschen nur einmal geschieht: das Leben, und einige ihm gestohlene Bilder. Schauspielerin Tina, Tina und Robo, liebende Tina, Tina in einer Galerie mit ihren Bildern, nachdenkliche Tina. Immer wiederkehrende Tina, verewigt und wiederholbar. Heute endgültig unantastbar.

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Tina Modotti und Roubaix Richey stellen Batiken her | Los Angeles, 1921

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Tina Modotti | Los Angeles, 1919 / Fotografie: Jane Reece

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Tina Modotti in einer Studie f端r einen Film | Hollywood, ca. 1920

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Tina Modotti in der Rolle der Maria de la Guarda in dem Film »The Tiger´s Coat« | Hollywood, 1920

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Tina Modotti und Edward Weston am Jahrestag ihrer Ankunft in Mexiko | Mexiko-Stadt, August 1924

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Tina Modotti in ihrer Ausstellung in der Nationalbibliothek | Mexiko-Stadt, 1929

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Tina Modotti | San Francisco, 1921 / Fotografie: Johan Hagemeyer

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Biografisches 1896 Am 16. August wird in Udine Assunta Adelaide Luigia Modotti Mondini ( genannt Tina ), das dritte von insgesamt sechs Kindern der Assunta Mondini Modotti und des Giuseppe Saltarini Modotti, geboren. 1906 Giuseppe Modotti und die älteste Tochter, Mercedes, wandern in die USA aus. Die Familie bleibt in Udine zurück und lebt im Elend, hofft jedoch, dem Vater so bald wie möglich folgen zu können. 1908 Mit 12 Jahren beginnt Tina, in einer Seidenfabrik zu arbeiten und verdient damit den Unterhalt für die Mutter, die Schwestern Yolanda und Valentina sowie für die Brüder Benvenuto und Giuseppe. 1913 Tina verlässt Italien und reist per Schiff nach New York ( Ellis Island ). In San Francisco wohnt sie dann bei ihrem Vater und der Schwester Mercedes. Beide jungen Mädchen arbeiten in der Schneiderei von Magnin's, wo Tina auch als Mannequin tätig ist. 1915 Bei einem Besuch der Panama-Pacific-Ausstellung in San Francisco, auf der unter anderem auch Fotografien von Edward Weston gezeigt werden, lernt Tina den Maler und Dichter Roubaix de l'Abrie Richey kennen. 1916 Tina tritt in einer Gruppe italienischer Theater‑Amateure sowie im Theater »Liberty« auf. 1917 Tina und Roubaix ( genannt Robo ) übersiedeln nach Los Angeles, wo sie im Jahre 1919 den Fotografen Edward Weston kennenlernen. 1920 Tina spielt die Hauptrolle in dem Stummfilm »The Tiger's Coat«. Im selben Jahr trifft auch der Rest ihrer Familie, bis auf die Schwester Valentina, in San Francisco ein.

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1921 Tina sitzt für Weston Modell, und nach kurzer Zeit beginnt eine Liebesbeziehung zwischen beiden. Sie spielt in zwei weiteren Filmen mit: »Riding with Death« und »I Can Explain«. Im Dezember reist Robo nach Mexiko. Tina und Weston sind entschlossen, ihm bald dorthin zu folgen. 1922 Am 9. Februar stirbt Robo in Mexiko an Pocken. Wenige Tage später treffen Tina und seine Mutter Rose in Mexiko-Stadt ein, um an der Beisetzung teilzunehmen. Nach San Francisco zurückgekehrt, beginnt Tina, sich mit der Fotografie zu beschäftigen. Im März stirbt ihr Vater. Im November findet in Los Angeles eine Ausstellung mexikanischer Volkskunst statt. Der künstlerische Leiter, der Maler Xavier Guerrero, überredet Tina, nach Mexiko überzusiedeln. 1923 Edward Weston beschließt, Tina nach Mexiko zu begleiten. Er will sie dort in die Fotografie einführen, und sie soll im Gegenzug als seine Assistentin arbeiten und sich um seinen mitreisenden Sohn Chandler kümmern. Zunächst wohnen die drei in Tacubaya, in der Nähe der Hauptstadt. Im August stellt Tina Kontakt zu dem Maler Diego Rivera her. 1924 Im Mai beziehen Tina und Edward eine Wohnung in der Avenida Veracruz 42. Weston hat zwei Ausstellungen in der Galerie »Aztec Land« und bekommt verschiedene Aufträge für Portrait‑Fotos. Später sind beide in einer Ausstellung im »Palacio de Minería« vertreten, aber Weston bereitet schon seine Rückkehr in die USA vor. Im September veröffentlicht eine mexikanische Zeitung ein Foto von Tina, während sie in der mexikanischen Version des Schauspiels »La chauve souris« wieder einmal auf einer Bühne steht. Im Dezember verlässt Weston Mexiko. 1925 Zu Beginn des Jahres fotografiert Tina verschiedene Blumen und Pflanzen, darunter die berühmten »Rosen« und den Kaktus »Flor de Manita«. Ihre Fotos werden in der von Frances Toor herausgegebenen Zeitschrift »Mexican Folkways« veröffentlicht. Ab Anfang Mai erscheint »El Machete« als offizielles Organ der Kommunistischen Partei Mexikos.

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In Chapingo sitzt Tina Modell für »Die jungfräuliche Erde« und »Das Keimen« von Diego Rivera und fotografiert verschiedene seiner »murales« ( Wandbilder ). In diesem Jahr wird Tina erstmalig in verschiedenen antifaschistischen und antiimperialistischen Organisationen tätig. Im Juli macht sie einige Aufnahmen von dem russischen Dichter Wladimir Majakowski. Im September wird der mexikanische Kommunist Francisco Moreno, der mit Tina und Majakowski befreundet ist, ermordet. Am 1. September wird im Staatsmuseum von Jalisco, Guadalajara, eine Fotoausstellung von Tina Modotti und Edward Weston eröffnet. Zu diesem Anlass kehrt Weston aus den USA zurück und bringt Brett, seinen zweiten Sohn, mit. Im Dezember reist Tina nach San Francisco, um ihre erkrankte Mutter zu besuchen. Bei diesem Aufenthalt lernt sie die Fotografinnen Consuelo Kanaga, Imogen Cunningham und Dorothea Lange kennen. 1926 Im März ist Tina wieder in Mexiko. Im April erteilen Anita Brenner und der Rektor der Nationalen Universität, Alfonso Pruneda, Weston den Auftrag, eine fotografische Dokumentation der Kulturgeschichte Mexikos zu erstellen. Tina und Weston brauchen dafür vier Monate und müssen viele ermüdende Reisen unternehmen. Der Anteil Tinas an dieser Arbeit ist so bedeutend, dass Anita Brenner beiden in gleicher Weise ihren Dank ausspricht, als sie im Jahre 1929 ihr Buch »Idols behind Altars« herausgibt. Im November verlässt Weston endgültig das Land. Tina bezieht eine Wohnung im Zamora-Gebäude, in dem sich auch der Sitz der Kommunistischen Partei Mexikos und die Redaktion der Zeitung »El Machete« befinden. Im Dezember wird Alexandra Kollontai zur sowjetischen Botschafterin in Mexiko ernannt. Zwischen ihr und Tina Modotti entwickelt sich eine enge Freundschaft.

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1927 Tina übergibt dem ebenfalls in Mexiko-Stadt lebenden deutschen Schriftsteller B. Traven mehrere Fotografien der »murales« von Diego Rivera, die für die Produktion eines Dokumentarfilms vorgesehen sind. Sie macht eine Reihe von Fotos, die die mexikanische Revolution symbolisieren. Sie beginnt eine Beziehung zu Xavier Guerrero, Maler und Mitglied des Zentralkomitees der KP Mexikos. Im August lernt sie ihren aus Triest stammenden Landsmann Vittorio Vidali alias Enea Sormenti, den Abgesandten der Internationalen Roten Hilfe ( IRH ), kennen. Im Dezember reist Guerrero für drei Jahre nach Moskau, wo er die Leninschule besuchen wird. Tina wird Mitglied der Kommunistischen Partei. 1928 Am 18. Januar wird in Mexiko das Komitee »Hände weg von Nikaragua« gegründet, ein Ereignis, das Tina mit ihrer Kamera dokumentiert. Im März sind Tina und Vittorio Vidali die Hauptredner bei einer Protestkundgebung gegen den italienischen Faschismus. Der Bericht, den die italienische Botschaft in Mexiko darüber verfasst, bildet das erste Blatt in der mit den Jahren immer mehr anwachsenden »Akte Tina Modotti«, die von Mussolinis Spezialpolizei, der OVRA, angelegt wird. Im Auftrag von »El Machete« fotografiert Tina im Elendsviertel »Colonia de la Bolsa«. Ab Mai werden diese Aufnahmen unter dem Titel »Kontraste des Regimes« veröffentlicht. Tina lernt die Malerin Frida Kahlo kennen. Sie freundet sich mit der 22-jährigen jungen Frau an und bringt sie der Kommunistischen Partei näher. Beide Frauen werden, zusammen mit Vidali, Mella und anderen Personen in einem Wandbild dargestellt, an dem Diego Rivera ab Ende des Jahres arbeitet. Im September beginnt Tina ein festes Verhältnis mit Julio Antonio Mella, dem in Mexiko im Exil lebenden Mitbegründer der KP Kubas, der ihr schon Wochen zuvor seine Liebe erklärt hat. Tina versucht, ihren Neffen Tullio zu sich nach Mexiko zu holen, aber das Mussolini-Regime verweigert dem Jungen die Ausreise aus Italien.

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1929 Am 10. Januar nehmen Tina und Mella an einer Sitzung der Roten Hilfe teil. Auf dem Heimweg wird Mella von mehreren Pistolenschüssen getroffen und stirbt wenig später im Krankenhaus. Die Polizei und die Presse vermuten, dass Tina etwas mit dem Mord zu tun hat, aber letztendlich wird ein Kubaner namens Magriñat des Verbrechens angeklagt, das auf Anweisung des kubanischen Diktators Gerardo Machado begangen wurde. Im März reist Tina nach Tehuantepec und Juchitán, wo sie Aufnahmen von Frauen und Kindern macht. Am 25. Juni kommt Augusto César Sandino, der »General der freien Menschen« nach Mexiko, wo er auf Unterstützung für seinen Kampf in Nikaragua hofft. Tina bittet ihn um Erlaubnis, ihn als Fotografin in sein Land begleiten zu dürfen. In diesem Jahr beginnt die KP Mexikos ihre Tätigkeit in der Illegalität, ein Zustand, der bis 1935 andauern wird. Vom 3. bis zum 14. Dezember wird in der »Biblioteca Nacional« Tinas erste große Einzelausstellung gezeigt, während die Polizei Tag und Nacht ihre Wohnung überwacht. 1930 Ein Attentat auf den neu gewählten Präsidenten Ortiz Rubio, das von einem jungen katholischen Fanatiker begangen wird, dient als Vorwand für die Verschärfung der Verfolgung aller Mitglieder der Kommunistischen Partei. Viele Kommunisten, unter ihnen David Alfaro Siqueiros und Tina Modotti, werden ins Gefängnis geworfen. Nach 13 Tagen Haft und einem Hungerstreik wird Tina entlassen, und man gibt ihr zwei Tage, um das Land zu verlassen. An Bord des Schiffes »Edam«, mit dem sie nach Europa reist, befindet sich auch Vidali, dem es gelungen ist, den Verfolgern zu entkommen. In Rotterdam erwirken die Anwälte der Roten Hilfe für Tina die Erlaubnis, nach Berlin weiter zu reisen, obwohl der italienische Konsul darauf gedrungen hat, sie auf ein italienisches Schiff zu bringen und die »gefährliche Kommunistin« ins Italien Mussolinis zu überführen. Im Herbst kann Tina einige ihrer Fotos im Studio der Fotografin Lotte Jacobi ausstellen.

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Die Zeit, die sie sich als Italienerin ohne Visum in Berlin aufhalten kann, läuft ab, und im Oktober kann Vidali sie dazu überreden, ihn nach Moskau zu begleiten, wo Helena Stassova, die ehemalige Sekretärin Lenins und Generalsekretärin der Internationalen Roten Hilfe, für sie einen verantwortungsvollen Posten in der internationalen Hilfsorganisation bereit hält. 1931 Vidali trennt sich von seiner russischen Ehefrau und seiner Tochter Bianca und bezieht mit Tina ein Zimmer im Hotel »Soyusnaya«. Tina erhält das Mitgliedsbuch der KPdSU. In der Leitung der IRH ist sie verantwortlich für die Beziehungen zu den lateinamerikanischen Sektionen, die fast alle in der Illegalität wirken müssen. Außerdem widmet sie sich für eine gewisse Zeit der Arbeit der IRH mit den Kindern. 1933 Im Mai reist Tina mit falschen Papieren nach Spanien und besucht die Sektionen der Roten Hilfe in Madrid, Barcelona und Reus. Die Polizei entdeckt, dass ihre Dokumente gefälscht sind und bringt sie an die französische Grenze. Im August versucht Bersin, Chef der Spionageabwehr der Roten Armee, Tina und Vidali als Mitstreiter von Richard Sorge in China zu gewinnen. Es gelingt der Stassova, sie von diesem Auftrag zu befreien. Sie schickt beide nach Paris, wo sie die Arbeit des westeuropäischen Büros der IRH leiten sollen. 1934 Im Februar reisen Tina und Vidali nach Wien, um die Flucht der sozialdemokratischen »Schutzbündler« zu organisieren, die nach den Auseinandersetzungen mit dem Dollfuss-Militär das Land verlassen müssen und in Moskau Zuflucht suchen. 1935 Im Sommer ist Tina mit den Vorbereitungen des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale beschäftigt. Ende des Jahres wird sie, gemeinsam mit Vidali, von der IRH nach Spanien geschickt. Dort sollen sie die Kampagne für die Befreiung von Tausenden politischen Häftlingen leiten, die nach dem Oktober-Aufstand 1934 in Asturien inhaftiert wurden. Tinas Negative und ihre Kamera bleiben in Moskau zurück.

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Unter den Decknamen »María« oder »Carmen Ruiz Sánchez« arbeitet Tina in der spanischen Sektion der IRH und in der Redaktion der Zeitung »Ayuda«. 1936 Nach Ausbruch des Bürgerkriegs arbeitet Tina nicht nur für die Rote Hilfe, sondern auch in einem Krankenhaus, in dem die ersten Verwundeten der Kämpfe behandelt werden. Im November muss sie die von den Faschisten belagerte Stadt Madrid verlassen. Sitz der Leitung der Roten Hilfe ist von nun an die Stadt Valencia. Im Dezember erhält sie, mit drei Monaten Verspätung, die Nachricht vom Tode ihrer Mutter. 1937 Im Januar nimmt sie in Paris an einer internationalen Konferenz über die Hilfe für Spanien teil. Später hilft sie, zusammen mit dem kanadischen Arzt Norman Bethune, den Einwohnern von Málaga bei der Flucht vor den Faschisten. Beim Kongress zur Verteidigung der Kultur, der in Valencia und Madrid stattfindet, lernt sie unter anderen die Fotografen Robert Capa und Gerda Taro, den russischen Kameramann Roman Karmen und die deutsche Schriftstellerin Anna Seghers kennen. Später organisiert sie die Evakuierung spanischer Kinder, die in die Sowjetunion und nach Mexiko gebracht werden. 1939 Im Januar organisiert Tina die Evakuierung des Präsidenten der spanischen Roten Hilfe, Isidoro Acevedo, den sie nach Paris begleitet. Umgehend kehrt sie nach Spanien zurück, und nach der Niederlage der Republik begleitet sie eine halbe Million Flüchtlinge auf dem Marsch über die Pyrenäen. In Paris erhalten Tina und Vidali von der Stassowa den Auftrag, in die USA zu gehen und dort zu versuchen, eine breite internationale Solidaritätsorganisation aufzubauen.

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Am 1. April erreicht Tina an Bord der »Queen Mary« mit falschen Papieren die USA. Die Einreisebehörden verweigern ihr – vielleicht auf Grund einer Denunziation – die Erlaubnis, an Land zu gehen und sie muss nach Mexiko weiter reisen, wo sie noch immer als »persona non grata« gilt. In Mexiko trifft sie wieder auf Vidali, der einige Wochen zuvor, nach einem Aufenthalt in die USA, dort eingetroffen ist. Auch Tina kann, ausgestattet mit den Papieren einer amerikanischen Freundin, einige Wochen in den USA verbringen, um herauszufinden, ob die Bedingungen dafür gegeben sind, dass sie und Vidali den Auftrag der Stassova erfüllen können. 1940 Der mexikanische Präsident Lázaro Cardenas annulliert persönlich die Ausweisung Tinas von 1930. Dennoch führt Tina von nun an ein sehr zurückgezogenes Leben. Sie macht Übersetzungen und kümmert sich um die in Mexiko lebenden spanischen Kinder. Ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei erneuert sie nicht. Zu ihren wenigen Freunden gehört Anna Seghers, die ebenfalls im mexikanischen Exil lebt. Am 20. August ermordet Ramón Mercader den in Mexiko im Exil lebenden Lew Trotsky. Das Attentat wurde von sowjetischen Agenten organisiert, auf persönlichen Befehl von Stalin. ( Der im Verborgenen tätige Koordinator der »Operation Ente« ist ein gewisser Josef Romualdovich Grigulevich, der später, während des Zweiten Weltkrieges, der aktivste und erfolgreichste Agent des sowjetischen Geheimdienstes in Lateinamerika sein wird. Unter anderem organisiert er im Hafen von Buenos Aires Sabotageakte gegen Schiffe, die strategische Güter für Nazideutschland transportieren. Höhepunkt seiner Karriere wird in den frühen fünfziger Jahren seine Ernennung zum Botschafter Kosta Rikas in Italien sein, was auch seine Akkreditierung im Vatikan und in Jugoslawien mit sich bringt. Das Geheimnis um seine Identität wird erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts gelüftet.) In Mexiko wird Vidali bei einer Razzia verhaftet und für drei Wochen inhaftiert. Später bezieht das Paar eine kleine, herunter gekommene Wohnung auf dem Dach des Hauses calle Doctor Balmes 137. 1941 Tina und Vidali feiern die Jahreswende im Haus von Pablo Neruda.

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1942 Am 5. Januar, nach einem Besuch bei Hannes Meyer, einem Architekten des »Bauhaus«, stirbt Tina auf dem Heimweg in einem Taxi. Die Presse vermutet, Vidali könne sie im Auftrag des sowjetischen Geheimdienstes ermordet haben, und Vidali lebt für kurze Zeit im Verborgenen. Bei der Autopsie, die von zwei mexikanischen Ärzten durchgeführt wird, stellt sich heraus, dass »… die allgemeine innere Verkrampfung, die den Tod herbeigeführt hat, ihren Ursprung in einem Herzfehler hatte, der während der Autopsie entdeckt wurde«. Am 7. Januar wird Tina auf dem Friedhof »Dolores« beigesetzt. Das Grab wird von einer Platte bedeckt, auf der man ihr Gesicht in einem Relief ihres Freundes Leopoldo Méndez und einige Verse aus einem Gedicht von Pablo Neruda sieht. Ihre Freunde veröffentlichen eine Gedenkbroschüre, und mit einer feierlichen Veranstaltung wird eine Ausstellung mit 50 ihrer Fotos organisiert. Später sind ihr Werk und ihr Name vergessen, und es vergehen viele Jahre bis zu ihrer Wieder-Entdeckung.

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© 2012 Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund Alle Rechte vorbehalten. Verlagsanschriften: Verlag Wiljo Heinen Franz-Mehring-Platz 1 10243 Berlin

Verlag Wiljo Heinen Schulstr. 20 24860 Böklund

www.gutes-lesen.de Die Texte stammen von Reinhard Schultz, Christiane BarckhausenCanale schrieb die biografische Chronik.

Wir danken Reinhard Schultz für die freundliche Genehmigung, Tina Modottis Fotos zu veröffentlichen.

Sofern die in diesem Band veröffentlichten Bilder dem Urheberrecht unterliegen, liegen die Nutzungsrechte bei Reinhard Schultz / Galerie Bilderwelt. Eine Vervielfältigung und Verbreitung ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung zulässig.

Ein besonderer Dank gilt der Rosa-LuxemburgStiftung, Berlin, durch deren Förderung dieses Buch realisiert werden konnte. Die Unterstützung durch Dr. Evelyn Wittich und Dagmar Rubisch, Mitarbeiterinnen der Stiftung, war herausragend.

An dieser Stelle darf auch Michael Mäde, Leiter der Ladengalerie der Tageszeitung junge Welt, nicht vergessen werden, der den maßgeblichen Anstoß zu diesem Projekt gab. Das Buch hat Wiljo Heinen gestaltet, die Texte wurden aus der Zapf Humanist gesetzt. Druck und Bindung übernahm Sowa SP z o.o., Polen. Printed in the EU.

»Tina Modotti. Fotografien einer Revolutionärin« hat die

ISBN 978-3-939828-86-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.info/ abrufbar.


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