Eros und individualistische Religion bei Böll

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Sveučilište Josipa Jurja Strossmayera u Osijeku Filozofski fakultet

Preddiplomski studij iz njemačkog jezika i književnosti

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Eros und individualistische Religion in Heinrich Bölls Prosa

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Mentor: izv. prof. dr. sc. Željko Uvanović Osijek, 2009.


Danksagung Ich möchte mich bei meiner Grundschullehrerin Christina Groth dafür bedanken, dass sie mich inspiriert und gerade für diesen Autor und sein unermüdliches Schaffen begeistert hat, denn es hat nicht nur Spaß gemacht zu lesen und zu forschen, sondern hat mir auch viele Fassetten von Auffassungsmöglichkeiten und Moralvorstellungen deutlich und verständlich gemacht. Ein großes Dankeschön dafür!


Zusammenfassung Ich behandle in dieser Arbeit den Autor Heinrich Böll, seinen Lebensstil und vor allem sein erzählerisches Schaffen. Dabei gehe ich von den wichtigsten Komponenten seiner Prosa aus; Liebe und Religion.

Es werden parallele Auseinandersetzungen zwischen körperlicher und geistiger Liebe, sowie dem Verhältnis und der Stellung zum Katholizismus, der Gemeinde, Kirche und letztendlich Gott gemacht. Anhand von vier ausgewählten Beispielen tauche ich in die Sphären des reinen Glaubens und des sündhaften Handelns ein und versuche eine eigene Sicht daraus zu entwickeln.

Die ganze Geschichte um Heinrich Böll, sein Schaffen und Engagement steigert sich immer mehr mit seinen direkten Aussagen und Stellungnahmen, die er sich nicht scheut offen preiszugeben. Dabei kommt es zu einem großen Spalt von Verehrern und Gegnern. Die Angriffe gegen Kirche und Staat schockieren, machen aber auch die Taktlosigkeit der gleichen klar, denn Böll hat eine starke Überzeugungskraft und gleichzeitig eine mitleiderregende Teilnahme an seinen Helden und den Schicksalen, die sie durchleben.

Liebe und Religion konstruiert er somit oft als Gegenpole der Gesellschaft, die einander nicht etwa erfüllen und bereichern, sondern im schlimmsten Fall zerreißen und zerstören. Dies ist ein interessanter Ansatzpunkt und wird sich während dieser Arbeit vertiefen und ausbreiten, aus der Sicht des Autors, aber auch aus der Sicht des Lesers.

Die vier Werke, von denen ich ausgehe, sind in den Fußnoten mit Sigles verzeichnet (A, B, I, U), um Wiederholungen der vollen Werkangaben zu vermeiden.

Schlüsselwörter: Liebe, Leid, Katholiken, Kreis, Sünde, Geld.


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung.................................................................................................1-2 2. Über Heinrich Böll..................................................................................3- 4 2.1 Bölls Prosa nach 1945- Sinn und Zweck................................................4-5 3. Verzweifelte Helden....................................................................................6 4. Phänomen Krieg......................................................................................6-7 5. Leitmotiv: Zigarette................................................................................7- 8 6. Das durchgehende Thema der Liebe......................................................8-11 6.1 Erkenntnis durch Liebe......................................................................11- 12 7. Die Rolle der Frau...............................................................................12-14 8. Die Rolle des Katholizismus in Bölls Prosa.......................................14- 18 9. Individualistische Religion eines Individualisten...............................19- 20 10.Schlussfolgerung.......................................................................................21 11.Literaturverzeichnis..................................................................................22

Abbildungsverzeichnis...................................................................................23


1. Einleitung

In dieser Arbeit werde ich mich mit dem durchgehenden Thema der Liebe und Religion in Heinrich Bölls Prosa auseinandersetzen und werde versuchen die Hintergründe seiner Kirchenfeindlichkeit und gleichzeitig die Liebe zu einer ganz eigenen, individualistischen Religion und Leidenschaft ans Licht zu bringen.

Liebe und Religion sind elementare Grundsteine, die die Menschheit schon seit Jahrtausenden bewegen und beschäftigen. Gerade diese zwei großen Mächte haben auch mich bewegt und bringen mich immer wieder zum nachdenken. Zwei riesige Worte, doch hinter ihnen stehen viele Verpflichtungen, Aufgaben, Opfer, aber auch Sicherheit und eine unersetzliche Erfüllung von Glück und Zufriedenheit. Oft stellt sich gerade bei solchen Themen die Frage; Sind unserer künstlerischen Freiheit wirklich keine Grenzen gesetzt, auch wenn es um eine „heilige Sachen“ geht?

Heinrich Böll übt einerseits in seinem Erzählwerk offene Angriffe auf die kirchliche Gemeinde, Familie und das Umfeld aus, doch andererseits ist er dem weiblichen Geschlecht oft so hingebungsvoll wie einer Gottheit. Diese Besessenheit und Leidenschaft der Frauenrolle gegenüber ist in vielen seiner Stücke zu spüren, doch was bringt ihn dazu, den Glauben auszuschließen oder schließt er eigentlich nur die Glaubensgemeinde aus? Diese Fragen werde ich im Laufe dieser Arbeit zu beantworten versuchen und ein ganz eigenes religiöses Bild des Autors wiedergeben.

Allgemein gesehen hat mich persönlich Bölls Auffassung von Liebe und Religion stutzig gemacht und in eine gewisse Antistellung gebracht, doch dann begreift man, dass man viel Aufmerksamkeit den Details schenken muss, zwischen den Zeilen lesen soll und seine oftmals radikale und aggressive Zeitkritik als eine Predigt der etwas anderen Art deuten kann.

Es sind nicht nur Frauen und die Liebe zu ihnen, die seine Prosa prägen, es prägt auch die Religion, gegen die er sich auf den ersten Blick so zu wehren versucht und die gleichzeitig


für so viel Gesprächsstoff dient. Begriffe wie „Christlicher Autor“ oder „Christliche Literatur“ legt er jedoch generell ab, denn Heinrich Böll versteht sich vor allem als Moralist und Gewissensmensch, wie folgendes Zitat bestätigt:

Solange das Geheimnis der Kunst nicht entziffert ist, bleibt dem Künstler sein Instrument: sein Gewissen; aber er hat ein Gewissen als Christ und eines als Künstler, und diese beide Gewissen sind nicht immer in Übereinstimmung... So bleibt das Dilemma, Christ zu sein und zugleich Künstler und doch nicht christlicher Künstler.1 Böll ist vor allem Humanist und sein literarisches Schaffen sieht er in einer Ästhetik des Humanen, die das Wohnen, die Nachbarschaft und die Heimat, das Geld und die Liebe, Religion, Mahlzeiten, Ehe, die Familie2 zu immer wieder neuen Themen werden lässt.

Obwohl das von mir auserwählte Thema der Liebe und Religion schon uralt ist, gestaltet es Böll anders, als die meisten seiner Schriftstellerkollegen, denn er versucht nicht seine Misserfolge, seinen Hass, Sünde und Schuld in Liebes- und Glaubensangelegenheiten zu kompensieren, sondern gibt sie offen zu und schafft damit eine breites Feld ihn anzugreifen und zu kritisieren.

Eines der zutreffendsten Beschreibungen Bölls und seiner Wirkung hat der Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu seinem Tod gegeben: Er war unbequem und streitbar, er erregte Anstoß und erzeugte Achtung. Seine mutige, engagierte, wache und immer wieder mahnende Stimme wird uns fehlen. Sein Werk bleibt.3

Ob man ihn für sein Werk loben oder tadeln sollte, wird sich am Ende durch die Analyse der Charaktere, Motive und Hintergründe herausstellen.

1

Marcel Reich-Ranicki (1994: S. 23) Arnold (1993: S. 89) 3 Böll (1985: S. 4) 2


2. Über Heinrich Böll Heinrich Theodor Böll wurde am 21. Dezember 1917 in Köln als Sohn eines Schreiners und Bildhauers geboren und wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Der später für Böll bekannte Antimilitarismus ist wie seine katholische Frömmigkeit und seine Ablehnung des Nationalsozialismus vom Elternhaus mitgeprägt worden. Böll fing 1939 ein Studium der Germanistik und klassischen Philologie an, doch wurde kurz darauf in die Wehrmacht einberufen und blieb dort bis er 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er fünf Monate Später wieder freigelassen wurde. Seit 1947 veröffentlichte er Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Hörspielen. Nachdrücklich gefördert wurde er durch den Verleger und FDP-Politiker Dr. Middelhauve. Seine Kurzgeschichten werden als Nachkriegs- oder Trümmerliteratur bezeichnet. Einige der besten Kurzgeschichten erschienen 1950 in dem Sammelband Wanderer, kommst du nach Spa …, das Bölls Ruhm als Kurzgeschichtenautor besiegelte. Insbesondere für die humorvolle Erzählung von der Tragik des kleinen Mannes und Künstlers Die schwarzen Schafe 1951 erhielt Heinrich Böll den Literaturpreis der Gruppe 47. Seine Hauptwerke entstanden somit erst nach 1950, mit denen er für viele Kontroversen und Furore sorgte, denn er übte offene Angriffe auf Politiker, Staat, Kirche und Gesellschaft. Einige davon sind; Und sagte kein einziges Wort, Haus ohne Hüter, Ansichten eines Clowns, Billard um halbzehn und Ende einer Dienstfahrt. 1970 wurde er zum Präsidenten des PEN-Clubs Deutschlands ernannt und erhielt zwei Jahre später den Nobelpreis. Seit 1953 war er auch Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, seit 1960 der Bayrischen Akademie der Schönen Künste. Heinrich Böll starb am Morgen des 16. Juli 1985 in seinem Haus in Langenbroich. Drei Tage später wurde er in Merten unter großer Anteilnahme von Familie, Kollegen und Politikern beigesetzt. Ende August wird posthum sein letzter Roman Frauen vor Fußlandschaft erscheinen.4

4

Vgl. Böll (1985: S. 47)


Heute gibt es mehrere Institutionen, die den Namen des Schriftstellers tragen, wie z. B. die Heinrich-Böll-Stiftung und das Heinrich-Böll-Archiv, außerdem wird von der Stadt Köln seit 1985 der Heinrich-Böll-Preis für „herausragende Leistungen auf dem Gebiet der deutschsprachigen Literatur“ vergeben.5

2.1 Bölls Prosa nach 1945 – Sinn und Zweck

Die anspruchsvolle deutsche Literaturkritik hat keinem anderen deutschen Schriftsteller nach 1945 so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie Heinrich Böll, doch gleichzeitig gingen die Meinungen bei keinem anderen Autor so weit auseinander.

Den größten Teil seiner Prosa nach 1945 machen Kurzgeschichten der sogenannten Nachkriegs-, Trümmer- oder Heimkehrliteratur aus. Zentrales Thema ist der Krieg und all das, was er mit sich bringt – Verlust, Krankheit, körperliche und geistige Lähmung, Heuchlerei, Gier und gesellschaftliche Fehlentwicklung. 5

Vgl. Böll (1985: S. 47)


In seiner Prosa finden sich jedoch häufig Motive, die selbst seine Verehrer skeptisch machen, weil sie sich gegen große Glaubensformen richten. Er macht es damit seinen Gegnern und Kritikern leicht ihn anzugreifen und zu verstoßen, doch wer seine Ideen und Ansichten von Anfang an ablehnt, erfährt wohl nie den wahren Sinn und Zweck seiner Geschichten.

Und obwohl Heinrich Böll vielleicht noch nie etwas literarisch und ästhetisch Vollkommenes geschrieben hat, so ist er aber immer authentisch und in jedem seiner Werke engagiert zu finden. Gerade dieses Engagement ist es was ihn und seine Kunst ausmachen. Bölls Anteilnahme resultiert vor allem in Verbindung mit der Realität und der hundertprozentigen Wahrheit:

Die Wirklichkeit ist wie ein Brief, der an uns gerichtet ist, den wir aber ungeöffnet liegen lassen, weil die Mühe ihn zu öffnen, uns lästig ist – oder weil uns die Vorstellung quält, der Inhalt könnte unerfreulich sein... Die Wirklichkeit ist eine Botschaft, die angenommen sein will – sie ist dem Menschen aufgegeben, eine Aufgabe, die er zu lösen hat. 6 Damit ist Bölls Sinn und Zweck seiner Kunst schon angedeutet: Er möchte den Menschen die Wahrheit und die Wirklichkeit vor Augen führen, den Brief öffnen und zu Veränderungen bewegen – Frieden, Liebe, Familie, Geborgenheit und Sicherheit. Er zeigt viele revolutionäre Gedanken und Wünsche auf, weil er sich als Schriftsteller und Bürger der fehlerhaften Gesellschaft bewusst ist.

Letzten Endes ist Bölls Prosa ist ein ganz wertvolles und empfindliches Wesen, denn auch wenn seine Kurzgeschichten und Romane für viele Kritiker Radikalität, Einseitigkeit und Extremismus aufweisen, ist der Sinn und Zweck seiner Literatur ein ganz anderer.

6

Reich-Ranicki (1994: S. 34)


3. Verzweifelte Helden

Bölls Helden sind immer scheiternde Individuen und Opfer, die hilflos herumirren und im Dunkeln tappen. Einfache Durchschnittsmenschen machen die zentralen Gestalten aus, die sich weder durchsetzen, noch kämpfen. Sie leiden und ertragen ihr Schicksal, womit sie eine riesiges Mitgefühl und Mitleid beim Leser wecken.

Gestalten ohne Selbstbewusstsein, Stabilität und Mut sind keine typischen Helden in Romanen und Erzählungen. Gerade Bölls Helden, die verzweifeln, weinen, aufgeben und sterben machen es dem Publikum leicht ihn zu verstehen. Sie zeigen uns oft die Schattenseite des Lebens und machen klar, dass vieles schief gehen kann und uns am Ende zur Verzweiflung bringt.

Die Verwirrung der Gefühle und moralischen Prinzipien, die körperliche und geistige Not geben den verzweifelten Helden einen ganz besonderen Charme und verleihen ihnen einen einzigartigen Erkennungswert.

4. Phänomen Krieg

Durch Heinrich Bölls seschjährige Kreigserfahrung als Soldat wurde er als Mensch geprägt und körperlich und seelisch verwundet. Das Phänomen Krieg hat auch große Spuren auf seinen literarischen Werken hinterlassen.

Das Thema Krieg ist aus seinen Büchern nicht mehr wegzudenken, denn es fällt geradezu über uns her, da es fast immer im Vordergrund seiner Erzählungen steht. Er zeigt nicht wie man Kriege führt oder gewinnt, Böll zeigt uns mit seinen Kriegsgeschichten etwas viel wertvolleres; was der Krieg aus den Menschen macht. Der Autor interessiert sich vor allem für die Opfer und die kleinen Leute, die viel durchmachen und ertragen müssen. Diese Menschen wissen zwar nicht sich zu wehren, aber sie lassen sich auch nicht für die gewissenlosen Ziele der großen Mächte missbrauchen.


Eines möchte Böll hervorheben: Krieg macht die Menschen krank und kaputt. Es kommt zu einer Fehlentwicklung der Gesellschaft und das Gefühl der Sicherheit, Geborgenheit und einem Zuhause gibt es nicht mehr. Bölls Wunden, die er aus dem Krieg davongetragen hat, sind wohl nie verheilt, denn er hatte sein ganzes Leben lang mit Albträumen zu kämpfen. Diese Albträume begleiten ihn auf jeder Reise, in jedem Buch und in jeder Beziehung.

5. Leitmotiv: Zigarette Eines seiner größten Leidenschaften müssen wohl für Heinrich Böll Zigaretten gewesen sein, denn sie sind immer und in jedem Buch anwesend. Zigaretten machen den Charakter seiner Werke aus, sind bei jeder Suche dabei, machen schwierige Situationen erträglicher, bieten Trost und beruhigen.

Böll selbst war Nikotinsüchtig und brauchte zum Schreiben seiner Erzählungen und Romane immer sehr viele Zigaretten. Diese Angewohnheit drückte sich auch auf seine Gestalten aus, wie z.B. in den Ansichten eines Clowns:

Wenn ich mir vorstelle, dass sie seine Zigarette aus dem Aschenbecher nehmen und weiterrauchen würde, wurde ich fast wahnsinnig und die Einsicht, daß er Nichtraucher war, ... bot keinen Trost.7 Hans Schnier verbindet hier mit dem Rauchen einer Zigarette etwas Intimes, das er mit seiner Freundin genossen hat und bei dem Gedanken, dass sie mit einem anderem Mann zusammen raucht und an seiner Zigarette zieht ist für ihn wie Verrat. Auch in der Erzählung Das Brot der frühen Jahre macht das Rauchen einer Zigarette Hedwigs einen erotischen Eindruck auf Walter:

Ich hielt die Schachtel hin, sie nahm eine Zigarette. Ich gab ihr Feuer, und ich sah noch, als ich im Laden stand und bezahlte, wie sie dort saß und rauchte; sah ich, dass sie selten rauchte, sah es daran, wie sie die Zigarette hielt und den Rauch ausstieß...8 7 8

A, S. 29 D, S. 74


Man sieht an dem Beispiel, wie detailliert und präzise Böll das Rauchen beschreibt und ihm eine große Wichtigkeit bei der Charakterisierung von Menschen verleiht. Das Leitmotiv der Zigarette begleitet Böll nicht nur in seinen Werken, sondern auch privat weswegen er schwere gesundheitliche Schäden davonträgt und letztendlich an Lungenversagen stirb.

6. Das durchgehende Thema der Liebe

Was Bölls Prosa immer zu einem herzzerreißenden Erlebnis macht, seien es Erzählungen der Nachkriegszeit und Trümmerliteratur oder sozial- und zeitkritische Romane, ist das durchgehende Thema der Liebe, das in jedem seiner Werke versteckt oder offen dargeboten zu finden ist.

Mit einem ganz besonderem Einfühlungsvermögen, seiner Beobachtungskunst und einer vortrefflichen psychologischen Sensibilität gelingt es ihm Verhältnisse zu demonstrieren und ganz ergreifende, durch Liebe oder ihr Fehlen entstandene Schicksalsschläge zu beschreiben.

So verflechten Böll in dem Roman Ansichten eines Clowns, der in erster Linie eine Abrechnung mit der katholischen Kirche ist, eine bittersüße Liebesgeschichte. Der Berufsclown Hans Schnier ist ein Künstler, der sich demonstrativ gegen die „Ordnungsprinzipien“ der katholischen Kirche stellt, wobei seine große Liebe, Maria Derkum, selbst fromme Katholikin ist und ihn wegen ihres unehelichen Zusammenlebens verlässt und einen „richtigen Katholiken“ heiratet. Hans ist ihr regelrecht verfallen und als sie von ihm geht stürzt er in eine tiefe Krise, fängt an regelmäßig zu trinken und beruflich zu versagen. Die Trennung von Marie und damit auch der Entzug ihrer Liebe, körperlich und seelisch bedeutet für ihn den Untergang und verursacht bei ihm eine fast psychische Lähmung. Nur bei dem Gedanken, was Marie mit dem Katholiken machen könnte erfüllt ihn mit großem Schmerz und Eifersucht: Wenn ich mir vorstelle, daß Marie diese Sache, die sie nur mit mir tun sollte, mit Züpfner macht, steigert sich meine Melancholie zur Verzweiflung.9 9

A, S. 28


Melancholie ist ein Wort, das oft vorkommt und überhaupt könnte man das ganze Werk als äußerst melancholisch beschreiben. Neben der Melancholie, die der Hauptgestalt zu schaffen macht ist es auch noch Monogamität, denn der Clown ist monogam und kann an keine andere Frau außer Marie denken. Marie wiederum ist anscheinend nicht so monogam wie ihr Clown: Nichts, was ich mit ihr getan hatte, konnte sie doch mit ihm tun, ohne sich als Verräterin oder Hure vorzukommen.10

Das „fleischliches Verlangen“, das von Böll oft als „Eros“ bezeichnet wird, aber für die wahre körperliche und geistige Liebe im Allgemeinen steht, ist für den Autor immer eine komplizierte und grausame Geschichte. Dieses „fleischliche Verlangen“ ist für nichtmonogame Männer wahrscheinlich eine ständige Tortur, für monogame Männer wie Hans Schnier ein ständiger Zwang und die meisten Frauen sind gekränkt, wenn sie den „Eros“ nicht spüren.11 Es wäre auch wichtig zu erwähnen, dass für die eigentliche Liebesgeschichte, die in diesem Roman erzählt wird die Glaubensfrage eigentlich gar nicht so wichtig ist, denn im Buch heißt es: Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke.12

Es sind Augenblicke aus dem Zusammenleben zweier Menschen, mit denen uns Böll eine Liebesgeschichte erzählt und etwas zeigt, das nur selten gezeigt wird: den Alltag einer Liebe.13 Diesen Alltag schildert uns Böll mit einer gewaltartigen Ausdruckskraft und mit einer Beobachtungskunst, die sich ebenso auf psychische Erlebnisse des Paares, wie auf die sichtbare und greifbare Welt bezieht. Vor allem ist Böll immer sehr detailgetreu und schildert alle Augenblicke mit ganz viel Taktgefühl und Sentimentalität:

Ihre Hände in meinen Achselhöhlen wurden warm, und je wärmer ihre Hände wurden, desto schläfriger ich. Bald waren es ihre Hände, die mich wärmten, und als sie mich wieder fragte, ob ich sie denn liebe und schön fände, sagte ich, das sei doch selbstverständlich, aber sie meinte, sie höre das Selbstverständliche so gern, und ich murmelte schläfrig, ja, ja, ich fände sie schön und liebte sie.14

10

A, S. 107 Vgl. A, S. 186 12 ebd., S. 8 13 Vgl.Reich-Ranicki (1994: S. 45) 14 A, S. 50 11


Auch in der Erzählung Das Brot der frühen Jahre zeigt uns Böll eine augenblickliche Liebe, die der junge Walter Fendrich verspürte als er Hedwig zum ersten Mal sah:

Dieses Gesicht ging tief in mich hinein, drang durch und hindurch wie ein Prägstock, der statt auf Silberbarren auf Wachs stößt, und es war, als würde ich durchbohrt, ohne zu bluten, ich hatte für einen wahnsinnigen Augenblick lang den Wunsch, dieses Gesicht zu zerstören wie der Maler den Stein, von dem er nur einen einzigen Abdruck genommen hat.15 Ähnlich wie Hans, verliebt sich auch Walter unsterblich in das junge Mädchen und vergisst alles um sich herum. Im gleichen Augenblick möchte er sie an sich reißen und nie wieder los lassen. Er muss sich regelrecht beherrschen, um nicht über sie herzufallen und ihr seine Liebe zu offenbaren.

Bölls Gestalten zeigen häufig possessive Züge und ein ausgeprägtes sexuelles Verlangen: In dieser halben Minute, in der ich hinter ihr herging, dachte ich daran, daß ich sie besitzen würde und daß ich, um sie zu besitzen, alles zerstören würde, was mich daran hindern könnte.16

Das Verlangen und die Liebe, die Walter vom ersten Augenblick erfüllen, verändern ihn und lassen ihn Dinge über seine Vorlieben und Fähigkeiten ganz neu erkennen. Sachen, die ihm bis dahin sehr wichtig waren, erschienen ihm nun bedeutungslos.

Im ehekritischen Roman Und sagte kein einziges Wort wird eine Liebesgeschichte erzählt, die von den ärmlichen Umständen und dem gefühlslosem Umfeld beeinträchtig und auf eine harte Probe gestellt wird. Obwohl das Ehepaar, Fred und Käthe, Kinder, Liebe und ein ganzes Leben verbinden, weiß Fred nicht mehr weiter und verlässt die Familie, doch er fühlt sich weiterhin verantwortlich, schickt ihnen sein ganzes Gehalt und trifft sich regelmäßig mit seiner Frau in einem Hotelzimmer, wobei sich in diesem Roman zum ersten Mal eine Frau zu Wort meldet, aktiv Handelt und sich bei ihrem Mann beschwärt:

Ich habe nichts gegen Huren, Fred, aber ich bin keine. Es ist schrecklich für mich, zu dir zu kommen, irgendwo im Flur eines zerstörten Hauses oder auf einem Acker mit dir zusammen zu sein und dann nach Hause zu fahren. Ich habe immer

15 16

D, S. 33 D, S. 34


das schreckliche Gefühl, du hättest vergessen, mir fünf oder zehn Mark in die Hand zu drücken, wenn ich in die Straßenbahn steige.17 Sie möchte, dass ihr Mann wieder zurück kommt, damit sie ein normales Familien- und Eheleben führen, aber sie ist auch bereit die Kinder alleine zu erziehen falls er sich nicht ändert. Klare Bedingungen einer Frau, die nicht nur ihren Mann liebt, sondern auch ihre Kinder und sich selbst.

Sogar in der Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum, bei der im Mittelpunkt die Auseinandersetzung und Abrechnung mit der Bildzeitung steht, ist diskret auch eine Liebesgeschichte skizziert. Das Thema der Liebe ist Bölls Prosa immer präsent und vorhanden, nur ist es fast immer eine unglückliche, verzweifelte, aussichtslose und verirrende Liebe, die wir nicht gerade beneiden oder uns selber wünschen würden. Wir sind eher bestürzt und traurig gestimmt bei solch einer Liebesgeschichte, wissen vielleicht aus eigener Erfahrung, dass es nun mal auch so kommen und enden kann, aber so wirklich wahr haben wollen wir das nicht.

6.1 Erkenntnis durch Liebe

Die Erkenntnis durch Liebe trifft am besten auf den Helden der Erzählung Das Brot der frühen Jahre, der eine Art Wiedergeburt erlebt als er Hedwig trifft, denn plötzlich scheint alles klar zu sein. Er glaubt über bisher ungeahnte mathematische und sprachliche Fähigkeiten zu verfügen. Außerdem stellt er fest, dass er sein verdientes Geld, seinen Beruf und Maschinen, mit denen er jeden Tag zu tun hat, hasst. Hedwig ist für Walter wie eine Erleuchtung und er verspürt zum ersten Mal den starken Wunsch mit einer Frau intim zu werden:

Ich hatte das, was ich jetzt mit ihr tun wollte, noch nie mit einer Frau getan; es gab viele Namen dafür, viele Vokabeln[...]aber keine einzige von diesen Vokabeln passte auf das, was ich mit ihr tun wollte.18 17 18

U, S. D, S.49


Die Erkenntnis, was Walter wirklich wichtig war, kam durch Hedwig. Die Liebe zu ihr hat ihn verändert und zu einem glücklichen Menschen gemacht.

7. Die Rolle der Frau

Eine der schönsten Passagen, die der Wichtigkeit und Schönheit der Frauen gewidmet ist, befindet sich in den Ansichten eines Clowns:

Frauenhände sind schon fast keine Hände mehr: ob sie Butter aufs Brot oder Haare aus der Stirn streichen. Kein Theologe ist je auf die Idee gekommen, über Frauenhände im Evangelium zu predigen: Veronika, Magdalena, Marie und Martha – lauter Frauenhände im Evangelium, die Christus Zärtlichkeiten erweisen.19 Das „Genie der Sinnlichkeit“, das Böll der Frau zuschreibt und das „Sakramentale“ ihrer häuslichen Tätigkeit, wie auch die „Feierlichkeit“ des „Alltags“, die die Frau verwaltet, sind Schlüsselmomente in Bölls Konzept von den Elementen der Humanität.20 Bölls Frauenbild ist somit ein positives und liebevolles, aber es macht auch den Anschein des Klischeehaften und Konservativen: Hausfrauen, Mütter und Geliebte.

Die Rolle der Frau ist oftmals eine passive und im Hintergrund stehende, obwohl er sie als Schicksalsträgerinnen seiner Helden beschreibt, sind Frauen tröstende Gestalten, die das Leben der Männer bereichern, sie sexuell befriedigen, sich um die Familie kümmern und im Haushalt tätig sind. Wegen dieser traditionellen und stereotypischen Darstellung hatte Böll auch einige Kritiken einkassieren müssen.

19 20

A, S. 78 Vgl. Arnold ( 1993: S. 98)


Karin Huffzky zum Beispiel kritisiert Bölls Darstellung der Frau sehr stark und bezeichnet ihn sogar als Frauenfeind: Frauen, denen die Lust an der Unterwerfung noch nicht vergangen ist, finden in Bölls Romanen ausreichend Anleitungen zum selbstlosen Handeln.21 Mit der Unterwerfung ist vor allem die sexuelle und berufliche gemeint, die Böll mit der Geschlechterhierarchie in seinen Werken andeutet. Auch die Kritikerin Dorothee Römhild ist von Bölls Frauenbild nicht begeistert und kommt zum folgenden Endschluss:

Frau als Hüterin der Erinnerung, die Frau als Helfende, Stützende und Bewahrende, die Frau als letzter „Hort“ von Menschlichkeit – damit konstruiert Böll ein Bild, das gerade in gesellschaftskritischer Literatur so nicht haltbar ist.22 Es ist fast ausschließlich der Mann, der leidet und verzweifelt, der kritisiert und beurteilt. Die Frau ist diejenige die ihm hilft, zur Seite steht, unterstützt, verführt und manchmal auch für seinen Schmerz und Leiden verantwortlich ist. Die männlichen Kritiker hingegen betrachten das „Frauenbild“ Bölls, sofern sie sich hiermit auseinandergesetzt haben, nicht als kritikwürdig.23

Neben den Frauengestalten die positiv gezeichneten sind, gibt es auch einige negative, wie z. B. Frau Franke aus Und sagte kein einziges Wort oder Frau Schnier aus Die Ansichten eines Clowns. Bei diesen Frauen handelt es sich um Gestalten, die, wie ihre männlichen Kollegen, nach Macht und Geld sterben. Außerdem dienen sie Böll dazu seine Kritik an Gesellschaft und Kirche hervorzuheben.

Es gibt aber auch eine weibliche Gestalt in Bölls Prosa, die sich von den anderen hervorhebt, denn sie ist die Erste, die ihrem Mann Bedingungen stellt, obwohl er diese nicht befolgt. Sie ist diejenige, die für ihre Kinder und ihre Ehe kämpft, während ihr Mann wegläuft. Manchmal wünscht sie sogar zu handeln wie ihr Mann und einfach alles liegen zu lassen: Ja, ich beneide dich, [...]. Du kannst einfach abhauen, und ich kann es sogar verstehen.24

21

Kloss, Miriam: Das Frauenbild in Heinrirch Bölls Werken. In: http://www.boellfrauenbild.de/2_3_befreiung_frau.htm 22 Ebd. 23 Ebd. 24 U, S. 158


Anscheinend kann Käthe nicht einfach abhauen, denn sie verspürt ein größeres Verantwortungsbewusstsein und Pflicht als Mutter und Familienmensch.

Das Bild der Frau bei Heinrich Böll ist somit ein sehr traditionelles, aber das muss nicht heißen, das er ein Frauenfeind war oder ein Schovinist. Wahrscheinlich war sein Frauenbild auch ein sehr romantisches, denn die schönen und wertvollen Dinge im Leben, wie jemandem Geborgenheit, Sicherheit, Liebe und Unterschtüzung geben, hat Böll wohl für die Frauen reserviert.

8. Die Rolle des Katholizismus in Bölls Prosa

Die Vielfalt der Glaubensformen begegnet in den Gestalten, den Interaktionen und Strukturen der Romane und Erzählungen Heinrich Bölls und machen diese auch zu einem typisch böllschem Merkmal.25

Angefangen mit dem Roman Ansichten eines Clowns, in dem Böll zum ersten Mal die katholische Welt seiner heimatlichen Stadt nicht-katholisch sieht. Bevor die Geschichte überhaupt beginnt kündigt Böll mit einem Zitat aus dem Römerbrief das Motto des Romans an, woraus die Auseinandersetzung mit der Glaubensfrage schon zu deuten ist: Die werden es sehen, denen von ihm noch nichts verkündet ward, und die verstehen, die noch nichts vernommen haben.26

Nach diesem Zitat folgt auch schon die Geschichte des melancholischen Atheisten Hans Schnier, der von seiner Tournee zurückkommt und sein vereinsamtes Leben vorfindet. Seine Freundin hat ihn verlassen, weil sie mit ihrem unehelichem Zusammenleben nicht mehr zurecht kam und heiratete darauf den „führenden“ Katholiken, Züpfner, um ein kirchlich akzeptables Leben zu leben, denn Marie ist katholisch und die katholischen „Ordnungsprinzipien“ sind für sie von größter Wichtigkeit. Hans Schnier dagegen sagt über sich selbst: 25 26

Vgl. Arnold (1982: S. 99) A, S. 6


Ich selbst bin nicht religiös, nicht einmal kirchlich, und bediene mich der liturgischen Texte und Melodien aus therapeutischen Gründen: sie helfen mir am besten über mein Leiden hinweg, mit denen ich von Natur belastet bin: Melancholie und Kopfschmerzen. Seitdem Marie zu den Katholiken übergelaufen ist, steigert sich die Heftigkeit dieser beiden Leiden, und selbst das „Tantum Ergo“ oder die Lauretanische Litanei, bisher meine Favoriten in der Schmerzbekämpfung, helfen kaum noch. Es gibt ein vorübergehend wirksames Mittel: Alkohol-, es gäbe eine dauerhafte Heilung: Marie.27 Ein Atheist ist unsterblich in eine Katholikin verliebt und nicht nur, dass er leidet und von Schmerz erfüllt ist, weil sie ihn verlassen hat, Hans ist seitdem auch noch zur Monogamie veranlagt. Es gibt nur eine Frau, die ihn auf liebevolle, schöne, zärtliche, erotische oder triebhafte Gedanken bringen kann und das ist Marie. Seit sie weg ist lebt er wie ein Mönch, ist aber keiner. Die Christen sind für ihn für einige Überraschungen zu haben, aber Katholiken überraschen ihn gar nicht mehr und er findet sie einfach nur fürchterlich: Die Katholiken aus dem Kreis würden nie riskieren, kitschig oder sentimental zu sein, sie würden sich nie die Blöße geben, jedenfalls eher in punkto Moral als in puncto Geschmack. 28 Menschen, die eigentlich nach den Geboten Gottes leben – Geboten der Liebe, Gemeinschaft, Wärme und Gerechtigkeit – nennt Hans „falsch“. Sie sind für ihn gefühllos und oberflächlig.

Böll selbst hatte auch ein Problem mit der Scheinmoral der katholischen Kirche, vor allem mit dem katholischen „Kreis“ von frommen Menschen, die Liebe und Gerechtigkeit predigen, aber von den menschlichen und humanen Prinzipien keine Ahnung haben.

Gerade dieser sogenannte gute Ruf und das Ansehen, das die Kirche immer wieder beteuert, machen Böll so kritisch, denn dabei bleiben die wahren humanen Eigenschaften auf der Strecke. So erzählt sein Hauptprotagonist, Hans Schnier, eine kleine Geschichte, die gerade diese Taktlosigkeit und Gefühllosigkeit der Katholiken beschreibt:

Für mich ist ein Junge, wie dieser Georg, der sich mit einer Panzerfaust in die Luft sprengte, lebendiger als meine Mutter. Ich sehe den sommersprossigen, ungeschickten Jungen da auf der Wiese vor dem Apoll, höre Herbert Kalick schreien: „Nicht so, nicht so!“; höre die Explosion, ein paar, nicht sehr viele Schreie, dann Kalicks Kommentar: „Zum Glück war Georg ja ein Waisenkind“...29

27

A, S. 8 A, S. 19 29 A, S. 29 28


Herbert Kalick ist Katholik und seine Bemerkung ist für Hans Schnier eine typisch katholische. Es ist ihm ein Rätsel, was in den Köpfen von Katholiken vorgeht und wie solche Kommentare immer von den gleichen Leuten kommen können.

In jeder Geschichte und in jedem Schicksal gibt es immer zwei Seiten der Krone, so auch bei dem Ich-Erzähler Hans Schnier, der sich zwar als Atheist bekennt, doch die kritische Beziehung am dargestellten katholischen Kreis und die Fragwürdigkeit seiner Repräsentanten regen ihn so sehr auf, dass man fast glauben könnte wir hätten es mit einem wütenden Katholiken, als mit einem verbissenen Nicht-Katholiken zu tun. Eines seiner größten Wünsche ist es sogar eine Audienz beim Papst zu haben und seinen Segen zu bekommen. Er möchte dem Papst auch erzählen wie „eingebildet“ und gemein „führende“ deutsche Katholiken sind. Außerdem singt er katholische Litaneien, weil sie seine Kopfschmerzen und seine Melancholie lindern, was von einem angeblich ungläubigen Menschen paradox erscheint. Obwohl Hans Schnier die Mitglieder des „Kreises Fortschrittlicher Katholiken“ verspottet und sich über die Funktionäre vom „Dachverband Katholischer Laien“ aufregt, scheint ihm eigentlich mehr daran zu liegen als er zugeben möchte.

Man kann Bölls Vorwürfen der katholischen Kirche und Gemeinde gegenüber nicht immer folgen, z.B. wirft er einem Funktionär vor, was er gegen Ende des Krieges als vierzehnjähriger geäußert und getan hat, dabei kann man Kindern doch keine Vorwürfe machen. Daher bekommt man oft den Eindruck, dass Böll in diesem Buch keinen moralischen Kampf gegen die Kirche führt, sondern eher seine Verärgerung über diese preisgibt.

Auch in der Erzählung Im Tal der donnernden Hufe spricht Böll oft das Thema der Sünde an und schildert die Beziehung seiner Helden zu Gott als eine unbekannte und verirrende. Den Menschen fällt es einfach bei so vielen Verboten und Pflichten schwer an Gott zu glauben: Vielleicht, dachte sie, könnte ich an dich glauben, du, der du ihr Gott bist, wäre es nicht Wein, aus dem dein Blut für sie verwandelt wird...30

Hier wird die Geschichte von Teenagern erzählt, denen es schwer fällt an solche Rituale zu glauben und die sich von den Geboten Gottes eher fürchten, als dass sie sie befolgen, denn vor allem die Jungs haben oft sündhafte Gedanken und das immer bei der Beichte:

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I, S.156


Sünden, dachte er, Tod, Sünden; und die Heftigkeit, mit der er die Frau plötzlich begehrte, quälte ihn; er hatte nicht einmal ihr Gesicht gesehen; sanfter Lavendelgeruch, eine junge Stimme, das leichte und doch so harte Geräusch ihrer hohen Absätze, als sie die vier Schritte bis zum Beichtstuhl ging: dieser Rhythmus der harten und doch so leichten Absätze war nur ein Fetzen der unendlichen Melodie, die ihm Tage und Nächte hindurch in den Ohren brauste.31 Der Junge in dieser Geschichte verspürt einen gewissen Reiz nur bei dem Geräusch, das die hohen Schuhe dieser Frau produzieren und er fühlt sich von den Verboten so eingeengt, dass er etwas zerstören möchte, denn „es ist so sinnlos“.32 Allerdings ist das ein typisches Pubertätsleiden und ist nicht so sehr gegen die Kirche gerichtet. Es ist ein Leiden, das sich auf die Selbstverwirklichung und das Individuum selbst bezieht.

In dem Roman Und sagte kein einziges Wort hat Böll eine sehr interessante Komposition von Gegenpolen der Konfessionsfrage erstellt. Auf der einen Seite haben wir Frau Franke, die eine fromme und gewissenhafte Katholikin repräsentiert, die jeden Sonntag zur Messe geht, ein kirchliches Komitee führt und einmal im Monat den Ring des Bischofs küssen darf. Ihr katholisches Ansehen ist ihr sehr wichtig, doch wenn es darum geht Mitgefühl für die Schwachen und Bedürftigen zu zeigen, ist sie eiskalt. Böll skizziert mit ihr die katholische und bürgerliche Scheinmoral, der das Sein bei Weitem nicht so wichtig ist wie der Schein. Von ihrer Gegenpatin, Käthe Bogner, wird sie bzw. ihre Beschäftigung so beschrieben:

Sie stammt aus einem städtischen Händlergeschlecht, das die Gegenstände, mit denen es Handel trieb, von Geschlecht zu Geschlecht wechselte, immer kostbarere fand: Von Öl, Salz und Mehl, von Fisch und Tuch kamen sie zu Wein, dann gingen sie in die Politik, sanken herab zu Grundstücksmaklern, und ich meine heute manchmal, dass sie mit dem kostbarsten Handel treiben: mit Gott.33 Käthe ist alleinerziehende Mutter und gläubige Katholikin, aber sie geht nicht zur Kommunion oder ist Teil eines kirchlichen Komitees wie Frau Franke.Von den Pfarrern hält sie nicht viel, denn immer predigen sie über Weltfrieden, Armutsbekämpfung und Nächstenliebe, aber im wahren Leben machen sie das Gegenteil:

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I, S. 140 I, S.168 33 U, S. 27 32


Ich habe Angst, den Pfarrer am Altar zu sehen, den gleichen Menschen, dessen Stimme ich oft nebenan im Sprechzimmer höre: die Stimme eines verhinderten Bonvivants, der gute Zigaretten raucht, sich mit den Weibern seiner Kommissionen und Vereine alberne Scherze erzählt. Oft lachen sie laut nebenan, während ich angehalten bin, achtzugeben, daß die Kinder keinen Lärm machen, weil die Konferenz dadurch gestört werden könnte.34 Trotz dieser Ungerechtigkeit und dem schweren Schicksal, das sie zu tragen hat, ist Käthe immer aufrichtig und gut geblieben. Obwohl sie oft von ihren Mitmenschen verurteilt wird, weil sie in keinem kirchlichen Verein ist, bleibt sie ihrem Glauben treu, zumal auch noch ihr Mann die Kirche und den Bischof verabscheut: Ich habe den Bischof schon oft gehört, mich immer bei seinen Predigten gelangweilt - und ich kenne nichts Schlimmeres als Langeweile.35

Böll kritisiert nicht nur den Bischof, sondern er lacht ihn auch ein wenig aus. Bei Käthe Bogner schafft der Autor eine sehr starke Gestalt, denn trotz der Verluste und Enttäuschungen, die diese Ehefrau und Mutter erlebt hat, hat sie ihren Glauben nie verloren:

Gott schien der Einzige zu sein, der bei mir blieb in dieser Übelkeit, der mein Herz überschwemmte, meine Adern füllte und kreiste in mir wie mein Blut - kalten Schweiß spürte ich und eine tödliche Angst - Augenblicke lang hatte ich an Fred gedacht, an die Kinder, hatte das Gesicht meiner Mutter gesehen, die Kleinen, so wie ich sie im Spiegel sehe - aber sie schwammen alle weg in dieser Flut der übelkeits-, Gleichgültigkeit gegen sie alle erfüllte mich, und es blieb nichts bei mir als das Wort – Gott.36 Obwohl sich Böll immer mit Händen und Füßen gegen den katholischen „Kreis“ und die Kirche gewehrt hat, hat er sich noch nie gegen Gott gestellt oder gewehrt und diesen Funken göttlicher Hoffnung hat er in Käthe Bogner sehr deutlich gemacht.

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U, S. 24 U, S. 63 36 U, S. 89 35


9. Individualistische Religion eines Individualisten

Obwohl Heinrich Böll in einer römisch-katholischen Familie aufwuchs und die Religion in seinem Umfeld etwas Selbstverständliches war, hatte er sein ganzes Leben lang mit den Normen und Prinzipien der katholischen Kirche zu kämpfen.

Wahrscheinlich war es nicht Gott oder sein Glaube an den Herren, der ihm zu schaffen machte, sondern vielmehr sein katholisches Umfeld, der „Kreis“, der ihn als Künstler und Individuum nie verstanden hat und die er selbst auch nie verstehen konnte. Für Böll war es unverständlich wie Katholiken so eingebildet, oberflächlich und taktlos sein können. Sein Unverständnis und Staunen über die christlichen Gesetze wird im Roman Ansichten eines Clowns deutlich zur Sprache gebracht:

Marie schien fest davon überzeugt, daß das Kind – sie nannte es so – nie in den Himmel kommen könnte, weil es nicht getauft war. Sie sagte immer es würde in der Vorhölle bleiben, und ich erfuhr in dieser Nacht zum ersten Mal, welche scheußlichen Sachen Katholiken im Religionsunterricht lernen.37 Bei Heinrich Böll ist eine klare Abneigung gegenüber den katholischen Ordnungsprinzipen zu erkennen, doch vielleicht war er auch derjenige, der die katholische Auffassung von Religion und Leben viel zu oberflächig studierte. Oft hält er sich an Zitaten und Aussagen großer und kleiner katholischer Menschen fest, ohne in die Tiefe zu gehen, denn Katholiken sind bei Weitem nicht so fürchterliche und grauenhafte Menschen, wie von ihm behauptet wird. Außerdem verliebt sich seine Hauptgestalt, Hans Schnier, in die fromme Katholikin, Maria Derkum, und das sagt doch auch einiges aus über den atheistischen Clown aus.

Der Künstler Böll ist vor allem Moralist und Humanist. Seine Auffassung von Religion ist eine ganz individuelle. Er glaubt an Gott und hat diesen Glauben sein ganzes Leben lang in sich getragen, obwohl er 1976 aus der Kirche austrat. Das, womit er nicht zu recht kam, waren sämtliche kirchliche Vereine, Komitees, Messen und Sitzungen führender Katholiken und deren Vorzeigekinder. Seine Definition von Religion war eine freie Entfaltung des Individuums ohne Einschränkungen und Normen. Immer wieder betont er die Menschlichkeit und das Gewissen,

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A, S. 197


denn nur wenn wir nach diesen Prinzipien handeln, können wir mit Gott im Reinen sein. Heinrich Böll wünschte sich eine Religion, die gerecht ist, die seelischen Frieden und ganz viel Wärme gibt, denn diese Eigenschaften waren für ihn die Basis.

Marcel Reich-Ranicki sagte über Böll etwas, das auch seine ganz individuelle Religion widerspiegelt: Böll hatte ein Charisma, das sich nicht genau beschreiben lässt und das entsteht, dies jedenfalls ist sicher, wenn Natürlichkeit und Aufrichtigkeit, Güte und Herzlichkeit zu einer makellosen Einheit finden. Böll war stets und vollkommen glaubwürdig – und er ist es geblieben bis zu seinem letzten Tag.38 Mit seiner Ausstrahlung, die er in jede Rede und in jedes Werk hineinbrachte, hat Böll es geschafft überall auf der wellt Aufmerksamkeit zu erwecken und Respekt einzuflößen

Nathan der Weise erzählt von dem Ring, der die geheime Kraft hatte, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug. Auch Böll, so will es scheinen, besaß einen Ring, der diese geheime Kraft hatte.39 Obwohl auch er Fehler machte und sich verirrte, gelang es ihm überall diese beruhigende Zuversicht zu erwecken. Eine Gabe, die ganz wenigen von uns geschenkt wurde.

Letztendlich lebt der Individualist Heinrich Böll eine ganz individualistische Religion, die überall auf der Welt Anerkennung findet, denn sie setzt sich für Menschenrechte, Gerechtigkeit, Familie und Freiheit im Hier und Jetzt ein. Gleichzeitig ist sie sensibel und mitfühlend wie der Autor selbst.

38 39

Reich-Ranicki (1994: S. 102) Vgl.ebd., S. 135


10. Schlussfolgerung

Die Analyse der Romane und Erzählungen Bölls hat sehr interessante Resultate ergeben. Nicht nur, dass Heinrich Böll einen ganz eigene Auffassung von Liebe und Religion hat, er gibt diese auch klar und deutlich preis, ohne dabei unsensibel zu wirken.

Es gelingt ihm gerade durch seine sprachliche Sensibilität und Genauigkeit zu überzeugen und dem Leser klar zu machen, dass er ohne Liebe und Religion verloren ist. Viele seiner Gestalten sind verzweifelt, unglücklich und irren herum, weil ihm eines dieser lebenswichtigen Dinge fehlt.

Obwohl er die katholische Kirche so oft kritisiert, erhofft er sich doch eine seelische Heilung von ihr und obwohl seine Liebesgeschichten oft einen bitteren Nachgeschmack haben, sind sie das, was Böll außergewöhnlich machen.

Es gibt Menschen, die ihm vorwerfen werden er sei zu stürmisch in seinen Werken und andere werden sagen er sei zu zahm und zu sensibel. Die einen werden sich über die Kirchenkritik ärgern, die anderen werden genervt sein, doch was man Böll nicht vorwerfen kann ist, dass er mit uns spielt oder uns aufs Glatteis führt. Er liefert sich dem Leser vollkommen aus und ist immer mit Leib und Seele in jedem seiner Werke dabei, gibt Fehler und Schwächen zu und hat keine Angst zu versagen, weil er sich von seinem Gewissen leiten lässt und dem Leser seine eigene Entscheidung frei überlässt.

Gerade seine Menschlichkeit, Aufrichtigkeit und die Auseinandersetzung mit empfindlichen Themen wie Kirche, Glauben, Staat, körperlicher und geistiger Liebe sind es, die seine Bücher wohl nie in Vergessenheit geraten lassen werden.


11. Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

1. H. Böll, Ansichten eines Clowns, dtv, München 1967 (Sigle: A) 2. H. Böll, Das Brot der frühen Jahre, dtv, München 1978 (Sigle: D) 3. H. Böll, Im Tal der donnernden Hufe, dtv, München 1965 (Sigle: I) 4. H. Böll, Und sagte kein einziges Wort, Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln Berlin 1954 (Sigle: U)

Sekundärliteratur:

1. Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Böll - Text und Kritik, Edition text-kritik GmbH, München 1982 2. Bernd Balzer, Das literarische Werk Heinrich Bölls, dtv, München 1997 3. Bernhard Sowinski, Heinrich Böll, Verlag J. B. Metzler, Weimer 1993 4. Heinrich Böll, Zu seinem Tode – Ausgewählte Nachrufe und das letzte Interview, Inter Nationes Bonn 1985 5. Marcel Reich-Ranicki, Mehr als ein Dichter, dtv, München 1994

Internetquellen:

1. Kloss, Miriam: Das Frauenbild in Heinrich Bölls Werken. In: http://www.boell-frauenbild.de/2_3_befreiung_frau.htm (letzter Zugriff: 25.08.09) 2. http://www.böll-wikipedia.htm (letzter Zugriff: 25.08.09)


12.Abbildverzeichnis

1. Bild: http:/www.bรถll-wikipedia.htm (letzter Zugriff: 25.08.09)


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