RIEHTUM

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ANТHRОPОLОGIE FÜR KINDER

REICHTUM DIESES BUCH GEHÖRT


Anthropologie analysiert Gesellschaften unter anderem dadurch, dass sie den Begriff des Reichtums untersucht, der fĂźr eine bestimmte Gesellschaft relevant ist, und auch die Institutionen und Machtstrukturen, mittels derer dieser Reichtum aufrecht erhalten wird.


� ANTHROPOLOGIE FÜR KINDER REICHTUM Dieses Buch gehört



Schon als Kinder lesen wir Geschichten über Reiche und Arme, über Könige und Bürgerliche, über riesige Schätze und mutige Abenteurer

Bei einigen amerikanischen Ureinwohnern muss jemand, der als die reichste Person angesehen werden möchte, besondere Großzügigkeit zeigen.

Aber was ist Reichtum?

Und vor gerade einmal 150 Jahren galt in manchen „zivilisierten“ Ländern Reichtum als das Recht, Menschen zu besitzen, sie zu kaufen und zu verkaufen, und in der Zeit des Feudalismus hatten nur Reiche in einigen europäischen Ländern nur Reiche, rote Kleidung zu tragen.

Sind reiche Leute glücklicher oder besser als arme? Stimmt es, dass die Begabtesten und Fleißigsten auch die reichsten sind? Oder ist, im Gegenteil, Reichtum nur für die gierigen und herzlosen Menschen bestimmt? Die Anthropologen glauben, dass es nicht eine einzige richtige Antwort auf diese Fragen gibt. Sie erforschen, was für die Menschen in unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen historischen Epochen „Reichtum“ bedeutet. Viele von uns denken, ein reicher Mensch sei jemand, der viel Geld besitzt. Wir haben gelernt, fast alles in Geld umzurechnen: vom Wert „unbezahlbarer“ Kunstwerke bis zu den Kosten einer genialen wissenschaftlichen Entdeckung, von den Kosten einer lebensrettenden Operation bis zum Mindesteinkommen einer Familie. Aber unsere Fähigkeit, über radikal unterschiedliche Dinge und menschliche Beziehungen in finanziellen Begriffen zu reden, ist nicht universal.

Dieses Buch basiert auf den Forschungen von Archäologen, Anthropologen, Künstlern und politischen Aktivisten, aber auch Jugendliche haben an dem Projekt „Anthropologie für Kinder“ teilgenommen. Wenn du gelesen hast, auf wie viele unterschiedliche Arten Menschen für reich gelten oder sich für reich halten, werden wir dich bitten, deine eigene Meinung dazu aufzuschreiben. Was glaubst du: Wie kann Reichtum gerecht und schön sein? Denn wenn wir uns eine mögliche Zukunft ausgedacht haben, vielleicht können wir dann die Gegenwart verändern?


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Erzähl uns deine Geschichte vom Reichtum. Was ist Reichtum für dich? Wie wichtig ist er?


01 WAS IST REICHTUM?

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Was heißt es, reich zu sein? Ist das vielleicht nur eine Geschichte, die wir einander erzählen?

Einmal befand ich mich in einer miserablen finanziellen Situation, und ich erzählte einem Freund davon. Das war in der Stadt Sankt-Petersburg in Russland, und wir saßen in einer wunderbaren Wohnung aus dem 18. Jahrhundert. Obwohl er mich unterstützte, wies mein Freund mich richtigerweise darauf hin, dass die Bewohner dieser Wohnung vor kaum 100 Jahren nicht solchen Komfort besaßen, wie er für uns heute als selbstverständlich gilt. Nicht nur, dass sie keine Kühlschränke besaßen, auch Schmerzmittel waren noch nicht erfunden. Jede Operation, sogar ein einfacher Besuch beim Zahnarzt, konnte zu einer furchtbaren Qual werden. Dabei waren diese Menschen Adlige, in ihren Wohnungen hingen Gemälde von Rembrandt an den Wänden, und sie hatten Scharen von Bediensteten.


02 WOVON TRÄUMEN

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REICHE LEUTE?

Hier sind die Träume einiger Menschen darüber, was es für sie heißt, reich zu sein. Stell dir vor, du wärst einer von ihnen. Wie würdest du reagieren? ※※ Jemand möchte ein Bild von Leonardo da Vinci besitzen.

※※ Jemand möchte eine gigantische Party schmeißen, viele Freunde, am liebsten die halbe Welt einladen. Damit alle zusammen Spaß haben.


※※ Jemand möchte Geld sparen, vermehren, verstecken und horten. Er oder sie gibt niemandem einen Cent ab, würde am liebsten in seinem Sparsamkeitswahn überhaupt kein Geld ausgeben.

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* Chaim Soutine war ein französischer Maler. Er stammte aus einer jüdischen Familie und lebte Anfang des 20. Jahrhunderts. Eines seiner Bilder wurde auf einer Auktion bei Christie’s für 28 000 000 Dollar verkauft.

* Pavel Durov ist der Erfinder des sozialen Netzwerks VKontakte, der russischen Entsprechung von Facebook.

※※ Jemand sieht keinen Unterschied zwischen Reichtum und Armut und lebt in totaler Verschuldung.

※※ Am Ende seines Lebens wurde der Maler Chaim Soutine oft von seinen Freunden eingeladen, und er schenkte ihnen dann meistens eine seiner Zeichnungen oder ein Gemälde. Sie waren damals schon eine Menge Geld wert.

※※ Die Herrscher und Könige des Altertums warfen gerne Geld in die Menge. Pavel Durov, der Gründer des russischen sozialen Netzwerks „VKontakte“ , was gewissermaßen das russische „Facebook“ ist, ging eines Tages auf den Balkon vor seinem Büro und fing an, Geld auf die Fußgänger unter ihm zu werfen. Die Leute wimmelten durcheinander, knufften und stießen sich, um an die Geldscheine zu gelangen. Durov und seine Angestellten hatten eine Menge Spaß.

※※ Jemand möchte, dass alle Menschen reich sind: Freunde, Verwandte, Nachbarn, sogar fremde Leute. Dieser Mensch träumt vom allgemeinen Wohlstand.


Wie würdest du deinen eigenen „Mangel“ beschreiben? Was heißt es für dich, alles in Hülle und Fülle zu besitzen?

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Die schlimmste Armut habe ich selbst in der Dominikanischen Republik erlebt. Das eine Jahr, das ich dort verbrachte, reichte, um mir den Unterschied zwischen unserer Armut in der Sowjetunion und ihrer Armut klarzumachen. In der Dominikanischen Republik spielen die Kinder auf dem Müllabladeplatz, ihr Spielzeug ist Abfall und leere Plastikflaschen. Wenn sie ein wenig größer sind, müssen sie alle möglichen unschönen Dinge tun, um zum Überleben der Familie beizutragen.

Beschreibe die schlimmste Armut, die du selber jemals gesehen hast.


03 WAS IST ARMUT?

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Wie entscheidet eine Gesellschaft darüber, was Armut ist? Wie kommt es, dass Menschen sich für arm halten?

In der Sowjetunion dachten viele Menschen, sie seien arm. Konsumgütermangel und lange Schlangen waren symptomatisch für das Leben in sozialistischen Ländern. Ich erinnere mich noch gut daran, dass es immer irgendetwas nicht gab: Plötzlich bekam man nirgends mehr Strumpfhosen oder Socken, oder Kerzenständer waren auf einmal seltsamerweise komplett verschwunden. Ganze Familien diskutierten stundenlang darüber, ein Sofa oder einen Farbfernseher zu bekommen. Die Jugend träumte davon, Kaugummi und amerikanische Jeans zu ergattern. Manche waren regelrecht davon besessen. Der Sozialismus ist untergegangen, der Kapitalismus hat begonnen.


04 KAPITALISTISCHER

REALISMUS

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Reichtum als Segen und Verpflichtung

„ Ich schwöre bei meinem Leben und bei meiner Liebe zum Leben: Ich werde nie für andere leben, und ich werde nie von anderen verlangen, dass sie für mich leben.“ — Ayn Rand: Atlas wirft die Welt ab

Die dystopische Erzählung „Atlas wirft die Welt ab“ von Ayn Rand berichtet vom Kampf heldenhafter Geschäftsleute gegen eine Gesellschaft, die beherrscht wird von Ignoranten und Faulpelzen. Das Buch wurde die Bibel der amerikanischen Rechten. Die Jahresauflage beträgt über 500 000 Stück.


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Ayn Rand war eine berühmte amerikanische Schriftstellerin. Sie propagierte die Lehre des „rationalen Egoismus“ , in der das Recht auf Eigeninteresse gefordert wird. Sie verteidigte den Kapitalismus gegen den Sozialismus, der damals noch existierte. Viele Jahre lang war Ayn Rand der führende Kopf einer Gruppe einflussreicher amerikanischer Politiker und Ökonomen. Einer von ihnen, Alan Greenspan, war von 1987 bis 2006 Vorsitzender der US-Notenbank, die die Finanzpolitik der USA bestimmt.

Wenn man annimmt, dass es allein an den persönlichen Anstrengungen eines jeden liegt, ob er reich oder arm ist, dann müsste man daraus vielleicht schließen, dass alle armen Menschen eben einfach nur faul seien. Sollen wir ihnen dann überhaupt helfen? Sind sie unser Mitleid wert? Und ist Hilfe überhaupt gut für sie?

Beschreibe, wie in deiner idealen Gesellschaft Arme und Reiche miteinander umgehen sollen.


05 WAS IST REICHTUM? �

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Lies die Zitate von Ayn Rand und Thomas Piketty und sag deine Meinung dazu. Wer von ihnen hat nach Recht?

Ayn Rand - American writer and a preacher of a doctrine of „rational egoism,“

„Wenn wir von sozialem Instinkt reden — Spielt es eine Rolle, ob er bei den primitiven Völkern der Vorzeit existierte? Die Annahme, dass Menschen als soziale Wesen geboren werden (und das ist noch die Frage) — bedeutet das, dass sie es auch bleiben müssen? Der Mensch mag als soziales Tier begonnen haben — aber ist nicht aller Fortschritt darauf ausgerichtet, ihn zum Individuum zu machen? Ist das nicht der einzig mögliche Fortschritt? Ist der Mensch nicht die höhere Entwicklungsstufe über dem sozialen Tier?“


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Thomas Piketty ist ein französischer Wirtschaftswissenschaftler, der vor allem über Reichtum und Einkommensungleichheit arbeitet.

„Der Haken an Ayn Rands philosophischem „Objektivismus“ ist die simple Tatsache, dass Menschen die Neigung haben, zu kooperieren und sich um ihre Mitmenschen zu kümmern. Viele Anthropologen, die die Gesellschaften der Jäger und Sammler erforschen, haben das festgestellt. Diese „sozialen Neigungen“ sind für Ayn Rand problematisch, weil solches Verhalten das „natürliche“ Eigeninteresse abmildert und deshalb eigentlich nicht existieren dürfte. Ayn Rand löst diesen Widerspruch auf, indem sie behauptet, Menschen würden als eine Tabula rasa geboren, eine leere Tafel, ein leeres Blatt (wie zu ihrer Zeit viele glaubten), und soziale Neigungen, vor allem der Altruismus, seien „Krankheiten“ , die die Gesellschaft hervorruft, heimtückische Lügen, die uns dazu bringen, die biologische Wirklichkeit zu verraten.“


06 UNTER KONTROLLE:

DIE UDSSR

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In der Sowjetunion war persönlicher Reichtum verboten. Wer fremdes Geld lagerte oder Gold kaufte und verkaufte, dem drohten mindestens 15 Jahre Gefängnis oder sogar die Todesstrafe. Jede kommerzielle Tätigkeit war untersagt. Aber die Bürger waren verpflichtet, für den Staat zu arbeiten. In der Verfassung der UdSSR waren Strafen für Sozialschmarotzertum festgelegt.


Sage deine Meinung zu den Gesetzen der ehemaligen UdSSR. Was findest du gerecht und nützlich, was schädlich und unnötig? ※※ Der Besitz mehrerer Wohnungen gleichzeitig war verboten.

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※※ Die Größe von Wochenendhäusern und Grundstücken und sogar die Anzahl der Bäume im Garten waren strikt begrenzt.

※※ Private Autos waren selten.

※※ Private Schulen, Krankenhäuser oder Gefängnisse gab es nicht.

※※ Private Handelsunternehmen waren nicht zugelassen.


※※ How important for you that everyone in your country would be provided with minimum conditions for the reproduction of life?

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※※ What do you think are the minimum living conditions? For example, maybe music lessons should be given for free, and everyone should get food on their own?


07 DER WOHLFAHRTSSTAAT:

UDSSR

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Die Verfassung der Sowjetunion garantierte ihren Bürgern „die realen Möglichkeiten dafür zu erweitern, daß die Bürger ihre schöpferischen Kräfte, Fähigkeiten und Talente anwenden und ihre Persönlichkeit allseitig entwickeln“ können. (Verfassung der UdSSR, 1977)

In der UdSSR versorgte der Staat jeden Bürger mit Wohnung, Essen, kostenloser medizinischer Behandlung, Bildung, Renten und vielem mehr. Öffentlicher Nahverkehr, Kindergärten und Schulen, kostenlose Universitäten und bezahlter Urlaub — die unterschiedlichsten Arten von sozialen Dienstleistungen gehörten zu der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der ich aufgewachsen bin. Manch einer glaubt, die Qualität dieser „Dienstleistungen“ selbst sei minderwertig gewesen. Manche Leute dachten, die sozialistischen Länder garantierten sogar die Existenz einer breiten Mittelklasse nicht nur im Osten, sondern auch im Westen, weil der Wettbewerb zwischen den beiden Ideologien die Regierungen zwang, ihre Bevölkerung zu schützen.


08 WIE VIEL KOSTET �

DIE FREIHEIT?

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Ist deiner Meinung nach der Zwang, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ein Merkmal von Unfreiheit? Würdest du dem griechischen Philosophen Aristoteles zustimmen? Schreib auf, wer deiner Meinung nach ein freier Mensch ist und wer ein Sklave.


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David Graeber ist ein amerikanischer Anthropologe. Autor des Buches: Schulden – Die ersten 5000 Jahre

In Amerika, zum Beispiel, hat fast jeder Schulden. Das große soziale Übel in der Antike, das, was die Scharia und das mittelalterliche kanonische Recht für alle Zeiten verhindern wollten, war das Szenario, dass eine Familie sich so tief in Schulden verstrickte, dass die Eltern gezwungen waren, sich selber oder ihre eigenen Kinder in die Sklaverei zu verkaufen. Und was hat man heute? Eine Bevölkerung, in der fast jeder verschuldet ist und sich die Menschen an die Unternehmer verkaufen, indem sie eine Arbeit machen, die sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter anderen Umständen nicht machen würden, nur um ihre Schulden bezahlen zu können. Wenn man Aristoteles durch Zauberei in die USA versetzen würde, käme er zu dem Schluss, dass der größte Teil der Bevölkerung Amerikas versklavt ist, denn für ihn ist der Unterschied zwischen sich selbst Verkaufen und sich selbst Vermieten nur Wortklauberei. Aus diesem Grund sage ich, dass unsere Definitionen von Freiheit abstrus sind. Wir haben es geschafft, eine Situation, die die meisten Menschen in der Antike als eine Form von Sklaverei empfunden hätten, in ein Bestimmungsmerkmal von Freiheit zu verwandeln. Zum Beispiel deine Fähigkeit, deine Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen.


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Das größte Land der Erde funktionierte wie eine riesige Fabrik: mit einem Fünfjahresplan, und in dem alle Einwohner einen Arbeitsplatz hatten. Der Arbeitstag ging für alle/allgemein von 9:00 bis 17:00 Uhr

Der Nobelpreisträger Josif Brodski, ein Dichter und Übersetzer, war für den sowjetischen Staat ein Nichtstuer. Daher kommt seine ungebundene Lebensform: Armut, Boheme/ und keine geregelte Arbeitszeit wurden als Verbrechen gegen die Gesellschaft angesehen. Brodski wurde zu fünf Jahren Zwangsarbeit an einem entfernten Ort verurteilt. Hier ein Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Brodski und dem Richter über das Thema Poesie und Arbeit: Richter: Was genau ist eigentlich Ihr Beruf? Brodski: Ich bin Dichter. Und Übersetzer von Lyrik. Richter: Und wer hat das festgestellt, dass Sie ein Dichter sind? Wer rechnet Sie zu den Dichtern? Brodski: Niemand. (ohne Provokation) Wer rechnet mich zum Menschengeschlecht? Richter: Aber Sie rechnen sich dazu? Brodski: Wozu? Richter: Zu den Dichtern? Sie haben nicht versucht, eine Hochschule zu besuchen, wo man sich vorbereitet... wo man lernt... Brodski: Ich glaubte nicht, dass es dafür eine Ausbildung gibt.


09 NATIONALER

REICHTUM

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Wie würdest du den Nutzen der Arbeit eines Dichters für die Gesellschaft einschätzen? Wenn große Dichter und Künstler Werke schaffen, die als „Nationaler Reichtum“gelten, dann heißt das ja, sie ist irgendwie nützlich. Aber wer entscheidet, welcher Dichter oder Künstler groß ist und welcher nicht? Denk darüber nach und schreib gerechte Regeln auf.


10 REICHTUM ALS DAS RECHT,

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BEIM KARNEVAL EINE MASKE ZU TRAGEN

Kwakiutl sind nordamerikanische Indianer, die im heutigen British Columbia lebten, das zu Canada gehört entlang den Wasserläufen zwischen Vancouver Island und dem Festland. Der Name Kwakiutl bedeutet „die Kwakwala sprechen“.


„Wenn man einen Namen geerbt hatte, der wie ein Adelstitel war, brachte dies das Recht mit sich, bei den großen Theaterfestivals, die jeden Winter stattfanden, eine bestimmte Maske zu tragen und eine bestimmte Rolle zu spielen.“ David Graeber

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Stell dir die unglaublichsten Kulturen vor, die völlig anders sind als unsere. Beschreibe die unwahrscheinlichsten Ideen über Reichtum, die du dir nur ausdenken kannst.


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