Cachaos

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»WENN ES DANN SOWEIT IST, IST DER LADEN VOLL UND DIE STIMMUNG SCHON AUF EINEM ORDENTLICHEN LEVEL. BEREITS NACH DEN ERSTEN PAAR SONGS STELLEN SICH EKSTATISCHE ZUSTÄNDE EIN. DIE BAND IST IN IHREM ELEMENT UND GLÄNZT, WENIGER MIT VIRTUOSITÄT, ALS MIT INBRÜNSTIGER LEIDENSCHAFT. DENN, WAS DIE VIER OFTMALS MEINUNGSVERSCHIEDENEN ADOLESZENTEN VERBINDET, IST IHRE LIEBE ZUR MUSIK.«

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Der friesengrüne Volkswagen T4 mit Überlänge setzt sich ächzend in Bewegung. Darin sitzen vier außerordentlich schäbig gekleidete junge Männer zwischen zweiundzwanzig und sechsundzwanzig. Sie sind spät dran. Wie immer. Die Stimmung ist gut, man hat sich gern, auch wenn es wenige Stunden zuvor für einen Außenstehenden wohl nicht so gewirkt hätte. Von der hitzigen Diskussion an diesem Samstagmorgen zeugen zweihundertvierundsechzig MessengerNachrichten im The Dirty Waters Gruppenchat. Auslöser für die äußerst überflüssige Auseinandersetzung war wie so oft die fatale Inkompetenz in organisatorischen Fragen, die die Stuttgarter Rockband für gewöhnlich an den Tag legt. Hat wer die Nummer vom Veranstalter? Ich komm ne viertel Stunde zu spät. Wann müssen wir da sein? Wo ist unser Drummer? Sein Handy wurde gestern im Kellerklub abgegeben. Ich hab die Bahn verpasst. ¶ Die Frage nach einem Schuldigen für das Chaos am Morgen stand wie immer im Raum und wurde selbstverständlich in alter Ego-Manier stets bei den Anderen gesucht. Doch glücklicherweise ist die Band im Frieden schließen mindestens genau so gut, wie im Musik machen. Und so kommt es, dass der Streit am Morgen längst wieder vergessen ist, als sie auf dem Weg zur Konzert-Venue gemeinsam in ihrem Bus sitzen und voller Vorfreude im Stau auf der B14 stehen. ¶ Ein kleiner Club in Stuttgart ist das Ziel der Truppe. Heimspiel. Das sind die besten GIGS ¹. Sie sind immer gut besucht und die Stimmung kocht gerne mal über. Dort angekommen entschuldigen sie sich routiniert beim Veranstalter für die anderthalb Stündige Verspätung und fangen rasch an aufzubauen. Während noch zu Beginn ihrer gemeinsamen Karriere regelmäßig wichtige Utensilien im Proberaum vergessen wurden, klappt es mittlerweile ganz gut. Das einzige was fehlt: Ein PICK 2 für Sänger und Rhythmusgitarrist Colin. Der aufgeweckte dreiund1 — Als Gig (aus englisch engagement) wird im Jargon der Musiker das Engagement für einzelne Auftritte bezeichnet, vor allem solche außerhalb von längerfristigen Verpflichtungen. Dafür war im deutschsprachigen Raum seit dem 19. Jahrhundert der Begriff Mucke und später Mugge üblich. Er ist es dort im Bereich klassischer Musik auch heute noch. Dagegen verbreitete sich auch im deutschen Sprachraum mit dem Aufkommen populärer Musik in den Bereichen Jazz, Rock- und Popmusik vermehrt der aus dem Englischen entlehnte und international bekannte Begriff Gig. — 2 — Pick ist das englische Wort für das Plektrum. Ein, oftmals aus Kunststoff hergestelltes Blättchen, mit dem die Saiten diverser Zupfinstrumente angeschlagen werden. Spielt man mit einem Plektrum, klingt das Instrument häufig lauter und darüber hinaus reicher an Obertönen.

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zwanzigjährige Bursche weiß sich jedoch selbst zu helfen und verwandelt mit ein paar geschickten Handgriffen eine ausgediente Zigarettenpapier-Packung in sowas Ähnliches. Es funktioniert. Die Saiten der Gitarre schwingen, wenn auch nicht ganz so graziös wie sonst. Nach dem Soundcheck und einem sympathischen Kennenlernen mit dem Barpersonal trudeln die ersten Konzertbesucher ein. Man kennt sich. Gute Gespräche und eine gesunde Menge Alkohol stehen ganz oben auf der Agenda, bevor es auf die Bühne geht. Wenn es dann soweit ist, ist der Laden voll und die Stimmung schon auf einem ordentlichen Level. Bereits nach den ersten paar Songs stellen sich ekstatische Zustände ein. Die Band ist in ihrem Element und glänzt, weniger mit VIRTUOSITÄT 1, als mit inbrünstiger Leidenschaft. Denn, was die vier oftmals meinungsverschiedenen Adoleszenten verbindet, ist ihre Liebe zur Musik. Und die ist an diesem Abend in besonderem Maße zu spüren. Nach anderthalb Stunden beenden sie das Konzert mit einem energiegeladenen Cover von Jimi Hendrix’ Fire und verlassen die Bühne, um den Abend mit den längst zu Freunden gewordenen Fans ausklingen zu lassen. ¶

1 — Der Begriff Virtuosität stammt vom italienischen Wort virtuoso ab, welches fähig bedeutet. Er bezeichnet das Beherrschen einer Fähigkeit in außerordentlichem Maße und wird häufig im musikalischen Kontext verwendet. Das Adjektiv „virtuos“ wird je nach Zusammenhang auch abwertend verwendet, um eine musikalische Aufführungspraxis zu beschreiben, bei der vor allem die technischen Fähigkeiten des Spielers zur Schau gestellt werden, die musikalische Qualität jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielt.

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Hab euch lieb Leute Hab euch auch lieb Das tun wir mal gepflegt ignorieren Man fühlt sich hier richtig verarscht langsam Ne ich verkauf flöten piuu piuu background liebe Also 13 Uhr ist eine gute Uhrzeit um Sonntags aufzustehen. Brauchen wir noch einen werkzeugkoffer? Das macht so irgendwie keinen Sinn. Aber ich hab halt kein Excel Wieder mal ne richtig nice rpobe! Hab euch lieb

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Ja Aber der Bus ist weg Achjaa zum thema gegenseitige Befruchtung Also morgen pünktlich!

Was soll das sein? Hä Das wär schön Wann müssen wir morgen wo sein?

Hey Jungs ich muss euch für heut und morgen absagen, ich hab zeitlich unterschätzt was ich alles machen muss..

So eilet herbei hier gibts viel zu tun doch ich bin allein verletzt und kann nur kleines und Ruhen.

Man fühlt sich hier richtig verarscht langsam

Also Jan und Colin gehen beide nicht ran.

He y ich steh hier vor verschlossener Türe

akku leer gwesen sry

Habt ihr noch vor zu kommen?

nice wir sind uns mal einig. Ein Moment für die Geschichtsbücher.

Hat jmd die Nummerw vom Veranstalter? Bin um 10 am Start zum Teppich bau

Alter Leute Und keine Grundsatzdiskussion bevor wir nicht zwei Stunden geprobt haben!

eeeh flo? pass das so? Jungs essen wird kalt

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Ne

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Kannst du dich mal erklären? Niemand versteht was du meinst

Ich kann heut nicht Aber probt ohne mich des past

Deine Message ist echt verwirrend flo, ich kann flo verstehen Colin*

Ja wär nice wenn es tatsächlich klappt

Traumgestalten besitzen oft einen Ich Anteil Kann jmd Brot bringen? Hey Leute ich hab die Bahn verpasst bin um 12:38 erst da Kann ja sein dass es untergeht So wie gerne mal Sachen unter gehen mmein handy is beim arbeiten drauf gegangen/ einfach kapput gegangen, Nehmt das mal als richtigen Termin war!! Kindergarten Lies doch einfach bitte nochmal die Nachricht Leute ich hab schwarzen Nagellack

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Letztes Mal kam er dann 40 Minuten zu spät.

Ich vermiss euch Jungs so sehr! Hab so Bock auf Mukke machen mit euch süßen Wtf 208 Nachrichten was geht ab jooooo akku war leer

Wo seit ihr alle!!!!!1 Hat mir jmd ein Hadny lel Ich bin Musiker, kein Handwerker Ja keine Ahnung Flo ist nicht zu erreichen, wahrscheinlich proben wir heute gar nicht. Hab theoretisch eigentlich Unterricht Aber ich kann auch krank sein Nö Ich mach heut gornix Bei uns kommt der klämptner Jes Us Heut gibts ne uberraschung

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Zu meiner verteidigung louis armstrong hat sehr früh angefangen pott zu smoken und seit dem jeden tag Würd zwar gerne aber kann nicht Jungs ich hab verpennt. Verschiebt sich wahrscheinlich alles ein bisschen Flo dein Handy würde im Kellerklub abgelegenen *Abgegeben he y ich komm doch noch, seit ihr noch dap? Ich hab von den anderen nix gehört die pennen wahrscheinlich noch.

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»IM JAHR ZWEITAUSENDSIEBZEHN DANN, FANDEN SIE MIT JAN KASSNER AM BASS UND FLORIAN MEERWEIN AM SCHLAGZEUG ENDLICH ZWEI EBENSO LEIDENSCHAFTLICHE MITSTREITER. DIE DIRTY WATERS WAREN GEBOREN. BEREITS NACH WENIGEN MONATEN DES GEMEINSAMEN MUSIZIERENS WAREN DIE KONZERTE REGELMÄSSIG GUT BESUCHT UND EINE KLEINE, ABER LOYALE UND ÄUSERST SYMPATHISCHE FANGEMEINSCHAFT HATTE SICH GEBILDET.«

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Sänger und Rhythmusgitarrist Colin Bast und Leadgitarrist Florian Engelhardt, beide aus der selben süddeutschen Kleinstadt stammend, haben bereits im zarten Alter von zwölf Jahren angefangen gemeinsam Musik zu machen. Damals wie heute, war es wohl in erster Linie die Leidenschaft, die die Mühlen der noch blutjungen Musiker angetrieben hat. Denn ihre allerersten musikalischen VERSUCHE 1 sind wohl eher schlecht als recht zu bewerten und Zuspruch aus dem Freundeskreis war dementsprechend wenig zu erwarten. Einige Jahre vergingen und der Ehrgeiz wurde belohnt, die Musik wurde immer besser. Nach dem Abitur war dann klar, dass man einen ernsthaften Versuch starten wolle, in der Musikbranche Fuß zu fassen und so wurde erst mal alles hinten an gestellt, um den gemeinsamen Traum zu verfolgen. Im Jahr zweitausendsiebzehn dann, fanden sie mit Jan Kassner am Bass und Florian Meerwein am Schlagzeug endlich zwei ebenso leidenschaftliche MITSTREITER 2. Die Dirty Waters waren geboren. Bereits nach wenigen Monaten des gemeinsamen Musizierens waren die Konzerte regelmäßig gut besucht und eine kleine, aber loyale und äußerst sympathische Fangemeinschaft hatte sich gebildet. Aus Bandkollegen wurden Freunde und das gemeinsame Projekt zum Mittelpunkt ihres Lebens. ¶ Musikalisch bewegen sich die Dirty Waters in einem weiten Spektrum. Zwar sind sie allesamt große Bewunderer der sechziger und siebziger Jahre, verfallen dabei aber nicht in Nostalgie, sondern begrüßen auch die musikalische Vielfalt, die die heutige Zeit zu bieten hat. Das Ergebnis ist authentische, zeitgenössische Rockmusik, die trotz deutlich spürbarem traditionellen Ursprung nicht aus der Zeit gefallen wirkt. Dabei sind von wütend und laut bis hin zu melancholisch und leise alle Ausführungen vorhanden. Ein Konzert der Dirty Waters gleicht einer Segelfahrt über das Meer. Mal bekommt man einen sternklaren Nacht1 — Vor den Dirty Waters hatten Colin Bast und Florian Engelhardt einige andere musikalische Projekt. Allerdings legte keiner ihrer ehemaligen Bandkollegen die gleiche Ernsthaftigkeit und Leidenschaft an den Tag, wie es die beiden taten. Mitmusiker kamen und gingen, doch Colin Bast und Florian Engelhardt hielten stets zueinander. — 2 — Auch Jan Kassner und Florian Meerwein hatten Einiges an Band-Erfahrung vorzuweisen, als die Dirty Waters sich gegründet haben. Insbesondere Florian Meerwein – der Älteste der Band – hatte bereits in unzähligen musikalischen Projekten mitgewirkt.

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himmel zu sehen, mal einen beinahe kitschigen Sonnenuntergang, mal hat man es mit hohem Wellengang zu tun und mal mit einem gnadenlosen Unwetter. ¶ Bei den Dirty Waters gibt es keinen musikalischen Leiter. Basisdemokratisch werden alle kreativen Entscheidungen gemeinsam im Proberaum gefällt. Hitzige Diskussionen sind dabei oftmals unumgänglich, doch es lohnt sich, denn so steht jeder Einzelne zu hundert Prozent hinter der gemeinsam komponierten Musik. Vor allem live kann man das spüren, denn für eine gute musikalische Darbietung ist Authentizität oftmals unerlässlich. Nur wer spielt, was er von ganzem Herzen auch meint, ist dazu in der Lage das Publikum mitzureißen. Die Spielfreude, die die Dirty Waters dadurch an den Tag legen, sucht vergeblich ihresgleichen. ¶ Ein weiteres eklatantes Merkmal ihrer Musik ist die Neigung zu chaotischen Zuständen. Immer wieder bekommt man es mit abstrakten Gebilden aus GITARREN-RÜCKKOPPLUNG 1 und affektiertem Schlagzeugspiel zu tun. Die fulminante Energie, die dabei entsteht, spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass ihre Konzerte regelmäßig von brachialen POGO-TÄNZEN 2 begleitet werden. In einem solchen Moment wird besonders deutlich, dass sie trotz ihrer modernen Ausrichtung der destruktiven Tradition der Rockmusik treu bleiben. ¶ Dieser Hang zum Chaos begleitet die Band auch in ihrem Alltag. Sie ist außer der Liebe zur Musik, die zweite weniger tugendhafte Eigenschaft, die die vier jungen Männer miteinander verbindet. Sie ist womöglich auch ein entscheidender Grund dafür, dass es der Band noch nicht gelungen ist, sich über den Kesselrand hinaus einen Namen zu machen. Es besteht zwar gemeinhin die Annahme, dass Rockmusik und Chaos Hand in Hand gehen, doch wer selbst einmal versucht hat, kreativ tätig zu werden, weiß, dass es ohne Struktur und Disziplin nur sehr 1 — Als Rückkopplung oder Feedback bezeichnet man ein akustisches Phänomen, das dadurch zustande kommt, dass ein Schallempfänger sein eigenes verstärktes Ausgangssignal, das beispielsweise über einen Lautsprecher wiedergegeben wird, erneut aufnimmt. Das erneut empfangene Signal wird immerfort nochmals verstärkt und wiedergegeben. Dabei entsteht ein charakteristisches, meist als schrill empfundenes Pfeifen — 2 — Der Pogo ist ein Tanz, der seine Ursprünge in der Punk-Szene der 1970er Jahre hat. Er besteht im Wesentlichen aus kurzem und heftigem Körperkontakt zu anderen ebenfalls Tanzenden.

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schleppend voran geht. Und so kommt es, dass auch die Dirty Waters sehr unter ihrem Habitus leiden. Zwar haben sie bereits einige kleinere Erfolge zu verzeichnen — über fünfzig Konzerte in zweieinhalb Jahren, eine stetig wachsende Fangemeinschaft und eine bezahlte Mini-Tour in Mexiko sind dabei in besonderem Maße hervorzuheben — doch lässt der große Durchbruch noch auf sich warten. Dabei könnte diese Band genau das sein, was es braucht um der eingestaubten Rockmusik wieder neues Leben einzuhauchen und sie ins einundzwanzigste Jahrhundert zu katapultieren. ¶ Denn wer sich zur heutigen Zeit die popkulturelle Landschaft etwas genauer anschaut, der muss unweigerlich feststellen, dass vor allen Dingen die Rockmusik-Szene von Nostalgie geprägt ist. So kommt es, dass vor lauter Ehrfurcht vor der goldenen Ära die Gegenwart völlig außer Acht gelassen wird oder schlimmer noch in alter „Früher war alles besser“-Manier kategorisch abgelehnt. Schlaghosen auf der Bühne zeugen in so einem Fall dann nicht mehr von Style sondern schlichtweg von Engstirnigkeit. Es steht außer Frage, dass die vergangenen Höhepunkte der Rockmusik einzigartig und fantastisch waren. Der Freigeist und das politische Bewusstsein der sechziger Jahre, die Rebellion und Aufmüpfigkeit der Punk-Bewegung und die Grunge-Kultur der Neunziger. Alle eben genannten Phänomene sind zweifelsohne von ungeheurem kulturellem Wert. Doch wenn man rückwärtsgewandt an die Sache herangeht, raubt man der Rockmusik jede Chance auf einen weiteren Höhepunkt. ¶ Dass die HEADLINER-POSITIONEN 1 etlicher Rockfestivals äußerst selten von jungen Bands belegt werden, macht diesen Sachverhalt besonders deutlich. Es sind seit zwanzig Jahren die immer gleichen Namen, die die ersten Zeilen des LINE-UPS 2 bestimmen. Dabei kann man eine Band wie AC/DC lange schon 1 — Im Musikjargon bezeichnet der Begriff Headliner heute zumeist einen für das Publikum aus Veranstaltersicht vermuteten „bekanntesten“ Künstler unter denjenigen, die als Musiker oder Band bei einem Konzert oder Musikfestival auftreten. Der Ausdruck rührt daher, dass diese Künstler oder Gruppen auf Plakaten meist plakativ genannt werden, um möglichst viele Zuschauer anzuziehen. Im Regelfall spielt ein Headliner am Ende des Konzerts und erhält die längste Spielzeit. — 2 — Der Begriff Line-Up bezeichnet das Programm teilnehmender Musiker und Künstler bei einem Festival. In den ersten Zeilen des Line-Ups sind in der Regel die Headliner aufgeführt.

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nicht mehr als Künstler ernst nehmen. Hierbei hat man es vielmehr mit einem Unternehmen zu tun. Es ist wie ein großer Nostalgie-Zirkus, der übers Land fährt. Dabei spielt es auch keine Rolle, wenn ein Bandmitglied mal nicht mehr kann. Die freie Stelle wird einfach neu besetzt. Damit der Rubel rollt. T-Shirt, Flagge, Poster und sogar die Pfandbecher sind mit dem Firmenlogo gebrandet. Mit Authentizität hat das nichts mehr zu tun. ¶ Darum braucht es möglicherweise eine Band wie die Dirty Waters. Eine Band, die der Rockmusik wieder zu ihren Lebensgeistern verhilft, die sie damals so groß gemacht haben. Jugendlicher Freigeist, oder wie Nirvana Frontmann Kurt Cobain einst besungen hat: Teen Spirit. Eine Band, die das Chaos zelebriert und ungebändigter, animalischer Energie Ausdruck verleiht. ¶ Abschließend lässt sich sagen, dass es zwei wesentliche Aspekte gibt, die die gemeinsame Identität der Dirty Waters definiert. Ihr Hang zum Chaos und ihre von bemerkenswerter Spielfreude geprägte Live-Performance. ¶

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»VERZWEIFELT HAT MAN VERSUCHT MIT WILLKÜRLICH AUFGEHÄNGTEN LICHTERKETTEN UND HIPPIETÜCHERN EIN ANGENEHMES AMBIENTE ZU SCHAFFEN, DOCH DAS CHAOS HAT SICH WIEDER MAL, GLEICH EINEM ÄUSSERST AMBITIONIERTEM SCHIMMELPILZ, IM GANZEN RAUM AUSGEBREITET.«

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Die Bombe hat schon wieder eingeschlagen. Dieses Sprichwort trifft im Proberaum der Dirty Waters ungewöhnlich häufig zu. Leere Tupperschüsseln und Zigarettenkippen sind mindestens genau so häufig anzutreffen wie zerbrochene Drumsticks und leere Drehtabakverpackungen. Verzweifelt hat man versucht mit willkürlich aufgehängten Lichterketten und Hippietüchern ein angenehmes Ambiente zu schaffen, doch das Chaos hat sich wieder mal, gleich einem äußerst ambitioniertem Schimmelpilz, im ganzen Raum ausgebreitet. Dabei fehlt es den vier jungen Musikern nicht an Einsicht. Regelmäßig wird der Raum in hoch motiviertem Sauberkeitswahn fast komplett reine gemacht. Doch dieser Zustand hält dann oftmals nur wenige Tage an. Es ist als würde man versuchen bei Windstärke zwölf Laub zu kehren. Eine SISYPHOS-ARBEIT 1. ¶ Auch der Kleinbus, der den Dirty Waters als Fortbewegungsmittel dient, ist zu einem ähnlichen Schicksal verdammt. Die Pfandflaschen, die seit dem vorletzten Konzert darin vergammeln, sind wahrscheinlich mehr wert als das Auto selbst und im Handschuhfach ( immerhin ) sammelt sich allerlei verlorenes Hab und Gut von mitgefahrenen Freunden der Band. Geldbeutel, Schlüssel und diverse Handys warten darauf von ihren rechtmäßigen Besitzern abgeholt zu werden. ¶ Im Bus gibt es nur eine Regel: Kein Bier. Das hat den einfachen Grund, dass es bisher noch keinem Mitfahrer gelungen ist den Inhalt seiner Bierflasche ausschließlich in den Mund zu befördern. Der fleckige Boden des Fahrzeuginnenraums macht diesen Sachverhalt nur all zu deutlich. Allerdings wird diese Regel – zum Leidwesen der einzigen beiden Bandmitglieder mit Führerschein, die am Genuss eines Bieres im Bandbus selbstverständlich wenig Freude haben – nur sehr inkonsequent eingehalten. Schlimmer als jetzt sieht der Bus nur direkt nach den Konzerten aus. Zwar gleicht der geräumige Kofferraum auf dem Weg zu einem sol1 — Als Sisyphos-Arbeit bezeichnet man heute Aufgaben, die trotz größter Anstrengung nie fertig gestellt werden können. Zurückzuführen ist diese Bezeichnung auf die Geschichte des Helden Sisyphos in der griechischen Mythologie. Durch einen Verrat an den Göttern zog der antike Held den Groll dieser auf sich und wurde dafür in der Unterwelt grausam bestraft. Seine Strafe bestand darin, einen großen Felsen einen steilen Hang hinaufzurollen. Immer kurz bevor er das Ende des Hangs erreichte, entglitt ihm der Stein, und er musste wieder von vorn anfangen.

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chen Ereignis nicht selten einem grandios gemeisterten Tetris-Spiel, doch wenn es ans Abbauen geht, so ist die anfängliche Motivation Ordnung zu bewahren in der Regel verflogen. Das Equipment wird dann achtlos aufeinander geschmissen und zur Hauptsache wird, dass die Türen sich schließen lassen und wenigstens der Fahrersitz frei von Unrat ist. ¶ Das Chaos ist ein ständiger Begleiter der Dirty Waters. Zwar wird regelmäßig versucht, dass durchaus bewusste Laster in den Griff zu kriegen, doch Inkonsequenz und Mangel an Disziplin lassen dergleichen Vorhaben immer wieder aufs Neue scheitern. Das hat zur Folge, dass sie regelmäßig zu spät zu Proben und Konzerten kommen und größere Projekte zu unbestreitbaren Herausforderungen werden. Obgleich ein gewisses Maß an Chaos zum Wesen der Rockmusik gehört, steht es außer Frage, dass um ein musikalisches Projekt proffessionell aufzuziehen Struktur und Disziplin unabdingbar sind. ¶

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»DIE BÜHNE ERWECKT NUR DEN OBERFLÄCHLICHEN ANSCHEIN EINER HIERARCHIE. IN WAHRHEIT JEDOCH SIND ALLE GRENZEN AUFGEHOBEN. DENN OHNE PUBLIKUM KÖNNTE DIESES EREIGNIS EBEN SO WENIG STATTFINDEN, WIE OHNE BAND. ES IST KEINE DARBIETUNG MEHR, SONDERN EINE PARTY. ES WIRD GEMEINSAM GEFEIERT. DAS LEBEN, DIE LIEBE, DIE FREIHEIT, JEDER WIE UND WAS ER WILL.«

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Der Schweiß tropft von der Decke. Nackte Oberkörper drängen sich dicht an dicht. Alles ist so nass, dass die Zigarette, die man sich gerade gedreht hat, längst wieder in ihre Einzelteile zerfallen ist bevor man überhaupt die Chance hatte in seinen Hosentaschen nach einem Feuerzeug zu suchen, festzustellen, dass man keines hat und den ekstatisch, tanzenden Nebenmann zu fragen ob man sich eins borgen könne. Zu fragen heißt in so einem Fall natürlich nicht den Mund zu öffnen, und die nötigen Worte auszusprechen, denn die Flut an Schallwellen, die von der schäbigen Bühne auf einen einprasselt lassen einer menschlichen Stimme keine Chance, gehört zu werden. Nein, so eine Frage würde darin bestehen, die zerknitterte Zigarette in den Mund zu nehmen und sie mit einem imaginären Feuerzeug anzuzünden, während man dem ekstatisch tanzenden Nebenmann dabei kurz in die Augen schaut. Er wird wissen was gemeint ist. Aber es spielt keine Rolle, denn die Zigarette ist längst wieder hin und sowieso wär der entspannte Genuss einer solchen unter diesen Umständen kaum möglich. Es ist laut. So laut, dass viele Stunde später im Bett die Ohren pfeifen werden. Aber das stört nicht. Es muss so laut sein, sonst würde es nicht funktionieren. ¶ Band und Publikum sind eins in so einem Moment. Die Bühne erweckt nur den oberflächlichen Anschein einer Hierarchie. In Wahrheit jedoch sind alle Grenzen aufgehoben. Denn ohne Publikum könnte dieses Ereignis eben so wenig stattfinden, wie ohne Band. Es ist keine Darbietung mehr, sondern eine Party. Es wird gemeinsam gefeiert. Das Leben, die Liebe, die Freiheit, jeder wie und was er will. Ein gutes Konzert ist eine Seltenheit. Es bedarf einer ordentlichen Portion Mut. Mut zum Kontrollverlust. Mut zur Spontanität. Mut zur Ekstase. All zu oft scheitert es daran, dass die Darbietenden versessen darauf sind ihre Platte zu präsentieren. Taktgenau wie auf der offiziellen Studioaufnahme. Jegliche Flexibili-

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tät wird eingebüßt. Die Songs sind sozusagen mit Fixierspray überzogen. Die Platte konserviert die Idee, setzt einen Punkt dahinter. Aus darstellender Kunst wird bildende Kunst. Dabei lebt die Musik von Spontanität und Authentizität. Von Improvisation und Bauchgefühl. Wer seinen Songs auf der Bühne jede Möglichkeit nimmt, mit dem Moment zu reagieren raubt der Musik ihre Lebensgeister. Und auch das Publikum hat keine Chance mehr die Band in ihren Bann zu ziehen. ¶ Dass die Dirty Waters eine hervorragende Live-Band sind steht außer Frage. Zweifelsohne sind ihre Darbietungen häufig von Patzern und Fehlern begleitet, doch Virtuosität ist nicht der entscheidende Faktor für ein gutes Konzert. Es geht um die Qualität des Vibes. Die enge Vertrautheit mit ihrem Publikum und die noch jungfräuliche Natur ihrer Musik schaffen eine Atmosphäre, die nur äußerst selten anzutreffen ist. ¶

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Dieses Buch ist im Rahmen eines Projektes der Klasse Prof. Gerwin Schmidts entstanden — Studiengang Kommunikationsdesign an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. — Konzept und Gestaltung: Florian Engelhardt — Fotos: Arne Grasshoff; Florian Engelhardt — Schriften: Helvetica Medium Condensed; Helvetica Bold; Helvetica Regular

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Auszug aus dem Songtext von Cachaos


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