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Und du so?

wandern  „Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler“, schrieb Goethe. Aber eigentlich kann man sich bei keiner Freizeitbeschäftigung so gut unterhalten wie beim Wandern. Kann unser Autor auf dem Stubaier Höhenweg erfahren, wie es seinem 18-jährigen Sohn gerade wirklich geht?

text und fotos Gero Günther

Als ich meinem Sohn eine mehrtägige Hüttenwanderung in Tirol vorschlage, kommt kein Widerspruch. Die Entscheidung fällt sofort. Machen wir. Safe. Liegt es daran, dass er sein Schuljahr verbockt und ein schlechtes Gewissen hat? Nein, nein. Wandern ist okay, gutes Ausdauertraining. Berge mochte er schon immer. Und einen Anlass haben wir auch. Thibault wird 18. Den Geburtstag selbst will er allerdings nicht in einer Berghütte mit seinem Vater verbringen. Sehe ich ein. Erst mal Berlin. Fünf Tage lang Party mit Freunden. Open Air auf der Waldbühne. Clubs. Abhängen.

Dann ein Tag zu Hause. Einmal richtig ausschlafen. Sachen in den Rucksack stopfen. Jaja, Papa, ich hab ’ne Regenjacke dabei. Mütze? Handschuhe? Brauchen wir die? Ist doch keine Polarexpedition. Jetzt sitzen wir in der Bergbahn, die sich aus unerfindlichen Gründen Schlick 2000 nennt. Noch ein bisschen müde von der Autofahrt, aber sehr gespannt. Lassen uns von Fulpmes hinaufbringen zum Kreuzjoch. Der Wald zieht wie ein Film an uns vorbei. „Ich hab voll den Druck auf den Ohren.“ „Dein Gehör hat die Berliner Clubs überlebt, da kann die Gondel ja nicht so schlimm sein.“ „Im Tresor gab es keinen Unterdruck, da gab es nur ntz, ntz, ntz, ntz …“

2.108 METER SEEHÖHE

Für den Aufstieg wäre keine Zeit mehr gewesen. Immerhin haben wir an unserem ersten Tag zwei Etappen vor uns. Bloß keine Langeweile aufkommen lassen, denke ich. Schon gar nicht am Anfang. Fünf Tage lang werden wir oberhalb der Baumgrenze bleiben, dem Stubaier Höhenweg folgen. So lange waren wir schon lange nicht mehr gemeinsam unterwegs. Aber seit Thibault vier Jahre alt war, gehen wir zusammen wandern. Eine Familientradition. Klar, in letzter Zeit hat das seltener geklappt, aber jetzt haben wir endlich wieder richtig viel Zeit füreinander. Zeit für ein intensives Update.

Unser erstes Mal in den Stubaiern. Wir mögen beide karge Land-

Kurze Trinkpause. Über welchen der vielen Bergrücken sind wir gerade gestiegen?

schaften. Irgendwie nordisch. Wir wandern durch den Kessel unterhalb der Schlicker Seespitze. Das Geröll, die Flechten und so. Kein Baum, kein Busch und eine Weite wie ein offenes Buch.

Die Rucksäcke fühlen sich überraschend schwer an. Anstrengend. Papa, boah, du krasser Schwitzer. Aber auch sein Rücken ist nass.

In fünf Tagen stehen wir nur an drei Gipfelkreuzen. Andere sammeln hier die Dreitausender wie Fallobst am Wegesrand ein. Uns genügen die Blicke nach oben. Uns reichen die Kuppen, Pässe, das Queren. Überhaupt wird auf dieser Wanderung ständig gequert.

Die erste Schafherde begegnet uns am Nachmittag im Steilhang kurz vor der Seeducker Hochalm. Kleine, kräftige Bergschafe. Unglaublich lange Gesichter haben sie. Wie Comicfiguren. Einige der Tiere sind extrem zutraulich, lassen sich

Das Ziel vor Augen: Blick auf die Franz-Senn-Hütte

von Thibault streicheln. Mal was anderes. „Mäh statt Muh“, sage ich.

2.147 METER SEEHÖHE

Am ersten Tag legen wir 20 Kilometer zurück. Als wir den Rucksack in der Franz-Senn-Hütte abnehmen, schmerzen unsere Schultern. Mann, das tut richtig weh. Falsch eingestellt? Zu viel dabei? Oder einfach nur Gewöhnungssache?

Die Wirtin hat uns ein Doppelzimmer reserviert. Herrlich. Sogar eine heiße Dusche gibt es. Sein Handtuch hat Thibault vergessen. Egal, nehm ich halt ein T-Shirt. Am dritten Tag taucht es dann doch noch im Rucksack auf. Nach dem Duschen gibt’s Dreierlei vom Knödel. Wir grinsen vor Glück.

Unser zweiter Tag verspricht harmlos zu werden. Schlappe zehn Kilometer. Also marschieren wir erst mal in die verkehrte Richtung. Höllenrachen steht auf dem Wegweiser. Klingt gut. Ein breites Tal, in dem milchiges Gletscherwasser strömt. Der Boden federt. Nach einer halben Stunde gelangen wir an den Eingang zur Hölle. Hell, yes. Zwischen den Felsen brodelt es wie in einem Kochtopf. Wer da reinfällt, hat keine Chance. Dass Wasser so furchteinflößend sein kann!

Das gemeinsame Gehen bringt uns zum Reden. Stundenlang. Fällt das Sprechen beim Wandern besonders leicht? Löst das Auf und Ab die Zunge? Jedenfalls gibt es hier oben keine Ablenkung. Keine Arbeit, Telefonate oder Besuche. Nur uns beide. Und das Pfeifen der Murmeltiere.

Über was wir so gesprochen haben: Deutschrap; Vertrauen; wie es ist, mit Freunden shoppen zu gehen; Veganismus; Fremdwörter; Techno; Feminismus; Wasserfälle; Käpt’n Peng; Urlaube und Touren früher; Wes Anderson und seine Filme; Käse; Pauline; sportlichen Ehrgeiz; Eigengewichtstraining; Cyberpunk; Freundschaft.

Zickzack durch Geröllfelder. „Wie bei Chaplin“, sage ich. „Du meinst

Die Tage beginnen zwischen 6 und 7 Uhr.

Goldrausch“, kombiniert Thibault. Bingo. Und dann unterhalten wir uns über Stummfilme. Chaplin, Laurel und Hardy. Mit Buster Keaton, da sind wir uns einig, kann es ohnehin keiner aufnehmen. Ein Bergfilm, den wir gemeinsam gesehen haben, fällt ihm noch ein: „Die weiße Hölle vom Piz Palü“.

Einig sind wir uns auch über die tibetanischen Gebetsfahnen, die inzwischen an jeder zweiten Hütte flattern. Das nervt. Was soll das? Globaler Alpinismus? Buddhismus? Ethnodeko? Obwohl, ehrlich gesagt, manchmal sieht es hier oben schon fast ein wenig tibetanisch aus. Diese kargen, weiten Hochtäler. „Tibet? Mich erinnert es eher an Wales“, sagt Thibault. „Oder an Island. Nur dass die Wasserfälle hier kleiner sind und es keine heißen Quellen gibt.“

Das Schöne am Weitwandern ist, dass das tägliche Programm von Anfang an feststeht. Klare Sache. Man schaut sich das, was kommt, gemeinsam auf der Karte an. Diskussionen gibt es keine. Vermutlich ist es gerade diese strikte Routenführung, die den Kopf frei hält für Gespräche, die eine überraschende Richtung nehmen können.

Immer wieder besteht der Weg aus Steinplatten und Felsen. Von Stein zu Stein zu hüpfen, hat meinem Sohn schon als Kind Spaß gemacht. Trittsicher ist er. Schwindelfrei nur bedingt. An manchen Stellen wird ihm mulmig. Dann gehen wir langsam. Jeden Tag wird es besser. „Das gemeinsame Gehen bringt uns zum Reden. Stundenlang.“

2.286 METER SEEHÖHE

In der Neuen Regensburger Hütte wird gebaut. Arbeiter stiefeln herum. Tischdeckengroße Pläne werden entfaltet. Käsekuchen gibt es zum Glück trotzdem. Mit Johannisbeeren. „Zum Waschen geht ihr am besten zur Badewanne“, sagt die Wirtin und meint damit einen kleinen See, den wir barfuß ansteuern. Fast 20 Grad Wassertemperatur hatte sie versprochen. Von wegen. Nach ein paar Zügen bleibt einem der Atem weg. Und dann beginnt es zu nieseln. Das vegetarische Essen der Tischnachbarn sieht irgendwie noch leckerer aus als unser Huhn. Belgier aus Antwerpen. Ein drahtiger Vater mit Sohn und Tochter in Thibaults Alter. Vor der Suppe spielen die Belgier Montagsmaler, das Spiel, bei dem einer etwas zeichnet und die anderen möglichst schnell raten müssen, was es ist. Treppe? Buch? Bibel? Roman? Lexikon? Fast. Enzyklopädie! Ganz schön schwierig.

Beim Verdauungsspaziergang geraten wir in eine Schafherde. Es dämmert bereits. Die Wolken hängen tief. Die geländegängigen Tiere dienten hauptsächlich der Landschaftspflege, erklärt uns der Hirte, der gerade aufgestiegen ist, um mal wieder nach dem Rechten zu sehen. Ein paar hundert gibt es allein hier im Tal. Tiroler Bergschafe und Steinschafe.

Im Lager liegen wir wie die Ölsardinen. Kein Vergnügen. Wenigstens sind unsere Bettnachbarn sympathisch. Ein älteres Ehepaar aus Niederbayern mit einem Wanderfreund. Wir werden ihnen in den kommenden Tagen immer wieder begegnen. Die drei machen wie wir jeden Tag zwei Etappen.

Dritter Tag. Aufbruch kurz nach 7 Uhr. Der Aufstieg zum Grawagrubennieder gilt als eine der Herausforderungen des Stubaier Höhenwegs. Nicht wirklich, finden wir. Aber von hier oben sehen wir zum ersten Mal deutlich die Gletscher. „Geil“, sage ich. „Übelst geil“, sagt Thibault. Dichter Nebel köchelt um die Gipfel.

Die Bremer Hütte in der Dämmerung

Unser Tagesziel liegt noch fast zwölf Kilometer entfernt auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. „Plötzlich Bergbahnen wie aus einem Science-Fiction-Film.“

2.308 METER SEEHÖHE

Ein paar Stunden später wandern wir durch ein Skigebiet, plötzlich umgeben von Hunderten von Menschen. Bergbahnen wie aus einem Science-Fiction-Film, Sonnenstühle und zementierte Hänge. Passt alles gar nicht zu unserer Stimmung. Nichts wie weg.

Schnell über den nächsten Berg klettern und hinunter zum Sulzenauferner mit seinem Gletschersee. Von oben wirkte er ziemlich einladend. Dann sehen wir die Eisschollen im Wasser schwimmen. Ein kühler Hauch weht vom Gletscher herüber. Na, Papa, willst du immer noch baden? Ich ziehe die Schuhe aus, halte es aber nur kurz in dem eisigen Wasser aus. Immerhin fische ich einen länglichen Eisklumpen aus dem See, den Thibault als Raumschiff identifiziert, ehe er neben ihm in tausend Kristalle zerbröselt.

Immer wieder auf dieser Tour sieht es so aus, als würden wir direkt in ein Gewitter marschieren. Wolken als Türme, Fäuste, Aliens. Und dann haben wir doch wieder Glück. Es regnet nachts oder es regnet da, wo wir gerade nicht sind. An der Sulzenauhütte beginnt es zu schütten, nachdem wir unser Zimmer bezogen haben. High Five!

Beim Abendessen kommt sich Thibault heute wie auf einer Ü-60Veranstaltung vor. Mein Sohn hat einen erkennbaren Durchhänger. Da hilft nicht mal Bier.

Am nächsten Morgen knipse ich das Licht an. „Papa, du Arsch“, tönt es aus dem Hochbett. „Voll in die Augen.“ „Guten Morgen.“ „Uhrzeit?“ „Zehn vor sieben. Eine Stunde später, als wir gestern aufgestanden sind.“

„Wetter?“ „Könnte besser sein.“ Zum Glück lösen sich die Wolken über dem Wilden Freiger auf, und auch die Laune verbessert sich nach den ersten Höhenmetern. „Ich bin halt schon auch ein City-Boy“, sagt Thibault bei einer Trinkpause. Durch die Spiegelung des Grünausees werden die umliegenden Gipfel verdoppelt. Gestochen scharf liegen sie auf der Wasseroberfläche.

Und dann sprechen wir über Mode, tragbare Lautsprecher und darüber, dass uns der Hüttenwirt eine Rechnung mitgegeben hat, die die beiden hübschen Holländerinnen aus Lager neun nicht bezahlt haben. Aus Versehen, versteht sich. Die beiden sitzen gerade beim Mittagessen in der Nürnberger Hütte, als wir sie einholen. Gott, ist denen das peinlich.

Manchmal lassen wir ein paar Meter Abstand. Schweigen. Hängen eigenen Gedanken nach oder konzentrieren uns auf den Weg, die Landschaft. Auch das fühlt sich beim Wandern gut

und richtig an. Zusammen schweigen zu können, ist für uns ein Zeichen, dass wir einander vertrauen. Dass es ein wortloses Einverständnis gibt. Allein schon für dieses Gefühl würde es sich lohnen, gemeinsam durchs Gebirge zu marschieren.

Und immer wieder Schafe. Wir mögen sie. Ihren Geruch, das Blöken und Bimmeln, die Charaktergesichter. Thibault streicht ihnen über die Wolle. Nur die Lämmer sind zu scheu und hüpfen und rutschen vor ihm davon. Welche Episoden von „Shaun das Schaf“ fallen uns noch ein? Und wie heißen die Figuren noch gleich? Blitzer, Shirley, Timmy …

Dann noch ein Anstieg. Es geht über Felsen. Glatt geschliffen von längst geschmolzenen Gletschern. Dann über eine weitere Holzbrücke und hinauf ins Paradies. Die kleine Ebene heißt nicht zu Unrecht so. Auf grünen Schwemmböden blühen wollige Gräser. Ein Bach windet sich in zahllosen Krakeln hindurch. „Auch gemeinsames Schweigen gehört zum Wandern dazu.“

2.754 METER SEEHÖHE

An der Zollhütte sind wir erledigt. Erledigt, wie noch nie auf dieser Tour. Beide. Zu wenig getrunken vielleicht? Zu viel Sonne im Kar abbekommen? Das Geröll? Erst mal schwitzen, atmen, trinken und Selfies machen.

Die Bremer Hütte, unsere letzte Station auf dieser Tour, ist eine Überraschung. Nicht weil sie voll ist. Sondern weil die Gäste so jung sind. Auf jedem Fels in der Gegend sitzen Gruppen von Kaffee trinkenden, Almdudler trinkenden und Bier trinkenden Jugendlichen. Dementsprechend lebhaft verläuft unser Abend. Spätestens als wir Helmut und seine Tochter Liska kennenlernen, die wie wir als Vater-Kind-Gespann unterwegs sind. Beide spannend: Sie studiert in Berlin, er hat im Strafvollzug gearbeitet. „Beste Hütte“, fasst mein Sohn beim Zähneputzen zusammen, „bestes Essen, beste Leute, gemütlich.“

Noch einmal schlafen. „Blöd“, sagt Thibault am nächsten Morgen, „heute ballert mein Körper voll die Energie raus, und ich brauch sie nicht mehr.“ Der Abstieg verläuft dann fast zu schnell. Plötzlich wieder Wald, Zäune und Kühe. Traktoren und Menschen auf E-Bikes. Die letzten Kilometer zum Auto legen wir per Anhalter zurück.

Erst mal den Player in die Autoanlage stöpseln. Es geht zurück nach München.

Zweieinhalb Stunden Autofahrt liegen vor uns. Lautstärke aufdrehen. „Du machst den DJ“, sage ich. Thibault wählt Isolation Berlin. Gute Wahl. Geredet haben wir ja erst mal genug.

Vater und Sohn

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