Gustav Rennertz - Im Mittelpunkt der Mensch

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Veröffentlichung von 4plus5

„Im Mittelpunkt der Mensch” Erschienen in „Wir – Menschen im Wandel” Ausgabe 05 Juni – August 2012


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Im Mittelpunkt der Mensch

Gebäude nehmen Einfluss auf die Menschen, die sie bewohnen. Die Architektur der Zukunft wird eine neue Achtsamkeit für die Belange von Mensch und Natur entwickeln müssen.

MIT DIESEM ESSAY ZUR ARCHITEKTUR DES WIR SETZEN WIR UNSERE SERIE FORT, IN DER SICH WISSENSCHAFTLER UND KÜNSTLER MIT DER FRAGE BESCHÄFTIGEN, WELCHE ERKENNTNISSE IHRE DISZIPLIN ZU EINER NEUEN WIR-KULTUR BEISTEUERN KANN.

in den Gestaltungsprozess zu integrieren. So entwickelt sich eine Haustechnik und eine Baukonstruktion, deren oberste Prämisse die Wirtschaftlichkeit darstellt. An zweiter Stelle wird dann die Integration in die Umgebung gefordert. Imposant soll das GeText: Gustav Rennertz bäude sein und irgendwie die Besonderheit des Bauherrn zum Ausdruck bringen – eine Zeichenwirkung nach außen entfalten. or einiger Zeit sprach ich mit einer Ingenieurin, die in einem Das sind die Paradigmen, auf deren Grundlage heute Architekprämierten Gebäude aus Stahl, Beton und Glas arbeitet. Die tur betrieben wird; und sie schreiben in der Folge zugleich die Strenge des Äußeren wurde in der Innenarchitektur fortgesetzt, Bedingungen für die Innenarchitektur vor, die mit den gegebeund ihr und ihren Kolleginnen ist es untersagt, Änderungen an nen Gebäuden irgendwie klarkommen muss. Bis dato ist der der Stellung des Tisches oder durch Pflanzen, ja an der Anmu- Mensch als irgendwie zu berücksichtigender Faktor noch gar tung des Raumes vorzunehmen. Sie und einige Kollegen leiden nicht in den Blick gekommen. Und das ist kein Zufall. Denn die seit dem Umzug in diese Räumlichkeiten unter Unwohlsein, zeitgenössische Architektur ist ein getreues Abbild oder eine Konzentrationsstörungen und Kopfschmerz. Ein Beispiel, das genaue Manifestation des heute allgemeingültigen mechanisverdeutlicht, welcher Pfad gerade in der Architektur beschritten tischen Weltbilds. Sie ist durch und durch mechanistisch-techwird: Viele der Nutzbauten haben eine technisch faszinierende nokratisch. Ganz im Sinne eines denkwürdigen Zitates, dessen Bauweise, sind unter energiewirtschaftlicher Betrachtung auf Urheber mir unbekannt ist: Erst formen Menschen ihre Gebäude höchstem Niveau konstruiert und erstellt. Aber man fragt sich, und dann formen die Gebäude Menschen. wo der Mensch darin vorkommt. Verlässt man die Welt der Geschäftsbauten und durchquert un- Wie der Raum, so der Bewohner Das gibt zu denken. Denn masere neu gebauten Wohngebiete, dann findet sich ein anderes chen wir uns klar: Wir halten uns in unserem Kulturraum einen Bild. Hier wirkt es heimeliger, doch scheint gestalterisch und Großteil der Wachzeit im umbauten Raum auf. Dessen Architekauch konstruktiv die Zeit stillzustehen. Innovationen konzent- tur bleibt auf uns nicht wirkungslos. Denken wir nur an die so rieren sich allenfalls auf den Energieverbrauch. Ansonsten fin- ganz auf Funktionalität, Wirtschaftlichkeit und ein wenig Effekt den wir mit wenigen Ausnahmen Wohnhäuser mit Satteldach ausgerichtete Nutzarchitektur: Was macht sie mit den Menund Lochfassade – wie eh und je. Der Wunsch nach Geborgen- schen, die täglich in ihr ein- und ausgehen? heit und Sicherheit scheint hier sprunghafte, formale Verände- Darf ich zu einem Gedankenexperiment einladen? Stellen Sie sich einen Menschen vor, der in in einem Büro aus Stahl, Glas rungen zu unterbinden. und Beton mit Blick auf gleiche Gebäude tagein tagaus wichtiOptimierung über alles Doch eines verbindet beide Welten – die ge Entscheidungen trifft. Die Luft, die er atmet, ist mechanisch Welt der Nutzbauten und die Welt der Wohnbauten: Sie sind aufbereitet, sein Tisch ist aus Glas mit Chromgestell. Er läuft beherrscht von monetären Interessen. Ein Gebäude stellt eine auf anthrazitfarbenem Teppichboden. Nun stellen Sie sich eiInvestition dar, und eine Investition soll sich maximal rentieren. nen anderen Raum in einem alten Massivbau vor, hohe Räume, Ich behaupte: Das ist eine, wenn nicht die Grundmaxime des warme Farben an den verputzten Wänden, alter Parkettboden, heutigen Bauens. Dadurch ergeben sich zwangsläufig logische Blick ins Grüne. Die Raumluft ist angenehm ausgeglichen, der Sachgrundlagen für Form, Tektur und Konstruktion. Ein Nutzge- Lichteinfall durch große Fenster wechselt mit schutzgebenden bäude, sei es Kaufhaus, Büro oder Krankenhaus, soll absolut op- Wandflächen. Und nun frage ich: Welcher der beiden Räume vertimiert gebaut werden in Bezug auf Flächennutzung und Baukos- mag uns in unserem Handeln zu Nachhaltigkeit und Ganzheitten. Ferner wird die energetische Optimierung gefordert und ist lichkeit unbewusst zu inspirieren?

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//////////////////////////////////////////////// Gustav Rennertz ist Gründer und Leiter des Büros für Bau, Kunst und Design in Ulm. Sein

Sie zögern? Dann stellen Sie sich noch einmal diese beiden Räum vor und fragen sich, in welchem von ihnen wohl eher Heilung geschehen oder Bildung vermittelt werden kann. Ich denke, die Sache ist klar: Nur eine irgendwie mit Natur übereinstimmende Bauweise kann Geist und Körper harmonisieren. Gleiches gilt für die verdichtete Wohnbebauung, deren Einflüsse auf die Sozialisierung der Bewohner nicht zu leugnen sind, wie es die Gewalteskalationen in Frankreich vor ein paar Jahren zeigten.

Motto: Räume schaffen für den Menschen. www.4plus5.de ////////////////////////////////////////////////

mit der Hinterfragung, ob unserer Natur überhaupt weiterer Raum genommen werden muss. Traurige Realität ist derzeit das Gegenteil. Laufend werden auf der grünen Wiese EinkaufszenHäuser sind für Menschen da All das zeigt: Wir brauchen eine tren, Bürobauten und Wohnviertel aus dem Boden gestampft, andere Architektur – eine menschliche Architektur. Ich denke während gleichzeitig die Zahl der Industriebrachen mit oft nur dabei an diese Zeichnung Leonardo da Vincis, die den Men- 20 Jahre alten Ruinen zunehmen. Neben der Liebe zum Menschen als Mittelpunkt darstellt. Denn ich sehe es als notwen- schen benötigen wir Architekten mithin die Liebe zur Erde, zur dige Basis einer zukunftsorientierten WIR-Architektur an, den Natur als integralen Bestandteil unseres Tuns. Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen – das heißt: das Allein auf diesen beiden Säulen – die Hinwendung zum Menmenschliche Wesen mit all seinen Sinnen und Wahrnehmun- schen und die Hinwendung zur Erde – kann der Formfindungsgen, mit seiner Kultur und seiner Geschichte ins Zentrum des und Konstruktionsprozess einer Architektur gestützt sein, die Entwurfsprozesses zu rücken. Hierzu ist es für den Architekten dem WIR, der Ganzheitlichkeit und der Lebendigkeit gerecht und Innenarchitekten unabdingbar, sich mit dem Menschen wird und ihr gleichzeitig entspringt. Eine solche Baukunst verals fühlendem, wahrnehmendem und sinnorientiertem Wesen wurzelt uns, anstatt zu entwurzeln. Sie vermag Halt und Geauseinanderzusetzen. Es gilt, den Menschen zu studieren, zu borgenheit zu geben, anstatt uns mit Kühle und Strenge zu beeindrucken. Eine solche Architektur wäre organisch, da sie allen in der Schöpfung »Neben der Liebe zum Menschen benötigen wir vorkommenden Prozessen in ihrem UrArchitekten mithin die Liebe zur Erde, zur Natur als grund entspricht. integralen Bestandteil unseres Tuns.« erfassen und zu lieben, um für ihn planen und bauen zu können. Für eine Architektur des WIR und der Nachhaltigkeit müssen wir permanent nach dem Menschen fragen.

Den Genius Loci würdigen Aber nicht nur nach ihm. Auch der Ort, der Platz, wo der Erde etwas auferlegt wird, bedarf unserer Achtsamkeit. Ihn zu spüren, zu fühlen und zu studieren sehe ich als unverzichtbar an, um eine ganzheitliche Architektur zu entwickeln. Das beginnt bereits in der Entscheidungsphase für ein Bauwerk. Hier muss zuerst die Frage gestellt werden, ob der Wunsch eines neuen Bauwerks nicht zur Reorganisation eines bereits bestehenden Bauwerkes führen kann. Es beginnt also

Organisch bauen Die Werke, die eine solche organische Architektur hervorbringen wird, unterscheiden sich fundamental vom derzeit üblichen Baustil. Dabei ist eine organische Architektur alles andere als neu. Erscheinungsformen von ihr finden wir in sehr ausgeprägter Form schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Jugendstil und besonders im Baustil des Amerikaners Frank Lloyd Wright. Dessen Bauten waren eng mit ihrer Umgebung verbunden, so dass der Mensch sich mühelos mit ihnen verbinden konnte. Ebenso finden wir dieses organische Vorgehen in der Architektur der Waldorfpädagogik Rudolf Steiners. Doch müssen wir gar nicht so weit in der Geschichte zurückgehen. Seit dreieinhalb Jahrzehnten findet sich weltweit eine neue Wir – Menschen im Wandel 05 | 2012


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Bewegung der organischen Architektur, deren konsequentester Vertreter wohl der Ungar Imre Makovecz ist. Für eine künftige, menschen- und naturgemäße Architektur ist also mindestens zweierlei unverzichtbar: die Ausrichtung auf den Menschen aus ganzheitlicher Sicht und eine umfassende Integration in die Umgebung. Als weiterer Aspekt kommt ein achtsamer Umgang mit dem zu verwendenden Baumaterial hinzu. Nur baubiologisch einwandfreie Materialien sollten künftig Verwendung finden. Für eine Architektur des WIR sind damit wohl einige zentrale Elemente genannt, doch fehlt noch einiges, wenn es sich dabei um eine zukunftsweisende Architektur handeln soll, die eine Identifikation und eine Nachhaltigkeit ermöglicht: eine Architektur, die unsere Nachfahren einst mit ebenso viel Freude um- und beschreiten werden, wie wir es heute in alten Städten tun. Integrales Bauen Damit sind wir nun an dem Punkt angelangt, an dem ein Schulterschluss der künftigen nachhaltigen WIRArchitektur und der derzeit dominanten mechanistisch-technokratischen Architektur möglich, ja erforderlich wird. Denn natürlich ist der von Letzterer so vehement vertretene Anspruch der Wirtschaftlichkeit in jeglicher Hinsicht keineswegs nur von Nachteil. Dann da eine künftige Architektur keinen Schaden mehr an der Umwelt anrichten soll, wird sie in ihre organischen Enwurfsprozesse unweigerlich die aktuellsten, intelligenten Systeme der Haustechnik integrieren. Vieles, was heute in modernen High- von innen Tech-Gebäuden zu finden ist, wird auf sinnvolle Weise in eine Synthese einzubringen sein. So ist auch die heute so beliebte großflächige Glasarchitektur nicht rundum abzulehnen, symbolisiert sie doch mit ihrer Offenheit und Durchlichtung das Anliegen, Außen und Innen miteinander zu verbinden. Ich möchte einen solchen Prozess an einem Beispiel aus unserem Büroalltag darstellen. Im Jahre 2008 erhielten wir den Auftrag, einen Teil eines ehemaligen Klinikgebäudes in ein Wohnprojekt für Demenzkranke mit Tagespflege umzubauen. Als Erstes beschäftigten wir uns im Team mit der Krankheit als solcher, studierten Fachliteratur und suchten bestehende EinWir – Menschen im Wandel 05 | 2012

richtungen auf. Wir interviewten Personal und fühlten uns tief in diese Menschen ein. Als Nächstes studierten wir den Ort, das Gebäude und seine Historie sorgfältig. Dieser ersten Phase widmeten wir sehr viel Aufmerksamkeit, so dass wir mit der Zeit ein Gefühl und Bild dessen entwickelten, was unser Entwurf leisten müsse. Die Demenzkranken sollten sich angenommen und geborgen fühlen. Sie sollen sich orientieren und ihre Zimmer auch in fortgeschrittenem Stadium ohne Hilfe finden können. Sie sollten Freude in dieser Phase ihres Lebens haben. So entstand ein Konzept mit einem organisch geformten Foyerbereich in warmen Farben, der die Menschen empfängt und sanft umschließt. In den Wohngeschossen entwickelten wir eine Flurform mit herausgedrehten Zugängen zu den Zimmern der Bewohner, die einem intuitiv und instinktiv erlebbaren Konzept folgen. Das Beleuchtungskonzept ließ vielfältig variierende Lichtsituationen zu, um dem Lauf des Tages zu folgen und auf die besonderen Bedürfnisse älterer Menschen einzugehen. Schlussendlich haben wir alle Faktoren, die den umgebenden Raum herstellen, auf die Menschen ausgerichtet. Nach dem ersten Betriebsjahr dieses Wohnprojektes haben wir den Erfolg vom Betreiber des Wohnprojektes rückgemeldet bekommen und erhielten bei einem europaweit ausgeschriebenen Wettbewerb aus dem Bereich Pflege und Demenz einen Gestaltungspreis. Warum erzähle ich das? Um deutlich zu machen, dass eine Ar-

Eine Architektur des WIR wächst heraus, so wie jede schöne Pflanze in der Natur.« chitektur des WIR nicht nur nötig, sondern auch möglich ist – als eine Synthese aus Liebe zum Menschen, Liebe zum Erschaffen und Liebe zur Welt; als eine Architektur, die getragen ist von der Bereitschaft, vielfältigste Kompetenzen und Anschauungen zu einer Komposition zusammenzufassen – so dass der Raum zum Heil seiner Bewohner werden kann, heilen kann, heilig werden kann. Eine Architektur des WIR wird eine Architektur der Vielfalt ohne Dogmen sein, deren Maßstäbe sowohl das Besondere als auch das Nachhaltige sind. Sie wächst von innen heraus, so wie jede schöne Pflanze in der Natur. //


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