S U L P WIR
WIRPLUS September 2014
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Sonnenlicht it m rt e g g a b r fentrange 18 Markus Af bois h von Hervé Du c u B s a d – » IR nW 4 «Faszinatio nter der Sonne u t k c a n : it e z e 7 die neu Höchstwerte e u e n : 4 1 0 2 t h eric 13 Halbjahresb des Wisents r h e k k c ü R ie D 26
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das grösste Business-Netzwerk der Schweiz Einladung zum Themen-Event
mit Podiumsdiskussion und Apéro riche am Samstag, 22. November 2014 von 13 bis 15 Uhr. Anmeldeschluss 31. Oktober 2014 bei doris.steiger@wgz.ch Die Teilnahme am Anlass ist für alle am WIR-System interessierten Personen und Firmen kostenlos (Teilnehmerzahl limitiert Zuteilung nach Eingang der Anmeldung). Ihr persönliches Eintrittsticket erhalten Sie rechtzeitig mit dem Event-Programm.
Treffpunkt: In der neuen Business-Meile mit WIR-Start-up-Bereich an der WIR-Messe Zürich 2014 in der Halle 3.
www.wmzag.ch | wirbank.ch | wgz.ch
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NACKTE FAKTEN EDITORIAL
Kompliment an Werner Zimmermann – seit 80 Jahren gibt es nun die Komplementärwährung WIR bereits. Als er und seine Mitkämpfer 1934 die WIR Wirtschaftsring-Genossenschaft gründeten, war vieles anders als heute. Etwas hat sich nicht geändert: WIR war schon damals ein Sonderfall und ist es bis heute geblieben. WIR ist aber noch viel mehr als seit 80 Jahren ein Sonderfall: – WIR ist ein einzigartiges Marketinginstrument für KMUs (s. www.wirbank.ch > WIR-Kunden > Das WIR-System > Video). – WIR ist «das grösste Business-Netzwerk der Schweiz» (S. 23). – Lesen Sie auch unseren Beitrag zur Bedeutung von Netzwerken im Allgemeinen auf S. 34. – WIR ist nachhaltig – und nachhaltig sind auch immer mehr Dienstleistungen und Produkte der WIR-Teilnehmer (S. 18). – WIR fasziniert und die WIR Bank Genossenschaft kann zuversichtlich in die Zukunft blicken. Lesen Sie dazu unser Interview mit Hervé Dubois zu seinem Buch «Faszination WIR» (S. 4). – WIR und die WIR Bank Genossenschaft sind auf Wachstumskurs: Der WIR-Umsatz ist im ersten Semester 2014 gegenüber
der entsprechenden Vorjahresperiode um 0,7% gestiegen. Die Bilanzsumme erhöhte sich um 6,4% auf 4,44 Mrd. Franken. – Lesen Sie dazu den Halbjahresbericht von Germann Wiggli, Vorsitzender der Geschäftsleitung, auf S. 13. – WIR ist innovativ. Geplant sind u.a. eine Bezahlmöglichkeit via Smartphone und eine Verbesserung des elektronischen Marktplatzes auf www.wirbank.ch – WIR ist immer häufiger im Fokus ausländischer Interessenten von Universitäten, Wirtschaftskammern, Regionen usw. – WIR stand auch schon Pate für andere Komplementärwährungen – z.B. Sardex auf Sardinien (S. 24). Nackte Tatsachen findet man in Thielle (S. 7). Das wunderschön am Neuenburgersee gelegene Naturistengelände wurde 1937 durch das Ehepaar Edi und Elsi Fankhauser gegründet. Dritter Stiftungsrat und gewissermassen Pate dieses Projekts war Werner Zimmermann: Der Hauptgründer der WIR Bank Genossenschaft war auch ein Pionier der Naturistenbewegung. ROLAND SCHAUB
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INHALT
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Seit 1937 keine Kleider, keinen Alkohol, kein Fleisch, keinen Tabak: Das Gelände die neue zeit in Thielle am Neuenburgersee ist seit 1937 ein «geschütztes Plätzchen», das auch auf den WIR BankGründer Werner Zimmermann zurückgeht.
Vor 1000 Jahren schlug in der Schweiz das letzte Stündchen für den Europäischen Bison oder Wisent. Heute lebt er hierzulande wieder in einigen Tierparks, doch es gibt Bestrebungen, ihn auch in die freie Natur zu entlassen.
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4 «FASZINATION WIR» Interview mit Hervé Dubois über sein Buch
7 NACKT UNTER DER SONNE 13 NEUE HÖCHSTWERTE
Halbjahresbericht 2014
16 JÜNGER UND WEIBLICHER
Verwaltungsrat der WIR Bank Genossenschaft 2014
18 MARKUS AFFENTRANGER BAGGERT MIT SONNENLICHT 23 WIR – DAS GRÖSSTE BUSINESS NETZWERK DER SCHWEIZ 24 DIE LOMBARDEI IST BEREIT FÜR EINEN «KURSWECHSEL» 26 DIE RÜCKKEHR DES WISENTS 31 DIE PATIENTENVERFÜGUNG
Prof. Ursula Guggenbühl
34 BEZIEHUNGEN AUFBAUEN UND PFLEGEN 36 KIPPT DIE BAUKONJUNKTUR? Dr. Richard Schwertfeger
39 UNTER WÖLFEN Kolumne Willi Näf
SEITE 34 Netzwerke gibt es in verschiedensten Varianten. Bei beruflichen Netzwerken liegt der Fokus auf dem gegenseitigen Nutzen. Was gilt es beim Aufbau und bei der Pflege eines Netzwerkes zu beachten?
40 CARTOON 41 AGENDA
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RESISTENT GEGEN KRISEN, SPEKULATION UND PROFITGIER Zum 80. Geburtstag der WIR Bank Genossenschaft erscheint das Buch «Faszination WIR – Resistent gegen Krisen, Spekulation und Profitgier». Verfasser ist Hervé Dubois, der von 1995 bis 2014 Kommunikationschef der WIR Bank war und sich während dieser Zeit immer wieder mit der Geschichte des Unternehmens auseinandergesetzt hat. Das Buch wird an den Herbstgesprächen in Luzern vorgestellt, ist ab 8. November 2014 im Buchhandel erhältlich und kann auch über die WIR Bank bezogen werden (vgl. Kasten S. 6).
Hervé Dubois, Autor des Buchs «Faszination WIR», mit Jean-Marc Ayrault, Premierminister Frankreichs von Mai 2012 bis März 2014. Als Bürgermeister von Nantes hat sich Ayrault im Frühling 2012 in Basel über das WIR-System informiert.
Wie entstand die Idee zu einem Buch über die Geschichte der WIR Bank Genossenschaft? Die Komplementärwährung WIR ist mit ihrer langen und erfolgreichen Geschichte weltweit ein Sonderfall. Zu meinen Aufgaben als Kommunikationschef gehörte es, interessierten Kreisen – ich spreche vor allem von ausländischen Delegationen von Universi4
täten, Wirtschaftskammern, Regionen und Gemeinden sowie diversen Initiativen – die Bank und ihre Aufgaben zu erklären. Da es keine zusammenhängende Geschichte des Unternehmens gibt, entstand die Idee, meine Notizen, Unterlagen und Gedanken zu einem Ganzen zusammenzufassen. Sie wären sonst mit mir in Pension gegangen und für das Unternehmen verloren gewesen.
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Dass das Buch zu einem runden Geburtstag der WIR Bank erscheint, ist also mehr ein schöner Zufall als Absicht. Aus dem Gesagten folgt übrigens auch, dass das Buch persönlich gefärbt ist und keinerlei Einflussnahme der Geschäftsleitung oder des Verwaltungsrats erfolgt ist – obwohl die WIR Bank das Projekt in finanzieller und jeder anderen Hinsicht gefördert hat. Wir konnten so vermeiden, dass ich sozusagen mit einer Schere im Kopf schreibe. Ich war also frei in der Wortwahl, konnte auch Negatives beim Namen nennen, und Positives hat nun nicht den Charakter von Lobhudelei oder Eigenlob. Es ist also ein Buch über das WIR-System und die WIR Bank, aber nicht von der WIR Bank.
Auf welche Quellen haben Sie sich gestützt? Die Quellenlage ist eher bescheiden. Ich habe mich hauptsächlich auf die Unternehmenspublikationen der WIR Bank gestützt, die seit der Unternehmensgründung 1934 lückenlos vorhanden sind. Als wertvoll erwiesen sich auch die Gespräche, die ich seit den 90er-Jahren mit Unternehmern geführt habe, die zum Teil seit Jahrzehnten mit der Komplementärwährung WIR arbeiten. Das Internet war natürlich auch hilfreich, um das wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Umfeld der 30er-Jahre besser zu erfassen – das Buch beginnt ja mit der Wirtschaftskrise 1929, die letztlich zur Gründung der damaligen WIR Wirtschaftsring-Genossenschaft – heute WIR Bank Genossenschaft – geführt hat.
Sie haben während knapp 20 Jahren für die WIR Bank als Kommunikationschef gearbeitet und damit ungefähr das letzte Viertel der Unternehmensgeschichte selbst hautnah miterlebt. Was ist für Sie das wichtigste Ereignis in dieser Zeitspanne? Von grösster Bedeutung war die Einführung des CHF-Bereichs, die zum dualen Prinzip geführt hat, wie ich das im Buch beschreibe – also der Einstieg ins Schweizerfrankengeschäft beziehungsweise die damit verbundene Öffnung für die Allgemeinheit. Weniger ein Ereignis als ein entscheidendes Prinzip ist das kompromisslose Festhalten an den Grundgedanken der Genossenschaft. Von Anfang an wurde das Unternehmen vom wirtschaftlichen Establishment angefeindet, infrage gestellt, aktiv bekämpft, verunglimpft oder ins Lächerliche gezogen. Trotzdem hat man mit verblüffender Sturheit das System der Komplementärwährung verteidigt und verbessert. Dabei hat man sich nicht nur Freunde gemacht.
Und welche ist in Ihren Augen die spannendste Phase der Unternehmensgeschichte? Ich möchte zwei Phasen erwähnen, eine historische und eine ökonomische. Historisch gesehen ist es die unglaublich turbulente Entstehungsgeschichte der WIR Bank, welche sich bis in die Nachkriegszeit hineinzog. Diese Geschichte liest sich streckenweise wie ein Krimi, und mehr als einmal ging es um das nackte Überleben der WIR Bank! Auf ökonomischer Ebene am spannendsten ist die Wegbereitung vom Wirtschaftsring zum heutigen Finanzinstitut. Diese Phase ist von zwei entscheidenden Schritten geprägt, der neuen Kapitalstruktur 1992 und dem bereits erwähnten Einstieg ins Schweizerfrankengeschäft vor 14 Jahren.
Sie äussern die Überzeugung, dass Werner Zimmermann – der massgebendste Gründer der Bank – auch heute stolz auf sein Unternehmen wäre. Das WIR-System hat sich aber immer wieder gewandelt und wurde stetig verfeinert. Was ist denn von der alten Idee geblieben? Diese Überzeugung äusserte Konrad Zimmermann, der Sohn Werner Zimmermanns, anlässlich unseres 75-Jahr-Jubiläums, und ich teile sie. Vieles aus der Gründerzeit ist erhalten geblieben: die systembedingte Solidarität zwischen den Teilnehmern am WIR-System, der Selbsthilfe- und der Netzwerkgedanke, die genossenschaftliche Struktur des Unternehmens, die Nichtverzinsung von Guthaben in der Währung WIR, die Abwesenheit von Spekulation und Profitgier.
Werner Zimmermann war eine schillernde, einnehmende, rhetorisch brillante Gestalt und auf verschiedenen Gebieten seiner Zeit voraus. Wie schätzen Sie ihn ein? Werner Zimmermann beeindruckt als Persönlichkeit. Dass er seiner Zeit voraus war, zeigt sich schon darin, dass er von vielen als Spinner oder schräger Vogel abgetan wurde. Er kämpfte für eine bessere und gerechtere Welt, war ein Humanist im besten Sinne des Wortes. Es empört mich, dass er in der Schweizer Wirtschafts- oder Sozialgeschichte nicht die Anerkennung gefunden hat, die er verdient und die ihm das Ausland mit Ehrendoktoraten oder Ehrenprofessuren entgegengebracht hat. Ausserdem wäre es nicht abwegig, einen schönen Platz in Zürich, 5
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wo die Genossenschaft am 16. Oktober 1934 gegründet wurde, nach ihm zu benennen …
Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Zimmermann im Ausland bekannter ist als in der Schweiz? In Krisenzeiten stösst man wie von selbst auf das Prinzip der alternativen oder komplementären Währungen. Und Krisenzeiten sind im Ausland häufiger und in ihren Konsequenzen einschneidender als in der Schweiz. Dazu kommt der hierzulande herrschende Konservatismus: Wer anders tickt und aussergewöhnlich ist, gilt grundsätzlich als suspekt.
Im Vorwort schreiben Sie, das WIR-System werde selbst heute noch oft missverstanden. Ist das WIRSystem denn auch nach 80 Jahren Optimierung immer noch zu kompliziert? Nein, es ist einfach anders als alles andere … Es steht teilweise im Widerspruch zu den gängigen unternehmerischen Erfolgsrezepten. So ist es beispielsweise sinnvoll, die möglichen Ausgaben in der Währung WIR zu planen, bevor man WIR überhaupt eingenommen hat. Dies deshalb, weil man nur so viel WIR-Geld einnehmen soll, wie man auch wieder ausgeben kann. Das führt zu einer weiteren Maxime, die man zuerst verinnerlichen muss, nämlich dem Verzicht auf Maximierung. Es geht nicht darum, möglichst viel WIR-Umsatz zu machen, sondern nur so viel, wie man bewältigen kann. Dies dafür konsequent. Diese andere Denkweise führt immer wieder zu Missverständnissen oder Fehlinterpretationen, was kaum zu vermeiden ist.
Inwiefern hat die Rechtsform der Genossenschaft zum Erfolg der WIR Bank beigetragen? Oder anders gefragt: Wo stünde die WIR Bank, wenn sie als Aktiengesellschaft gegründet worden wäre? Ich bin überzeugt, dass die WIR Bank als Aktiengesellschaft nicht überlebt hätte. Früher oder später wäre sie von einer Aktionärsmehrheit geschluckt worden – entweder, um sich ihre Substanz zuzuführen oder um einen unliebsamen Konkurrenten loszuwerden. Die Rechtsform der Genossenschaft ist auch eine Grundvoraussetzung für die zukünftige Existenz der WIR Bank.
Das letzte Kapitel in Ihrem Buch handelt von den «intakten Zukunftschancen» der WIR Bank Genossenschaft. Was stimmt Sie zuversichtlich? Auch in Zukunft – wie schon in der Vergangenheit – wird jede 6
gängige Wirtschaftsordnung geprägt sein von Wachstums- und Profitdenken, die dem Menschen nicht auszutreiben sind und immer wieder in eine Krise führen. Aus diesem Grund braucht es alternative Modelle im Sinn von komplementären Systemen, die in Nischen und in Synergie mit dem Schweizerfranken- bzw. mit dem Privatkundengeschäft funktionieren – gerade auch in Krisenzeiten.
Was muss die WIR Bank heute tun, damit sie in 20 Jahren ihren 100. Geburtstag fit und mit guten Lebenserwartungen feiern kann? Die Geschichte der WIR Bank zeigt, dass das beharrliche Festhalten an den Unternehmensprinzipien ein gutes Rezept ist. Die Wirtschaftsordnung wird immer krisenanfällig bleiben, was bedeutet, dass ein System wie das WIR-System immer aktuell sein wird. Natürlich kann und muss es weiterentwickelt werden. So bergen die heutigen interaktiven Kommunikationsmöglichkeiten viel Potenzial für das WIR-System, das auf intensive Vernetzung der Teilnehmer angewiesen ist. INTERVIEW: DANIEL FLURY
Buchvernissage an den Herbstgesprächen Die Vernissage des Buchs «Faszination WIR» findet am 8. November an den Herbstgesprächen der WIR Bank im KKL Luzern statt. Autor Hervé Dubois führt in die Thematik ein und liest aus einigen Schlüsselpassagen vor. Das Buch erscheint im Lenzburger Fona-Verlag und ist im Buchhandel ab 8. November zum Preis von 34 CHF erhältlich. An den Herbstgesprächen kann das Werk zum Spezialpreis von 20 CHF bzw. CHW erworben werden. Wer möchte, kann sich sein Buch selbstverständlich von Hervé Dubois signieren lassen. Die diesjährigen Herbstgespräche sind dem Thema Nachhaltigkeit gewidmet. Andres Klein (Raurica Wald AG; Präsident Waldwirtschaftsverband beider Basel) und Stefan Vögtli (Bauen mit Buche) zeigen auf, wie die nachhaltige und innovative Bewirtschaftung des Walds zu Resultaten führen, die wirtschaftlich interessant sind und die regionale Wertschöpfung stärken (vgl. WIRPLUS April 2014). Die Herbstgespräche sind allen Kapitalgebenden (Inhaberinnen und Inhaber von Stammanteilen) der WIR Bank zugänglich.
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NACKT UNTER DER SONNE Die WIR Bank Genossenschaft feiert am 16. Oktober ihren 80. Geburtstag. Mit ihrer Gründung legte sich Werner Zimmermann 1934 mit dem Schweizer Wirtschaftsestablishment an, das ihn und die WIR Wirtschaftsring-Genossenschaft – so hiess die Bank bis 1998 – jahrelang bekämpfte. Doch Zimmermanns Reformideen gingen weit über alternative Geldentwürfe und eine neue Wirtschaftsordnung hinaus. Sie betrafen beispielsweise auch die Lebensführung, die Erziehung und die Ernährung. Damals wie heute wird der von Zimmermann gelebte Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Tabak entweder bewundert oder belächelt – der Verzicht auf Kleidung war und ist schon heikler. Die von Werner Zimmermann inspirierte Gründung des Naturistengeländes die neue zeit durch Elsi und Edi Fankhauser sorgte deshalb 1937 für Aufsehen. Und mit Vorurteilen kämpfen die Betreiber und Besucher des wunderschön am Neuenburgersee gelegenen Nacktgeländes noch heute.
Als «sonnigen Hort der Geborgenheit» beschrieb WIR Bank-Gründer Werner Zimmermann das Naturistengelände die neue zeit in Thielle am Neuenburgersee.
Die Künstlerin Milo Moiré fährt völlig nackt per Tram quer durch Basel, um die Kunstmesse art zu besuchen, wird dort aber abgewiesen. Nur mit einem String bekleidet, spaziert eine junge Frau mit ihrem Freund durch Genf; ein Taxifahrer knipst ein Bild, Zeitungen drucken es. Mit behördlicher Erlaubnis lässt
der Künstler Elias Kirsche Nackte durch die Stadt Biel spazieren, «für die Integration der Lust oder der Sexualität in das öffentliche Leben». Die Arbeit der 17-jährigen Maturandin Evelyn S. über die Machbarkeit eines Nacktwanderwegs im Zürcher Oberland sorgt für Schlagzeilen und Gesprächsstoff. 7
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Nicht auf einem Nacktwanderweg, sondern einfach so, wandern Nackte im Alpsteingebiet, und der Kanton Appenzell Innerrhoden stellt als Reaktion darauf das Nacktwandern unter Strafe. Die CVP Schweiz will ein Badeanzugobligatorium für Kleinkinder in den Badis, um sie vor Pädophilen zu schützen. Oben ohne protestieren Feministinnen von Femen in Davos gegen das World Economic Forum und in Zürich gegen Prostitution. Das Onlinereisebüro Expedia ermittelt per Umfrage in 24 Ländern, dass 28% der Deutschen sich schon einmal nackt am Strand gezeigt haben und dafür den 1. Platz verdienen. Im Kanton Waadt wird in Villeneuve und in Epesses das Nacktbaden unter Strafe gestellt. Die Hälfte dieser Müsterchen stammt aus den letzten Monaten. Sie zeigen, dass Nacktsein ein Bedürfnis ist, aber nicht ohne Weiteres geduldet wird und sich auch vorzüglich als Provokation und als Protest instrumentalisieren lässt.
Keine Provokation Provokation und Protest: Nichts lag dem Schweizer Lebensreformer und Pionier der Schweizer Naturistenbewegung Werner Zimmermann ferner, wenn er sich in den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts in seinen Vorträgen und Büchern über Vegetarismus, Abstinenz von Alkohol und Tabak und über das Nacktsein äusserte. Vielmehr ging es ihm darum, die in seinen Augen wesentlichen Voraussetzungen für ein gesundes Leben in Einklang mit der Natur zu propagieren. Es liegt auf der Hand, dass Zimmermann damals vor allem mit dem Thema Nacktheit aneckte. In seinem Büchlein «sonnenzauber – befreite menschen in natur und sonne» konstatierte er 1944: «Kaum etwas anderes jagt einer grossen Menge Gebildeter und Ungebildeter solch wilden Schrecken ein und löst solch ängstliche Abwehr aus, wie wenn von einem Menschen behauptet wird: ‹Er badet nackt! Und er schämt sich nicht!›» Deshalb war für Zimmermann klar: «Erwachsene Menschen 8
können in Stille und Einsamkeit daheim in einem sonnigen Zimmer oder einem geschützten Plätzchen mit der Sonne und dem freien Leib wieder Freundschaft schliessen» – keinesfalls also an Orten, an denen man gesehen werden und Anstoss erregen kann.
Zimmermann inspiriert Fankhauser Einer, der sich von Zimmermanns Ideen inspirieren liess, war der Bieler Edi Fankhauser. Als 17-Jähriger hatte er Zimmermann an einem Vortrag gehört, war von dessen Überzeugungen begeistert und übernahm schon zwei Jahre später die Geschäftsführung von Zimmermanns Verlagsbuchhandlung. 1924 machte er sich als Verlagsbuchhändler selbstständig und führte in seinem Programm vor allem Schriften, welche für Freikörperkultur und Lebensreform eintraten. Bereits 1926 trug ihm dies den ersten von vielen Prozessen ein. Der Verbreitung von Schundliteratur angeklagt, wurde er zu einer Busse von 30 Franken verurteilt, vom Obergericht aber freigesprochen. Fankhauser liess sich vom eingeschlagenen Weg nicht abbringen und gründete 1927 den Lichtbund, die Organisation der Naturisten in der Schweiz. Ihr Organ, die Schrift «die neue zeit», gab er ab 1928 heraus. Vor Gericht setzte sich Fankhauser noch bis in die 40er-Jahre hinein für das Recht auf Nacktheit und für die Naturistenbewegung ein. Sein eigentliches Vermächtnis aber schuf er 1937 zusammen mit seiner ersten Frau Elsi: Die Gründung des Naturistengeländes die neue zeit in Thielle, an den Ufern des Neuenburgersees. Damit setzte er die Ideen Werner Zimmermanns in einem «geschützten Plätzchen» in die Tat um. Zimmermann war regelmässiger Gast in Thielle und unterhielt die Bewohner mit Vorträgen über Naturismus, über seine Weltreisen und mit praktischen Turn- und Yogaübungen. Als die neue zeit 1961 in eine Stiftung übergeführt wurde, zog das Ehepaar Fankhauser Werner Zimmermann als dritten Stiftungsrat bei.
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die neue zeit heute Es trifft noch immer zu, was Zimmermann in seiner Schrift «sonnenzauber» über Thielle festhielt: «(…) in der Geborgenheit einer Bewegung und im Schutze eines anerkannten Geländes können wir uns der Sonne erfreuen (…).» Nur Mitglieder eines Naturistenvereins haben nämlich Zutritt, und das Gelände ist von einem hohen Zaun umgeben. Bis zu 1800 Naturisten – zu drei Vierteln aus der Schweiz, zu einem Viertel vorwiegend aus Deutschland und den Niederlanden – halten sich an einem sonnigen Tag auf dem 100 000 m2 grossen Gelände auf. Wobei Naturisten im Sinn der Gründer nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen. Barbara P., seit 2009 Mitarbeiterin der Betriebsleitung in Thielle: «Auf dem Gelände sind – wie es der Stiftungszweck vorschreibt – Alkohol, Fleisch und Tabak tabu, aber ausserhalb des Geländes dürfte sich nur ein kleiner Prozentsatz vollständig an diese Vorgaben halten.» Das verbindende Element der Besucherinnen und Besucher sei die Nacktheit, wobei auch hier, ganz im Sinn der Stifter, Konzessionen gemacht werden: «Nacktsein ist ein Recht, nicht eine Pflicht. Wer sich einmal nicht nackt zeigen will, kann sich auch etwas überziehen, nur beim Schwimmen im See sind Kleidungsstücke nicht erwünscht.» Diese Regel bewährt sich speziell im Umgang mit den Jugendlichen, etwa dann, wenn während der Pubertät Vorbehalte gegenüber dem Nacktsein wach werden. Barbara war es denn auch, die vor fünf Jahren eine Jugendgruppe ins Leben gerufen hat. «Es ging uns darum, den Jugendlichen zu zeigen, dass sie uns wichtig sind und wir auf ihre Bedürfnisse eingehen wollen.» Ein Tipi wurde deshalb angeschafft, zu dem nur Jugendliche Zugang haben. Es wurden auch Angebote wie Bogenschiessen ins Tätigkeitsprogramm aufgenommen, die zu bestimmten Zeiten der Jugend vorbehalten sind. Auf der anderen Seite ist es der Betriebsleitung wichtig, dass generationenübergreifende Anlässe auf dem Programm stehen. «Zu den
Rennern zählt hier der Volkstanz, der übrigens schon zu den Gründerzeiten Alt und Jung begeistern konnte», so Barbara. Thielle sei ein spezielles Gelände, «aber was wir anstreben, sind praktikable Lösungen, die sich im Alltag bewähren und Konflikte insbesondere zwischen den Generationen verhindern».
Alle Schichten vertreten Die Hintergründe der Thieller – so nennen sich die Besucher des Naturistengeländes, auf dem sich alle duzen – könnten unterschiedlicher nicht sein. Alle Schichten sind vertreten, vom Zahnarzt über den Angestellten und den Handwerker bis zum Unternehmer und zum Beamten, vom «Gartenzwergler» bis zum Spiritualisten. Wer nicht in einem Zimmer übernachtet oder für ein paar Tage ein Zelt aufgeschlagen hat, übernachtet in einem der 400 Wohnwagen und demonstriert seine Vorlieben auch gegen aussen: ein gepflegtes Blumengärtchen, ein Zigeunerwagen, mit allerlei Krimskrams dekoriert, ein Labyrinth im Rasen, ein Gartenzwerg hier und dort. Insgesamt eine «magische Welt», so Barbara, die sich hier gerade auch als Frau wohlfühlt. «Das Filmund Fotoverbot auf dem Gelände gibt vor allem den Frauen Sicherheit. Als Deutsche war ich es gewohnt, am Baggersee nackt zu baden, aber ich fühlte mich immer beobachtet – das ist hier ganz anders!» Trotzdem: Sexuelle Übergriffe sind nicht ausgeschlossen, und auch das Thema Pädophilie beschäftigt die Betriebsleitung. Eine Präventionskommission wurde deshalb ins Leben gerufen, die Theatergruppe «Vitamin A» tritt mit dem Programm «Mein Körper gehört mir» auf, und ein standardisiertes Vorgehen bei Verdachtsmeldungen wurde festgelegt. «Es hat eine gewisse Sensibilisierung stattgefunden», so Barbara, «Pädophile hätten es hier schwer, das soziale Netz ist gut ausgebildet, und die Mitglieder scheuen sich nicht, zum Schutz der Familien verdächtiges Verhalten zu melden.» 9
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400 Wohn- und einige Zirkuswagen dienen neben Zimmern und Zelten als Unterkünfte.
den und zu kämpfen, sich in die Politik zu stürzen und beispielsweise gegen die Atomkraft zu schreiben.» Auch Roland beschäftigt sich intensiv mit den Fragen rund um Nacktheit und Sexualität und kommt zum Schluss: «Im Vergleich zu Zimmermanns Idealen sind wir philosophisch zurückgefallen. Eine Gesellschaftsreform hat nicht stattgefunden und wird als Ziel nicht verfolgt. Wir sind angepasst und verklemmt und trauen uns als Mann nicht einmal, mit nacktem Oberkörper durch eine Stadt zu spazieren. Ich glaube, auch in Thielle sind wir prüder als unsere Gründer und wagen es kaum, die Lebenslust voll auszuleben oder eine nackte Person von oben bis unten anzuschauen; die Sexualität wird bei vielen nicht wahrgenommen als Zugang zur Erfüllung der Liebeswahrheit.» Und trotzdem sei Thielle wichtig als Ort, an dem Nacktsein nicht verboten ist, als Ort, an dem nicht zählt oder gezeigt wird, was oder wer jemand ist.
Gründeranliegen aufnehmen die neue zeit – ein mit Toren und Zäunen abgeschirmtes, «geschütztes Plätzchen».
«Philosophisch zurückgefallen» Nicht zu den «Gartenzwerglern», sondern zu den Spiritualisten und Philosophen ist Roland S. zu zählen. Der Deutsche verbringt mit seiner Frau Christina F. jeweils den ganzen Sommer in Thielle und hat sich auch intensiv mit Werner Zimmermann und seinen reformerischen Gedanken auseinandergesetzt (Werner Zimmermann – Pionier der neuen Zeit, Stämpfli Publikationen, Bern, 2012). «Zimmermann war ein Philosoph, ein Poet und Visionär, der alte Zöpfe abschneiden wollte. Ein extremer, zäher Arbeiter und Asket mit ausgeprägtem Pflichtbewusstsein. Dieses hat ihn immer wieder eingeholt: Obwohl er das fröhliche, unbeschwerte Leben vertrat, sah er sich immer wieder verpflichtet, aktiv zu wer10
Was ist heute in Thielle noch von den Überzeugungen Elsi und Edi Fankhausers und Werner Zimmermanns spürbar? «Der Geist unserer Gründer lebt weiter», sind sich Barbara und Roland einig. Der fünfköpfige Stiftungsrat, unterstützt durch einen dreiköpfigen Ältestenrat, wacht über das Gedankengut der Gründer und über den Stiftungszweck, zu dem auch eine gesunde Freizeitgestaltung gehört. Gesundheit und Natürlichkeit, Ernährung und Sport – das sind die Grundpfeiler des Kultur- und Sportprogramms, das zu den Kernaufgaben der Stiftung zählt und das Thielle von herkömmlichen Campingplätzen wesentlich unterscheidet. Das Gros der Anbieter der bis zu 100 Kurse und Veranstaltungen pro Saison sind die Geländebesucher selbst. Ihre Hobbys, ihre Berufs- und Lebenserfahrung befähigen sie, Kurse zu den unterschiedlichsten Themen durchzuführen. Dieses Jahr war Ernährung ein Schwerpunkt im Programm, ein Thema, das den
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Zu den sanierungsbedürftigen Gebäuden gehört das «Lichthaus».
Nackt nur in Thielle oder «fernab der lauten Strassen»: Lebensreformer und Nacktwanderer Werner Zimmermann vor dem Bietschhorn. (Foto aus «sonnenzauber»)
Gründern speziell am Herzen lag. Im Übrigen zeigt sich Barbara überzeugt, dass die alten Ideen nicht nur geachtet, sondern weiterentwickelt und der heutigen Zeit angepasst werden müssen. Barbara, die 1995 in Thielle als Verantwortliche für Restaurant und Laden sowie Köchin begonnen hat und das ganze Repertoire der vegetarischen Küche beherrscht, findet es gut, dass sich seit zwei Jahren auch die vegane Küche integriert. Damit der Bioladen für alle Thieller attraktiv ist, gibt es neben den biologischen und FairTrade-Produkten auch konventionelle Produkte aus regionaler Produktion. «Eine Arbeitsgruppe ist daran, ein neues Leitbild zu erstellen: Wer sind wir, was tun wir, was ist uns wichtig? Das sind die Fragen, die es zu beantworten gilt.»
Finanzielle Herausforderung Zu den ideellen Grundsatzfragen gesellt sich eine finanzielle Herausforderung. Die Gebäude auf dem Gelände, insbesondere das verwaiste Gründerhaus, aber auch die sanitären Anlagen und die Kanalisation sind in die Jahre gekommen und bedürfen einer umfassenden Sanierung. Gemäss Kurt H., Präsident der Stiftung die neue zeit, ist mit Ausgaben in Millionenhöhe zu rechnen. Da man in Geldangelegenheiten weiterhin unabhängig bleiben wolle, stünden weniger eine Hypothek als vielmehr Freiwilligenarbeit sowie Darlehen und Schenkungen von Geländebesuchern im Vordergrund. Auch an Crowdfunding unter Naturisten wird gedacht. Eine Infrastrukturkommission hat zudem Vorschläge zu einem Gestaltungskonzept für das Gelände erarbeitet. Es stellen sich Fragen wie: Verkraftet das Gelände mehr Wohnwagen? – Wohin mit den Zelten, wenn ab Oktober 2018 das Zeltaufschlagen unter den Bäumen – sie gelten mittlerweile als Wald – von den kantonalen Behörden untersagt wird? – Welcher Bereich soll im Winter beheizbar und funktionsfähig sein? Es ist ein Glück für das Gelände und seine Bewohner, dass nach
Ein gepflegtes Rosenbeet.
einer gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Blöcken – den Fundamentalisten und den Realisten – mehr Demokratie eingekehrt ist. Kommissionen, Arbeitsgruppen, Jugend- und Erwachsenenforen und das zweisprachige Informationsorgan «Thieller Info de Thielle» nehmen sich der unterschiedlichsten Anliegen und Probleme an und präsentieren ihre Vorschläge, über die letztlich der Stiftungsrat entscheidet.
Vom Wort zur Tat «Wer bei uns, im grössten Teil von Europa, nackt im Freien badet (…), kümmert sich wenig um die Verurteilung durch die Menge. (…) Ein solcher Mensch prüft alles Bestehende und alles Neue. 11
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Das Tipi ist nur Jugendlichen zugänglich.
Der Kinderspielplatz.
Er wird nicht nur in der Frage der Körperpflege, er wird auch auf anderen Lebensgebieten sich nicht einfach mit dem Überlieferten zufriedengeben, sondern nach der Wahrheit suchen. Und findet er sie, so wird er danach trachten, sie zu leben, sie zu verwirklichen, wie er es beim Nacktbaden auch tut. Er gehört zu den Kräften, die Neues wollen. Kein Wunder, dass das Alte sie fürchtet und bekämpft» (Werner Zimmermann in «sonnenzauber»). Was Werner Zimmermann auszeichnet, ist die Tatsache, dass er seine Überzeugungen nicht nur in Wort und Schrift fasste, sondern auch zu verwirklichen suchte. So entstand bereits 1932 die Siedlungs- und Gartenbaugenossenschaft Siga in Bassersdorf. Mitgründer Rudolf Müller (Reformhaus Müller) kaufte 85 000 m2 Land, um den natürlichen Landbau zu fördern und eine gesunde Lebensweise sowie eine harmonische Erziehung der Kinder zu ermöglichen. Das Land sollte «vor jedem Rückfall in die Hände der Spekulation und der üblichen Zinswirtschaft» gesichert werden. 2007 beantragte und erreichte Isolde Enz, Tochter des dritten Mitgründers Paul Enz, die Auflösung der Siga, die ihren Zielen nur in den Anfangsjahren nahegekommen war.
WIR Bank Genossenschaft auch erfolgreich im Schweizer-Franken-Geschäft tätig und weist eine Bilanzsumme von 4,44 Mrd. CHF/CHW auf. Mit ihren attraktiven Produkten und Dienstleistungen wird sie heute als Partnerin der Schweizer KMUs und als Nischenanbieterin für Schweizer Privatkunden wahr- und ernstgenommen. Mehr als nur geistiger Vater war Werner Zimmermann für das Naturistengelände die neue zeit in Thielle. Seine Bedeutung unterstrichen die Gründer Elsi und Eduard Fankhauser 1961 bei der Überführung ihres Besitzes in eine Stiftung, indem sie Zimmermann als dritten Stiftungsrat beizogen.
80 Jahre WIR Bank Genossenschaft Erfolgreicher war eine weitere Gründung Zimmermanns, Enz’, der Siga und anderer Mitgründerinnen und Mitgründer: Die WIR Wirtschaftsring-Genossenschaft, seit 1998 WIR Bank Genossenschaft, feiert am 16. Oktober ihren 80. Geburtstag. Das 1934 gegründete Unternehmen sollte in der Weltwirtschaftskrise mit der eigens ins Leben gerufenen Währung WIR die lokale Wirtschaft wieder in Schwung bringen. Das WIR-Geld wurde deshalb – wie auch heute – nicht verzinst, mit dem Ziel, dass es möglichst schnell wieder ausgegeben wird und für Umsatz bei den angeschlossenen Teilnehmern sorgt. Die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells stand Pate zu dieser Idee. Seit 2000 ist die 12
Im Gegensatz zur Siga florieren beide Gründungen noch heute. Gemeinsam ist ihnen nicht nur Werner Zimmermann als eine der treibenden Kräfte in den Anfängen: Beide, Stiftung und Genossenschaft, sind immer wieder auf Unverständnis oder Ablehnung gestossen. Dank der Fähigkeit, auf Veränderung zu reagieren, ohne das ursprüngliche Gedankengut über Bord zu werfen, wird es sowohl der Stiftung die neue zeit wie auch der WIR Bank Genossenschaft gelingen, die künftigen Herausforderungen zu meistern. DANIEL FLURY
WWW.DIE-NEUE-ZEIT.CH
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NEUE HÖCHSTWERTE HALBJAHRESBERICHT 2014
Die WIR Bank Genossenschaft hat im 1. Halbjahr 2014 in jeder Hinsicht sehr gute Resultate erzielt. Als sehr erfreulich ist insbesondere zu werten, dass der Umsatz in WIR-Franken per Ende Juni um 0,7% oder 4,8 Mio. CHW höher ausgefallen ist als in der entsprechenden Vorjahresperiode. Neue Höchstwerte verzeichneten das Gesamtkreditvolumen, die Kundengelder und die Bilanzsumme.
Das robuste Wachstum der Schweizer Wirtschaft hat sich im 1. Halbjahr 2014 fortgesetzt. Insbesondere die Binnenkonjunktur, welche für das Geschäft der ausschliesslich in der Schweiz tätigen WIR Bank wesentlich ist, hat sich gut entwickelt. In diesem Umfeld hatte eine Werbekampagne der WIR Bank auf den Fernsehkanälen SRF1, RSI LA 1 und RTS UN grossen Erfolg. Sie trug dazu bei, unsere Genossenschaft einer breiteren Öffentlichkeit in allen Landesteilen bekannter zu machen – ein wesentlicher Punkt in der neu formulierten Unternehmensstrategie. Diese beinhaltet unter anderem auch die Stärkung des Netzwerkgedankens, welcher ein wesentliches Element des auf Solidarität ausgerichteten WIR-Systems darstellt.
Kreditgeschäft
Germann Wiggli.
Mit 3,818 Mrd. CHF/CHW hat das Gesamtkreditvolumen einen neuen Höchstwert erreicht (vgl. Tabelle: Summe aller Positionen unter den Aktiven). Die Zunahme um 51,9 Mio. CHF/CHW (+1,4%) im Vergleich zum Stand am 31. Dezember 2013 fällt geringer aus als im 1. Halbjahr 2013 (+162,2 Mio.) oder 2012 (+70,8 Mio.) Erfreulich ist aber, dass im WIR-Bereich die Vergabe neuer Hypotheken die systembedingt hohe Amortisationstätigkeit überflügelt hat – wenn auch in bescheidenem Ausmass: das WIR-Hypothekarkreditvolumen wuchs um 910 000 CHW auf 648,2 Mio. CHW (+0,14%; Tabelle: Hypothekarforderungen CHW). Stärker gewachsen ist das CHF-Hypothekarvolumen, und zwar um 77,4 Mio. CHF (+3,4%) auf 2,378 Mrd. CHF (vgl. Tabelle). Mit knapp 54% liegt der grösste Teil dieses Volumens wie bereits im Juni 2013 in Form von Festhypotheken vor. Nur noch 12% (Vorjahr 14%) sind variable Hypotheken, während erwartungsgemäss die LIBOR-Hypotheken weiter auf dem Vormarsch sind (34% gegenüber 32,5% im Vorjahr). 13
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Kundengelder Die Kundengelder haben im 1. Halbjahr von 2,21 auf 2,44 Mrd. CHF zugenommen (Tabelle: Summe der ersten beiden Positionen unter den Passiven). Der Zuwachs von 232 Mio. CHF (+10,5%) geht zu einem grossen Teil auf das Konto des im Oktober 2013 lancierten Sparkontos 60+. Es ist dank ausgezeichneter Konditionen schweizweit auf grosses Echo gestossen. Während ihm bis Ende 2013 15,3 Mio. CHF zugeflossen waren, wuchs es danach innerhalb von sechs Monaten auf 106,4 Mio. CHF an. Aber auch das normale Sparkonto findet guten Zuspruch und legte um 3% oder 24,5 Mio. auf 809,8 Mio. CHF zu. Damit hat das Sparkonto den grössten Anteil innerhalb der Kundengelder, vor dem Säule-3a-Konto TERZO (724,3 Mio. CHF) und dem Freizügigkeitskonto (370,4 Mio. CHF). Innerhalb der Übrigen Verpflichtungen gegenüber CHF-Kunden mit einem Total von 425,9 Mio. CHF (vgl. Tabelle) stechen die Termingelder hervor. Der beachtliche Zufluss von 91,2 Mio CHF – eine Zunahme um 84,9% auf 198,8 Mio. CHF! – ist zum grössten Teil darauf zurückzuführen, dass mehrere institutionelle Anleger die WIR Bank als zuverlässige Partnerin mit attraktiven Konditionen entdeckt haben.
WIR-Umsatz Es mag zu früh sein, um von einer Trendwende zu sprechen, doch nach einer längeren Durststrecke hat der Umsatz in der Währung WIR wieder zugelegt, und zwar im Vergleich zum 1. Halbjahr 2013 um 0,7% auf 675,2 Mio. CHW. Dieser Zuwachs um 4,8 Mio. CHW erscheint gering, er ist aber von Bedeutung. Er zeigt, dass die Teilnehmer am WIR-System wieder vermehrt Ausgaben in WIR-Geld tätigen und so dem WIR-Gedanken – Selbsthilfe, Solidarität unter den Teilnehmern – intensiver nachleben. Dies drückt sich in der leicht höheren Umlaufgeschwindigkeit des WIR-Geldes (1,89 per Ende Juni 2014, 1,75 per Ende Juni 2013) aus, welche die Abnahme des WIR-Geldvolumens (vgl. Tabelle unter den Passiven: Übrige Verpflichtungen gegenüber Kunden CHW) um 1,2% auf 763,7 Mio. CHW mehr als kompensiert hat. Für die WIR Bank ist es ein Zeichen, dass auch in einem Umfeld rekordtiefer Zinsen die sogar noch günstigeren WIR14
Kreditmodelle ihren Platz haben. Die WIR-Geldmenge und die WIR-Umsätze stehen in einem direkten Zusammenhang zum WIR-Kreditvolumen: Je höher letzteres ist, desto höher sind grundsätzlich auch Geldmenge und Umsatz. Aus diesem Grund stellt die WIR Bank weiterhin sehr attraktive WIR-Kreditmodelle zur Verfügung, gegenwärtig startend bei 0,012% für den LIBORKredit WIR für Neuausleihungen. Auch die Instrumente zur Handhabung des WIR-Systems werden ständig verfeinert und haben zweifellos zum Umsatzplus beigetragen. Zu erwähnen sind hier beispielsweise die WIRGASTRO-App und die WIRSHOPPING-App.
Stammanteil Weiterhin gut macht sich der Stammanteil der WIR Bank. Im Vergleich zum Kurs von 418 CHF Ende 2013 stieg der Kurs bis Ende Juni um 2,9% auf 430 CHF. Der langfristige Kursverlauf zeigt, dass der Stammanteil ein solider Titel ist, der sich ausgezeichnet für ein gut diversifiziertes Portefeuille eignet. Eine erfreulich grosse Anzahl Anlegerinnen und Anleger haben zwischen Ende 2013 und Ende Juni 2014 erstmals Stammanteile der WIR Bank erworben: Die Zahl der Kapitalgeber stieg in diesem halben Jahr um 800 auf 9750 (+9%). Wer seine Stammanteile per 28. Mai 2013 in seinem Depot verbucht hatte, kam auch in den Genuss der von der Generalversammlung beschlossenen Dividende von 9.40 CHF pro Stammanteil (+4,4%).
Ausblick Gestützt durch das anhaltende Tiefzinsumfeld haben die Bauinvestitionen in den letzten Quartalen immer nur zugelegt. Weil wetterbedingt ein grosser Teil des Arbeitsvorrats abgebaut werden konnte, dürfte sich die Dynamik im Bausektor allerdings etwas abschwächen. Es kommt hinzu, dass das neue Raumplanungsgesetz oder die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative dem Wohnungsbau einen Dämpfer versetzt haben. Die Zurückhaltung der Bauherren zeigt sich etwa in der markanten Abnahme der Baugesuche und Baubewilligungen im Juni (-12,7% bzw. -20,4% im Vergleich zu Juni 2013). Per 1. September dieses Jahres tritt eine Verschärfung der Hypothekarregeln in Kraft. So
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muss unter anderem der Abbau der 2. Hypothek linear und innerhalb von 15 statt 20 Jahren erfolgen. Unter diesen Vorzeichen erachten wir die Pläne des Bundesrats, den Bezug von Pensionskassenkapital für Wohneigentum zu verunmöglichen, als wenig sinnvoll. Es besteht Gefahr, dass die verfassungsmässig verankerte Wohnbauförderung auf der Strecke bleibt. Umso nötiger sind tragbare Hypothekarangebote für den Mittelstand. Die WIR Bank ist weiterhin in der Lage, hier mit attraktiven Finanzierungsmodellen Hand zu bieten. Im internationalen Vergleich hat sich die Schweizer Wirtschaft auch im 1. Halbjahr 2014 überdurchschnittlich gut entwickelt. Die konjunkturellen Antriebskräfte stammen aus den Bauinvestitionen und dem privaten Konsum, also aus der Inlandnachfrage. Die weitere Entwicklung hängt davon ab, wie stark diese Treiber unter Druck kommen. Zumindest der private Konsum dürfte in Anbetracht steigender Beschäftigung und Einkommen eine Stütze der Konjunktur bleiben.
Keine Probleme bereitet der WIR Bank das US-Steuerprogramm. Die WIR Bank betreibt ihr Geschäft ausschliesslich in der Schweiz, und unsere Kernzielgruppen sind seit jeher die Schweizer KMUs und seit dem Jahr 2000 auch Schweizer Privatkunden, denen wir Spar- und Vorsorgeprodukte – insbesondere also kein Private Banking – anbieten. Aus diesen Gründen wird die WIR Bank am US-Steuerprogramm nicht teilnehmen. Die Produktepipeline ist reich gefüllt: Vorgesehen sind die Einführung einer Kreditkarte, einer Debitkarte für Firmen- und Privatkunden sowie – speziell für WIR-Kunden – einer mobilen Bezahlmöglichkeit für WIR-Geldbeträge via Smartphone und eine Verbesserung des elektronischen Marktplatzes auf www.wirbank.ch.
GERMANN WIGGLI, VORSITZENDER DER GESCHÄFTSLEITUNG
Eckdaten aus der Bilanz per 30. Juni 2014 30.6.2014
Bilanzsumme
31.12.2013
VERÄNDERUNG IN %
4 442 300 799
4 174 115 069
6,4
597 848 936 2 377 532 159 194 354 480 648 154 688
612 484 176 2 300 169 874 206 141 009 647 244 773
-2,4 3,4 -5,7 0,1
2 014 623 839 425 933 544 763 708 989
1 871 773 943 336 734 008 772 970 989
7,6 26,5 -1,2
Aktiven Forderungen gegenüber Kunden CHF Hypothekarforderungen CHF Forderungen gegenüber Kunden CHW Hypothekarforderungen CHW Passiven Verpflichtungen gegenüber Kunden in Spar- und Anlageform CHF Übrige Verpflichtungen gegenüber Kunden CHF Übrige Verpflichtungen gegenüber Kunden CHW
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JÜNGER UND WEIBLICHER VERWALTUNGSRAT DER WIR BANK GENOSSENSCHAFT 2014
Nach dem Ausscheiden von Karl Baumgartner aus dem Verwaltungsrat und der Wahl von Karin Zahnd Cadoux zu seiner Nachfolgerin, hat sich das Audit & Risk Committee des Verwaltungsrats neu konstituiert. Anstelle von Karl Baumgartner übernimmt Verwaltungsrat Jürgen Bletsch das Präsidium dieses Gremiums, Vizepräsident bleibt Georg Anthamatten, Mitglied ist Karin Zahnd Cadoux. Präsident und Vizepräsident des Verwaltungsrats bleiben unverändert Oliver Willimann bzw. Georg Anthamatten. Neu präsentiert sich der Verwaltungsrat der WIR Bank weiblicher und jünger als der durchschnittliche Verwaltungsrat der Schweizer Retailbanken.
Der Verwaltungsrat der WIR Bank: Karin Zahnd Cadoux (links) und Petra Müller; oben von links Georg Anthamatten, Oliver Willimann, Marc Reimann, Germann Wiggli (Vorsitzender der Geschäftsleitung); unten von links Kornel Tinguely und Jürgen Bletsch.
Mit der Wahl der 41-jährigen Karin Zahnd Cadoux hat sich das Durchschnittsalter der Mitglieder des Verwaltungsrats auf 48 Jahre gesenkt. Damit ist der Verwaltungsrat der WIR Bank Genossenschaft eher jung, denn gemäss einer Studie der Hochschule Luzern* liegt das Durchschnittsalter der Bankverwaltungsräte bei 56 Jahren. Untersucht wurden 2013 die Verwaltungsräte von 63 Schweizer Retailbanken (ohne die WIR Bank Genossenschaft) mit insgesamt 481 Mitgliedern. 53% der 467 Verwaltungsräte, von denen das Alter bekannt ist, waren 2013 älter als 55 Jahre – bei der WIR Bank trifft dies 2014 auf den 56-jährigen Kornel Tinguely zu. 16
Hoher Frauenanteil Gemäss der Studie sind viele Banken bestrebt, mehr Frauen ins Gremium aufzunehmen. Weil Frauen in Führungsfunktionen der Finanzbranche eher untervertreten sind, sei dies kein leichtes Unterfangen. Wohl deshalb seien nur 75 der analysierten 481 VR-Mitglieder Frauen, was einer Quote von 16% entspricht. Bis zur Wahl von Karin Zahnd Cadoux an der Generalversammlung im Mai 2014 lag der Frauenanteil bei der WIR Bank damit bei unterdurchschnittlichen 14%, heute machen Petra Müller (gewählt 2012) und Karin Zahnd Cadoux 29% des WIR-Verwaltungsrats aus.
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Strengere Amtszeitbeschränkung Mit sieben Mitgliedern gehört der Verwaltungsrat der WIR Bank in die Kategorie der sieben- bis neunköpfigen Gremien, welche laut der Luzerner Studie zwei Drittel aller untersuchten Bankverwaltungsräte ausmachen. Weniger typisch ist die WIR Bank Genossenschaft bezüglich Amtsperiode und Amtszeitbeschränkung: Während die Verwaltungsräte der WIR Bank eine Amtsperiode von zwei Jahren kennen, herrschen bei den untersuchten Banken Amtsperioden von drei bis vier Jahren vor. Auch die Amtszeit ist bei der WIR Bank mit zehn Jahren (Präsident 12 Jahre) strenger geregelt als bei den anderen Banken: Die Mehrzahl der in der Studie berücksichtigten Retailbanken kennt keine Amtszeitbeschränkung, und wenn Beschränkungen festgelegt werden, liegen sie gemäss Studie meist zwischen 12 und 16 Jahren. Was die WIR Bank im Gegensatz zur Mehrheit der untersuchten Banken nicht kennt, ist eine Altersbeschränkung. Sie liegt in der Regel bei 70 Jahren.
Lehre vor Hochschule Mit 62% sind die meisten Mitglieder der untersuchten Verwaltungsräte Inhaber eines Doktorats oder Lizentiats (bzw. Bacheloroder Masterabschlusses). 33% haben eine Lehre oder höhere Fachausbildung absolviert. Bei der WIR Bank sind die Verhältnisse umgekehrt und ausgeglichener: Mit 57% (vier Mitglieder) sind die Lehrabschlüsse stärker vertreten als die abgeschlossenen Hochschulstudien (drei Mitglieder; Lizentiate). Nicht berücksichtigt ist dabei, dass Karin Zahnd Cadoux über beides verfügt (Landschaftsgärtnerin und lic. iur.) und dass Verwaltungsratspräsident Oliver Willimann zwei Hochschuldiplome besitzt (lic. iur. HSG und lic. oec. HSG). Der geringere Anteil der Hochschulabschlüsse hat bei der WIR Bank Tradition und war früher noch ausgeprägter: Die Verwaltungsräte der Genossenschaft rekrutieren sich aus dem Pool von Handels-, Gewerbe- und Dienstleistungsbetrieben, welche der WIR-Verrechnung angehören und den Genossenschafterstatus besitzen. Anwälte, Ökonomen, Bücher- und Revisionsexperten sind dort in der Minderheit, werden aber seit einigen Jahren bewusst in den WIR-Verwaltungsrat gewählt, weil die Finanzmarktaufsicht FINMA Vorgaben zur Zusammensetzung eines Verwaltungsrats bzw. des dreiköpfigen Audit & Risk Committee erlassen hat (Rundschreiben 2008/24): «Mitglieder des Audit
Committee verfügen über gute Kenntnisse und Erfahrung im Finanz- und Rechnungswesen und sind mit der Tätigkeit der internen und externen Prüfer vertraut.» Insgesamt erfüllt die WIR Bank die Empfehlung der FINMA, wonach Bankverwaltungsräte ein breites Spektrum an Kenntnissen und unternehmerischer Erfahrung abdecken sollen.
Kontinuität gewährleistet Bezüglich Amtsjahre ist der Verwaltungsrat der WIR Bank mit durchschnittlich 2,5 Jahren eher jung. Nur 40% der 481 untersuchten Verwaltungsratsmitglieder sind weniger als 5 Jahre im Amt, der Durchschnitt liegt bei 7,4 Jahren. Amtsältester Verwaltungsrat bei der WIR Bank ist Oliver Willimann (als Mitglied 2007 gewählt, seit 2011 Präsident), danach folgten die Wahlen von Georg Anthamatten und Jürgen Bletsch (beide 2011), Petra Müller (2012), Marc Reimann und Kornel Tinguely (beide 2013) und 2014 von Karin Zahnd Cadoux. Mit dieser Staffelung sind sowohl der Wissenstransfer wie die künftige schrittweise Erneuerung des Verwaltungsrats im Sinne von FINMA-Empfehlungen sichergestellt. Die Studie der Hochschule Luzern kommt zum Schluss, dass «die Vielfalt der Zusammensetzung der Bankverwaltungsräte recht gross» ist und die Banken «trotz Vorgaben durch den Regulator einigen Gestaltungsspielraum für die Zusammensetzung und interne Organisation ihrer Verwaltungsräte nutzen» können. Allerdings stünden einige VR-Gremien vor der Herausforderung, «ihre Governance-Strukturen zu überprüfen und bei der personellen Erneuerung den veränderten Anforderungen an Bankverwaltungsräte Rechnung zu tragen» – Herausforderungen, die die WIR Bank Genossenschaft bereits gemeistert hat. DANIEL FLURY
* Prof. Dr. Andreas Dietrich und Prof. Dr. Christoph Lengwiler, Institut für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ) der Hochschule Luzern: Retail Banking-Studie 2013 – Retail Banking: Quo vadis? Die 170 Seiten starke Studie kostet 290 CHF; einige Ergebnisse der Studie sind hier einsehbar: http://blog.hslu.ch/retailbanking > Kategorie: Regionalbanken und Sparkassen > Analyse der Verwaltungsräte von 63 Schweizer Retail-Banken
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MARKUS AFFENTRANGER BAGGERT MIT SONNENLICHT AFFENTRANGER BAU AG: NACHHALTIGKEIT ALS PRINZIP Als Markus Affentranger aus den H채nden von Bundesr채tin Eveline Widmer-Schlumpf den Solarpreis 2012 f체r den Einsatz von Photovoltaik in seiner neuen Werkhalle entgegennahm, war sein neuster Streich bereits aufgegleist: ein 15 Tonnen schwerer Bagger, der nicht mit Diesel, sondern mit Sonnenenergie angetrieben wird. Seit wenigen Tagen steht er im Einsatz.
Auch dank Markus Affentranger und seiner neuen Werkhalle (im Hintergrund) ist Altb체ron (LU) europaweit ein Ausnahmefall in der Anwendung von Photovoltaik.
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Über 480 000 Kilowattstunden (kWh) pro Jahr produziert die 3550 m2 grosse Solaranlage auf dem Dach der neuen Werkhalle der Affentranger Bau AG in Altbüron. Das ist zehnmal mehr als der Gesamtenergiebedarf von 47 000 kWh. Natürlich könnte der gesamte Überschuss einfach ins Netz eingespeist werden, doch Firmeninhaber Markus Affentranger schwebt etwas anderes vor: eine möglichst dieselfreie Bauwirtschaft. Zusammen mit ETHProfessor David Dyntar überlegte er, wie eine schwere Baumaschine mit Strom von seinem Dach anstatt mit Diesel betrieben werden könnte. Die beiden wählten als Testobjekt ein echtes Schwergewicht aus, einen 15-Tonnen-Bagger der Marke Takeuchi TB1140. Zwei Jahre arbeiteten Affentranger, Dyntar sowie 20 Ingenieure und Studenten der ETH Zürich, der Hochschule Luzern und der Interstaatlichen Hochschule für Technik Buchs an der Frage, wie man einen Bagger mit ausgebautem 400-kg-Dieselmotor durch Sonnenenergie wieder voll einsatzfähig macht. Jetzt liegt das Resultat vor: ein batteriebetriebener Elektromotor, 40 kg schwer, kostengünstig im Betrieb, geräuschlos und emissionsfrei.
Effiziente Weltneuheit «Eigentlich ist es ja nicht die Aufgabe eines Baumeisters, Solartechnik für Baumaschinen anzuregen und voranzutreiben, aber wie in der Autobranche zeigen die Hersteller kaum ein Interesse daran, von fossilen Brennstoffen wegzukommen», so Markus Affentranger, der in der Branche als Solarpionier gilt und wohl zu den innovativsten Bauunternehmern der Schweiz gehört. Dabei liegen die Vorteile eines «Solarbaggers» auf der Hand: – Der Elektromotor ist emissionsfrei; der Dieselmotor produziert neben Feinstaub auch Formaldehyd, Kohlendioxid (212 kg in 8 Stunden), Kohlenwasserstoffe und Stickoxide. Der Elektromotor kommt nicht nur der Umwelt zugute, sondern auch dem Baggerführer, der heute während seiner Arbeit in einer Abgaswolke sitzt und sich über die Klimaanlage in der Kabine ständig «einnebelt».
– Bei Treibstoffkosten von 1.90 CHF pro Liter Diesel und bei Kosten von 20 Rappen für eine Kilowattstunde entstehen an einem Arbeitstag Ausgaben von 152 CHF für 80 Liter Diesel und 48 CHF für 240 kWh Strom. Es resultiert pro Jahr (125 Einsatztage) eine Einsparung von 13 000 CHF. Affentranger: «Geht man davon aus, dass die Dieselkosten längerfristig auf 3 CHF steigen und die Stromkosten auf 10 Rappen sinken, liegen die Einsparungen bereits bei 27 000 CHF pro Jahr.» – Der Elektromotor ist geräuschlos. Dies ist von Vorteil bei Arbeiten z.B. in einer Halle, in einem Wohnquartier oder an Wochenenden. Den eindrücklichsten Vergleich aber bietet die Effizienz der beiden Antriebsarten. Affentranger: «Ein Dieselmotor hat eine Effizienz von 35% – mickrige 2% mehr als vor 50 Jahren –,
Solarpreis auch für Altbüron Markus Affentranger erhielt 2012 den Solarpreis in der Kategorie Plusenergiebauten zugesprochen – damit nicht genug: Seine Standort- und Wohngemeinde erhielt 2013 den Solarpreis in der Kategorie Institutionen, weil sie «intensiv Photovoltaikanlagen, den Wärmeverbund und den Einsatz von erneuerbaren Energien fördert». Die Altbüroner Photovoltaikeuphorie sei «ansteckend und wegweisend für die Energiewende auf kommunaler und kantonaler Ebene». Nicht zuletzt dank dem unermüdlichen Einsatz und der Vorreiterrolle von Markus Affentranger ist das 950-Seelen-Dorf Altbüron europaweit die Gemeinde mit der höchsten von Solarmodulen abgegebenen elektrischen Leistung pro Kopf, nämlich 1616 Watt peak (Wp). Zum Vergleich: Der Schweizer Durchschnitt liegt bei 50 Wp, derjenige der stärksten deutschen Solarregion – Brandenburg – bei 1010 Wp.
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Restbeton wird in Formen gegossen. Die fertigen Blöcke können für den Bau von Mauern eingesetzt werden.
In der Waschanlage kommt Regenwasser vom Dach der Werkhalle zum Einsatz.
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der Rest ist Wärme und Reibung. Er eignet sich also – wenn schon – besser als Heizkörper zu Hause in der Stube ... Die Effizienz des Elektromotors liegt bei satten 96%!»
Innere Einstellung Die stete Suche nach der noch effizienteren Lösung ist Markus Affentrangers Passion. Aber auch von seinen 65 Angestellten erwartet er eine positive innere Einstellung gegenüber nachhaltigen Innovationen. «Ein Baggerführer, der ein Problem damit hätte, über Mittag oder am Abend den Bagger an die Steckdose anzuschliessen und die Akkus aufzuladen, wäre nicht am richtigen Platz.» Aus diesem Grund werden die Mitarbeiter anlässlich von Kaderrapporten oder Sicherheitsausbildungen entsprechend sensibilisiert. «Das kommt gut an, und meine Mitarbeitenden haben sowieso Freude an Neuem», so Affentranger.
Akkus eingesetzt werden. Man lädt sie im Werkhof auf und nimmt sie mit auf den Bauplatz, wo dann die unterschiedlichsten Geräte – von der Trennscheibe bis zum Bagger – angeschlossen werden können.»
Nachhaltigkeit als Prinzip
Interessierte Japaner
Wie ein roter Faden zieht sich das nachhaltige und umweltfreundliche Verhalten durch die Betriebsabläufe der Affentranger Bau AG: In einer Waschanlage, in die Affentranger 700 000 CHF investiert hat, werden die Fahrzeuge am Feierabend mit Regenwasser abgespritzt, das Wasser wird wieder aufbereitet, der Schlamm aufgefangen, getrocknet und recycelt. Angeschnittene Rohre oder Platten, angebrochene Gebinde von Ziegelsteinen, Isolationen und Reststoffe aller Art werden nicht wie in der Branche durchaus üblich direkt ab Bauplatz entsorgt, sondern im Werk sortiert und für eine passende Verwendung gelagert. Restbeton aus Betonpumpen oder den Fahrmischern wird täglich in Formen gegossen. Es resultieren Betonblöcke, die z.B. im Gartenbau Verwendung finden. Affentranger: «Bessere Reststoffverwertung bedeutet weniger Abfall und weniger Entsorgungsgebühren. Im Zusammenspiel mit der Solartechnologie erreichen wir eine kontinuierliche Kostenoptimierung.»
Mehrere Hunderttausend Franken haben die Affentranger Bau AG und die ETH in das Elektrobaggerprojekt gesteckt. Sind ein Patent oder eine Kommerzialisierung möglich? Man habe nichts Neues erfunden, glaubt Affentranger, aber eine Serienproduktion sei nicht unrealistisch. «Takeuchi, der japanische Baggerhersteller, hat unser Projekt interessiert verfolgt und kauft es uns wahrscheinlich ab – ich bin überzeugt, dass die Zukunft elektrisch ist und jeder Hersteller, der – wie zum Beispiel Tesla – konsequent in die Solartechnologie investiert, bei den Käufern Furore machen wird.»
Pommes frites und Speiseöl Im Hinblick auf steigende Preise für fossile Brennstoffe plant Markus Affentranger als nächsten Schritt die Umrüstung eines ersten Lastwagens auf Biodiesel aus Pommes frites-Öl und Speisefett. Aber auch den Elektrobagger versteht Affentranger nur als Pilotprojekt – wenn sich ein Bagger umrüsten lässt, wieso nicht auch eine Walze oder ein Dumper? «Entscheidend wird die Frage der Energiespeicherung sein», ist sich Affentranger sicher. Zum Glück mache die Akkutechnik grosse Fortschritte. Laut der ETH könne man damit rechnen, dass die Effizienz der Akkus jedes Jahr um rund 30% gesteigert werden könne. «Ziel nicht nur meines Betriebs sollte es sein, dass anstatt Diesel mehrere modulare
Der Batteriecontainer des Baggers ist fertig montiert.
DANIEL FLURY
Nachhaltigkeit als Trumpf Nachhaltigkeit mag ein Mode- oder gar Unwort sein, wer sie als Unternehmen lebt, nimmt jedoch seine Verantwortung gegenüber der Umwelt, den Mitarbeitenden und den Geschäftspartnern wahr. Die WIR Bank pflegt mit dem WIR-System selbst ein nachhaltiges, in der Schweiz verankertes Instrument, welches seinen Mitgliedern Mehrwerte schafft. Auch Kunden der WIR Bank stehen beispielhaft für das Prinzip Nachhaltigkeit. Aus diesem Grund stellen wir dieses Jahr einige solche Unternehmen im WIRPLUS vor. Auch die Herbstgespräche vom 8. November 2014 im KKL Luzern sind diesem Thema gewidmet. Zugang zu den Herbstgesprächen haben Kundinnen und Kunden der WIR Bank, welche Stammanteile besitzen.
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Als Nächstes im Visier von Markus Affentranger: Einer der Fahrmischer soll auf Biodiesel umgerüstet werden.
Affentranger Bau AG Als 21-jähriger Bauernsohn mit einer abgeschlossenen Maurerlehre in der Tasche hat Markus Affentranger seine Firma 1978 in Altbüron gegründet und hielt sich in der Anfangszeit mit Kundenarbeiten bei Bauern über Wasser. Es folgten das Abendtechnikum und ein kontinuierlicher Ausbau des Unternehmens. Heute ist die Affentranger Bau AG mit 65 Mitarbeitern und 10 Lehrlingen zu 60% im Hochbau – in der Landwirtschaft, in der Industrie und im Wohnbaubereich – und zu 15% im Tiefbau tätig. Renovationen und Kleinarbeiten machen rund 10% des Geschäftsaufkommens aus, und 15% entfallen auf den Bau von Kunstrasenanlagen. Die ländliche Lage in Altbüron sieht Markus Affentranger als Vorteil, denn es sei in diesem Umfeld relativ einfach, Auszubildende und Mitarbeitende zu rekrutieren. Zudem sei Altbüron ziemlich genau in der Mitte der Subzentren Willisau, Sursee, Langenthal, Zofingen und Huttwil gelegen und nur 35 bis 45 Minuten von Zürich, Basel, Bern und Luzern entfernt. Dynamische Bauwirtschaft Das daraus resultierende grosse Auftragspotenzial ist nach Ansicht Affentrangers nicht theoretischer Natur: «2015 wird für uns ein gutes Jahr, und auch für die kommenden zehn Jahre sind die Aussichten gut.» Das Bevölkerungswachstum führe zu mehr Nachfrage nach Wohnraum, die nötige Infrastruktur –
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inklusive z.B. Altersheime – müsse ebenfalls noch gebaut werden. «Allerdings ist es unabdingbar, dass wir mit den Ressourcen verantwortungsvoller umgehen.» Die Zeiten des Verschleisses von fossiler Energie und von Land seien vorbei. Es müsse energetischer, nachhaltiger und «intensiver» überbaut werden. «Dazu wird gehören, dass alte Bauten, auch ganze Quartiere, rückgebaut werden, damit Platz entsteht für effiziente Gebäude, die die Energie, die sie brauchen, selber produzieren.» Bald drei Söhne im Betrieb Lukas Affentranger, der älteste Sohn von Rita und Markus Affentranger, ist ausgebildeter Bauzeichner und Maurer und bereits im Betrieb tätig. Als Nächstes nimmt er die Polierschule in Angriff. Marius und Gabriel Affentranger sind noch in der Ausbildung und werden ab 2015 das Unternehmen in den Bereichen Hochbau bzw. Marketing verstärken. WIR als Chance Seit 28 Jahren ist Markus Affentranger WIR-Teilnehmer. «Das WIR-System funktioniert als Marketinginstrument ausgezeichnet, bietet gute Chancen und hat uns immer zu Zusatzaufträgen verholfen.» Als Vorstandsmitglied der WIR-Gruppe Zentralschweiz nutzt Affentranger die Anlässe der Gruppe, um neue Geschäftskontakte zu knüpfen.
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WIR – DAS GRÖSSTE BUSINESSNETZWERK DER SCHWEIZ WIR-MESSE ZÜRICH MIT BUSINESS-MEILE UND EVENT
Das WIR-System ist ein riesiges Business-Netzwerk von rund 50 000 KMUs. An der 71. WIR-Messe Zürich vom 21. bis 24. November finden nebst Firmengründern, Firmennachfolgern und WIR-Start-ups auch interessierte Inhaber von KMUs in der neu geschaffenen Business-Meile die Gelegenheit, sich diesem Business-Netzwerk anzuschliessen. Der Event vom Samstag, 22. November, bringt Ausstellern und Besuchern – speziell Jungunternehmern und Firmengründern – den Nutzen des WIR-Systems näher.
Meine Chance – WIR Bank: Der Slogan der WIR Bank fordert die Kundin und den Kunden zur Tat auf. Die Bank stellt Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung, die daraus entstehenden Chancen muss jede und jeder selbst ergreifen. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeiten, die sich den Unternehmern bieten, welche der WIR-Verrechnung angehören. Zwischen rund 50 000 KMUs fliesst die Komplementärwährung WIR. Es bildet sich ein geschlossener Kreislauf – ein Netzwerk, das mittlerweile 80 Jahre alt ist, aber im Zeitalter von Social Media aktueller nicht sein könnte. Schauen Sie selbst, wie es funktioniert: www.wirbank.ch > WIR-Kunden > Das WIR-System (Video).
Business-Meile mit WIR-Start-up-Bereich Die WIR-Messen in Bern, Zürich und Luzern sind Handels- und Gewerbemessen, an denen WIR-Teilnehmer ein attraktives Warenund Dienstleistungsangebot präsentieren. Als Besucher sind alle willkommen. Dieses Jahr wird das Rahmenprogramm der WIRMesse Zürich um eine Business-Meile bereichert. Sie bietet Unternehmern und Einkäufern eine Plattform, vor allem für die Optimierung der Betriebskosten und die Platzierung von WIRGeld. In die Business-Meile integriert ist ein WIR-Start-up-Bereich. Hier sind Firmen anzutreffen, bei denen sich unzählige Dienstleistungen einkaufen lassen, welche für die Betriebsführung benötigt werden. Der WIR-Start-up-Bereich ist speziell auf die Bedürfnisse von Jungunternehmern und Firmengründern zugeschnitten und eignet sich hervorragend dazu, sich zu informieren und zu vernetzen. Vertreten sind unter anderem auch die
13 regionalen WIR-Gruppen – mit einem gemeinsamen Stand –, die IG Leasing AG und die WIR Bank Genossenschaft.
Netzwerk WIR Viele Chancen werden also an der WIR-Messe Zürich (er)greifbar – und eine zusätzliche Chance beinhaltet der Event «WIR – das grösste Business-Netzwerk der Schweiz» am Samstag, 22. November (13.00 bis ca. 15.30 Uhr). Ein spannender Erfahrungsaustausch soll aufzeigen, wie der Einsatz von WIR in einem Unternehmen zu Zusatzgeschäften und zu einer gesteigerten Kundenbindung führt. Mitwirkende sind unter anderem Oliver Willimann, Verwaltungsratspräsident der WIR Bank, Luzius Hartmann, Leiter der WIR Bank-Filiale in Zürich, und im Rahmen einer Podiumsdiskussion Walter Zahnd jun., stv. Geschäftsleiter der Nerinvest AG (Generalunternehmungen und Immobilientreuhand), Willy Langenegger, Inhaber und CEO der Swiss Photovoltaik GmbH in Appenzell, Myrta Zumstein, Mitinhaberin der Zumstein Insektengitter GmbH in Benken (SG), und Olivier Andenmatten, CEO und Inhaber des Hotel-Restaurant und Spa Hannigalp in Grächen. Ein Apéro riche rundet den Event ab und lädt zum Netzwerken ein. Die Teilnahme an diesem Anlass ist kostenlos, eine Anmeldung über das EventSekretariat ist erwünscht (E-Mail an doris.steiger@wgz.ch). ROGER MÜNGER
www.wmzag.ch Vgl. zum Thema Netzwerken auch den Beitrag auf S. 34 23
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DIE LOMBARDEI IST BEREIT FÜR EINEN «KURSWECHSEL» DIE ITALIENISCHE WIRTSCHAFT SUCHT IM WIR-SYSTEM NACH NEUEN HORIZONTEN
Die Komplementärwährung WIR der WIR Bank stand Pate für Sardex, eine bereits seit einigen Jahren funktionierende Komplementärwährung auf der Insel Sardinien. Italienische Wirtschaftsexperten sehen auch auf dem Festland Chancen für ein Wirtschaftswachstum, wenn mit der Einführung einer Komplementärwährung auch eine neue Ethik Einzug hält.
Vertraten die WIR Bank: Yves Wellauer und Doriana Botta.
In einer Zeit, in der die Gesellschaft und die Wirtschaft in vielen europäischen Ländern – darunter auch Italien – auseinanderzufallen scheinen, gibt es aus der Lombardei Anzeichen dafür, dass der Wille zur Veränderung immer stärker wird. Beim zweiten Treffen des Versuchsprojekts Elektronische Komplementärwährung im Palazzo Lombardia in Mailand hielt Giorgio Squinzi, Präsident der Arbeitgeberorganisation Confindustria, fest, dass das Wirtschaftswachstum in den ersten Monaten des Jahrs 2014 praktisch bei 0% liegt. Auf dem Weg zu einem 24
Wirtschaftswachstum und zu einem neuen Klima in der italienischen Wirtschaft müsse als Erstes der Bürokratie und der Korruption Einhalt geboten werden. Reformen sollen so beschaffen sein, dass ein Mindestmass an sozialem Zusammenhalt erreicht wird. Als Impulsgeber sieht Squinzi Führungskräfte und Unternehmer, von denen ein «moralischer Ruck» ausgeht: «Eine neue Ethik und verantwortungsbewusstes Handeln sollen Wirtschaft und Gesellschaft wieder zusammenrücken lassen.»
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Ein regionales Gesetz von 2014, das vom Regionalrat der Lombardei gebilligt wurde, hat den Weg zu dieser wirtschaftliche Revolution offiziell freigemacht – nun geht es um die praktische Umsetzung. Deshalb hat der ehemalige Vizepräsident und heutige Generalsekretär der Region Lombardei, Andrea Gibelli, über hundert regionale Führungspersonen eingeladen, um das Wissen über das Funktionieren einer Komplementärwährung zu vertiefen. Ziel ist, das enorme Potenzial eines solchen Instruments zur Entfaltung zu bringen, ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und mögliche Anregungen und Vorschläge für die Umsetzung zugunsten der Privatbürger, Unternehmer und der öffentlichen Verwaltung zu erhalten.
Bewährtes WIR-System Unter den Gästen und Referenten befanden sich auch der Filialleiter der WIR Bank in Lugano, Yves Wellauer, und seine Stellvertreterin Doriana Botta. Beide brachten ihre Erfahrungen mit der Komplementärwährung WIR ein, die es seit 1934 gibt und die in den letzten 80 Jahren einen wesentlichen Beitrag zum Gedeihen der Schweizer Wirtschaft geleistet hat, ist sie doch ein ideales und erfolgreiches Marketinginstrument für Gewerbe, Handel und Dienstleister. Zu den Konferenzteilnehmern gehörten auch namhafte Professoren und Forscher der Bocconi-Universität in Mailand, nämlich Massimo Amato und Luca Fantacci. Beide sind ausgewiesene Experten für die Geschichte der Institutionen und Krisen des globalen Finanzsystems sowie für die Geschichte der Wirtschaft und des Wirtschaftsdenkens, und beide engagieren sich beruflich und aus Überzeugung in der Politikanalyse und der öffentlichen Betriebswirtschaftslehre. In ihren Vorträgen sprachen sich die beiden Experten für die Einführung einer Komplementärwährung aus.
Eindämmen der Kriminalität Eine alternative Währungsstruktur könnte den beiden italienischen Experten zufolge Finanzspekulationen und illegale Wirtschaftsaktivitäten eindämmen oder gar verhindern und so der organisierten Kriminalität und all ihren Ausläufern jenseits der Legalität entgegenwirken. In die gleiche Kerbe schlugen Francesco Baroni, Zentraldirektor für integrierte Planung, und Giorgio Papa, Generaldirektor von Finlombarda (Förderbank für die Entwicklung der Lombardei). Alle waren sich einig, dass nach Vorbildern nicht weit gesucht werden müsse: Das WIR-System, an dem sich 50 000 KMUs beteiligen, bewährt sich seit 80 Jahren in der Schweiz, und auch die Komplementärwährung Sardex aus Cagliari auf Sardinien zirkuliert bereits zwischen weit über 1000 Unternehmen (sardex.net).
STRO Unter allen Redebeiträgen dieses spannenden Tages stach auch der Vortrag des holländischen Vertreters Henk Van Arkel hervor. Van Arkel ist CEO von STRO-Holland (Social Trade Organisation; socialtrade.org), welches ein Netzwerk von Komplementärwährungen umfasst. STRO gibt den Eigentümern kleiner Unternehmen die Möglichkeit, zu investieren, ohne hohe Zinsen zahlen zu müssen. Die Erhöhung der produktiven Kapazität durch die Einführung einer Lokalwährung und die Befolgung der Maxime «Kaufe lokal!» bringen automatisch eine Erhöhung der Verbrauchernachfrage mit sich, was sich mit Beispielen aus den Niederlanden, Spanien und vor allem aus anderen, weniger reichen Ländern Süd- und Zentralamerikas belegen lässt.
PIETRO VAGLI VIELLO
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DIE RÜCKKEHR DES WISENTS Der Wisent – ein Cousin des Amerikanischen Bisons – ist in der Schweiz bereits seit 1000 Jahren ausgerottet. Vom Aussterben bedroht, soll die Tierart im Rahmen von Auswilderungsprogrammen in Halbfreiheit in grossen Wäldern wieder angesiedelt werden. Eines dieser Programme ist nächstes Jahr in Suchy VD geplant. Und schon heute diskutieren Experten darüber, einige Tiere im Jura auszusetzen.
Gegenwärtig kann man den Wisent in der Schweiz in Tierparks in Bern (Bild), Arth-Goldau und Winterthur bestaunen.
Ausgerottet und auferstanden Gemäss dem Bundesamt für Umwelt BAFU gelten in der Schweiz 40% der Tierarten als gefährdet. Das Konzept Artenförderung sieht die Verbesserung des Gesamtlebensraums und das Ausscheiden von Schutzgebieten vor. Angesichts begrenzter Mittel müssen Prioritäten gesetzt werden – was wohl bedeuten wird, dass «unauffällige» Arten z.B. unter den Insekten und Schnecken sang- und klanglos verschwinden werden. Diese Tiere werden unwiederbringlich verloren sein, ganz im Gegensatz zu Säugetieren wie etwa dem Braunbären oder dem Europäischen Biber: Sie galten als ausgestorben, wanderten wie der Bär aus dem Ausland wieder ein – ohne auf viel Gegenliebe zu stossen – oder wurden zum Nutzen der Umwelt aktiv wiederangesiedelt. Auch der Wisent wird in der Schweiz nur wie-
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der heimisch werden, wenn er aus den Zoos geholt und nicht mehr als Relikt vergangener Epochen, sondern als Teil des Ökosystems betrachtet wird. Diesen Durchbruch geschafft haben z.B. der Luchs oder der Geier. Bär und Wolf dürften auch längerfristig nur als Gäste geduldet werden. Braunbär Vor genau 110 Jahren, am 1. September 1904, schoss der Jäger Padruot Fried im Val S-charl den letzten Schweizer Braunbären. Im Mittelland erlosch die Erinnerung an den Bären schon weit früher, nämlich im 15. Jahrhundert. Im Jura und in den Voralpen wurden die letzten Bären um 1800 geschossen. Obwohl sie also um 1900 nur noch im Unterengadin vereinzelt gesichtet wurden, hielt sich ein Rezept für ihr Fleisch noch mindestens bis 1889 im Kochbuch «Die Schweizerköchin»: «Das Bärenfleisch wird gebeizt und zubereitet wie das vom Wildschwein.» Ob sich
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Vor 100 Jahren war es der Steinbock, der in der Schweiz wieder ausgewildert wurde, vor 60 Jahren der Biber (vgl. Beitrag «Ausgerottet und auferstanden»). Nun kündigt sich mit dem Wisent die Rückkehr eines anderen Säugetiers an – rund 1000 Jahre, nachdem es in diesem Land zum letzten Mal, in der Ostschweiz, gesichtet wurde. Das ist schon so lange her, dass das Tier auch völlig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist. Der Wisent lebte im Mittelland, wurde aber durch die Entwaldung und die Entstehung von Kulturlandschaften vertrieben – wenn er nicht auf dem Teller landete. Selbst die Zeitgenossen des Rütlischwurs wussten sicher nichts mehr von seiner Existenz. Der Wisent oder Europäische Bison (Bison bonasus) ist bei einer Widerristhöhe von 1,80 m schlanker als sein Cousin, der Amerikanische Bison. Das männliche Tier bringt 700 bis 1000 Kilo auf die Waage. Dank seiner längeren Gliedmassen erreicht er leicht seine täglichen 30 bis 60 kg Zweige, Blätter, Knospen, Eicheln und Beeren, die neben Gräsern, Kräutern und Baumrinde auf seinem Speiseplan stehen. Die Idee, Wildparks zu schaffen, die speziell der Auswilderung von Wisenten gewidmet sind, entstand vor einigen Jahren auf Empfehlung der europäischen Wisentgruppe der Internationalen Union für die Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen (International Union for Conservation of Nature, IUCN) mit Sitz
die Köche des Kurhauses Tarasp daran hielten, als sie den 118 Kilo schweren, von Fried erlegten Bären für ihre Gäste zubereiteten, ist nicht überliefert. Mit der Ausrottung des Bären scheint man in der Schweiz gut leben zu können, jedenfalls ist keine Wiederansiedlung geplant. Trotzdem beschäftigt Meister Petz die Gemüter hierzulande, da in Norditalien seit 1999 eine Wiederansiedlung des Braunbären im Gang ist und seit 2005 einzelne Tiere auf ihren Streifzügen auch Schweizer Terrain passieren. Dies hat dazu geführt, dass der Bund das Konzept Bär ausgearbeitet hat. Es geht davon aus, dass Mensch und Bär grundsätzlich konfliktfrei nebeneinander existieren können – was nicht unbestritten ist – und teilt die Pelzträger in drei Kategorien ein: unauffälliger Bär, Problembär und Risikobär. Letztere werden abgeschossen. Das Konzept sieht auch Vergütungen für Schäden vor, die Bären verursacht haben.
in Gland VD. Der erste Park in der Schweiz nimmt gerade in den Grands Bois de Suchy, einer grossen Waldfläche einige Kilometer südöstlich von Yverdon-les-Bains, Gestalt an. Dort soll im nächsten Jahr die erste Herde mit sechs bis acht Einzeltieren angesiedelt werden. Dabei handelt es sich nicht um eine Wiederansiedlung im engeren Sinn, sondern um eine Umsiedlung in einen naturnahen Lebensraum in bewaldeten Tierparks.
Bison d’Europe Suchy Zu Beginn der Initiative wollte der Leiter des Forstreviers von Suchy, Michel Mercier, auf dem Areal von über 100 Hektar mit regelmässigen Aktionen das Bewusstsein für das Thema schärfen. Zusammen mit dem Biologen Alain Maibach gründete er die Vereinigung «Bison d’Europe Suchy». Mit Zustimmung der lokalen, kantonalen und der Bundesbehörden bereiten sie das Waldgebiet vor, auf dem die Wisente im nächsten Jahr angesiedelt werden. Dieses sehr alte, riesige Waldrevier bietet zahlreiche Vorteile. Die Feuchtigkeit, der vielfältige Laubbaumbestand, keine zu steilen Hänge – all dies spricht für den Erfolg des Unterfangens. Auch die relative Ausdehnung dieses Waldes ist vorteilhaft, denn der Wisent fühlt sich nur wohl, wenn er sich verstecken kann – ein Verhalten, das in der Schweiz sicher auf einiges Verständnis stösst …
Sponsoren gesucht Im Herbst 2014 will die Vereinigung zahlreiche neue Kontakte zu
Wolf Keinen leichten Stand hat auch der Wolf in der Schweiz. Er wurde zwar schon immer gejagt, seine Präsenz wurde jedoch toleriert, solange er sich von seinen natürlichen Beutetieren wie Reh oder Rothirsch ernährte. Erst als diese mit dem Aufkommen von Schusswaffen im 19. Jahrhundert ausgerottet waren und sich der Wolf an Nutztieren gütlich tat, war sein Schicksal besiegelt. Der offiziell letzte einheimische Wolf wurde 1871 bei Iragna TI erlegt. Aus dem Mittelland ist der Wolf schon im 17. Jahrhundert verschwunden, und er wird weder dort noch anderswo wirklich wieder herbeigesehnt. Eine aktive Förderung des Wolfes will der Bund gemäss seinem Konzept Wolf denn auch nicht betreiben. Weil seit 1995 von Italien her immer wieder einzelne Wölfe einwandern – im September 2012 wurde das erste Familienrudel gesichtet –, will man aber für seine Rückkehr gerüstet sein. Insbesondere auch, um die Konflikte mit Kleintierhaltern zu minimieren. Auf der Website www.kora.ch werden die Wolfsichtungen laufend aktualisiert.
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Sponsoren knüpfen, die einen Beitrag zum Jahresbudget von etwa 160 000 CHF und zum Einrichtungsbudget von rund 1 Million CHF leisten wollen. Für das Letztgenannte kommen vor allem regionale Unternehmen infrage, die tatkräftig mithelfen könnten: Transport von Materialien und Tieren, Bau von Gehegen usw. «Einen Vergnügungspark wird es keinesfalls geben», betont Alain Maibach. Spaziergänger können zwar darauf hoffen, ein Tier zu Gesicht zu bekommen, eine Garantie dafür gibt es aber nicht, denn die Tiere sind äusserst scheu. «Bei einer mehrere Stunden dauernden Besichtigung eines Waldes in Polen erspähte ich mit sehr viel Glück ein Muttertier und sein Kalb. Es wäre aber zu gefährlich gewesen, sich den Tieren zu nähern. Wenn eine Wisentkuh mit Kalb eine Gefahr bemerkt, stürmt sie los.» In Suchy sind die Wisente durch eine Umzäunung, die von den wild dort lebenden Tieren leicht zu umgehen ist, vor dem Menschen geschützt (und umgekehrt).
Ein Bonus für die Biodiversität Das Areal wird in drei Sektoren von je 40 Hektar aufgeteilt. Zwei bleiben den Spaziergängern und der normalen Forstwirtschaft vorbehalten. Im dritten Sektor werden die Tiere leben. Wie diese Sektoren im Turnus genutzt werden, hängt davon ab, welche Auswirkungen die Ansiedlung der Wisente auf die Umwelt haben;
Luchs Im Gegensatz zu den Grosskarnivoren Bär und Wolf stellt der Luchs für den Menschen keine Gefahr dar. Wegen seines schönen Fells und weil die Jäger in ihm einen Konkurrenten sahen, wurde er aber konsequent bejagt und galt in der Schweiz seit Anfang des 20. Jahrhunderts als ausgerottet. Seine Wiederansiedlung wurde aktiv betrieben, nachdem sich die Einsicht durchgesetzt hatte, dass ein intaktes Ökosystem und ein gesunder Wald nicht nur Huftiere braucht, sondern auch Raubtiere, die Reh oder Gämse auf ihrem Speisezettel haben. So wurde am 23. April 1971 im Melchtal OW ein Paar Luchse aus den slowakischen Karpaten freigelassen. Etwa 80% der über 100 Schweizer Luchse leben in den Westalpen, der Rest im Jura (v.a. Kanton Solothurn). Seine Akzeptanz ist gross, nur bei den Jägern regt sich gelegentlich Widerstand, da der Luchs nach wie vor als Konkurrent betrachtet wird. Das Konzept Luchs des Bundes sieht zwar Abschüsse von
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derzeit geht man von drei bis fünf Jahren aus. Für Alain Maibach ist das ein wenig bekannter, aber interessanter Aspekt des Projekts. Zusätzliche Fütterungen werden begrenzt sein, denn der Wisent zeichnet sich durch eine grosse Anpassungsfähigkeit aus. «In seiner Futteraufnahme ist er aber wählerisch, was Auswirkungen auf die Umgebung haben wird. Er wird sich von bestimmten Pflanzen ernähren, aber auch andere probieren und sich so weiterentwickeln. Seine Anwesenheit wird die Vielfalt der Lebensräume fördern.» In unseren stark reglementierten Wäldern treten diese für die Biodiversität so günstigen Phänomene fast nur noch auf, wenn Orkane oder Brände Platz für Neues auf grossen Flächen schaffen.
Ein Wunder der Tierwelt Das Projekt in Suchy ist umso bemerkenswerter, als der Wisent einen langen Weg zurückgelegt hat: Der letzte frei lebende Wisent wurde 1921 in Polen geschossen. Überlebt hat er dank 54 Exemplaren, die damals in Zoos behütet wurden. Sie waren Nachkommen von Wisenten, die der russische Zar an Tierparks und Wildgehege verschenkt hatte. Dank Aufzuchtprogrammen gibt es heute wieder rund 3500 Tiere. Das ist immer noch zu wenig, um Inzucht und die damit verbundenen Probleme zu verhindern. Alain Maibach erinnert daran, dass der Freiberger mit einer Population von 20 000 Tieren als bedrohte Pferderasse gilt. Um den Bestand zu stabilisieren, favorisiert die IUCN kleine ge-
besonders heisshungrigen Tieren vor, setzt aber in erster Linie auf Einfangen und Umsiedeln von «Problemluchsen». Geier Bezüglich Akzeptanz haben es Raubtiere in der Luft heute deutlich leichter als vierfüssige Räuber, die einem beim Waldspaziergang begegnen können (oder bei einem Stadtspaziergang: Am 19. Juni 2014 hat ein Zug in Schlieren einen Wolf erfasst und getötet). Das war nicht immer so. Der Bartgeier hiess früher Lämmergeier, weil man glaubte, er würde Lämmer jagen und fressen. Auch Kleinkinder soll er gepackt, entführt und verspeist haben. Kein Wunder, wurde ihm nachgestellt, bis das letzte Exemplar 1886 bei Visp aus der Luft geholt wurde. In Tat und Wahrheit ernährt sich der Bartgeier – im Gegensatz etwa zum Mönchs- oder Gänsegeier – fast ausschliesslich von Knochen. Bis zu 18 cm lange Knochen verschlingt er dabei ganz, grössere lässt er aus der Luft
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schützte Gruppen, die mit ausgewählten Einzeltieren mit bekanntem Stammbaum ergänzt werden. Solche Gruppen gibt es bereits in Deutschland und Frankreich. Jede dieser Strukturen wird von der IUCN kontrolliert. «Wir funktionieren wie ein Hotel», sagt Alain Maibach, zukünftiger Leiter eines ungewöhnlichen Etablissements mit Blick auf die Alpen, den Jura und den Neuenburgersee.
Barrieren überwinden Weiter nördlich will Darius Weber vom Büro für ökologische Beratung, Planung und Forschung Hintermann und Weber in Reinach BL noch weiter gehen und die Wisente in freier Wildbahn durch die jurassischen Wälder stapfen lassen. Ein solches Projekt wurde bereits erfolgreich in Deutschland durchgeführt, warum also nicht auch im Jura? Die Topografie des Kantons würde sich dafür eignen, und das Strassennetz ist nicht so dicht wie im Mittelland. «In der Anfangsphase ist ein Gehege unverzichtbar», so der Experte. Doch nach einigen Jahren will er die Barrieren einreissen, damit sich Mensch und Tier wieder aneinander gewöhnen können. Das Rotwild lebt im Wald, warum nicht auch der Wisent? Ein Wisent ist nicht aggressiver als eine Braunviehkuh. Aber auch nicht weniger: Ein Spaziergänger, der einem Kalb auf einer Alm zu nahe kommt, wird schnell die Erfahrung machen, dass die Ge-
auf Felsplatten fallen, bis sie zerbersten. Das gleiche Schicksal ereilt übrigens Landschildkröten, welche die Bartgeier im Mittelmeerraum als zusätzliche Nahrungsquelle entdeckt haben. Im Rahmen von europäischen Wiederansiedlungsbemühungen stiegen 1991 zum ersten Mal seit über 100 Jahren wieder Geier auf, und zwar im Nationalpark. 2007 zogen zwei Bartgeierpaare erstmals wieder Junge auf, im Jahr darauf glückte zwei weiteren Paaren im Albulagebiet bzw. beim Ofenpass ebenfalls die Aufzucht eines Jungtiers. Derzeit leben in den ganzen Alpen etwa 100 Bartgeier, etwa die Hälfte von ihnen können auch im Schweizer Alpenraum gesichtet werden. Um die genetische Vielfalt zu vergrössern, werden weitere Bartgeier ausgewildert – im Mai 2012 zum Beispiel zwei Exemplare im Calfeisental SG durch die Stiftung Pro Bartgeier. Der Ausrottung knapp entronnen ist der Steinadler, der 1926 unter Schutz gestellt wurde. Von den rund 1200 Steinadlerpaaren in Europa brüten etwa 300 in der Schweiz.
lassenheit eines Wiederkäuers Grenzen hat. Bleibt die Frage, was die Folgen für das Biotop sind. Wird sich der Wisent im Mittelland heimisch fühlen? Wird sich die bestehende Tierwelt nicht durch ihn gestört fühlen? Darius Weber führt als Beispiel nicht den Luchs an, sondern den Steinbock. Dieser hat sich so gut in den Schweizer Alpen eingelebt, dass die meisten nicht wissen, dass er ausgestorben war und erst seit einer Auswilderung 1911 wieder heimisch ist (vgl. Beitrag «Ausgerottet und auferstanden»). Wenn man Weber zuhört, scheint das einzige Handicap des Wisents zu sein, dass er auf keinem Schweizer Kantonswappen abgebildet ist. Das innovative Projekt hat bereits das Interesse von einzelnen Personen geweckt, doch es braucht die Unterstützung öffentlicher Körperschaften, insbesondere der Gemeinden, auf deren Territorium die Tiere angesiedelt werden. Der Wisent kehrt nach Europa zurück: noch Zukunftsmusik? VINCENT BORCARD
Biber Für den Biber läutete das Totenglöcklein in der Schweiz um 1800. Begehrt waren sein Pelz, sein Fleisch und das Drüsensekret Castoreum, von dem man glaubte, es helfe gegen Krämpfe und Epilepsie. Von schätzungsweise 100 Millionen Tieren blieben in Europa um 1900 etwa 1000 Exemplare übrig, davon lebten 20–30 in Frankreich, bis zu 300 in Norwegen und der Rest in Russland. In den 50er-Jahren kam man in der Schweiz zur Einsicht, dass Biber einen wichtigen Teil des Ökosystems Wasser ausmachen. 1956 wurden die ersten Biber im Genferseegebiet ausgesetzt. Seit 1962 sind die Biber geschützt. Mit dem Konzept Biber ist seit 2004 auch dafür gesorgt, dass die für das langfristige Überleben nötigen Lebensräume unter Schutz stehen oder revitalisiert werden. Für Unmut sorgen Biber gelegentlich, wenn sie Obstbäume entrinden oder Überschwemmungen verursachen.
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Der Wisent ist das grösste Landsäugetier Europas. Im Tierpark Dählhölzli (Bern) führt ein 250 m langer Steg mit Infokästen, Bänken, Plattform und Fernrohren in das 5 Hektar grosse Waldgehege der Wisente.
Interview mit Marc Rosset, Kurator des Berner Tierparks Dählhölzli Wie viele Wisente beherbergt der Tierpark Dählhölzli? Im Moment vier Männchen und acht Weibchen. Das ist ungefähr die Bestandesgrösse, die wir anstreben.
Würden Sie auch für Projekte in der Schweiz eigene Tiere zur Auswilderung freigeben, und wie gross müsste eine Herde zu Beginn sein? Wenn alle involvierten Behörden für ein Projekt grünes Licht geben, sehe ich keine Hindernisse. Der Grundbestand einer Herde wäre wohl ein Stier mit vier Kühen.
Ist die Haltung sehr anspruchsvoll? Elche, Rentiere oder auch Rehe sind bezüglich Nahrung weit selektiver und deshalb anspruchsvoller. Einem Elch beispielsweise kann man nicht einfach einen Ballen Heu hinstellen: Er frisst nichts vom Boden. Anspruchsvoll sind Wisente deshalb, weil sie das Gehege stark beanspruchen. Alles wird zertrampelt, die Bäume werden geschält. Aus diesem Grund müssen wir einzelne Bäume mit Asthaufen einpacken – was zusätzlichen Lebensraum für Kleintiere schafft –, mit Maschendraht umwickeln oder Baumgruppen mit Stellgittern umzäunen. Damit die Wisente trotzdem ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen können, legen wir geschnittene Bäume ins Gehege. Ausserdem erhalten sie Heu und Kraftfutter.
Wäre für den Menschen ein Streifzug durch einen Wald mit Wisenten noch sicher? Ich habe Bedenken: Einer Mutter, die ihr Junges beschützen will, möchte ich nicht zu nahe kommen. Ich empfehle einen Zaun mit kontrolliertem Zutritt für Menschen.
Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus? Können alle Tiere im Dählhölzli bleiben? Nein, Männchen würden vom Bullen drangsaliert, Weibchen gedeckt werden. So weit darf man es nicht kommen lassen, da alle heute lebenden Wisente von 12 Tieren abstammen und somit stark inzuchtbelastet sind. Wir geben überzählige Tiere also gerne an Zoos oder an Auswilderungsprojekte z.B. in Rumänien, Polen und Russland weiter.
Welche Chancen geben Sie den Schweizer Projekten? Gute Chancen sehe ich für Suchy, wo für die Tiere ein Gehege vorgesehen ist. Das Projekt im Kanton Jura kenne ich nicht; dass Wisente allerdings ohne Zäune frei im Jura herumstreifen, kann ich mir schlecht vorstellen. Ein ähnliches Vorhaben im deutschen Rothaargebirge endete damit, dass die Herde eingezäunt werden musste.
Rothirsch, Reh und Gämse Der Rückgang seiner Lebensräume und der Jagddruck führten dazu, dass 1850 der Rothirsch als ausgestorben galt. In «Brehms Thierleben», Ausgabe 1892, steht zum Reh vermerkt: «In der Schweiz ist es bis auf wenige Trupps ausgestorben.» Das erste eidgenössische Jagdgesetz von 1875 – es sah Beschränkungen von Jagdzeiten und Abschüssen vor – kam gerade rechtzeitig, um das Überleben von Tieren zu sichern, die aus Österreich (Rothirsch) und Süddeutschland (Reh) einwanderten. Auch die letzten einheimischen Bestände der Gämse profitierten vom Gesetz und erholten sich. Ausschlaggebend für den Schutz einzelner Tierarten war damals ausschliesslich ihre Nützlichkeit oder Schädlichkeit. Wolf, Bär, Luchs oder Bartgeier wurden deshalb in den parlamentarischen Verhandlungen des Jagdgesetzes nicht einmal diskutiert.
Steinbock Dem Steinbock wurde zum Verhängnis, dass nicht nur sein Fleisch schmackhaft ist, sondern alles an ihm – Hörner, Haare, Haut, Blut, selbst die Exkremente – auch Verwendung als Heilmittelchen fand. Das Wappentier des Gotteshausbundes, später des Kantons Graubünden, war schon im 17. Jahrhundert in den Schweizer Ostalpen ausgerottet, am Anfang des 19. Jahrhunderts im gesamten Alpenraum. Eine Ausnahme bildeten etwa 100 Tiere im italienischen Gran Paradiso, die 1820 unter Schutz gestellt wurden. Weil König Viktor Emanuel III. den Export von Steinböcken nicht erlaubte, wurden 1906 die ersten Tiere in die Schweiz geschmuggelt. Nach einer Aufzuchtaktion standen 1911 genug Tiere zur Verfügung, um eine Auswilderung zu wagen. Seit 1977 wird der Bestand durch Jagd reguliert.
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Die Ausrottung der Wisente geschah durch Jagd und Waldrodung. Der Wisent geht aber selbst auch nicht sehr pfleglich mit Bäumen um. Würden die Wälder des Juras grössere Herden überleben? Das ist eine Frage der Grösse und der Ergiebigkeit der verfügbaren Waldfläche. Wisente fressen ja nicht nur Baumrinde, sondern auch Laub, Kräuter, Beeren und Pilze. Auf jeden Fall muss man mit Verbiss rechnen, wie man es auch vom Rotwild kennt.
INTERVIEW: DANIEL FLURY
DANIEL FLURY
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DIE PATIENTENVERFÜGUNG Eine Patientenverfügung ist grundsätzlich für alle urteilsfähigen Personen sinnvoll. Vor allem sollte man rechtzeitig darum besorgt sein – solange man noch dazu in der Lage ist. Was gilt es dabei zu beachten?
Es ist für uns eine Selbstverständlichkeit, täglich zu entscheiden und zu bestimmen, was mit unserem Leben passieren soll und was nicht.
Die Möglichkeiten der Medizin können heute den Tod lange hinauszögern. Für viele bedeutet dies ein langes, gesundes und vitales Alter. Andere aber dämmern zwischen Leben und Tod vor sich hin. Demenz bleibt vielen im hohen Alter nicht erspart.
Die persönliche Freiheit Die persönliche Freiheit ist in unserer Verfassung garantiert und hat in unserer Kultur einen hohen Stellenwert. Dieses Selbstbestimmungsrecht zieht sich durch alle Aspekte unseres Lebens. Urteilsfähigkeit ist unabhängig von Alter und Gesundheitszustand. Urteilsfähig ist, wer fähig ist vernunftgemäss zu handeln, wer die Folgen seiner Entscheidung absehen und danach handeln kann.
Selbstständige Entscheidungen Jeder urteilsfähige Mensch bestimmt weitgehend selbst über sein Vermögen und seine Person. Er kann sehr sparsam sein oder sich verschulden. Ob er Sport betreibt, als Raucher bewusst seine Gesundheit gefährdet oder durch zu viel Essen seine Lebensqualität mindert, das steht allein in seiner Entscheidungsmacht. Ebenso die Wahl, welche ethischen Grundsätze für ihn gelten.
Letztwillige Verfügung Im Hinblick auf den Tod besteht oft der Wunsch, ein letztes Mal zu verfügen, was mit dem eigenen Vermögen geschehen soll. Mit einem Testament oder einem Erbvertrag wird nicht zuletzt auch vorbeugend Streit unter den Erben vermieden. Wenn der Wille des Erblassers klar ist, muss nicht darüber gestritten werden.
Michael Schumacher ist ein tragisches Beispiel dafür, wie nach einem Unfall plötzlich alles anders sein kann. Es ist zu hoffen, dass er angesichts seines gefahrvollen Berufes nicht nur eine letztwillige, sondern auch eine «vorletztwillige» Verfügung, eine Patientenverfügung, erlassen hat. Mit einer Patientenverfügung hält der Verfasser seinen persönlichen Willen in Bezug auf medizinische Massnahmen schriftlich fest. Er sorgt so für den Fall vor, dass er sich bei Verlust des Bewusstseins durch Unfall oder Krankheit nicht mehr äussern kann. Der Verfasser bestimmt über seine Urteilsunfähigkeit hinaus, welchen medizinischen Massnahmen er zustimmt und welche zu unterbleiben haben. Fehlt eine Patientenverfügung, kann das die nächsten Angehörigen sehr belasten. Sie müssen in einer für sie sowieso schwierigen Situation wichtige Entscheide treffen, ohne immer genau zu wissen, was der Wille des Betroffenen wäre.
Revision des ZGB 2013 Die Patientenverfügung ist keine neue Erfindung. Doch mit dem seit 2013 geltenden Erwachsenenschutzgesetz wurde dieses Recht auf Selbstbestimmung gestärkt und eine klare und einheitliche Gesetzesgrundlage geschaffen.
Urteilsunfähigkeit Nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit Eintritt der Urteilsunfähigkeit erlischt das Selbstbestimmungsrecht. Nach dem Verlust des Bewusstseins durch einen Unfall oder eine Krankheit ist man nicht mehr in der Lage, selbstständig Wünsche zu äussern und Entscheidungen zu treffen.
Behandlungsteams haben einer Patientenverfügung zu entsprechen, sofern diese nicht gegen gesetzliche Vorschriften verstösst und keine begründeten Zweifel in Bezug auf den freien und mutmasslichen Willen der Patientin oder des Patienten bestehen. 31
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Ist eine Patientenverfügung sinnvoll?
Form und Hinterlegung
Eine Patientenverfügung macht für alle Sinn, egal ob jung oder alt, gesund oder krank.
Wie die letztwillige Verfügung untersteht die Patientenverfügung einer Formvorschrift. Sie ist schriftlich zu errichten, zu datieren und von Hand zu unterzeichnen. Im Internet finden sich Dutzende von Vorlagen.1
Patienten können je nach möglichem Verlauf ihrer Erkrankung präzise bestimmen, welche Ziele die Behandlung haben soll. Ältere Menschen legen vor einem drohenden Abbau ihrer geistigen Kräfte fest, wie sie behandelt werden wollen. Junge Menschen, auch urteilsfähige Minderjährige, halten allgemeiner ihre Wertvorstellungen fest, an denen sich dann die Behandlungsmethoden zu orientieren haben. Allein schon die Auseinandersetzung mit einer Patientenverfügung, verbunden mit einer allfälligen Beratung, hilft bei der Klärung der eigenen Wertvorstellungen. Der Verfügende muss sich Gedanken darüber machen, was er will. Die Patientenverfügung dient aber auch der Kommunikation unter den Betroffenen und regt einen Gedankenaustausch an. In jedem Fall aber ist sie ein wirksames Instrument, das dem Behandlungsteam und der vertretungsberechtigten Person erlaubt, in der konkreten Situation die medizinischen Entscheidungen zu treffen, die dem Willen des urteilsunfähigen Patienten entsprechen. Dadurch werden Arzt und Angehörige entlastet. Solange jedoch ein Mensch urteilsfähig ist, gilt sein direkt ausgedrückter Wille und nicht die Patientenverfügung. Ausserdem schützt das Selbstbestimmungsrecht natürlich auch die Freiheit, keine Patientenverfügung zu verfassen oder eine solche jederzeit zu widerrufen.
Inhalt einer Patientenverfügung Die Patientenverfügung legt verbindlich fest, welchen medizinischen Massnahmen im Falle einer Urteilsunfähigkeit zugestimmt wird und welchen nicht. Insbesondere bezieht sich die Verfügung auch darauf, wie weit eine Schmerztherapie, lebensverlängernde Massnahmen, künstliche Ernährung und Wiederbelebungsversuche usw. gehen sollen. Zudem ist es sinnvoll, wenn die Patientin oder der Patient ihre oder seine persönlichen Werte im Zusammenhang mit dem eigenen Verständnis von Lebensqualität in der Verfügung festhält. Solche Äusserungen sind für das Team bei Behandlungsentscheiden eine Leitlinie und somit eine grosse Hilfe. Denn es ist unmöglich, alle Eventualitäten im Laufe einer Behandlung vorauszusehen. Es kann auch eine natürliche Person bezeichnet werden, die im Fall einer Urteilsunfähigkeit des Patienten die medizinischen Massnahmen mit dem Behandlungsteam bespricht und in seinem Namen entscheiden soll. Die vertretungsberechtigte Person kann vom Verfügenden frei gewählt werden.
Die beste Patientenverfügung ist nichts wert, wenn sie nicht schnell zur Kenntnis genommen wird. Sie sollte beim Hausarzt oder bei nahestehenden Personen hinterlegt werden. Es gibt auch Institutionen, welche gegen Bezahlung eine Hinterlegung anbieten. Seit 2013 kann ein Hinweis des Hinterlegungsortes auf der Versichertenkarte der obligatorischen Krankenkasse gespeichert werden. Der Arzt oder Apotheker helfen bei Fragen der Hinterlegung und Speicherung weiter.
Stellenwert Der Arzt muss die Versichertenkarte eines nicht urteilsfähigen Patienten konsultieren, bevor er diesen behandelt. Wenn eine Patientenverfügung erstellt wurde, wird gemäss den Anordnungen der Patientenverfügung entschieden. Existiert keine Patientenverfügung mit Anweisungen, könnten folgende Personen der Reihe nach entscheiden: 1. Die in der Patientenverfügung oder im Vorsorgeauftrag bezeichnete Person 2. Beistand mit Vertretungsrecht in medizinischen Angelegen heiten 3. Ehegatte oder eingetragene Partner(in) 4. Person, die mit dem urteilsunfähigen Patienten, der urteilsun fähigen Patientin einen gemeinsamen Haushalt führt 5. Wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und per sönlich Beistand leistet resp. leisten: - Nachkommen - Eltern - Geschwister 6. Das Behandlungsteam nach bestem Wissen und Gewissen. Werden die Patientenverfügung oder die gesetzliche Reihenfolge vom Behandlungsteam nicht respektiert, kann die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde angerufen werden. PROF. URSULA GUGGENBÜHL
Unter www.fmh.ch stellen die Verbindungen der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) und die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) eine Patientenverfügung in zwei Varianten sowie eine Hinweiskarte fürs Portemonnaie zur Verfügung.
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NETZWERK: BEZIEHUNGEN AUFBAUEN UND PFLEGEN Wer gezielt berufliche oder private Kontakte pflegt, kann ein erfolgreiches Netzwerk aufbauen. Worauf gilt es zu achten? Wie und wo kann man neue Kontakte knüpfen?
Ein Netzwerk zu errichten (auch Networking genannt), bedeutet, berufliche und private Kontakte aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Diese Kontakte können dazu dienen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Aus gemeinsamen Interessen können neue Kontakte geknüpft werden. Einerseits geht es um Kontakte mit Freunden, Nachbarn oder auch innerhalb der Familie. Auf der anderen Seite geht es um berufliche Netzwerke, wo der Fokus auf dem gegenseitigen Nutzen der Beteiligten liegt.
Formen von Netzwerken Man unterscheidet offene und geschlossene Netzwerke. Offene Netzwerke sind für alle zugänglich. Es handelt sich um Informationsanbieter wie z.B. Handelskammern. Geschlossene Netzwerke haben oft strenge Zugangsregelungen. Wer Mitglied werden will, muss zuerst einen Aufnahmeantrag stellen und/oder von einem bestehenden Mitglied empfohlen werden. Ortsgebundene Netzwerke entstehen aus regionalen Kontakten. Beispiele dafür sind Vereine oder regionale Verbände. Heute stehen uns auch die virtuellen Netzwerke zur Verfügung. Mit Facebook oder Myspace kann sich jeder über ein eigenes Internetprofil in der ganzen virtuellen Welt bewegen und bekannt machen. Jeder muss dabei selber einschätzen können, welcher Nutzen bzw. welche Gefahren damit verbunden sind. Sportanlässe bieten sich ebenfalls als Katalysator für Geschäftskontakte an. Man trifft sich z.B. beim Golfen. Man ist entspannt und pflegt nebenbei soziale Kontakte. In ungezwungenem Ambiente werden dann Verträge zwischen Geschäftspartnern abgeschlossen.
Die Bedeutung von Netzwerken im Alltag Es zeigt sich, dass der Aufbau und der Unterhalt von Netzwerken in der Praxis ein vielschichtiges Unterfangen ist. Gefahren, die 34
von der Nutzung virtueller Netzwerke ausgehen, werden zum Teil unterschätzt.
• Geduld und Fingerspitzengefühl David Ernst* ist ein erfolgreicher Unternehmer und hat in den letzten 20 Jahren ein breites Netzwerk aufgebaut. Wie hat er dies geschafft? Mit viel Geduld, Zeit und einer guten Portion Fingerspitzengefühl. In seinem Vorgehen erkennen wir Werte wie Loyalität, Ehrlichkeit und Vertrauen. David Ernst hat sich bei seinen Netzwerkkontakten immer wieder als hilfsbereiter Partner erwiesen. Mit der Betonung auf Gegenseitigkeit hat er stets für ausgewogene Verhältnisse plädiert. In der Aufbauphase des Netzwerkes hat David Ernst nicht nur ein möglichst grosses Netzwerk schaffen wollen, es ging immer auch um die Intensivierung und die Qualität der Kontakte. Erst wenn alles zusammenpasst, ergibt sich ein wirklich effektives Netzwerk.
• Die peinlichen Partyfotos Hanna Gerber* ist 23 und auf der Suche nach einer neuen Stelle als Sachbearbeiterin in einer Dienstleistungsfirma. Sie hat eine kaufmännische Ausbildung und bereits ein paar Jahre Berufserfahrung. Die Personalabteilung einer interessierten Firma stösst beim Recherchieren im Internet auf peinliche Partyfotos von Hanna Gerber. Die Sicherheitslücken in sozialen Netzwerken hat Hanna Gerber offenbar unterschätzt. Internetauftritte können sich negativ auf die eigene Reputation auswirken. Schon manchen Interessierten wurden deshalb gute Stellen verwehrt.
• Viele Fragen Albert Bader* will sein Netzwerk bewusster verstehen und nutzen. Dabei bedient er sich folgender Fragen: Was will ich? Was kann ich? Wo liegen meine Stärken? Was ist meine USP (unique selling proposition = Einzigartigkeit)? Wie viel Zeit oder Geld will ich einsetzen? Was soll das Netzwerk bewirken? Welche Personen können mir helfen? Wo finde ich wichtige Kontakte? Wie präsentiere
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ich mich und meine Ideen? Was kann ich als Gegenleistung bieten? Beim näheren Betrachten der vielen Fragen stellt Albert Bader fest, dass hier viel intensive und akribische Arbeit gefragt ist.
Gespräch in eine bestimmte Richtung lenken und die Antworten oft absehbar sind. Eine Verhörstimmung mit repetitiven Ja-NeinAntworten soll vermieden werden.
Albert Bader hat eine gute Menschenkenntnis, besitzt Empathie und weiss, wie er die Fähigkeiten anderer einschätzen kann. Er vertieft die Frage, wer – nebst Familie und Freunden – für sein Netzwerk infrage kommt. In erster Linie kommen ihm die Nachbarn, der Arzt, der Steuerberater, der Bankberater, der Bäcker und der Garagist in den Sinn. Auch Referenzgeber können hilfreich sein. Zusätzliche Kontakte könnte er im Personalrestaurant oder bei Betriebsausflügen mit Kollegen aus anderen Abteilungen pflegen. Der Besuch von Fachmessen oder Seminarveranstaltungen sowie das Zugfahren oder Besuche in der Stammbeiz können ebenfalls für das Networking genutzt werden.
Im Weiteren sollte Pia Ruf sich auch nicht selbst in den Mittelpunkt stellen. Dies wirkt sehr einengend für den Gesprächspartner. Polemische oder lästernde Bemerkungen wirken sich meist negativ auf die Stimmung aus. Empfehlenswert ist z.B. etwas – wenn möglich Positives – über die aktuelle Veranstaltung zu sagen. Auch die Anreise, das Panorama von der Terrasse oder der Sport können jeweils ein guter Einstieg für ein lockeres Gespräch sein. Heikel sind z.B. folgende Themen: Religion, Politik, Krankheit, Geld/Vermögen. Alles, was die Stimmung negativ beeinflussen könnte, gilt es zu vermeiden.
• Einstieg in ein lockeres Gespräch Die Erweiterung des eigenen Netzwerkes beginnt oft bei einem lockeren Gespräch an einem gesellschaftlichen Anlass. Wie soll Pia Ruf* ein lockeres Gespräch beginnen? Als Einstieg kann eine unverfängliche Frage dienen. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, eine angenehme, entspannte Atmosphäre herzustellen, damit man beim Gesprächspartner als interessant, unterhaltend, einfühlend, taktvoll und vielleicht auch humorvoll in Erinnerung bleibt. Auch mit ihrer Körperhaltung und mit offenem Blickkontakt kann Pia Ruf ihrem Gegenüber signalisieren, dass sie es wirklich verstehen will. Smalltalk sollte nicht «gestelzt», sondern authentisch wirken. Mit offenen Fragen kann Pia Ruf ihrem Gesprächspartner genügend Spielraum bieten, um sich einzubringen, z.B.: «Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht …?» Geschlossene Fragen hingegen (z.B.: «Gefällt Ihnen dieses Bild?») bergen eine gewisse Gefahr in sich, da sie das
Es kann empfehlenswert sein, zunächst zu beobachten, ob ein möglicher Gesprächspartner eine gewisse Offenheit zeigt, bevor man sich kurz vorstellt und das Gespräch beginnt.
Fazit Gute und qualifizierte Kontakte zu knüpfen und zu unterhalten, ist mit viel Aufwand verbunden. Es sollte nicht das Ziel sein, möglichst viele Kontakte zu sammeln. Wichtig ist, die einzelnen Kontakte zu schätzen und zu pflegen. Die Kontaktqualität gehört zu den wichtigsten Komponenten eines starken Netzwerkes. Alle Beteiligten sollen dabei als Nutzniesser auftreten – das schafft auch für die Zukunft eine gewisse Sicherheit. ENRICO LOMBARDI INTRA DM AG, TRAINING & MARKETING, ZÜRICH * Alle Namen sind zufällig gewählt
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KIPPT DIE BAUKONJUNKTUR? Die Bauwirtschaft hat zusammen mit dem privaten Konsum und den Staatsausgaben dafür gesorgt, dass die Schweizer Wirtschaft nach 2008 nicht in eine Rezession abgerutscht ist, sondern trotz grosser Schwierigkeiten insbesondere von der Wechselkursseite her ein befriedigendes Wachstum erzielen konnte. Auch im laufenden Jahr ist der Bau eine der grössten Konjunkturstützen in unserem Land, auch wenn andere Sektoren wie der Export wieder aufholen.
Auch 2015 wird unsere wirtschaftliche Grosswetterlage zu einem hohen Mass von der Baukonjunktur abhängen, die zurzeit nur wenige Schwächezeichen aufweist.
vergangenen Jahr standen 3,1% höheren Ausgaben im Hochbau 0,9% niedrigere im Tiefbau gegenüber. Dies hängt vor allem mit dem Auslaufen grosser Infrastrukturvorhaben (u.a. GotthardBasistunnel) zusammen.
Befriedigende Ausgangslage Das laufende Jahr hat gut begonnen. Die Bauinvestitionen hatten 2013 nochmals um 2,3% zugenommen. Das Gesamtergebnis wurde allerdings durch einen Rückgang der öffentlichen Unterhaltsarbeiten – Folge von Sparmassnahmen – um 3,6% getrübt. Deshalb haben die Bauausgaben insgesamt nur um 1,8% auf 63 Milliarden Franken zugenommen. 2013 war bereits das 14. Jahr mit zunehmender Bautätigkeit seit dem letzten Einbruch im Jahr 1999. Wie fast immer gegen Schluss eines Konjunkturzyklus stieg die Bedeutung des Hochbaus auf Kosten des Tiefbaus. Im 36
Die Bauwirtschaft hat das laufende Jahr mit einem befriedigenden Arbeitsvorrat begonnen: 42,7 Milliarden Franken oder 0,3% mehr als Anfang 2013. Der bescheidene Zuwachs deutet allerdings auf eine Trendwende hin. So ist nicht verwunderlich, dass die Bauunternehmer ihre Lage mehrheitlich besser einschätzen als vor ein paar Jahren. Dank des günstigen Wetters im April hat sich die Bautätigkeit 2014 früher ausgeweitet als in den Vorjahren. Dies bedeutet aber wohl,
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dass der Arbeitsvorrat rascher aufgezehrt wird als auch schon. Der Projektierungssektor meldet allerdings bereits einen leichten Einbruch. Auch sind die Bauunternehmer mit der Einstellung von Personal zurückhaltender geworden. Der Glaube an den Fortbestand der goldenen Zeiten kommt langsam ins Wanken.
Menetekel am Rande Wie immer wenn die Konjunktur sich abschwächt, zeigen sich die ersten Schwächezeichen am Rande. Ein Beispiel dafür ist einmal mehr das Tessin. Dort herrscht auf dem Liegenschaftsmarkt bereits Heulen und Zähneklappern. Die von der kantonalen Statistik erfassten Liegenschaftskäufe sind gegenüber dem Vorjahresstand um 20,7% zurückgegangen, die entsprechenden Werte sogar um 21,7%. Hier hat ein überhitzter Markt den Schnauf verloren. Von 2003 bis 2013 haben sich im Tessin die Werte der Liegenschaftsverkäufe von 2,3 auf 4,1 Milliarden Franken fast verdoppelt. Enorme Schwankungen waren allerdings immer eine Besonderheit des Tessins, wo die Bauwirtschaft mehr als einen Zehntel der ganzen Wirtschaftsleistung erbringt. Die Aussichten für 2015 sind im Sonnenkanton also eher trübe. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch an einem ganz anderen Ende des Bauzyklus ab – bei den Haushaltsgeräten. Hier hängen die Umsätze nicht nur vom Erneuerungswillen der Haushalte, sondern auch von den auszustattenden Neubauten ab. Und da sieht es seit Monaten trübe aus. Die Bauherren drücken auf die Preise wie noch nie, sodass die Anbieter laufend Preise senken und Margen zurücknehmen müssen. Dieses Menetekel lässt auf ähnliche Entwicklungen bei anderen Zulieferern der Bauwirtschaft in den kommenden Monaten schliessen.
zu 20% gegenüber heute sinken könnte. Wir glauben aber an eine Umschichtung des Marktes. Die Nachfrage nach preisgünstigeren Wohnungen ist ungebrochen, aber Luxusobjekte in schlechteren Lagen werden nur schwer verkauft werden können. In diese Richtung zielt auch die Erkenntnis, dass die Immobilienhausse der letzten Jahre im Wesentlichen hausgemacht war und nicht primär auf die Zuwanderung aus dem EU-Raum zurückzuführen ist. Das hat auch das Bundesamt für Wohnungswesen festgestellt. Es bestehe, sagt das Amt, zwar ein Zusammenhang zwischen dem Zuwachs ausländischer Haushalte und der Preisentwicklung am Miet- und Wohneigentumsmarkt, aber nur am Genfer- und Bodensee, an privilegierten Lagen im Grossraum Zürich sowie in Luzern. Interessanterweise hat sich das Preiswachstum nicht vergrössert, sondern verlangsamt, als die Zuwanderung ihren Höhepunkt erreichte. Bereits 2013 wies der entsprechende Preisindex nur noch eine Zunahme um 1,1% auf, die tiefste seit zehn Jahren. Die gleiche Studie weist auch nach, dass die Zugewanderten den Markt für Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser nicht durcheinandergebracht haben. Seit 2004 ist der Anteil der Schweizer, die Wohneigentum besitzen, von 46,9 auf 49% gestiegen, die Eigentumsquote der Ausländer hingegen von 18 auf 17,6% gesunken. Zugenommen hat der Einfluss der Ausländer hingegen im Mietwohnungssektor. Aber am Marktungleichgewicht bei Mietwohnungen im unteren und im mittleren Segment sind die Ausländer ebenfalls nicht schuld. Die neue Einwanderungspolitik der Schweiz im Zeichen der Kontingente wird folglich den Wohnungsmarkt nicht durcheinanderbringen.
Wen trifft es zuerst? Wir wagen die Prognose, dass die Bauunternehmen im kommenden Jahr versuchen werden, die Preise ihrer Lieferanten und Subakkordanten weiter zu drücken. Dies könnte vor allem in den Grenzregionen, wo ausländische Schein- und wirkliche Selbstständige in den immer noch lukrativen Schweizer Markt drängen, für Ärger sorgen und den Ruf nach vermehrter Staatsintervention verstärken. Wir wagen auch die Prognose, dass fällige Korrekturen bei den Grundstück- und Liegenschaftspreisen wesentlich deutlicher ausfallen werden als bei den Baukosten. Schwarzmalerei scheint uns aber fehl am Platze. So halten wir die Prognose der Credit Suisse im Bauindex Schweiz nicht nur für abwegig, sondern auch für gefährlich, wonach die Mietwohnungsnachfrage 2015 um bis
Kommentar
Neue Bremsklötze am Wohneigentum sind unnötig Man kann die höhere Eigentumsquote der Schweizer Bürger (aktuell 49%) wohl gesellschaftspolitisch nur positiv würdigen (Gesamtquote inklusive ausländischer Staatsangehöriger: unter 40%). Die breitere Streuung des Wohneigentums wurde durch den scharfen Wettbewerb zwischen den kreditgebenden Banken, die rekordtiefen Zinssätze, aber auch durch die günstige Einkommensentwicklung der letzten Jahre – Nullteuerung – begünstigt. Jede Mehrnachfrage führt, gerade weil der Boden ja nicht vermehrbar ist, zu steigenden Preisen. Die grosse Frage ist, bis zu welchem 37
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Einkommen und bei welcher persönlichen Vermögenslage diese Kosten tragbar bleiben, ohne dass es im Fall steigender Zinsen oder sinkender Einkommen zu Notverkäufen zulasten der Eigentümer und zum Schaden der Kreditgeber kommt.
den, dürfte offensichtlich sein. Der soziale Schaden einer solchen eigentumsfeindlichen Politik wirkt unseres Erachtens negativer als ein gelegentliches Abweichen von den Finanzierungsregeln in begründeten Fällen.
Wo die Grenzen liegen, darüber kann man geteilter Meinung sein. Als sicher kann gelten, dass keine unmittelbare Erhöhung der Zinslast durch einen allgemeinen Zinsanstieg erheblichen Ausmasses droht. Ob die entsprechende Ruhepause nun drei oder mehr Jahre dauert, darüber kann man nur spekulieren. Die Tragbarkeitsberechnungen der kreditierenden Banken, Versicherungen und Pensionskassen waren fast immer übervorsichtig. Praktisch alle halten sich heute an die 30%-Regel: Die Kosten der zu Eigentum erworbenen Liegenschaft sollen einschliesslich Unterhalt 30% des nach menschlicher Voraussicht sicheren Einkommens nicht überschreiten. Auch soll der Liegenschaftskäufer 20% des Kaufpreises mit Eigenmitteln abdecken können.
Wir halten dafür, dass die Selbstregulierung des Hypothekarmarktes durch die Banken funktioniert und dass es keiner staatlichen Interventionen zum Schutz der Banken vor insolventen Kunden bedarf. Die Empfehlungen der Bankiervereinigung zur Amortisationspflicht für nachrangige Darlehen genügen vollauf.
Ein Einfamilienhaus, das 800 000 Franken kostet, setzt also bei einer Verschuldung von 640 000 Franken und einem hypothetischen Zins von 5% bei Unterhaltskosten von 3% ein Jahreseinkommen von rund 150 000 Franken voraus, das praktisch nur von Doppelverdiener-Ehepaaren erzielt werden kann. Es ist also klar, dass Normalverdiener ohne Doppelverdienst sich Wohneigentum nur leisten können, wenn sie zusätzliche Eigenmittel einschiessen können. Das ist häufig der Fall, wenn Sparguthaben oder Erträge aus Erbschaften vorhanden sind oder der Käufer bereits Liegenschaftsbesitzer war und sich komfortmässig verbessern oder seinen Wohnsitz wechseln möchte. Die Finanzierungslücke konnte in vielen Fällen durch Rückgriff auf eigene Pensionskassenguthaben ganz oder teilweise gedeckt werden. So kamen auch Angehörige bescheidenerer Einkommensklassen zu ihrem sicheren Wohneigentum. Dadurch wurde zweifellos der Anstieg der Boden- und Liegenschaftspreise verstärkt, und die Mär von der Blasenentwicklung begann die Nationalbank zu beunruhigen. Dass die Liegenschaftspreise nicht einfach stabilisiert werden können, indem Bezüger kleinerer mittelständischer Einkommen mangels Finanzierungsmöglichkeiten als Käufer ausgeschlossen wer-
Als völlig verfehlt erachten wir es, wenn aufgrund von bedauerlichen Einzelfällen der Kapitalbezug aus der beruflichen Vorsorge eingeschränkt werden soll. Die zweite Säule wurde bewusst als Mittel der Wohneigentumsförderung geschaffen, und alles andere ist eine Zweckänderung entgegen dem Volkswillen. Zweifellos gibt es Fälle, in denen BVG-Rentner ihr angespartes Kapital verspekuliert oder zu ihrer Einkommenslage nicht angemessenen Liegenschaftskäufen verwendet haben und nachher, wenn kein Eigenkapital und kein für den Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen mehr vorhanden waren, Ergänzungsleistungen beantragen mussten. Wenn dagegen, dass einzelne so ihre Fehldispositionen auf die Allgemeinheit abzuwälzen versuchen, etwas unternommen werden soll, so hat dies bei den Ergänzungsleistungen selbst zu geschehen. Es ist völlig abwegig und stossend, die Kapitalbezüge aus der beruflichen Vorsorge mit einer Änderung des Ergänzungsleistungsgesetzes erschweren oder verunmöglichen zu wollen. Dieses Hirngespinst aus der Verwaltungsküche hat ohnehin im Parlament und vor dem Volk keine Chance. Die Lösung beruht auch hier auf der Selbstverantwortung. In kritischen Fällen kann der Kreditgeber verlangen, dass der Nachweis einer genügenden Altersvorsorge vom Schuldner erbracht wird und dass dieser formell auf den Kapitalbezug aus der zweiten Säule ganz oder teilweise verzichtet, bevor ihm der Kredit gewährt wird. Das ist die Lösung.
DR. RICHARD SCHWERTFEGER
«Wenn wir die Baukonjunktur erhalten wollen, dürfen wir den Erwerb von Wohneigentum nicht stärker reglementieren.» 38
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UNTER WÖLFEN Bergler sind komisch. Speziell die Bündner, die Walliser und alle übrigen. Kein Herz für Wölfe. Nur für Schafe. Und wenn wieder eins verstreut auf einer Alp liegt, dann ärgern die Bergler sich, aber nicht etwa über die Oberländer Wölfe, sondern über die Unterländer Wolfsversteher. Unterländer Wolfsversteher sind komisch. Speziell die Zürcher, die Aargauer und alle übrigen. Genau wie die Wölfe jagen auch sie. Aber keine Schafe, sondern Bergler. Als im Bündnerland ein Wolf illegal abgeschossen wurde, setzte die «Gruppe Wolf Schweiz» (GWS) auf den garstigen Bärentöter ein Kopfgeld von 10 000 CHF aus. Kopfgeldjagende Wolfsversteher nehmen nun also die Oberländer Schafsversteher aufs Korn. Wenn das mal gutgeht. Die Oberländer Schafsversteher dürfen durchaus auch mal legal einen Wolf in die ewigen Jagdgründe befördern. So wie den Walliser «M35» im letzten Herbst. 17 Schafe, 14 Hirsche und 3 Rehe hatte er zerlegt, illegal, hatte kaltschnäuzig Elektrozäune, Herdenschutzhunde und Wohnhäuser in Sichtdistanz ignoriert. Damit war er zu weit gegangen, was zwar nicht überrascht, er war ja ein Walliser, aber trotzdem. Wenn ein Wolf in einem Monat 25 Tiere reisst, dann dürfen die Bergler ihm laut Gesetz legal an den Pelzkragen. Und erfahrungsgemäss gewähren Bergler keine Sondersettings.
Entschädigungen. Das hilft beim Bezahlen von Elektrozäunen und Herdenschutzhunden. Unsere Wölfe kosten uns jährlich etwa 80 000 CHF. Pro Tier. Das entspricht 200 Jahreseinkommen in Burundi. Die Wolfsversteher finden, es hätte Platz für 200 bis 300 Wölfe. Sie verteilen sich jetzt schon im Land. Vergangenen Juni wurde einer gesichtet im zürcherischen Schlieren, und zwar vom Lokführer. Die Flut an Kondolenzschreiben aus dem Wallis blieb überschaubar. Die Oberländer Schafsversteher meinen trocken, bei den Unterländer Wolfsverstehern werde die Begeisterung von allein verschwinden, wenn sie den Wolf vor der eigenen Haustüre hätten. Im Moment hält sie noch an. Das gilt auch für die Bären. Für «M25» haben sie per Wettbewerb einen Namen ermittelt. Er heisst jetzt «Rock’n’Roll». Im Puschlav hat er fünf Esel und neun Schafe zerlegt. Eines Tages dürfen Schweizer Bären und Wolfsrudel sicher auch süsse Wisent-Kälbchen naschen. In Sichtweite des Waldkindergartens. Das rockt. Vor allem die Bergler. Aber das sind sowieso komische Leute, gell. Keine Ahnung von der Natur.
Inzwischen sind in mindestens 18 Kantonen geschätzte 25 Wölfe unterwegs. «F07» hat die ersten Schweizer Wolfswelpen seit 150 Jahren geboren, «M30» ist der glückliche Wolfspapa. Jungtiere dieses nunmehr zehnköpfigen «Calanda-Rudels» schleichen als einsame Outlaws durch die Wälder, und in den Universitäten von Bern und Lausanne stapeln sich Gläsli mit ihren Hinterlassenschaften zwecks DNA-Analyse für die Familienforschung. Auch die aufgescheuchten Journalisten vermelden jedes Dreckli im Blätterwald. Doch wie so oft bei Mord und Totschlag spricht man mehr von Tätern als von Opfern. Ganz zu schweigen von den traurig blöckenden Angehörigen – als Herdentiere müssen viele der hinterbliebenen Lämmer die wüsten Blutbäder mit eigenen Augen mitanglotzen. In Deutschland ist man sensibilisiert. Der Sprecher des Bauernverbands Brandenburg, Holger Brantsch: «Durch einen Wolfsangriff werden die anderen Schafe oftmals traumatisiert.» Da leiden die Bauern sehr mit. Und fordern höhere
WILLI NÄF WILLI NÄF IST FREIER AUTOR, TEXTER UND KABARETTIST UND LEBHAFT IM BASELBIET UND IM APPENZELLERLAND. WWW.WILLINÄF.CH
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Erscheinungsweise Im Januar, April, Juli und September auf Deutsch, Französisch und Italienisch
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