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Aufbruch
Über die Eisheiligen war es in jenem Mai 1907 für mehrere Tage sommerlich warm. Weil die Bauern von Cornol danach mit Gewittern rechneten, brachten sie das erste Heu noch vor dem Elften in den Schobern unter.
Die Heuernte hinterließ Spuren in seinen Handflächen, er hat Blasen wie lange nicht mehr. Das Brennen erinnert ihn an die Freude vorgestern, als die letzte Fuhr geschafft war. Er schließt für mehrere Schritte die Augen, eine alte Gewohnheit. Öffnet sie, macht sie wieder zu. Es ist nicht schwer, die Richtung zu halten, er spürt die sanfte Steigung der Dorfstraße unter den Füßen. Sie führt ihn geradeaus. Kopfnüsse hat er einstecken müssen als Bub, weil er das einfach nicht lassen konnte, den aiveuye,den Blinden machen. Er liebt die Steigerung der anderen Sinne, wenn er die Augen schließt. Die Geräusche. Er würde Cornol immer an seinen Geräuschen wiedererkennen. Man kann sich einbilden, den Klang der weiten, leicht schiefen Ebene zwischen Jura und Vogesen zu hören, an deren oberen Rand, am Ausgang des Tals der Coroline, das Dorf liegt. Dessen Geräusche nur einen Teil dieses Klangs ausmachen, den nahen und lebendigen. Mit Gegacker von Hühnern, Rauschen und Gurgeln des Bachs, Plätschern der Brunnen. Immer klopft, hämmert, dengelt jemand. Menschen locken ihre Tiere mit seltsamen Lauten, unterhalten sich rufend über mehrere Gärten hinweg auf Patois, im vertrauten Niainiainiai.Ein Hund bellt, ein anderer antwortet ihm aus der Ferne.
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Das gilt ihm jetzt.
«Träumst du schon von drüben, vom Schlaraffenland?»
Gelächter von mehreren Seiten, als er die Augen aufschlägt.
«Wann geht’ slos?»
«Morgen!»
«Alles gepackt?Kommt dich jemand abholen in New York?Joséphine ist ja noch hier. Die kommt später nach, oder?»
Er bleibt bei Emile und Armand stehen, beide tragen Werkzeug auf den Schultern, eine Heugabel, eine Axt.
«Zuerst muss ich im Havre ankommen. Es ist nicht mehr so wie früher mit den Extrazügen. Da konnte man sitzen bleiben, sogar durch Paris.»
Vonder anderen Seite des Sträßchens kommt Armands
Schwester Célestine dazu.
«Musst du übernachten?»
«Ja.»
«Wir haben gehört, du gehst mit Henri zusammen. Stimmt es, dass ihr auf diesem schnellen Dampfer fahrt?Wie heißt er, La Prudence?»
«LaProvence!»
«Der ist ganz neu, sagen sie. War sicher teuer, dazu zweite Klasse. Chic, chic, Monsieur Chiquet!»
Er macht sich los von dem Grüppchen.
«Also, bis dann!»
«Ja, bis dann.»
«Vergiss uns nicht!» Célestine sagt es leise. Sie errötet, als er sie angrinst, noch rückwärtsgehend. Dann dreht er sich ganz weg.
Heute hat er es nicht weit, die drei Kühe stehen auf einer Weide fast am Waldrand, beim oberen Dorfeingang. Er ruft sie, und als er beim Zaun ankommt, stehen sie schon brav bereit, die beiden älteren mit prallem Euter. Er öffnet ihnen das Gatter. Es folgt ein kurzes Hin und Her, wer zuerst hindurchstaksen darf. Als das geklärt ist, machen sie sich mu- hend auf den Heimweg, er trottet ihnen hinterher, muss überlegen, was noch zu tun ist bis zum Schlafengehen.
Ihr Haus steht auf einer dreieckigen Fläche, in der Gabelung zwischen Bach und Dorfstraße auf der linken Seite und einem kleinen Weg mit dem Namen La Rasse auf der rechten. Als Alcide in der Kurve beim Lion d’ Or angekommen ist, sieht er, dass der Vater die Stalltür aufgemacht haben muss, denn die Kühe sind nicht mehr zu sehen.
Er tritt ins Halbdunkel, Papa ist schon, den runden Schädel gegen die Flanke der Kuh gedrückt, beim Melken. Alcide holt seinen Stuhl vom Haken und setzt sich zum zweiten Tier. Er muss nochmals aufstehen, den Kuhhintern geraderücken und den verdreckten Schwanz mit einer Schnur hochbinden.
«Mach vorwärts, dann kannst du die Kanne dem Pierre in die laiterie mitgeben.»
Alcide taucht aus seinen Gedanken auf, das Euter seiner Kuh ist leer. Er steht auf, schüttet den bläulich schimmernden Inhalt des Kessels in die Kanne. Der Deckel ist schmutzig, also geht er in die Küche, um ihn abzuspülen. Maman steht am Herd, und als er hinter ihr vorbeigeht, streift ihn ihr Geruch. Rauch, Essen, und ganz leise, muguet-Seife. Ohne aufzublicken setzt sie ihre Litanei fort, die sie am frühen Morgen begonnen und ununterbrochen weitergeführt hat, bei fehlenden Zuhörern als inneren Monolog, jetzt bei seinem Erscheinen wieder als Rezitativ einer Liste, was alles getan wurde und was noch alles zu tun sei vor seiner Abreise, alles in ihrer einzigen und ureigenen Patois-Sprache, ohne Punkt und Komma.
« … und Joséphine hat dir noch die Hemden geplättet wir haben sie schon eingepackt damit du sie nicht wieder zerknüllst nur das welches du morgen auf die Reise anziehst liegt zuoberst mach die Knöpfe auf wenn … »
Er ist schon wieder aus der Küche verschwunden. Zu antworten hätte nichts geändert. Zurück im Stall drückt er den Deckel auf die Kanne, kippt an und rollt sie in Schräglage aus dem Tor ins Helle. Papa ist nicht zu sehen, ist wohl nochmals hinüber in den Boeuf, um sich vor dem Abendessen ein Gläschen zu genehmigen und um die Stimmung im Dorf zu erschnuppern. Er wartet auf Pierres Karren, den er hört, bevor er auftaucht. Davor ein mageres Pferdchen, das den Einachser mit hängendem Hals hinter sich herschleppt, als sei er mit Steinen beladen. Pierre sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung am Rand der schrägen Ladefläche, hüpft, als er auf Alcides Höhe angelangt ist, herunter. Für das Tier Signal zum Stehenbleiben.
Während sie gemeinsam die Kanne hochheben und zu den anderen rücken, druckst Pierre herum.
«Wir, also die Jungen vom unteren Dorf, haben uns gefragt … »
Pause.
« … also eigentlich:Der Girard-Joseph hat mich gefragt, warum … »
Pause.
« … also, warum ihr eigentlich rüber gehen wollt. Ich meine, beim Henri ist es klar, der Hof ist schon in den Händen des Ältesten, und er kann nichts außer bauern. Aber ihr?»
Er hofft, dass Alcide endlich etwas sagt, aber der schweigt. Also muss er weitermachen, auf zweifelhaftem Gelände.
«Die Joséphine könnte doch auch hier nähen?Und du und dein Papa … es ging doch in letzter Zeit eher aufwärts mit den Uhren. Was willst du denn anfangen drüben?»
«Ich schaue mal.»
«Entschuldige, ich wollte nicht … »
«Schon gut, ich weiß es selbst noch nicht genau. Es gibt Möglichkeiten. Ich gehe zuerst mal mit Henri zu seinem
Cousin nach Ohio. Ist ja auch ein weit entfernter Onkel von mir. Henri will etwas mit Früchten machen, aber ich glaube, das Klima ist dort nicht so mild, wie er meint. Wir werden sehen. Vielleicht gehe ich auch gleich wieder zurück nach New York. Es soll Reiche geben dort, die viele Hausangestellte haben. Die Ajolais sind beliebt, man verdient gut.»
«Hausangestellter?Dumeinst Diener?Dann müsstest du … ?»
«Ja, warum nicht?»
Pierre wiegt den Kopf hin und her, will noch etwas sagen, lässt es dann doch, setzt sich wieder auf seinen Karren. Kaum spürt es den Ruck, setzt sich das Pferdchen in Gang. Während er rittlings davonfährt, hält Pierre seinen Blick auf Alcide gerichtet.
«Also, pass auf dich auf!», ruft er, bevor er hinter der Wegbiegung zur Route de la Baroche verschwindet.
«Ja, mach ich», murmelt Alcide, und wieder wird er von einer körperlichen Unruhe überrascht. Der Magen krampft sich zusammen, die Kehle wird trocken, da kann er schlucken, so oft er will. Es kribbelt ihn in Händen und Füßen, er weiß nicht, wie ihm geschieht. Heute Morgen, kurz bevor er wach wurde, hat es ihn so gepackt. Julia, die Einzige, der er davon erzählt hat, lachte nur.
«Duhast das Reisefieber.»
Er geht ins Haus zurück und die Treppe hoch in die kleine Werkstatt. Setzt sich an seinen Arbeitsplatz, und obwohl alles weggeräumt und versorgt ist, ein handlicher Teil eingepackt in seine Reisekiste, zieht er eine Schublade nach der anderen auf. Holt sich aus der untersten die kleine Drehbank, mit der er bis vor einem Jahr Zapfen an die Enden winziger Achsen gedreht hat. Er spannt sie in den Schraubstock, holt ein paar feine Dreheisen aus einer zweiten Schublade, dann aus der obersten die Schachtel mit Rohlingen, Reste der letzten Be- stellung. Nimmt seine Uhrmacherlupe vom Schaft über dem Werktisch und klemmt sie ans Auge. Er beginnt zögernd mit dem Einspannen des kleinen Werkstücks, versucht sich an den Ablauf der einst mit viel Routine ausgeführten Arbeitsgänge zu erinnern. Die Ruhe kehrt in seinen Körper zurück, und als er die nur mit der Lupe zu sehenden Drehspäne wegpinseln und zum ersten Mal nachmessen kann, ist er wieder er selbst.
Julia stürmt herein, mit roten Backen, zieht ihn mitsamt dem Stuhl weg vom Tisch, platscht sich lachend auf seinen Schoß, gerade noch kann er die Hand mit dem scharfen Werkzeug von ihr weg strecken. Er will etwas sagen, doch sie überfährt ihn mit der überschäumenden Kraft ihrer Halbwüchsigkeit.
«Das darfst du jetzt nicht mehr!» Sie imitiert Tonfall und Dialekt der Mutter. Plaudert weiter, blubbernd, mit Überdruck.
Alcide fasst die Schwester bei der Taille und schiebt sie vom Schoß weg auf Vaters Stuhl. Dabei spürt er unter seinen Fingern die Rundungen der Fünfzehnjährigen. Maman hat recht:Das geht nun nicht mehr.
«Ist es wahr, dass in New York der reichste Mann der Welt lebt?Und gibt es dort ein Theater mit Bildern, die sich bewegen?Ist es das größte und schnellste Schiff, mit dem du fährst?»
Eine Frage nach der anderen stößt sie aus. Sie erwartet keine Antwort, beendet ihren Schwall, indem sie noch einmal tief Luft holt für einen langgezogenen Seufzer. Dann, jedes Wort einzeln ausrufend: «I – want – to – go – to – America – too!»
In seinem Zimmer überprüft er sein Gepäck, die Papiere, das Geld, das kleine Wörterbuch. Ihm fällt nichts ein, was er ver- gessen haben könnte. Doch:Schreibzeug!Ineiner Schachtel entdeckt er seine Schulfedern, die Tinte im Fläschchen ist aber eingetrocknet. Er wird Joséphine fragen, sie hat immer alles. Er findet ein halb leeres Schreibheft, das er in einer Außentasche unterbringen kann. Als er die Schublade zustoßen will, sieht er das Foto, das sie vor einem Jahr in Pruntrut hatten machen lassen, Henri, Armand und er. Henri sitzt in der Mitte auf einem Stuhl, sie stehen links und rechts hinter ihm. Wie etwas zwielichtige Geschäftsmänner schauen sie aus. Jünglinge, die auf Männer machen. Er als einziger ohne Schnurrbart, die Haare links gescheitelt, seine Tolle über der Stirn nach rechts gebürstet. Er findet, er sieht noch immer gleich aus. Die Krawatte vom Foto mit den Edelweiß hat er eingepackt für Amerika. Er steckt das Bild zum Notizbuch. Dann geht er nach unten zu seiner Familie.
Mutter hat einen toétché gebacken, dessen Duft sich im ganzen Haus ausgebreitet hat. Nun sitzen alle um den runden Tisch, Vater ist rechtzeitig, ohne dass ihn jemand holen musste, aus dem Boeuf zurückgekehrt. Sie falten die Hände und beten, danken für das abendliche Brot. Nach dem gewohnten Ritual fährt Joséphine mit ruhiger, fester Stimme fort. Sie bittet Gott um den Segen für die Reise ihres Bruders. Amen. Alcide hat es wieder die Kehle zugeschnürt. Er gibt sich Mühe, vom Sauerrahmkuchen zu essen, den Maman speziell für ihn und zu diesem Anlass des Abschieds gebacken hat. Er taucht ab. Papa muss ihn anstupsen.
«Jean Baptiste hat geschrieben, er wünscht dir eine gute Reise.»
Alcide hat sich schon länger nicht mehr bei seinem älteren Bruder gemeldet. Muss er ein schlechtes Gewissen haben? Maman fügt noch etwas hinzu.
«Erwird im Sommer nach Basel verlegt, an die Burgfelder Grenze. Dann kann er auch einmal nach Célina schauen. Hast du ihre Adresse?»
«Ja, ja, ich werde ihr schreiben.»
Julia plaudert, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr jemand zuhört, Joséphine und Mathilde essen schweigend.
Er schläft unruhig, wacht immer wieder auf, zählt die Glockenschläge, die ihm nah und laut erscheinen. Wie hatte er schlafen können in all den Jahren bisher?Wenn er aufschreckt, meint er, im Traum noch oder im Halbschlaf, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Er kontrolliert den Wecker, dreht sich hin und her, sinkt schließlich doch in den Tiefschlaf.
Er wird gerüttelt, Vaters Hand legt sich auch auf den Wecker und würgt das Gerassel ab.
«Komm, aufstehen. Es ist schon halb vier.»
Auch Maman steht da, musste ihrem Sohn einen Kaffee kochen. Er verbrennt sich den Gaumen, denn der Wagen des quincailler,der sie nach Pruntrut fahren wird, steht schon auf der Dorfstraße, auf der anderen Seite des Bachs. Zwei Pferde sind eingespannt, und Henri ist auch schon da. Jetzt stellt sich ihm die Mutter in den Weg, bedeutet ihm mit knapper Geste, den Kopf zu senken. Sie taucht den Daumen ins Weihwasserbecken neben dem Türpfosten und malt ihm, senkrecht und waagrecht, das Kreuzzeichen auf die Stirn. Um ihren Mund zuckt es, fast wäre er ihr übers Haar gestrichen.
«Gesegnete Reise», murmelt sie. Dann, überraschend: «Sei schlau!» Zögernd hebt Alcide die Hand und berührt sie an der Schulter, und als sie nicht zurückweicht, drückt er sie ein wenig, streicht ihrem Arm entlang hinunter und dreht sich ab.
Er bringt seine Kiste zum Wagen, Vater trägt Tasche und Koffer, im Marschtritt, den er auf einmal mit nachgeahmtem Bumbabumba der Tuba begleitet. Er bricht in Lachen aus.
«Wenn es heute keine Musik gibt, mach ich sie halt.»
Nun lachen sie beide. Als Joséphine vor vier Jahren mit fünf anderen jungen Frauen nach Amerika aufbrach, hat die Dorfmusik gespielt. Vater und Sohn brauchen einen Moment, bevor sie, zwei gleich große, drahtige Gestalten, sich umarmen.
Als Alcide aufsteigt, bemerkt er, dass doch einige Cornoler zusammengekommen sind, um sich zu verabschieden und wieder zwei davonfahren zu sehen.