«Von der Realität des Internets abgeschotteter Unterricht bringt nichts»

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MultimediaWissen

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24. April 2011

Die Zukunft des Lernens ist flach

Serie, Teil 2: Lehrer und Schüler sind begeistert von einem Pilotprogramm für den Unterricht mit iPads Von Martin Suter (Text, Foto)

Die Rechenaufgabe sieht nur auf den ersten Blick leicht aus. Makol und Muskaan, zwei Fünftklässlerinnen an der William-C.-Goudy-Primarschule in Chicago, müssen vorgegebene Zahlen mit den Operationen «plus», «minus», «mal» und «durch» so verketten, dass die Gleichung aufgeht. Die zwei Mädchen sitzen nebeneinander an einem Pult und suchen konzentriert nach Lösungen. Flink huschen ihre Zeige­ finger über das einzige vor ihnen liegende Lehrmittel: ein iPad. Sie verschieben Zahlen und platzieren Symbole auf einer Mathematik-Applikation. Ist eine stimmige Reihe gefunden, spendet die App mit einem Tonsignal Applaus und lädt zur nächsten Aufgabe ein. «Ich lerne lieber mit dem iPad», sagt Makol in gefärbtem Englisch. «Das iPad ist interessanter, weil wir es berühren können. Im Heft können wir nur schreiben.» Makol, ihre Nachbarin und die rund ein Dutzend anderen Schüler in der Klasse sind dem Reiz von Apples Tablet-Computer erlegen. Der Eifer und der Spass, mit dem sie bei der Sache sind, scheint das Schlagwort vom spielerischen Lernen mit neuem Inhalt zu füllen. In Chicago verspricht man sich von der neuen Gerätekategorie nichts weniger als eine Reform des Unterrichts. Die drittgrösste Stadt der USA ist vorangeprescht und hat letztes Jahr im Rahmen eines von Washington finanzierten Pilotprogramms 23 Primar- und Mittelschulen mit iPads ausgerüstet. John Connolly, Direktor für Technologie und Lernen an Chicagos 665 öffentlichen Schulen, erahnte das pädagogische Potenzial von Tablet-Computern schon vergangenes Jahr, noch bevor das iPad überhaupt herauskam. Mit dem iPad sind die Schüler viel engagierter

Connolly liess die Apple-Tablets – 32 pro Schule – aber nicht an unvorbereitete Lehrkräfte ausliefern. Den Zuschlag erhielten nur solche, die in einem Wettbewerb siegreiche Anwendungsvorschläge eingereicht hatten. Das Ergebnis sei unglaublich, sagt Connolly: «Weil die Kinder das iPad mit beiden Händen halten und mit dem blossen Finger bedienen

«Das iPad können wir berühren, im Heft nur schreiben»: Schülerinnen der William-C.-Goudy-Primarschule in Chicago lösen Aufgaben auf ihren Tablets

können, nehmen sie es als ihr persönliches Gerät wahr. Sie sind viel engagierter.» Im Kindergarten an der kleinen William-H.-Brown-Schule im armen Westen Chicagos geht fast zu viel Post ab. Lehrerin Stacey ­Boyd will der Kinderschar das Schreiben beibringen. Doch ihre Anweisungen, wie auf der iPad-Tastatur getippt werden soll, kommen nicht bei jedem Schüler an. Auf den Einwand, dass die Kids fürs Maschinenschreiben vielleicht etwas jung seien, entgegnet Boyd: «Ich lehre immer noch Schreiben von Hand.» Im Zimmer nebenan nutzt Kollegin Kathleen Boyle iPads, um ihre gemischten Erst- und Zweitklässler unterschiedlich zu unterrichten. Während das Gros mit verschiedenen Schreib- und Re-

chen-Apps arbeitet, kümmert sie sich intensiv um eine Gruppe mit Leseproblemen. «Das iPad macht individualisierten Unterricht eindeutig einfacher», sagt Boyle. Zudem könne sie die Geräte zum Anreiz einsetzen. «Ich habe Schüler, die ungern mit dem Bleistift schreiben, weil sie eine schlechte Handschrift haben. Mit dem iPad schämen sie sich nicht.»

Jenseits des PC 17. April: Tablets – die neuen Kinderbücher 24. April: Lernen q  mit dem iPad 1. Mai: Mobile Software im Spital 8. Mai: Warum Tablets die ­ wahren Personal Computer sind

Doch auch bei Lehrerin Boyle geht es eher chaotisch zu und her. «Sie hat Mühe mit ‹classroom management›, räumt John Connolly beim Hinausgehen ein. «Aber ­viele Lehrer sagen, iPads helfen ihnen, im Klassenzimmer Ordnung zu wahren. Kids, die sonst herumblödeln, lassen sich lieber auf die Technik ein.» An der Goudy-Schule verfolgen engagierte Lehrer das Projekt, den Schulgarten neu anzulegen. Mit dem iPad recherchierten Fünftklässler im Internet, zeichneten Pläne, machten Notizen. Auf Exkursionen interviewten sie damit Quartiergärtner. Aufgrund ihres Abschlussberichts wird jetzt der Garten umgegraben. Lehrer Tuan Le, ein Vietnamese wie viele in seiner von Immigranten geprägten Schülerschaft,

diskutiert mit iPads Bücher. Er lässt die Schüler und Schülerinnen auf der Website Google Moderator Fragen stellen, wo sie vom Lehrer oder den Kameraden beantwortet werden. Am elektronischen Chat «beteiligen sie sich stärker als an einer Diskussion mit Handaufstrecken», sagt Le. Die Bildervideos wirken erstaunlich professionell

Sein Kollege Chris Gordon schöpft die Videofähigkeiten der iPads aus. Seine Schüler fassen die Geschichte hin zur amerikanischen Revolution in Kurztexten zusammen, wechseln sie mit Fotos ab, setzen Übergänge dazwischen und unterlegen das Ganze mit Musik. Die Endprodukte sind erstaunlich professionell wirkende Bildervideos. «Die Lehrinhalte

sind die gleichen», sagt Gordon. «Aber der Enthusiasmus der Schüler ist viel grösser.» Projektleiter Connolly erhofft sich von Tablet-Computern – die nicht zwingend iPads sein müssen – mehr leistungsmässig differenzierten Unterricht und selbstständigeres Lernen der Schüler. Auf der Highschool-Stufe könnten iPads dereinst auch Lehrbücher ersetzen. Insgesamt sei das Experiment sehr gut unterwegs, sagt Connolly. Wenn alles gut gehe, werde der Staat Illinois diesen Frühling zusätzliche 35 Schulen mit iPads ausstatten. Allmählich werde man auf einen iPad-orientierten Lehrplan hinarbeiten und auch eigene Apps entwickeln, hofft er. Connolly zweifelt nicht: «Das iPad ist die Zukunft des Lernens.»

«Von der Realität des Internets abgeschotteter Unterricht bringt nichts» Jason Cone, IT-Chef an der Zurich International School, über den Umgang mit Informationen und Prüfungsaufgaben, die man nicht bei Google findet Die Zurich International School (ZIS) setzt schon seit drei Jah­ ren ­Tabletcomputer im Unter­ richt ein. Welche Erfahrungen ­machen Sie mit den Geräten? Durchwegs positive. Wir sind nun daran, auszuwerten, ob wir im Sommer auf das iPad umsteigen sollen. Der Vertrag für die Geräte, die wir vom Hersteller Lenovo geleast haben, läuft dann aus. Wofür werden die mobilen Computer eingesetzt? Sie sind ein zentraler Bestandteil des Unterrichts. Die rund 730 Mittel- und Oberstufenschülerinnen und -schüler sind mit einem solchen Gerät ausgerüstet. «Upper Schoolers» dürfen sie auch mit nach Hause nehmen. Je nach

Jason Cone, 41: «Computerkurse haben wir abgeschafft»

Schul­stufe werden verschiedene Funktionalitäten freigeschaltet. In den unteren Stufen ist zum Beispiel der Internetzugang nur begrenzt verfügbar. In den oberen Stufen ist er offen. Übrigens haben wir in allen ZIS-Standorten drahtlosen Internetzugang. Lenkt das nicht vom Unterricht ab? Wir sehen es als unsere Aufgabe, den Schülern dabei zu helfen, mit der alltäglichen Informationsflut umzugehen. Ein von der Realität des Internets abgeschotteter Unterricht bringt doch nichts. Wer ­heute im Web Relevantes von Irrelevantem trennen kann, der ist gegenüber anderen im Vorteil. Das entspricht auch den Erwar-

tungen der Eltern, die ihre Kinder an unsere Schule schicken. Dürfen Schüler auch während Prüfungen Tablets und das Internet verwenden? Selbstverständlich. Das hat natürlich zur Folge, dass unsere Lehrer Prüfungen anders gestalten müssen. Es reicht nicht mehr, Antworten zu suchen, die einfach ge­ googelt werden können. Wie viel kosten die Tablets, mit denen Sie die Kinder und ­Jugendlichen ausrüsten? Für Hardware- und Software sowie Lizenzen und Personal rechnen wir pro Schüler mit Kosten zwischen 1800 und 2500 Franken, die in den Schulgebühren ent­ halten sind.

Für öffentliche Schulen sind sol­ che Investitionen unrealistisch. Nicht unbedingt. Hochgerechnet wenden wir für IT nur acht Prozent des gesamten Schulbudgets auf. Sie müssen ausserdem ­bedenken, dass die Preise für ­Tablets und beispielsweise Server-Infrastrukturen massiv sinken. Die günstigsten iPads kosten heute nur noch ein Viertel von unseren eingesetzten Geräten. Ich ermuntere öffentliche Schulen, den Einsatz von Computern im Unterricht zu forcieren. Jede Schule, die etwas auf sich hält, bietet schon heute ­Computerkurse an. Genau solche Kurse haben wir abgeschafft. Sie sind unnötig, weil

Tablets Bestandteil des Unterrichts sind. Sei das in der Mathematikstunde, indem der Lehrer die handschriftlichen Notizen eines Schülers beispielhaft an die Wandtafel projizieren kann, oder im Literaturkurs, in der die ­Aufsätze mit der Onlinesoftware Google Docs eingereicht werden. Sie forcieren den Einsatz von Programmen von Software-­ Anbietern wie Google? Für uns steht der Nutzen einer Software im Vordergrund, nicht, woher sie kommt – ob von Google, Microsoft oder OpensourceProjekten. Wenn sie beim Unterrichten hilft, dann verwenden wir sie. Barnaby Skinner


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