Ein Denkprozess. Zukunft gestalten durch Architektur

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Ein Denkprozess



»To everything there is a reason. Yes. A time to break down, and a time to build up. Yes. A time to keep silence and a time to speak. Yes, all that. But what else. What else? Something, something. …«1


»In tiefen Höhlengängen entstanden Hunderte von Wandbildern: Geritzt, gezeichnet, gemalt. Auch ihre Bedeutung war magisch, ihre Herstellung selbst mag einer Kulthandlung geglichen haben, denn die meisten dieser Bilder finden sich weit weg vom Tageslicht in oft mehrere Hundert Meter langen Höhleingängen. […] So wurde die Kunst geboren. Vor fast 40000 Jahren punzte [der Cro-Magnon-Mensch] die ersten Umrisse einer menschlichen Hand in eine Felswand von Baru-Bahau, einer südfranzösischen Höhle.[…]In der Höhle von Rouffignac, in Font-de-Gaume und anderenorts zeichnete er Tiere mit Stiften aus Manganoxid; in Niaux, im berühmten nordspanischen Altamira und in der nicht minder bekannten französischen Höhle von Lascaux schuf er polychrome Kunstwerke von beeindruckender Ausdruckskraft. Als Farben benutze er Erdpigmente, Metalloxide, die er rein oder mit Wasser und tierischen Fetten anrührte. Er trug sie mit der Hand auf und mit Pinseln aus Knochenröhrchen, in denen Tierhaarbüschel staken.[…]Durch dünne Röhrchenknochen blies er Frabpulver auf die feuchte Höhlenwand. Das Wasser band den Farbstaub; und das in diesem Sickerwasser gelöste Kalzit, das sich im Lauf der Zeit als Kalksinter an den Wänden niederschlug, konservierte die Kunstwerke.«2

1 Ray Bradburry, Fahrenheit 451, New York: Simon & Schuster Paperbacks 2012, S. 158. 2 Bodo Harenberg, Chronik der Menschheit, Harenberg: Chronik Verlag 1988, S.14.



Zu jeder Zeit setzen sich Menschen mit ihrer politischen und sozialen Umgebung auseinander und reagieren auf sie. Das betrifft auch den รถffentlichen Raum. Kaum etwas spiegelt so sehr gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen wieder wie Architektur. Sie ist also immer auch inhaltlich. Architektur ist eine dynamische Praxis. Sie ist niemals vorbei, sondern bildet sich immer wieder neu. Erst durch die Reflexion ihrer Entwicklung wie auch der Gegenwart kann auf eine Zukunft verwiesen werden, die ihre gesellschaftliche Wirkung in den Vordergrund stellt. Eine kritische Architektur verweist auf die Mรถglichkeit einer besseren Zukunft. Auch scheint sie notwendig, um das Bestehende immer wieder neu zu hinterfragen, ebenso wie das Vergangene. Dieser Prozess hat das Potenzial, eine Gegenposition einzunehmen und ist ein essenzieller Bestandteil unserer Gesellschaft.

ein Projekt von Sophie Kraft


Ein Denkprozess. Zukunft gestalten durch Architektur


Inhalt


Vorwort 022 – 023

Entwerfen – Unterwerfen? 024 – 035 Was bleibt? Potenziale (wieder)sehen. 036 – 039

Architekturgeschichte Marc Hirschfell 040 – 045 Denkmalpflege Martin Hahn 046 – 047 Architekturgeschichte Brigitte Sölch 048 – 049

Architektur wahrnehmen 050 – 053 Architektur in Stuttgart 054 – 065

Zerstörung 066 – 097 Monte Scherbelino 098 – 099 Neubau oder Instandsetzung? 100 – 103 Archivmaterial 104 – 165 Produkte ihrer Zeit 166 – 169

Richard-Döcker 170 – 173

größer, höher, dichter 174 – 179

Sharing Brutalism Constantin Hörburger 180 – 185

Stuttgart reißt sich ab 206 – 209 Nachhaltigkeit in der Architektur 210 – 211

Adornos Ästhetische Theorie als politische Kritik 212 – 217 Design ist unsichtbar 218 – 221

Prozess

Baukulturregister Stuttgart 50er – 70er Jahre Übersicht und Detail 186 – 205

Erinnerung

Protest

Erbe – Bestand – Zukunft 222 – 237

Dialog

Baukultur

bewahren, erneuern und verbessern 238 – 241 Resumée


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»Es herrscht zweifellos in unserer Gesellschaft […] ein stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussage, vor allem, was es da Gewaltiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses.«1 1

Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 33.

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Vorwort

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Zu jeder Zeit setzen sich Menschen mit ihrer politischen und sozialen Umgebung auseinander und reagieren auf sie. Das betrifft auch den öffentlichen Raum. Kaum etwas spiegelt so sehr die Identität einer Stadt wieder wie Architektur. Sie ist identitätsstiftend und identitätsfördernd. Sie spiegelt gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen wieder und ist somit immer auch selbst ein Teil der Geschichtsschreibung. Architektur wird im Kontext der Gesellschaft hergestellt und bezieht sich so zwangsläufig auf diese. Sie ist also immer auch inhaltlich. Will sie wahrgenommen werden, muss sie sich ausdrücken. Sie ist also ästhetisch. In ihrer Komplexität bringt sie möglicherweise auch das zum Vorschein, das anders nicht ausgedrückt werden kann. Sie gestaltet die Umwelt, in der wir uns bewegen. Architektur ist eine kontinuierliche, essenzielle und dynamische Praxis. Sie ist niemals vorbei, sondern bildet sich immer wieder neu. Dieser Prozess ist ein Potenzial. Es wäre problematisch historische Linien der Entwicklung auszublenden. Genauso problematisch wäre es diese historischen Linien zu verherrlichen. Sie müssen ebenso kritisch hinterfragt werden. Erst durch die Reflexion eben dieser Entwicklung wie auch der Gegenwart kann auf eine Zukunft verwiesen werden. Auf die Zukunft einer Architektur, die ihre gesellschaftliche Wirkung in den Vordergrund stellt. So muss also auch der Umgang mit Architektur immer wieder aufs Neue hinterfragt werden. Etwas »öffentlich bezeugen / beweisen / darlegen oder aussagen« lässt sich auf das lateinische Wort protestari zurückführen. Architektur birgt in ihrem Prozess teilweise Elemente des Protests. Der Protest zeugt von einem widerständigen, anderen, gegen die Ordnung gerichteten Moment. Er findet in öffentlichen Räumen statt und bezieht sich auf die Gesellschaft. Somit setzt er sich auch mit der Gesellschaft auseinander, gestaltet sie mit und sagt indirekt bzw. auch direkt etwas aus. Er ist eine kulturelle Praxis. Diese kulturelle Praxis ist politisch. Eine kritische Architektur verweist auf die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Auch scheint sie notwendig, um das Bestehende immer wieder neu zu hinterfragen, ebenso wie das Vergangene. Dieser Vorgang hat das Potenzial, eine Gegenposition einzunehmen und ist ein essenzieller Bestandteil unserer Gesellschaft. Man geht davon aus, dass sich »die Bewohnbarkeit einer Stadt dem Bürger auf dreierlei Ebenen erschließt: im historischen Ambiente, in der Infrastruktur und in der kritischen Teilhabe am Prozeß der Entwicklung der Stadt.«1 Der Umgang mit den Ruinen zerstörter Gebäude von historischem und / oder künstlerischem Wert ist jedoch aufschlussreich für das Verhältnis zur Geschichte. Bis vor einigen Jahren existierte noch das Wort »Baukunst«, welches jetzt von dem Wort »Architektur«2 abgelöst wurde. »Wie auch in anderen Bereichen historischer Kunstwerke hat die Baugeschichte (scheinbar) objektive Qualitätskriterien an die in einem Stadtensemble dokumentierten baukünstlerischen Leistungen zu legen versucht.«3 Die Bauten der Nachkriegszeit prägen das Bild der Stadt, besonders das der Stadt Stuttgart. Sie gehören zum Alltag und werden nicht bewusst wahrgenommen. Die Qualitäten des »ungeliebten baukulturellen Erbes«4 kann man oft erst auf den zweiten Blick erkennen. Viele Besonderheiten der Epoche sind vergessen worden, auch wegen fehlenden Plänen und Unterlagen der Zeit.5 Die Debatte über die Nachkriegsarchitektur sowie der Umgang mit ihr lässt sich häufig auf eine mangelnde Geschichtsreflexion zurückführen. Die Architektur muss also mit unserem heutigen Wissen neu hinterfragt werden. Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz schrieb Mitte der 1980er Jahre, dass »die geschichtliche Hinterlassenschaft aus der unmittelbaren Vergangenheit schon vom Generationenverständnis her grundsätzlich einer mangelnden Wertschätzung ausgesetzt ist und damit leichter zur Verfügungsmasse für heutiges Baugeschehen wird.«6 Wie kann aus etwas Altem etwas Neues entwickelt werden? Wie sollte die Stadt aus gesellschaftlicher und künstlerischer Sicht umgedacht werden? In den letzten Jahren hat sich die Stadt Stuttgart durch zahlreiche Neubauten stark verändert. Auch aus der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg und den Bauten von damals können Wege für künftiges Bauen gefunden werden. Zu dieser Zeit sah man sich mit ähnlichen Anforderungen konfrontiert. Die Bauten von damals bieten heute Potenziale, besonders in Hinblick auf aktuelle Herausforderungen, versteht man die Gebäude vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Gegenwart kann mitgestaltet und gleichzeitig die Idee, das Konzept erhalten werden. Geschichte wirkt weiter im Sinne einer lebendigen Tradition. Es gilt Potenziale wiederzuentdecken, die Bausubstanz in einem offenen, kritischen, respektvollen und historischen Umgang zu betrachten und weiterzudenken. Die Qualität guter Bauten bleibt, wenn sie erkannt wird. Es ist nötig deren Wert für die Identität unserer Städte zu erkennen. Diese Auseinandersetzung stellt den Versuch einer kritischen Reflexion der architektonischen Vergangenheit der Stadt Stuttgart dar, vor allem der 50er bis 70er Jahre. Sie möchte die gegenwärtigen Herausforderungen in ebendiesem Kontext erläutern. Die Auseinandersetzung stellt nicht einen Versuch dar, auf eine bessere Vergangenheit zu verweisen, im Gegenteil. Sie verweist auf eine bessere Zukunft, die einen kritischen, gesellschaftlichen Umgang miteinschließt. 1 Frank Werner, Alte Stadt mit neuem Leben. Architekturkritische Gänge durch Stuttgart, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH 1976, S. 12. 2 Ebd., S. 15. 3 Ebd., S. 15. 4 Karin Hopfner, Christina Simon-Philipp, Claus Wolf (Hg.), größer höher dichter. Wohnen in Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre in der Region Stuttgart, Stuttgart und Zürich: Karl Krämer Verlag 2012, S. 263. 5 Vgl. Ebd.

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6 Ralf Lange, Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Planen und Bauen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von 1960 bis 1975, Bonn: Schriftenreihe des Deutschen Nationalkommitees für Denkmalschutz, 1. Auflage, Band 65, 2003, S. 5.

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Entwerfen – Unterwerfen? Architektur und Gesellschaft. Brennpunkt Architektur 11. 12. 2019

Moderation: Prof. Peter Krebs […]Ist Architektur selbst überhaupt gesellschaftlich wirksam? Das ist eine Frage, die sich stellt, über die wir heute sprechen werden. Ist das, so dass man mit Architektur etwas gesellschaftlich bewirkt oder ist Architektur nicht viel mehr nur Dekoration? Und wenn überhaupt etwas gesellschaftlich wirksam ist, ist es dann auch eher die Aufgabenstellung oder der Standort? Und dann haben wir an zweiter Stelle gesagt, wir werden sehen, was die vier Referenten jetzt zu diesem Thema sagen, und wenn Architektur gesellschaftlich wirksam ist, stellt sich ja die Frage, was haben wir als Architekten, Architektinnen, als Gestalter überhaupt für einen Einfluss zumindest auf die Faktoren, die vielleicht gesellschaftlich wirksam sind. Haben wir einen Einfluss, die Auftraggeber, die Geldgeber, die Bauherren? […]Wir beginnen mit vier Kurzstatements. Jeder Teilnehmer stellt jeweils zwei Projekte vor, die gesellschaftlich wirksam sind.[…] Gesellschaftlich wirksam ist ja ein großes Wort. Es fragt nicht nach der Wirkung von Architektur auf den Einzelnen, das wissen wir, dass Architektur eine Wirkung hat, dem einen gefallen Räume, die anderen vielleicht nicht gefallen, das ist dann eine sehr persönliche Ebene. Es gibt Räume in denen man sich weniger wohlfühlt oder mehr wohlfühlt, aber die Frage, ob es einen gesellschaftlichen Einfluss gibt, also den Einfluss auf eine Gruppe und sogar vielleicht das Handeln der Gruppe ein Stück bestimmt oder sogar das Denken, das ist die Frage. Und ich glaube, dass jeder zustimmen wird, dass Architektur eine Wirkung auf die Gesellschaft haben kann, einfach dadurch beispielsweise was und wo gebaut wird, wenn man beispielsweise die großen Kitaprogramme sieht in den letzten 30 Jahren auch hier bei uns in Deutschland, die haben natürlich eine große gesellschaftliche Veränderung bewirkt oder waren Ergebnis einer gesellschaftlichen Veränderung, aber die Frage die sich stellt für uns heute Abend: Spielt auch die Architektur der Kitas selbst eine Rolle? Macht sie etwas mit den Kindern und Erziehern beispielsweise, die in den Kitas leben und arbeiten und wenn ja was.[…]Den Start macht […] Prof. Jens Oberst.[…] Prof. Jens Oberst Etwa dreihundert oder vierhundert Meter von der Pyramide entfernt beugte ich mich, nahm eine Hand voll Sand, ließ ihn etwas weiter in die Stille fallen und sagte mit leiser Stimme ich verändere die Sahara. Die Tat war minimal aber die geistreichen Worte waren exakt und ich dachte, dass mein ganzes Leben notwendig war um sie sagen zu können.[…] So Jorge Luis Borges vor etwa hundert Jahren. Borges verweist mit diesen Zeilen auf die Auswirkungen kleinster Eingriffe, eine Hand voll Sand vor dem Hintergrund der Pyramiden, und es kann ja keinen größeren Hintergrund geben als dieses Weltwunder. Er stellt diese Veränderung aber nicht nur in einem räumlichen und aufgrund des Wunders in einem universalen Kontext fest, sondern auch als Reflexion also in Bezug auf sein eigenes Dasein. Diese zwei Eigenschaften sind für die Relevanz zwingend und voraussetzend. Kontextueller Bezug, der Bezugsraum kann aus meiner Sicht nicht groß genug sei.[…]Jeder bauliche Eingriff bedingt eine Zerstörung. Dieses Zitat, diese Aussage von Luigi Snozzi kennt sicher jeder hier in dem Raum. Borges sprach noch von Veränderung. Snozzi geht einen Schritt weiter, denn er bewertet die Veränderung. Er nennt sie zerstörerisch. Die übertrieben negative Konnotation nehme ich ihm dabei nicht übel, ich nehme es auch nicht ganz ernst. Sie ist notwendig, um die Aufforderung, mit Verstand zu zerstören, folgen lassen zu können. In dem Moment ist Snozzi einfach nur Lehrer. Wichtiger als eben dieses pädagogische Motiv ist mir die Feststellung,

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dass eine Veränderung durch ihre Auswirkungen bewertbar ist. Die Bewertbarkeit ist die dritte Eigenschaft, die sich die Relevanz einfordert. Eine Bewertung kann jedoch nur stattfinden, wenn wir uns über die Kriterien klar und einig werden und diese durch den gesellschaftlichen Diskurs verbindlich machen, wenn wir uns als Gemeinschaft damit identifizieren. Wer also nach der Wirkung von Architektur und ihrer Relevanz fragt, muss zunächst die Frage beantworten, wer sind wir oder wo stehen wir. Dies gilt überall auf der Welt. Haben wir keine verbindlichen Kriterien, haben wir auch keinen Hintergrund, keine Projektionsfläche auf der sich unser Wirken abzeichnet. Jede Bewertung bliebe unsichtbar. Oder, das zeige ich mit dem kommenden Beispiel, verändert sich der Hintergrund, verändert sich auch die Relevanz und üblicherweise löst sie sich sogar auf. Einige von Ihnen kennen dieses Projekt, die Fakultät für Architektur und Urbanistik, Universität Sao Paulo. Es ist nicht zufällig eine Fakultät für Architektur, die ich rausgesucht habe. Als in den 60er Jahren Brasilien seine Militärdiktatur überwand, widmete sich eine Gruppe junger Architekten um Vilanova Artigas in Sao Paulo im Gegensatz zur Entwicklung um Niemeyer in Rio, die sich dort an der Moderne Europas und der USA orientierten, an den molekularen Architekturen der indigenen Amazonasbewohner. Die Yawalapiti definieren ihre Identität auch baulich durch große Gemeinschaftsräume. Artigas nimmt in seiner Folge der junge Mendes da Rocha […] und quasi als Widerständler in Rio Affonso Eduardo Reidy interpretieren in ihren Bauten den Raum immer als Raum des Öffentlichen.[…]Die Relevanz dieses Bauwerkes ist für die Euphorie und das Selbstverständnis einer brasilianischen Gesellschaft im Aufbruch kennzeichnend, identitätsstiftend. Artigas übersetzte dies intelligent eindrucksvoll und nachvollziehbar. Für mich ist dieses Haus mein Schlüsselbauwerk. Verändern sich jedoch die Kriterien, die einer Gesellschaft ihre Identität verleihen, verändert sich auch die Relevanz der Architektur. Als ich, muss ich ganz ehrlich sagen, dieses Bilderpaar das erste Mal Zuhause am Rechner nebeneinandergesetzt habe, bin ich furchtbar erschrocken und seit der Zeit auch ziemlich traurig. Weil ich plötzlich bestätigt sah, wie sich Kontext, Reflexion und damit die Bewertungskriterien eines Bauwerks ändern können. Artigas Referenzbezug wirkt plötzlich falsch, fast perfide, die Architektur ist brutal, die Studenten wohnen nicht einer Veranstaltung bei, sondern scheinen eingesperrt. Aus einem Ort großer Transparenz, Hoffnung und Gemeinschaft wird ein Gefängnis aussichtslos. Das ist das Werk von Jair Bolsonaro, dem aktuellen Präsident Brasiliens. Nun will ich uns nicht weiter deprimieren, denn es ist offensichtlich, dass in Zeiten gewaltiger, gesellschaftspolitischer Veränderungen, auch die Veränderungen in der Architektur und ihrer Wirkung von besonderer Rigorosität sind. Dies gilt nicht nur in der Architektur.[…]Die Frage, so habe ich Peter verstanden, die wir hier gestellt bekommen, kommt aus meiner Sicht nur deshalb auf, weil wir zwischen […] Gleichmut und […] Herzblut die Orientierung verloren haben. Unsere Wertmaßstäbe sind diffus geworden und somit die Kriterien. Ich habe zum Beispiel auch zunehmend den Eindruck, dass sich das in den Wettbewerbsergebnissen zeigt. Gerade konzeptionelle Arbeiten, wie wir sie bei uns im Büro gerne machen, haben kaum noch Chancen. Das einzig Verlässliche scheinen noch die Zahlen zu sein, der sogenannte Deal ist nicht zufällig Methode geworden. Er ist Ausdruck einer Hinwendung zum Messbaren, dass uns auf den gesellschaftspolitischen, soziokulturellen Ebenen die Bewertungsmaßstäbe verloren gegangen sind. Auch deshalb misst sich aus meiner Sicht die Nachhaltigkeit der Architektur nicht mehr an ihrem Wesen, sondern nach ihren bauphysikalischen, energetischen Leistungsdaten sowie einem motivierten, kollisionsfreien Projektmanagement. Es sind, und damit komme ich zu meinem Fazit, zu meiner These, nicht sie die Studierenden, die Selfie schießend an der Relevanz der Architektur zweifeln. Es ist aus meiner Sicht unsere Generation, die sie leichtfertig und selbstverliebt unter anderem diesen Rechnern, und damit meine ich die mit zwei Beinen, überlassen hat. Insofern ist die Frage nach der heutigen Relevanz der Architektur eine die nach innen, wie bekommen wir Architekten wieder das Projekt in die Hand, und eine die nach außen gerichtet ist, wie sieht unsere gesellschaftspolitische Projektionsfläche aus, auf der sich die Architektur abbilden soll, und wie kann sich ihre Wirkung entfalten? Doch steht es meiner Generation überhaupt noch zu, diese zweite Frage zu beantworten? Die Generation, die das Versprechen ihren Kindern eine Welt zu hinterlassen, die lebenswert ist, nicht einlöste? Ich interpretiere diesen Abend als einen Abend des Aufbegehrens. Prof. Mikala Samsøe Natürlich ist Architektur in der Gesellschaft wirksam. Ich glaube auch, dass Zweifel herrscht hier und da und ich glaube auch in unseren eigenen Reihen zweifeln wir ab und zu mal darüber.[…] Ich könnte politische, ökonomische, kulturelle, historische, alle möglichen

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gute Gründe auflisten, inwiefern das auch wirksam ist und ich beziehe mich ganz gern auf die psychologischen, weil aus der Psychologie kann eben auch die Gruppe, also die Gesellschaft sich ändern.[…]Gesellschaftlich wirksam ist es auch, wenn die Räume gut gestaltet sind, auch so, dass man eigentlich Lust kriegt so öffentliche Gebäude nicht zu beschädigen. Man lernt einfach, dass wenn man im öffentlichen Raum ist, dann benehmen wir uns als Gruppe. Also das ist natürlich schon Erziehung, die hier stattfindet.[…] Ich glaube sehr viel daran, dass die Räume auf uns einwirken, die können uns positiv, aber auch negativ beeinflussen. Architektur ist nicht nur gut, dass kann in beide Richtungen gehen. Ich glaube, das ist eigentlich auch mein Anliegen, das sagt auch viel darüber aus wie weit wir bereits gekommen sind, wenn wir überhaupt dieses Thema diskutieren müssen, können, wollen. Das ist natürlich, weil wir das relevant finden, weil wir das Gefühl haben das findet vielleicht nicht überall Gehör.[…]Und ich habe auch den Eindruck, dass unter Fachleuten, da ist das ja auch manchmal egal. Da ist ja eigentlich egal, ob wir da ein bisschen Geld einsparen und es da ein bisschen schneller geht und wir sehen auch, dass diese Verrohung der Gesellschaft, dieses Abhandenkommen von Qualitäten, dass es einfach normal ist, dass alles schneller, günstiger, effizienter werden soll. Das zeigt sich ja auch in der Architektur.[…]Wirksam ist, dass Architektur, Inhalt Form gibt.[…]Als zweites Beispiel wollte ich auf das Thema Materialien gehen. Ich glaube dieser Ressourcenverbrauch, den wir mit vorantreiben, ist einfach das neue Thema, also unser Ressourcenverbrauch. Und das ist gesellschaftlich wirksam, wenn Architektur einen ästhetischen Anspruch hat. Und in diesem Fall hat dieser Anspruch eigentlich dazu geführt, dass ein soziales Unternehmen gegründet wurde, wo schwierige junge Menschen Ziegelsteine wieder sauber machen, damit sie zum selben Preis wiederverkauft werden können und in Neubauten eingesetzt werden. Das kann man eigentlich machen mit allen Gebäuden, die vor Mitte 50er Jahre gebaut wurden. Weil da wurde der Mörtel so gemacht, dass man das wieder trennen kann. Interessant ist ja, dass die Architektur, dass wir ja Teil der Baubranche sind. Ich schätze die Baubranche kann echt so eine neue Tabakindustrie werden. Also wir werden auch die Fridays for Future Demonstrationen vor unserer Haustür haben, weil Leute das satthaben, unseren Ressourcenverbrauch. Ein Thema ist, dass eben nach den 50er Jahren man die Ziegelsteine so vermauert hat, dass sie nicht mehr trennbar sind und da ist halt Architektur auch so toll und wirksam, weil es eine filterische Kraft hat.[…]Und ich glaube Architektur ist auch gesellschaftlich wirksam, weil es auch ein gesellschaftliches Problem darstellt. Und so verstehe ich auch dieses Projekt. Das ist so plakativ und es spricht eigentlich genau über solche Themen, was uns fehlt, auch heute, wenn es zu schnell und zu günstig wird, dass es eine Sanierung gibt, dass es gute Oberflächenmaterialien gibt in unseren Wohnbauten.[…]Ich glaube diese Ermächtigung der Ästhetik, das ist eine Baustelle von heute. In der Philosophie trennt man in der Ästhetik. Also Ästhetik kann entweder das Schöne, das Hübsche, Gute oder es kann auch dieses Sublime sein, also die Initiation, auch vielleicht sogar bis zum Hässlichen. Das sind auf jeden Fall alles Sachen, die unsere Sinne anregen und die uns Nahrung gibt und dann gibt es das Dritte eigentlich und das ist die Gleichgültigkeit, das sind die leeren Kalorien, die brauchen wir natürlich nicht und die Wirksamkeit von Architektur und Ästhetik glaube ich liegt darin, dass es unsere Sinne anregen kann, wenn es eben nicht gleichgültig ist. Und Architektur, architektonische Qualität, das kostet eben viel Geld und Zeit und Risiko und und und. Wir haben ein riesiges Potenzial, weil wir ein Komplementär anbieten können zu dieser mehr rationalen, effizienten Welt, in der wir uns auch heute befinden. Prof. Peter Schlaier […]Ich bin eigentlich nach längerem Überlegen dazu gekommen, dass mir eigentlich kaum ein Projekt eingefallen ist, von dem ich tatsächlich sagen würde das ist tatsächlich gesellschaftlich relevant. Und bin so ins Nachdenken gekommen, eben auch über meinen eigenen Werdegang als Architekt und meine eigene Ausbildung, mein Studium, mein Beginn im Berufsleben.[…] Ich würde jetzt mal die These aufstellen, dass wir aus einer Generation stammen, die sich für diese Frage wenig interessiert hat. Also wenn ich mir den Architekturdiskurs eben der 90er Jahre anschaue als ich studiert habe und dann auch der 0er Jahre, war der doch sehr stark von formalen, gestalterischen, von stadträumlichen Themen geprägt.[…]Das würde ich jetzt gar nicht kritisch überhöhen, aber tatsächlich der gesellschaftliche Aspekt, behaupte ich einmal, hat wenige von uns wirklich interessiert. Und mich persönlich hat dann eigentlich zum Nachdenken gebracht, eine Person [Peter Kiær], die ich kennengelernt habe in Nordschweden.[…]Dessen Gründungsmaxime für die neue Fakultät […] ist eben diese kritische Auseinandersetzung mit der damals aktuellen Architekturdebatte. Ist jetzt auch schon ein

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paar Jahre her und er ist eigentlich der Meinung gewesen – und diese Empfindung teile ich auch – dass eben in den ersten fünf Jahrzehnten, oder man könnte sagen von den 20ern bis 50er Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, stand die Architektur und die Architekturdiskussion tatsächlich unter dem großen Ziel eben die Lebensqualität und das tatsächliche Lebensumfeld für die Menschen zu verändern.[…]Da sagt Peter Kær im zweiten Teil seines Statements, dass wir eigentlich mit unserer Architektur heutzutage, ich glaube das gilt gerade immer noch, ein Stückweit vor dem Hintergrund der massiven Krise, in der wir uns ja auch letztlich befinden, damals war es noch stärker das Aufkommen des Neoliberalismus, das Verschwinden der Bindungskraft, der Demokratie, dass wir eigentlich dafür in der Architektur keine wirklichen Antworten haben, also dass wir uns als Architekten aus unser gesellschaftlichen Aufgabe verabschiedet haben und uns eigentlich in einen gestalterischen Elfenbeinturm zurückgezogen haben und er es eigentlich als Aufgabe gesehen hat mit dieser Fakultätsneugründung, und ich denke, dass ist vielleicht auch ein Thema, was Ihre Generation, also der Studierenden, vielleicht wieder stärker bewegt, da tatsächlich wieder zurückfinden sollten in einen gesellschaftlichen Diskurs.[…]Was könnten denn Ansatzpunkte sein? Und das ist tatsächlich der mittlerweile überbelastete, überstrapazierte Begriff der Nachhaltigkeit, weil wir ja letztlich nicht mehr in der gleichen Art und Weise gesellschaftliche Themen diskutieren können – wie in der Moderne. Wir haben unsere eigenen Themen und die sind definitiv aus meiner Sicht globaler geworden. Und da scheint mir vielleicht ein Anhaltspunkt zu sein, dass, wenn man sich den Begriff anschaut, dann kommt der ja tatsächlich aus dem Entwicklungsbegriff. Also der Begriff Nachhaltigkeit wurde ja durch die UN definiert, über die Brundtland Kommission Ende der 80er Jahre und hat damals eigentlich dem Wachstumsbegriff, der für die UN ja quasi Gründungsmythos war, also für die Vereinten Nationen, versucht zu erweitern, um das Thema der Ökologie und da eben das Thema des Wachstums und der Partizipation zu vereinen mit ökologischen Fragen. Und da ist eben diese Begrifflichkeit des nachhaltigen Wachstums das erste Mal entstanden. Das weist vielleicht auch darauf hin, dass Nachhaltigkeit oder die Umsetzung dieses Begriffs im Bauen eben auch einen sozialen, einen gesellschaftlichen Aspekt hat. Das heißt es ist nicht nur der Ressourcenumgang, sondern es ist eigentlich auch mit dem Entwicklungsgedanken verknüpft ursprünglich und es ist auch mit dem Gerechtigkeitsgedanken verbunden und es würde für uns dann letztlich heißen, das wäre ein mögliches Thema, was uns in der Architektur beschäftigen könnte, dass man über das Ressourcen Thema hinaus natürlich darüber nachdenken müsste, wie wir da ein Gerechtigkeitsaspekt hineinbringen, weil wir uns natürlich aus einem sehr luxuriösen Standpunkt in Europa letztlich ja in unserem Ressourcenverbrauch beschränken können. Wir haben ja alles. Das ist natürlich in anderen Weltregionen ganz anders geartet. Da sind bestimmte Grundbedürfnisse ja auch noch gar nicht befriedigt und in diesem Spannungsfeld eben über Architektur neu nachzudenken, wie wir vor diesem Thema der Ressourcenknappheit es eben trotzdem schaffen, die Qualität des eigentlichen Lebens der Menschen global zu befriedigen, ist sicherlich ein Thema, das interessant wäre für die Architektur. Prof. Diane Ziegler Als Peter mich gefragt hat, […] ist Architektur gesellschaftlich relevant, habe ich sofort gesagt, klar, sonst habe ich meinen Beruf verfehlt. Ja das ist eigentlich überhaupt keine Frage.[…]Wir haben eine gesellschaftliche Aufgabe.[…]Es geht doch gar nicht um Dich, sondern um die Menschen für die du baust.[…]Architecture shapes behavior. Genau das zeigt ja auch eine Haltung, dass es auch für sie das selbstverständlich ist, dass Architektur eine gesellschaftliche Wirkung hat. Genau hier eben auch dieser Gedanke dieses offenen Raumes, einen Ort der Begegnung zu schaffen, der auch unterschiedliche Arten von Begegnungen zulässt.[…]Hier frage ich mich, für wen bauen wir? Prof. Peter Krebs Wir haben noch gar nichts gesagt zu dem Titel, Mikala, unserer Veranstaltung. Entwerfen. Unterwerfen. Also etwas provokativ gemeint. Du hast jetzt ja Beispiele gezeigt von Schulen, also gesellschaftlich bedeutsamen Projekten. Du hast gesagt, dass ist eigentlich das ganz Kleine, also wenn etwas sorgfältig gemacht ist, sagt das etwas aus.[…]Und dann aber auch die Frage, wie etwas hergestellt ist, also der Prozess der Herstellung, der auch etwas mit der Gesellschaft macht. Ich würde jetzt fragen, vor dem Hintergrund, was heißt entwerfen, unterwerfen, wie würdest du diesen Titel auf diese Frage beziehen? Haben sich die Gestalter, die Urheber nicht unterworfen im Gegensatz zu anderen Beispielen? […]

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Prof. Mikala Samsøe Das kommt von Friedrich von Borries. Der hat so ein ganz tolles kleines Buch geschrieben. Weltentwerfen, also der ist Professor für Designtheorie, glaube ich, Architekt und ich sag das kurz, aber er sagt eigentlich entwerfen, das ist ja Sachen stehen lassen und er macht dieses Wortspiel und ich hatte, vielleicht habt ihr darüber nachgedacht.[…] Die Aussage ist eigentlich eher, du kannst dabei sein, du kannst mitmachen, du kannst was entstehen lassen und, wenn du das nicht machst, dann unterwirfst du dich.[…] Prof. Peter Krebs […]Ich wollte bei dir Peter nachfragen, ich fand das sehr markant, dass du gesagt hast ja so in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, also als die Moderne aufkam, und sich entwickelt hat, die hat etwas verbessert, wollte etwas besser machen und dann hast du so als Endpunkt eigentlich die Olympiade von Behnisch, den Olympiabau 1972 als Beispiel gezeigt […], fast eine Architekturikone, die ein neues Bild für unsere Gesellschaft gegeben hat, gezeigt hat, eine ganz andere Art von Gebäude, eine Struktur, in der ich mich frei bewegen kann, kein Anfang, kein Ende kennt, leicht, die heiter ist zusammen mit den Farben von Otl Aicher. Aber eine Architektur, die die meisten übers Fernsehen gesehen haben, also bei der sie eigentlich die Gestaltung wahrgenommen haben.[…]Für mich ist so die Frage dieses Bild von Architektur, was Behnisch da gelungen ist, muss man sagen,[…] was macht diese Architektur besser, was vielleicht heutige Architekturen nicht mehr so machen? Und wenn ich jetzt wirklich mal so bei der Olympiade bleibe, könnte diese Art von Moderne auch auf andere Gebäude übertragen werden, also könnte man Kindergartenschulen und so weiter bauen, dass sie auch etwas weitertragen, was du mit Moderne bezeichnest? Was ist das, was die Moderne unterschiedet von uns heute? Prof. Peter Schlaier Ja ich bin da jetzt natürlich etwas biografisch geprägt. Ich habe ja das Ableben des Büros Günter Behnisch noch miterlebt, also so die letzten Jahre, als er noch einigermaßen so gesund war, dass er sich einmischen konnte in das, was im Büro stattfand. Und das war so einer meiner ersten Punkte, die mich auch zum Nachdenken gebracht haben, weil – als ich da angefangen habe zu arbeiten – war er eigentlich komplett aus der Mode gefallen. Er war so von Mitte der 80er bis Mitte der 90er das deutsche Büro, an denen sich viele orientiert haben und dann ist die Formsprache, die damals dann auch von den Mitarbeitern mitentwickelt wurde, so ein bisschen aus der Zeit gefallen.[…]Was mir dann wirklich eindrücklich geblieben ist, ist die Tatsache, dass eigentlich über Form gar nicht gesprochen wurde in diesen Wettbewerbsbetreuungen, sondern es ging eigentlich immer nur um den Ort, um die Art und Weise wie man mit dem Nutzer umgeht, also um inhaltliche Dinge und ich glaub, das war etwas, was ihn einfach unglaublich auch beschäftigt hat, also das war einfach kein formal denkender Mensch, das ist zwar auch entstanden in diesem Büro tatsächlich auch aus der Mitarbeiterschaft.[…]Also aus meiner Sicht ist er Ausläufer gewesen der Moderne. Lässt sich aber auf heutiges Bauen nicht mehr richtig übertragen. Also ich glaube, dass die Themen, die ihn bewegt haben, heute andere sein müssten wahrscheinlich. Prof. Peter Krebs Vielen Dank. Ich finde das ist eine wichtige Frage, inwieweit, Form oder nicht Form über gesellschaftliche Relevanz von Architektur auch zumindest mitentscheidet und da hast du, Diane, jetzt zwei Beispiele gebracht, die formal sehr konträr, also geradezu frappierend konträr sind.[…]Ich habe mich dann nochmal gefragt, hat die Architektur einen solchen Einfluss, oder auch an diesem Beispiel vielleicht, dass die Lehre eine andere wäre? Also, wenn wir hier als Professoren und Professorinnen jetzt in die andere Hochschule umziehen würden, würde das etwas ändern an unserer Lehre oder muss man da sagen, das sind ganz andere Dinge, die da eigentlich wichtig sind.[…]Hat Architektur wirklich diese Macht über die Qualität eines Ortes, soweit letztlich auch die Inhalte zu beeinflussen? Prof. Diane Ziegler […]Ich glaube die Reaktion ist vielleicht nicht unmittelbar sofort, aber es wirkt sich aus.[…]Da müssen vielleicht auch mehr ins Boot, wie nur Architekten und unsere klassischen Teams.[…]Das ist vielleicht auch so ein gemeinsames Lernen, und es muss auch eine Politik mitgenommen werden, wenn man etwas verändern will.[…]Also da war die Politik zuerst und dann wurde das Gebäude entworfen, weil man gesagt hat, dann muss auch das Gebäude anderes ausschauen. Und ich glaube, dass wir da eben viel mehr auch mit […] Soziologen, Pädagogen, also einfach aus der Gesellschaft Politiker mit in die Teams holen müssen.

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Prof. Peter Krebs […] Ist es die Frage der Möglichkeiten, die ein Projekt bietet, sozusagen der Grundrissstruktur, oder ist es eine Frage der Ästhetik, denn die Ästhetik bleibt ja gleich.[…]Oder ist es Beides? […] Prof. Diane Ziegler […]Also ich glaube schon, dass man da viel mehr Verantwortung hat und das wahrnehmen sollte.[…] Prof. Mikala Samsøe […]Dieser psychologische Aspekt, also wie wir miteinander umgehen und das Funktionale ist eine Seite, aber das andere ist, wir gewöhnen uns an Sachen.[…] Das, was wir einführen, ist die Normalität von der schlechten Qualität. Prof. Peter Krebs […] Ich möchte jetzt Jens bei Dir fragen, Du hast ja einen sehr differenzierten Vortrag gemacht.[…]Für mich ist folgendes die Frage […]: Ist Architektur formal wirksam aus deiner Sicht? Du sagst ja eigentlich es ist alles wirksam, ja dieses Zitat von dem Sandkorn in der Sahara und abschließend, wenn ich mir so die Beispiel angucke, die ihr gezeigt habt, so als Beispiel von denen man sagt, die sind positiv wirksam, da fällt mir auf, dass es da so eine durchgängige Ästhetik gibt.[…]Also sehr viel Glas, wenig Gleichmaß, offene Räume. So eine Ästhetik, die vielleicht ein Stück individualisiert erscheint.[…] Wie siehst du das, Jens? […] Prof. Jens Oberst […]Das, was ich gesagt habe, inwieweit ist Architektur unmittelbar vor diesem Hintergrund unserer gesellschaftlichen Situation zu verstehen, wenn dieser Hintergrund sich ändert und deshalb dieses Bild mit dem Wahnsinn, der da losgelöst wird von einem geisteskranken Präsidenten, inwieweit sich dann unser Bild vor dem Hintergrund, auf dem die Architektur basierte, die Ideen basieren, ändert oder die Architektur in ihrer Wahrnehmung sich ändert, weil der Hintergrund verschwindet. Und plötzlich ist für mich Brasilien eben nicht mehr die Gemeinschaftshäuser der Yawalapitis. Damit fehlt mir auch plötzlich die Begründung für den Bau von Artiglas, wenn der ganze Amazonas brennt, wenn das zugelassen wird, dass das sich verändern darf, was passiert dann mit unseren Häusern, die aber auf diesen Ideen aufbauen und sie transformieren und für mich ist wirklich die Idee von eurem Thema nur vielleicht auch wirklich deshalb so intensiv geworden, ich habe wirklich die ganze letzte Woche mich nur um dieses Ding gekümmert,[…] ja es hat mich aufgewühlt irgendwo das festzustellen plötzlich und jetzt dann auch zu Dir, da geht schon wieder dieses Bashing los. Dieses Haus, du hast es auch auf eine ziemlich üble Weise schlecht gemacht, Diane, dieses Haus wurde ausgewählt aus 120 Wettbewerbsbeiträgen unter anderem war auch unser heutiger Rektor in der Jury. Es scheint Konsens gewesen zu sein, dass dieses Haus in diese Zeit zu dieser Aufgabe passt. Und ich habe mit meinem Vortrag nur versucht darüber nachzudenken oder anzuregen, dass wir vielleicht mal darüber nachdenken sollten, was ist denn eigentlich Konsens? Was prägt den unsere Architektur im Moment, bevor wir darüber nachdenken inwieweit Architektur wiederum unsere Gesellschaft prägt. Ich habe nur ein extrem diffuses Gefühl für das, was im Moment Konsens ist. Ich weiß es nicht. Und wir können aus der Architektur rausgehen und ich kann sagen, ja ich habe jetzt meinen Spritstumpf-Maserati verkauft und hab mir jetzt ein Elektrofahrzeug von BMW gekauft.[…]Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen und zwar deshalb, weil ich gar nicht weiß, ob das jetzt richtig war. Es ist diffus im Moment und ich komm einfach nicht zu dem Schluss, zu der Kriteriensammlung, die mich leitet meinen Job zu machen. Das ist das was mich so umtreibt. Prof. Mikala Samsøe Vielleicht ist ja Architektur auch, oder die Ästhetik, Architektur und Ästhetik ein Werkzeug, also eines von ganz arg vielen Werkzeugen, um diesen Konsens zu finden, also das würde ich behaupten, dass wir unsere Gedanken bauen. Wir geben unseren Ideen Form und bestimmen dadurch die Inhalte. Wir bestimmen worüber gesprochen werden soll. Prof. Jens Oberst Aber wenn dir die Kriterien für deine Arbeit fehlen, fehlen sie dir ja auch in der Beurteilung der Arbeit. Prof. Peter Krebs Darf ich gerade ganz kurz fragen, wenn du über Arbeiten sprichst dann meinst du den Entwurf als Ganzes, das Gebäude als räumliches Gebilde als ästhetisches Gebilde, das aber auch einen Ausdruck hat, mit allen seinen Eigenschaften? Prof. Jens Oberst Ja, selbstverständlich. Es geht um das, es geht aber auch noch einen Schritt weiter. Ich begreife in der Zwischenzeit meine Arbeit auch viel, viel mehr indem ich Diskussionen mit

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den Nutzern habe. Und da habe ich auch genau die gleichen Probleme festgestellt. Wir machen, Du hast es angesprochen, dieses Projekt in Baiersbronn. […]Es soll um Holzbau gehen. Es soll innovativ sein. Der Nordschwarzwald will sich mit dem Holz als ein neues Vorarlberg definieren. Und und und. Nur verdammt nochmal keiner hat es verstanden, was das eigentlich bedeutet. Das sind einfach nur Platzhalter, wenn du in die Diskussionen gehst, wird dir das zwar kurz mal gesagt, aber es hat keiner verinnerlicht. Und keiner hat daraus Kriterien abgeleitet, was es dann bedeuten würde, wenn wir das alles so wollen, dass das auch umgesetzt wird. Das ist verrückt. Ich glaube, dass das einen riesen Unterschied macht. Ich muss bei jedem Projekt immer wieder über das gleiche diskutieren, weil es einfach keinen Konsens gibt in diesen Fragen. Prof. Peter Krebs Darüber möchten wir gleich noch sprechen. Was haben wir überhaupt für eine Autonomie oder wie gehen wir da mit unseren Auftraggebern um, was geben die für Anregungen und Beschränkungen mit, wie gehen wir mit diesen Beschränkungen um? Diane möchtest Du noch antworten? Prof. Diane Ziegler Nein, aber Ich finde das ja genau großartig. Dass wir nämlich hier jetzt anfangen sollen zu streiten und unterschiedliche Haltungen haben. […]Ich habe manchmal das Gefühl Dinge werden einfach so gemacht.[…]Wir machen es neutral. Also da kann man auch sagen wir machen nichts. Mich stört das, also vielleicht muss man einfach Position beziehen und sagen ja, ich mache es so. Mit seiner eigenen Arbeit muss man genauso kritisch sein.[…] Prof. Peter Schlaier Also ich wollte zwei Sachen sagen. Ich glaube das Eine ist, dass jede Gesellschaft die Architektur bekommt, die sie verdient, und wir haben in Deutschland die Architektur, die wir verdienen. Man sieht das ja auch an den Bauten dänischer Architekten in Deutschland. Die sind dann plötzlich nicht mehr dänisch. Meistens. Und zum anderen, ich meine es ist schon klar, also ein positiv gestaltetes Lebensumfeld ist natürlich immer gut für alle, aber ich glaube, dass der Umkehrschluss, wir haben ja eine bestimmte Architekturrichtung gerade in Berlin in den 90er Jahren erlebt. Wenn ich mir da den Schulbau anschaue, der da entstanden ist, oder die Ministerien und andere Gebäude, die haben so gar nichts mit dem zu tun, was wir jetzt gerade irgendwie propagieren, und trotzdem hat sich jetzt Berlin nicht als Hauptstadt eines faschistischen Staates entwickelt. Also es nicht so, dass die Schüler, die diese Schulen verlassen haben, die so ganz law and order Backstein Flur und so weiter, knochentrocken, so ähnlich, wie hier halt auch, dass hat die doch offensichtlich auch nicht so verbogen. Also ich glaube wir überschätzen zum Teil da auch so ein bisschen die Wirkungsmacht von Architektur. Also ich glaube man kann es auch übertreiben sozusagen. Es gibt tatsächlich, glaube ich, schon die Möglichkeit und die Chance tatsächlich gesellschaftlich wirksam zu sein, aber dann muss auch die Bereitschaft in der Gesellschaft dazukommen und das ist eben bei so Schlüsselwerken wie beim Olympiapark mit den Olympischen Anlagen der Fall gewesen. Dass ist jetzt nicht nur die Architektur, dass war halt damals einfach auch so eine Zeit, Ende der 60er Jahre, das sich ganz viel auch im Denken der Menschen in Deutschland verändert hat. Also es war einfach der Abschied von dem, was die 50er Jahre waren und das manifestierte sich dann eben in den Gebäuden, aber die Gebäude haben das nicht bewirkt. Da überschätzt man Architektur in ihrer Wirkmacht. Prof. Diane Ziegler Aber du hast ja bei Günter Behnisch studiert, der genau das propagiert hat. Prof. Peter Schlaier Ja, der war der Meinung. Prof. Diane Ziegler Und da hat er seinen Sinn für Architektur gesehen.[…]Eigentlich ging es ihm immer um den Diskurs und den Inhalt.[…]Wenn einer dafür steht, dann er. Prof. Peter Schlaier Ja, aber es ist trotzdem, also es stimmt schon aber der Umkehrschluss stimmt komischerweise nicht.[…]Ich glaube die Wahrheit liegt vielleicht auch in der Mitte, aber ich glaube wir überschätzen teilweise auch ein bisschen, die gesellschaftliche Relevanz von dem was wir tun. Prof. Peter Krebs […]Also für mich ist das schon auch eine Frage, weil Günter Behnisch ja den gesellschaftlichen Auftrag auch mit einer Architektursprache verbunden hat, mit einer Gestaltung, weil er gesagt hat, nicht nur viel Glas, sondern die Autonomie der Elemente. Das sind die Dinge, die seine Architektur, seine spätere Architektur sehr stark geprägt hat und er war so überzeugt, dass seine

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Architektursprache die richtige Architektursprache für eine bessere Gesellschaft ist, dass er vehement gegen das Museum von Stirling jetzt zum Beispiel gekämpft hat. Also er hat diese gesellschaftliche Wirkung selbst gesehen, er hat sich selbst so definiert, aber die Frage ist, hat er Recht. Hat Architektur diesen Einfluss? Mikala, mich würde das jetzt schon nochmal interessieren. Prof. Mikala Samsøe Du meinst in Hinblick auf die Gestaltung oder? Prof. Peter Krebs Ja Prof. Mikala Samsøe Ich sehe das sehr frei. Natürlich gibt es nicht nur eine Form, die gute Menschen macht. Ich denke aber auch, man muss jede, weil wir reden von einer gesellschaftlichen Ebene und es gibt nicht nur eine Schule in der Gesellschaft, sondern es gibt massenhaft Menschen, das sind wir und wir marschieren rein und raus aus diesen Räumen und dann bin ich zurück beim Plastikboden und beim Laminat. Also, was erleben wir? Es gibt zig Unterschiede, aber ich glaube wir müssen – das ist ja so wie Kant, also sein Imperativ – wir müssen schauen, das was wir tun, das wird ja hochskaliert und das wird weiter so gemacht und ich glaube, ja die Welt ist shit. Es gibt so viel, was nicht funktioniert und wo wir keinen Einfluss, oder nur geringen Einfluss haben. Aber wenn man daran glaubt zum Beispiel, dass die Welt sich auch ändert durch Gespräche, deswegen denk ich sind wir auch heute hier, dann ist das Gespräch mit den Nutzern und Bauherrn und Politikern – das ändert was in unseren Köpfen und das ist das –, was eine gesellschaftliche Entwicklung vorantreibt und deswegen glaube ich, ist es auch so wichtig, dass wir alle dort wieder agieren, auch in diesem Gespräch, im Diskurs bleiben, weil du hast gesagt, was ist das Richtige und Entschuldigung, ich glaube schon, dass wir wissen, was das Richtige ist. Also es gibt so ein paar Themen unserer Zeit, die wir pushen können und sollen. Oder, wie gesagt, jeder kann für sich gerne entschieden, was er für richtig hält. Prof. Diane Ziegler Ja und ich finde eigentlich sollten Studenten verändern wollen. Also ich sehe das mehr so als Aufruf, ja ihr könnt was verändern und macht es. Das erleben wir doch im Moment, dass Dinge die wir denken, die nicht möglich waren, es plötzlich sind. Und eigentlich fehlt mir manchmal so die Leidenschaft zu sagen, ja ich geh durch Wände, ich versuche es einfach. Nicht schon die eingehauchte Resignation, die man dann auch immer hat, reicht das oder ist da Mut zu oder wir können es eh nicht. Eigentlich müssen doch wir sagen: Ja ihr könnt alles verändern. Also da sehe ich auch die Aufgabe, Motivator zu sein und zu sagen, trotz allem probiert es aus. Prof. Peter Krebs Und dass ist jetzt genau die gute Überleitung. Der Punkt, ist das so, erleben wir diese Möglichkeit der Umsetzung in unserem Büroalltag? Denn wenn wir zu dem Schluss kommen, aber das ist natürlich auch Diskussion, wieviel gesellschaftliche Wirksamkeit hat Architektur auf welcher Ebene, ist ja immer noch die Frage, haben wir diesen Einfluss, also erleben die Studierenden, dass sie einen Einfluss haben, oder dass die Büros, in denen sie arbeiten, dass da ein Einfluss besteht oder sind wir nicht viel mehr Handlanger der Auftraggeber, die uns ein Programm vorgeben und die sagen, wie sie die Schule haben wollen und wir setzen das einfach gestalterisch oder mehr oder weniger ansprechend um und gibt es nicht Bauvorschriften, DIN-Normen, die auch wieder Rahmen bilden und ist es nicht so, dass wir uns dann glücklich schätzen, wenn irgendwo mal ein Budgetrahmen nicht zu eng ist und wir dann vielleicht etwas mehr gestalterisch wirksam arbeiten können, was ja noch nicht so viel ist. Was ich hier jetzt gehört hab war ja viel mehr also die Frage, wie erlebt ihr den Büroalltag? Haben wir denn Einfluss auf das Programm? Können wir bestimmen, wie eine Schule funktioniert oder funktionieren sollte? Wie geht der Dialog mit den Auftraggebern? Jens, du hast das gerade angesprochen. Das ist ein mühsamer Weg. Hängen wir nicht von Auftraggebern ab und, auch wenn es um die Gestaltung geht, möchte sich nicht ein Auftraggeber darstellen so wie er sich sieht? Haben wir die Möglichkeit zu sagen, halt stopp, du siehst dich so, aber wir sehen dich anders? Bitte mach das so, wie wir gestalten wollen. Prof. Mikala Samsøe Natürlich muss man im Diskurs bleiben und den Menschen tief in die Augen gucken und sagen, hast du wirklich vor dieses Gebäude abzureißen? Also ist das wirklich das, was da Sache ist? Es ist nur 50 Jahre alt.[…]Und was willst du damit, Geld verdienen? Und das kann man ja nur anregen und das Ding wird trotzdem abgerissen, aber damit ändern wir das Gespräch, wir ändern, was ist legitim. Also ist das legitim zu einem Architekten hinzugehen und zu sagen, ich will Kasse machen und du bist

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mein Handlanger und dann machen wir das mal so. Und ich glaube das sind kleine Grenzen, die können nur so gerückt werden, aber ich habe erlebt in meinem Büro, deswegen war ich ja in diesem Wissenschaftsministerium. Das tollste ist natürlich, wenn der Einfluss schneller auf eine gesellschaftlicher Ebene kommt, wenn man Seite wechselt.[…]Da konnte ich ein Gesetz verändern, wie unsere Städte in Dänemark geplant […] werden. Das ist so ein tolles Erlebnis und ich finde es sehr gut, wenn man als Architekt immer versucht sich Einfluss zu suchen und vielleicht klappt das nicht immer im Büro im Alltag […], aber man kann sich auch in Berufsverbände und Vereine usw. engagieren und ich glaube der Arbeitstag ist ja lange noch nicht vorbei um sechs Uhr also da geht es ja auch weiter um Einfluss zu nehmen. Prof. Peter Krebs Also du hattest die Möglichkeit ein Gesetz zu ändern. Das ist sicherlich, das haben nicht viele, diese Möglichkeit. Für mich die Frage wie erleben die Studierenden unseren Büroalltag? Ist man da nicht mehr Rädchen im Getriebe? In einem Büro, mit diesen ganzen Randbedingungen, denen man ja letztlich als Architekt ausgesetzt ist. Peter, wie erlebst du das in euerm Büroalltag? Seht ihr da Spielräume, von denen ihr sagt, also hier können wir einen Auftraggeber überzeugen? Oft sind es ja Wettbewerbe, da ist da schon viel vorgegeben, Programme sind vorgegeben bis hin zu Wünschen, wie etwas vielleicht aussehen sollte und man selbst ist dann in der Lage und hat das Wissen sozusagen die Gestaltung und das Programm umzusetzen, dem eine Form zu geben. Aber hat man da den Eindruck, was entsteht da genau, was du gesagt hast Mikala, so dieser Eindruck ich kann was bewegen, ich kann was machen. Also das interessiert mich, deswegen frage ich da jetzt so kritisch nach. Also ihr könnt gerne widersprechen. Prof. Peter Schlaier Also ich würde sagen bei Architekturwettbewerben geht das schon, weil man natürlich dann auf einem anderen Niveau startet. Also man hat dann quasi eigentlich schon einen Entscheidungsprozess hinter sich und kann etwas autonomer Dinge vorschlagen hinter die dann die Auftraggeber nicht mehr so zurück können wie bei einem direkt Beauftragten. Und ich habe auch schon erlebt, dass wir sehr konservative, architekturferne Bauherren von Architektur überzeugt haben. Das geht schon, aber ob das dann gesellschaftlich relevant ist nachher, was man da gebaut hat. Also da geht es dann halt um Qualität von Architektur von Stadträumen, Materialität und so weiter, aber ob das Ganze dann eine gesellschaftliche Relevanz hat. Das würde ich mir nicht immer anmaßen. Prof. Jens Oberst Das ist ja bei uns auch so, dass wir viele Studenten im Büro haben und ich glaube, dass, du hast es vorhin so ein bisschen angesprochen, dass die Leidenschaft oft fehlt. Wie sollen die jungen Leute Leidenschaft entwickeln, wenn wir da mit breiten Schultern besserwissend vorne dran stehen. Ich glaube, dass wir schon mal darüber nachdenken müssten, ob wir unseren Lehrauftrag, und ich sag jetzt einfach auch mal unseren Auftrag als Büroinhaber mit jungen Leuten zu arbeiten, ein wenig überdenken sollten. Leidenschaft kann ich nur von den Leuten erwarten, denen ich auch Freiräume erlaube und ich erlebe eben bei uns im Büro eher das Problem, dass die Leute irritiert sind, mit den Freiräumen etwas anzufangen, weil sie das gar nicht gewohnt sind. Und wir haben im September einen schönen Workshop gemacht gehabt und da habe ich überhaupt nicht viel dazu beigetragen, und hab den Studierenden aus dem Master sehr viel Freiräume gegeben. Ich glaube das war so und bin eigentlich nur so moderierend dazwischen gegangen.[…] Also ich ändere da so ein bisschen meine Position, selbstkritisch. Es wird auch andere Vorlesungen geben. Ich will eigentlich das Ganze so ein bisschen umdrehen. Ich will nur noch dastehen und sagen, fragt mich, wenn ihr etwas wissen wollt. Einfach mal ein bisschen in die Richtung zu gehen. Und das funktioniert natürlich umgekehrt nicht mit den Bauherren. Da geht das eben nicht. Da erlebe ich eben genau dieses schon Eingangs gesagte Problem. Ja manchmal können wir die Leute überzeugen von Architektur, aber ich wette mit dir, dass sie beim nächsten Projekt wieder bei null anfangen. Nachhaltig ist da gar nichts bei der Überzeugung. Und das hat damit zu tun, dass wir eben, und da komm ich nochmal drauf zurück, über keine gemeinsame Idee verfügen, wie gehen wir die nächste Zeit an. Die ist so widersprüchlich. Die ist so, wie ich vorhin sagte, diffus, dass sich auch die Bauherren eigentlich nicht sicher sein können, was sollen sie eigentlich von uns verlangen, von der Arbeit verlangen. Wie gehen sie selbst damit um? Dieser Zustand unserer Gesellschaft ist der, der mich so betrüblich macht. Und da sind wir, ich sag das ganz deutlich, meine Generation mitverantwortlich dafür.

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Prof. Peter Krebs Ja also sehr grundsätzlich, dass was du sagst.[…]Was wollen wir überhaupt? Was ist Ziel? Was ist Ausgang? […]Diane, wie ist das im Diskurs? Macht ihr das, was die Auftraggeber sagen oder interpretiert ihr das für euch […]? Prof. Diane Ziegler Also für mich ist Leidenschaft etwas, was man vorleben muss und ich merke auch, wenn wir leidenschaftlich mit unseren Bauherren arbeiten und uns engagieren, dann sehen die das.[…]Das ist jetzt nochmal ein weiteres schwieriges Thema, aber man ist ja auch ganz schnell an der Geschmacksfrage dran. Also ich mein ein italienisches Essen kann wahnsinnig gut sein. Wenn ich italienisch nicht mag, dann kann sich der Koch noch so anstrengen. Also das ist einfach so und wir sind natürlich auch in unserer Formenwelt natürlich drin.[…] Prof. Peter Krebs […] Es gibt ja so ein Zauberwort in der Arbeit, die unsere Arbeit als Architekt sehr stark prägt die hier auch in der HTF sehr gefördert wird. Das ist diese Idee der Teamarbeit. Also es ist nicht mehr der Einzelne, der etwas macht, sondern es ist immer ein ganzes Team.[…]Kann man in Teams auch etwas verändern oder ist das schwieriger […]? Prof. Mikala Samsøe […] Ich glaube man muss immer im Diskurs bleiben.[…]Und diese Zeit haben wir im Büro einfach nicht. Es gibt nicht die Zeit einander kennen zu lernen.[…] Prof. Peter Schlaier […]Also ich glaube, wenn man das möchte im Büro […], braucht es so eine Art Spiritusvektor, der diese Gelegenheit schafft, dass man sich über die reine Arbeit am Projekt hinaus austauscht und das ist, glaube ich, etwas, was man immer wieder anschubsen muss, vor allem gerade innerhalb größerer Büros. Um diesen Diskurs am Leben zu halten. Das ist anspruchsvoll. Aber ich glaube das zeichnet dann tatsächlich auch wirklich gute Büros aus, die gute Architektur machen, die haben dann meistens so eine Diskussionskultur.[…] Prof. Jens Oberst Ich finde die Fragestellung eigentlich ein bisschen überflüssig, weil ich glaube, dass es für unterschiedliche Phasen, unterschiedliche Kompetenzen, unterschiedliche Menschen und auch genauso unterschiedliche Formen gibt zu agieren und ich bin im Moment eher grüblerisch. Ich sitze vielleicht eher alleine gerade da oben, aber das kann ja morgen nach dem heutigen Abend auch schon wieder anders aussehen. Prof. Peter Krebs Okay Vielen Dank. Gibt es Fragen? Also wenn ich das richtig verstanden habe, ging es ja jetzt um Entwerfen und auch um Unterwerfen und da möchte ich bloß ein kleines Beispiel dazu erzählen. Es gibt ja finde ich bei fast jedem Wettbewerb irgendwo eine herausragende Arbeit, die dabei ist. Also das ist meine Erfahrung aus Preisgerichten.[…]Das Problem ist nur, dass die meistens nicht zum Zug kommt. Da wollte ich einfach mal erzählen, wie das sein kann. Bei der letzten Jury war das auch wieder so. Da war einer, der war ganz klar der Beste und dann hab ich ein flammendes Plädoyer für den gehalten und der Bürgermeister hat sehr aufmerksam zugehört und […] der hat das voll verstanden, der war voll dabei und ich dachte Mensch super, das ist ja richtig toll. Und dann kam der nächste Satz von ihm und er sagt: Ja aber glauben sie mir ich habe nicht den Mut das meinen Gremien zu verkaufen. Und da fängt für mich diese Unterwerfung an. Warum kommen die guten Dinge nicht zum Zuge? Prof. Jens Oberst Das ist genau die Situation, die ich ja auch anspreche, aber für mich wäre jetzt auch spannend mit dir oder mit uns darüber zu diskutieren, warum fehlt der Mut. Also diese Unterstützung, die notwendig ist, solche Entscheidungen durch diverse Gremien gegenüber Gemeinderäten, gegenüber den Bürgern aber auch durchzusetzen hat eben aus meiner Sicht damit zu tun, dass uns eben diese Grundlagen, diese Kriterien fehlen, die ich mir dann auch als Bürgermeister zu eigen machen kann.[…]Aber wo ist dieses Wollen und wo ist dieser Mut? Weil es meines Erachtens einfach nach diesem Rückhalt fehlt.[…] Prof. Mikala Samsøe Jetzt laufen ja zum Glück auch alle auf die Straßen freitags und ich glaube das ist ein Beispiel dafür, dass wir auch da sind, nicht nur das blöde Hochbauamt, sondern wir sind da.[…]Wir schaffen das ja auch nicht alle Dinge richtig zu machen und alle Kämpfe zu kämpfen.[…]Aber man kann sich ja ein oder zwei aussuchen,

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also ich meine auch wir, die wir kämpfen wollen. Und jetzt werfe ich den Ball zurück. Wenn es euch damals so wichtig war, dass hier alles so anders wurde, dann hättet ihr auch auf die Straßen gehen können. Aber das schafft man natürlich nicht, weil das Leben auch voll ist. Ihr habt andere Kämpfe gekämpft. […]Ich denke nur, man kann sich überlegen, welches Projekt möchte ich vorantreiben? Prof. Diane Ziegler Da bin ich voll deiner Meinung. Gesellschaft sind wir alle.[…] Wir wissen alle es gibt Grenzen. Wir haben Gremien. Wir haben Nachfolger. Da muss man sich überlegen, macht man das? Aber klar, irgendjemand muss sich ja dann engagieren und ich weiß, wie schwer das ist.[…] […]Wenn wir ganz ganz schwierige gesellschaftliche Formierungen haben, dann wird das die Architektur bestimmen, wie schon eigentlich immer. Wir müssen nur viel kritischer diese Prozesse selber begleiten und sozusagen in uns aufnehmen und in unsere Handlung als Berufstätige und professionelle Gestalter. Diese Diskussion war eine von vielen, die die Probleme ganz klar erkannt hat und es fast allen schwer fällt ein gutes Beispiel zu nennen. Die Lösungen halten sich schwer in Grenzen. Die Diskussion wird auch immer komplexer in der Architektur. Man kann es aber auch ein stückweit einfacher sehen. Ich sage jetzt mal zu dem Thema zwei Zitate: 1953 hat Emil Steffann formuliert: Die Aufgabe der Architektur ist das Schaffen von Räumen für menschliche Aktivitäten. Dieser Satz galt damals, galt in den 90er Jahren und gilt heute und wird immer für die Architektur gelten. Ich muss mir im Klaren sein, dass ich eben irgendwann mal der Frage nachgehe, was verstehe ich unter menschlichen Aktivitäten, aber das Grundthema der Aufgabe ist geklärt. Gottfried Böhm hat bei seiner Pritzker-Preisverleihung bescheiden und stotternd in seiner Dankesrede gesagt, er sei sich im Klaren, dass die gesellschaftliche Relevanz der Architektur nicht überschätzt werden darf. Er sei sich gleichermaßen sicher, dass die Architektur Auswirkungen hat auf das Zusammenleben der Menschen und das Leben miteinander. Und auch das ist so ein allgemeiner Satz. Jetzt kann man stundenlang über die Relevanz diskutieren. Man kann aber auch sagen, es ist so, fertig aus. Und in den letzten zwei drei Monaten habe ich zwei Bücher gelesen aus dem Antiquariat, das eine von Paul Bonatz, Leben und Bauen und das Andere von Paul Schmitthenner. Und da muss ich sagen, da hab ich wahnsinnig bedauert, dass mir diese zwei Bücher niemand vor 40 Jahren in meinem Studium gesagt hatte. Wenn ich das gelesen hätte, hätte ich eigentlich sonst nichts mehr lesen müssen, weil das sind Aussagen zum Thema Leben, zum Thema Bauen. Was ist wichtig, auch es zu abstrahieren und die Sätze zu sagen, das ist in seiner Zeit bei der Gesellschaft und bei den Technologien bei den Anforderungen entstanden. Du könntest aber alles transformieren und heute einnehmen.[…] Prof. Peter Krebs Könnt ihr den Absolventen und Absolventinnen unserer Hochschule einen kurzen Gedanken, jeder einen kurzen Tipp, was ihr denkt ist wichtig für die Praxis, mitgeben. Letzte Runde, ganz kurz. Prof. Peter Schlaier […]Ich widerspreche mir mal wieder. Ich meine schon, dass wir an so einer Art Zeitenwende stehen, dass wir wegkommen vom Formalen hin zum Inhaltlichen, dass glaube ich schon. Und ich glaube auch, dass das auch die Generation der Studierenden stark beschäftigt. Und da entsteht natürlich eine große Chance. Da würde ich sie auch gerne darin bestärken. Ich glaube, dass wir einfach jetzt, aufgrund der Probleme, mit denen wir umgehen müssen, einfach anders über Architektur nachdenken müssen. Und das darin natürlich auch eine Chance zur Veränderung liegt. Also das glaube ich schon. Die kann auch tatsächlich relevant werden gesellschaftlich. Prof. Mikala Samsøe Die Zeit ist genau richtig. Wir leben eigentlich genau in der Zeit der Veränderung, deswegen Mut und Eigeninitiative und entwerfen und nicht unterwerfen. Prof. Diane Ziegler Ja einfach machen. Ich glaube jedes Machen ist einfach gut. Einfach machen und schauen. Prof. Jens Oberst […] Ich weiß jetzt gar nicht was ich da noch dazu sagen soll. Vielleicht, also auf mich bezogen, trauen sie mir einfach nicht so über den Weg. Versuchen sie ihre Welt, ihre Generation als eine Eigene zu begreifen und allenfalls nur noch ein bisschen fragen.

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»Der Bauende soll nicht herumtasten und versuchen. Was stehenbleiben soll, muß recht stehen und wo nicht für die Ewigkeit doch für geraume Zeit genügen. Man mag doch immer Fehler begehen, bauen darf man keine.« 1

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Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre II, Kapitel 8, S. 270.

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Was bleibt? Potenziale (wieder)sehen. An:twort Auftaktveranstaltung Architekturnovember 04. 11. 2019

Alexander Vohl — BDA Landesvorsitzender Diese Veranstaltung wurde nicht zufälligerweise in dem Gebäude K2 der Universität Stuttgart ausgerichtet. Die Technische Hochschule, damals noch in der Stadtmitte, wurde infolge der Luftangriffe im Sommer 1944 fast komplett zerstört. Zusammen mit K1 entstand hier, nach der Planung von Rolf Gutbier, Günter Wilhelm und Curt Siegel, zwischen 1956 und 1964 dieser Gebäudekomplex. Es herrscht vielerorts eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber Gebäuden der 60er bis 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, aber sie sind nun mal da. Man kann sie nicht einfach austauschen. Worin liegt die Qualität von Architektur, die unabhängig von sich verändernden Kriterien Bestand hat? Wir schauen vergleichend auf Mode, Kunst, Literaturwissenschaften und natürlich Positionen der Architektur. Wir wollen einen spezifischen Blick werfen auf die Relevanz von Architektur in unserem Leben.[…]Ihre Potenziale zu fördern und ihre Beständigkeit zu sichern sind unsere Aufgaben. Und genau damit sind wir schon beim Thema des Abends: Was bleibt? Potenziale (wieder)sehen.[…]Wir machen uns vermehrt Gedanken über die städtebaulichen und funktionalen, aber auch die ästhetischen Qualitäten und Potenziale bestehender, in die Jahre gekommener Architektur.[…]Sie wird durchaus wieder neu gesehen und gelesen. Wie halten wir es denn generell mit dem gesunden Respekt vor dem Bestehenden und dem Drang nach Neuem? […]Das ist nicht nur im Bereich der Architektur eine relevante Frage. Dr. Fritz Barth — Freier Architekt BDA Die Frage, was bleibt, zeigt sich so, wie ich sie in der Einladung zu diesem kurzen Einlass geschrieben fand, nicht frei von einer gewissen Unentschlossenheit.[…] Woran soll man sich nun halten? […] Den Gedanken zu Ende gedacht, kann die Frage kaum anders als mit nichts beantwortet werden. Prof. Dr. Tina Hartmann Mozart konnte die Musik zur Zauberflöte eben nur schreiben auf der Basis des Librettos von Schikaneder.[…]Ich möchte speziell auf das Verhältnis von Form und Innovation kommen.[…]Das, was Sie gerade gehört haben, hätte der Konvention nach ganz anders aussehen müssen.[…] Damit komme ich zu meiner These: Avant Garde, wenn sie gelingt, greift Form auf und lenkt diese Form mit Blick auf ihre Funktionen und zwar ausdrücklich auf ihre gesellschaftlichen Funktionen weiter. Viele Werke der historischen Avant Garde haben deswegen dezidierten Bezug zum Kanon.[…] Diesen Bezug zum Kanon muss der Zuschauer nicht kennen, damit das Werk funktioniert. Sie müssen nicht wissen, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Es funktioniert trotzdem.[…]Das bedeutet

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aber eben auch aus der Sicht der Produzenten: Ignoranz schützt nicht vor Strafe.[…] Was neue Oper, ganz anders als das zeitgenössische Schauspiel für ein uneingeweihtes Publikum oft so schwer zugänglich macht, ist dass viele dieser Libretto-Aspekte vergessen worden sind.[…]Oper bedeutet erstmal die Transformation von Text als Sinn / Bedeutung in Klang […] zum Beispiel durch die Möglichkeit der Sprache durch Verse.[…]Form und Bezug zum Kanon, beides bedeutet weder Restauration und Konservatismus noch Stillstand, ganz bestimmt nicht, sondern ganz im Gegenteil. Sie können der produktivste Motor der Innovation werden und einen Gegenwartsbezug herstellen. Horst Wanschura — Horst Wanschura Fashion Room Immer wieder zurückgehen und schauen und bewundern. Dass bleibt uns.[…]Ich war entsetzt über diese leblosen Glaspaläste.[…]Ich wollte aber ein Geschäft mit Aura. […] Man muss einfach auf Qualität achten in allen Bereichen des Lebens und man muss einfach auch ein bisschen was investieren, dann bleibt es auch.[…]Geiz ist nicht geil. Das kann gar nicht geil sein, weil da ist gar nichts nachhaltig. Prof. Dr. Christiane Lange — Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart Die Qualität von Kunstwerken ist modeabhängig. Mode wandelt sich beständig. Trotzdem gibt es immer Dinge, die uns berühren. Giacometti hat gesagt: Es geht um die Wahrhaftigkeit.[…] Es geht mir um die Wahrheit, dieses Flüchtige festzuhalten, den Blick von einem Menschen in so etwas Totem, einem Papier, einer Leinwand oder einem Lehmklumpen zu fassen. Wenn mir das gelingt, wenn ich es schaffe das Wahrhaftige zu fassen, dann ist es das was bleibt.[…]Das ist das, was wir in Museen festhalten wollen. Wir versuchen die Dinge festzuhalten, die uns als Menschen bewegen. Und so lange es Menschen geben wird, wird immer etwas bleiben und das was bleibt ist eben genau das, was wir seit rund 200 Jahren in Museen festzuhalten versuchen. Und in den Museen ringen wir genauso darum. Was ist das, was es sich lohnt aufzubewahren? […] Wir machen das mit dem Bewusstsein, dass es Qualität gibt, dass es in jeder Generation Werke gibt, die ein bisschen besser sind als andere. Und natürlich, und das ist das Schöne, bewahren wir auch etwas mehr, sodass wir immer auch Entdeckungen machen können von Dingen, die vielleicht einige Jahrzehnte in den Depots gelegen sind und die man dann wieder neu betrachten kann.[…] Die Frage nach dem was bleibt, ist unser tägliches Geschäft im Museum. Constantin Hörburger — Reallabor ABK Stuttgart Space als Raum und Sharing, das Teilen von Raum. Ein nachhaltiger Umgang mit der Ressource Raum um einen ökologisch, ökonomisch und sozialen Mehrwert zu generieren. Das geschieht, indem man die Nutzungsintensivierung auf den Maßstab der Bestandflächen anstrebt. Das geschieht durch die Parallel-und Mehrfachnutzungen. In Stuttgart scheint alles teuer zu sein. Freie Flächen sind schwer zugänglich, kaum sichtbar. Aber auf den zweiten Blick sind fast alle dieser Orte, die zunächst belegt scheinen, zumindest temporär unbenutzt. Und so hat jede Typologie gewisse Randzeiten, Restzeiten oder Zeitslots in denen diese nicht ausgelastet sind. Grob überschlagen kann man sagen, dass auf alle Typologien temporäre Leerstände kommen, die ungefähr um 50 – 70 % variieren. Der Versuch im Reallabor war es, Raum zur Verfügung zu stellen, der möglichst nutzungsoffen ist, 24 Stunden zugänglich ist, jedem zur Verfügung gestellt werden kann. Und dann geschaut, was muss ich machen, was sind baulich, logistische Herausforderungen, was sind rechtliche Fragen usw. Dies wurde in der Calwer-Passage exemplarisch erprobt. Die Basis für dass, was jetzt im laufenden Projekt Sharing Brutalism weiterverfolgt wird. Welche Potenziale kann diese Strategie, den Raum mehrfach zu nutzen, uns jetzt für diese Typologie, diese Zeitspanne bieten und warum überhaupt? Weil es sie noch in einer großen Zahl gibt. Das wandelt sich aber rapide aufgrund des kritischen Alters. Ist eine Sanierung machbar, wenn ja, mit welchen Kosten? Thema Abrissgefahr, Alter, öffentliche Wahrnehmung. Zudem sind oft auch Autoren kaum bekannt. Schlechtes Standing der Gebäude. Wenn man sich in Stuttgart umschaut, Olgaareal, Calwer-Passage, verschiedenste Areale, ganze Ausstellungsreihen werden abgerissen. Der Kontext sieht eher einmal kritisch aus. Dabei sind eigentlich die Bauwerke der Nachkriegsmoderne bzw. der Era des Brutalismus erhaltenswert und könnten im Sinne des Space-Sharing eine spannende Nachnutzung und Weiterentwicklung erleben.[…]Innerhalb des Projektes hat sich Folgendes gezeigt. Was in einem Bauwerk an gebundener, grauer Energie und Ressource Beton mit CO2 freigesetzt wird, um dann einen noch so energieeffizienten Neubau zu bauen, das geht eigentlich kaum auf und spricht eigentlich für den Erhalt der Bauwerke. Es hat sich gezeigt, dass die Baumaterialien eine große Rolle einnehmen, hochwertige Baumaterialien, Dinge, die so eigentlich heute kaum noch verbaut werden. Das entscheidende Kriterium ist eigentlich die räumliche Qualität dieser Bauten. Vor allem beim öffentlichen Bau haben sich Bauten mit einer hohen architektonischen Qualität gezeigt. Großzügige Kommunikationsflächen lassen sich aufweisen, Atrien, oft großzügiger Raum, Offenheit. Ein Nutzungsprogramm, das, zumindest nach ursprünglicher Agenda, mit dieser Vielfalt im Raumprogramm steht. Viele Bauten waren schon als Teil einer sozialen Agenda gedacht. Ein gesellschaftlicher Mehrwert, den wir uns heute durchs Teilen vom Raum vorstellen, war also eigentlich schon ein Teil der ursprünglichen Agenda und Planung von damals. Diese Potenziale immer wieder sehen und neu zu betrachten, kann sehr spannend sein. Ich spreche auch von / fördere einen anderen Umgang mit Baubestand. Einige Bauwerke sind architektonische Schätze, wenn man sie mit dem Effizienzzwang von heute vergleicht. Sie haben gestalterische Qualität. Architektur als Gesamtkunstwerk zu sehen, erdacht von Architekten, Künstlern, Soziologen, übergreifenden Teams. Denkmalschutz kann eine Möglichkeit sein, aber es bedarf meiner Meinung nach einer Adaptions- und Transformationsfähigkeit, die erlaubt werden sollte. Ich denke Space Sharing kann neue Nutzungsimpulse liefern und mögliche Strategien gegen den drohenden Abriss darstellen.[…]Zur Frage, was bleibt: Zunächst ist erstmal wichtig, dass etwas bleibt. Das ist nämlich gar nicht so definiert in dieser Epoche bzw. es sieht teilweise anders aus. Die Investoren warten schon auf vielen Positionen und wenn man dann noch darauf kommt, Potenziale wiederzusehen. Denn die Architektur der Nachkriegsmoderne war sehr oft schon sehr ambitioniert, architektonisch aber auch in Hinblick auf die soziale Agenda. Wenn man das nutzt und im Sinne des Space Sharing aufgreift, denke ich, könnte das ein spannender Punkt sein, eben diese dagewesen Themen zu stärken und neu zu interpretieren.

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Interview mit Dr. Marc Hirschfell 17. 12. 2019

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Sie sind Architekturhistoriker, richtig? Aus was besteht ihre Arbeit? Ja das ist richtig. Ich habe einen ungewöhnlichen Weg eingeschlagen. Ich bin bei der Architektenkammer Baden-Württemberg in der Werbeabteilung gelandet, aber nicht, dass ich das jetzt gezielt angestrebt hätte. Ich habe während des Studiums als Architekturkritiker für die Stuttgarter Zeitung gearbeitet, weil man sich nicht nur mit klassischer Architektur auskennt, wenn man Architektur- und Kunstgeschichte studiert hat, sondern eben auch mit der Alltagsarchitektur, mit der Moderne. Und so kam es, dass mich einerseits die Stuttgarter Zeitung, aber auch Fachmagazine als Architekturkritiker wollten und darüber wurde ich bei der Architektenkammer aufmerksam, weil die natürlich die Presse auswerten und dann hab ich mich einfach mal, wo die eine Stelle ausgeschrieben hatten, aus Langeweile beworben, weil ich mal schauen wollte, wie so ein Bewerbungsgespräch abläuft. Aber ging es dann bei ihrer Arbeit als Architekturkritiker vor allem um gegenwärtige Architektur oder historische? In erster Linie um das aktuelle Geschehen. Also wenn eine Ausstellung war über Architekturgeschichte, dann habe ich die auch besucht und in der Zeitung darüber gesprochen. In erster Linie ging es natürlich um aktuelles Bauen und da kamen Vorschläge bei der Zeitung rein oder ich habe einfach interessante Neubauten gesehen und das der Zeitung vorgeschlagen und dann habe ich die besprochen, ja. Aber natürlich ist die Ausbildung für einen Architekturhistoriker zunächst mal eine andere. Und was hat Sie dann an ihrer Arbeit aus der Perspektive der Ausbildung interessiert? Also halten Sie es für wichtig historische Architektur zu erhalten? Ja unbedingt, natürlich. Unser Gedächtnis besteht ja nicht nur aus dem, was Historiker wissen oder, was wir im Fernsehen sehen über unsere Vergangenheit, sondern unsere gesamte Umwelt ist natürlich das, was wir wahrnehmen. Und da ist in Deutschland das besondere Problem, dass durch den Zweiten Weltkrieg insbesondere in den Großstädten ein Großteil der historischen Bausubstanz vernichtet ist, dass wir, die in Großstädten leben, eigentlich nur mit Architektur, mit dem baulichen Umfeld umgeben sind, das nach 1945, nach 1950 eigentlich entstanden ist. 50er, 60er, 70er Jahre. Das betrifft den gesamten Wiederaufbau. Und wenn Sie ins Ausland reisen, wenn Sie nach Paris fahren zum Beispiel, dann ist dort ein vollkommen anderes Bild und es gibt nur drei Städte, größere Städte in Deutschland, die gezielt nicht zerstört wurden im Zweiten Weltkrieg. Weil einerseits die Franzosen ein ganz besonderes Verhältnis zu Tübingen hatten und die Amerikaner zu Heidelberg, weil da gibt es dieses Musical The Student Prince und das spielt in Heidelberg und das ist so populär in den USA, dass die alle die Vorstellung hatten, Heidelberg, was für eine schöne Stadt und diese romantische Schlossruine. Das war offenbar auch ein Punkt, dass die damals bei ihren Planungen gesagt haben, naja, es wurden ja nicht nur strategisch wichtige Orte zerstört im Zweiten Weltkrieg, sondern es sollte die Bevölkerung demoralisiert werden, dass von daher auch Deutschland das Dritte Reich aufgibt. Stuttgart wäre kein strategisches Ziel gewesen an sich. Wie sollte man denn ihrer Meinung nach mit unliebsamen Erinnerungen umgehen, die das Stadtbild prägen? Also muss deren Geschichte auch in Erinnerung bleiben, gerade z.B. aus dem Nationalsozialismus? Natürlich. Viele Städte haben auch einzelne Gebäude als Kriegsruinen erhalten, als Denkmale. Aber ich persönlich finde, dass die Architektur der 50er Jahre hohe Qualitäten hat, aber was dann in den 60er Jahren und den 70er Jahren gebaut wurde, da bin ich nicht so der Fan davon und da könnte man auf vieles verzichten. Also wenn da Neuplanungen stattfinden in den Städten und die sagen naja, dieses kleine Hochhaus oder jener Verwaltungsbau, da braucht man neue Flächen. Kein Problem. Da steht auch kaum was unter Denkmalschutz, nur wenn es ein ganz bestimmter, berühmter Architekt gebaut hat. Dass dann in Stuttgart dieser Aufstand kommt wegen Stuttgart 21, wo der Bahnhof abgerissen wird zum großen Teil, oder wichtige Teile davon, da habe ich volles Verständnis. Da war ich auch Teil der Protestbewegung. Es gibt im Internet meinen Vortrag, den ich auf den Stuttgart 21 Demonstrationen, auf den Montagsdemonstrationen gehalten habe. Aber was würden Sie sagen, sind Potenziale der Architektur der 50er Jahre? Oder was sind Qualitäten im Vergleich zu der Architektur der 60er und 70er Jahre? Die 50er Jahre sind sehr filigran, sehr elegant. Die Architekten haben sich große Mühe gegeben. Proportionen der Fenster, Oberfläche, Geländer sind feingliedrig. Jede Generation, wie soll man sagen, jede Kindergeneration hat den Antrieb sich gegen das zu wenden, was ihre Eltern gemacht haben, weil Sie etwas Neues machen wollen, weil ihnen das nicht gefallen hat, was Papa und Mama immer toll fanden. Und insofern kommt eigentlich jedes Jahrzehnt, man kann natürlich sagen ab dem Jahr 1 bis zum Jahr 9 aber wir rechnen in der Geschichte so nach den Jahrzehnten. Und die 60er Jahre sind geprägt durch den sogenannten Betonbrutalismus. Also wenn Sie sich in Stuttgart die Universitätsgebäude K1 und K2 anschauen, das wären typische Beispiele dafür. Und wenn Sie sich in Stuttgart den Marktplatz anschauen, das sind typische Beispiele für die 50er Jahre. Gerade das Rathaus? Ja, das Rathaus sticht ein bisschen raus, das hat nicht so die typischen 50er Jahre Merkmale, wie die ganzen Häuser, die Geschäftshäuser, die drumherum stehen. Da gibt es das Haus Haufler am Markt zum Beispiel oder der Spielwaren Kurtz, das ist typisch 50er Jahre. Wenn Sie im Gegensatz dazu das Kaufhaus Breuninger anschauen, das ja auch an der Ecke vom Marktplatz steht, das ist typisch 60er Jahre, Betonbrutalismus. Aber was würden Sie sagen, wieso die Nachkriegsarchitektur dann so ein schlechtes Ansehen hat? Ist das, weil man das dann irgendwie nicht ganz unterteilen kann in 50er und 60er Jahre, weil oft ja auch gesagt wird, dass das Symbole des Scheiterns sind, weil ja gerade aus der Not heraus gebaut wurde. Aus der Not heraus, weil man kein Geld hatte oder wie ist das gemeint? Ja und weil die Materialien, Baumaterialien so knapp waren und natürlich viele Wohnungen schnell gebraucht wurden und solche Dinge.

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Da wäre ich kritisch an Ihrer Stelle und würde mir das anschauen. Wenn ich mir den Marktplatz anschaue, der hat eigentlich Qualitäten. Und natürlich im Wohnungsbau, da hat man nicht so darauf geachtet, wie beim Marktplatz, dem Zentrum einer Großstadt. Da gibt es in den 50er Jahren jemanden, googlen Sie nach dem Architekten Rolf Gutbrod. Der ist ein wichtiger Architekt für den Wiederaufbau, auch gerade von Stuttgart und dessen Bauten stehen exemplarisch und ich meine er hat auch einen Wandel durchgemacht von den 50er zu den 60er Jahren, aber dessen Bauten der unmittelbaren Nachkriegszeit, also wer da was dagegen hat, dann diskutiere ich gerne mit dem und sage, was siehst du denn da Schlechtes. Ich glaube, da wird oft pauschalisiert und die Leute haben da natürlich nicht so eine Ahnung von den einzelnen Jahrzehnten oder von den Architekturgruppen. Es gab auch Unterschiede der Architektur und der Universitäten, wie in Frankfurt und in Stuttgart ausgebildet wurde. Das muss man natürlich auch sehen. Damals hat man sich ja aber, also kurz nach dem Krieg, in vielerlei Hinsicht auch für den Neubau, also nicht für die Rekonstruktion von den zerstörten Häusern entschieden. Sehen Sie es trotzdem als legitim zerstörte Häuser auch wieder zu rekonstruieren? Wenn man ein Haus, das im Augenblick kaputt ist wiederaufbaut mit den technischen Möglichkeiten, die man hat und versucht, das so original wie möglich zu machen, dann ist das vollkommen ok. Wenn man natürlich ein Haus, dass 30 Jahre leeres Grundstück war und jetzt wieder aufbauen will, dann ist es schon problematisch. Es sei denn es ist ein Gebäude von zentraler architekturhistorischer Bedeutung für die kulturelle Identität einer Stadt. Wie zum Beispiel, was wird jetzt so umstritten, der Wiederaufbau vom Schloss in Berlin und in Dresden oder irgendwo. Ja und da muss ich sagen, historische Bedeutung hin oder her, das Berliner Schloss war schon immer ein hässlicher Klotz. Und wurde durch die Jahrhunderte immer wieder verändert und umgebaut und angebaut und zeigt kein einheitliches Bild aus einer Bauphase. Also da gibt es auch einen Streit darüber von irgendwelchen Altberliner Vereinen, die das unbedingt wiederaufbauen wollen. Und dann gibt es Gruppierungen von Gegnern, die es unbedingt verhindern wollen. Und dann kann man sich für die eine oder andere Sache entscheiden, je nachdem, wie man persönlich eingestellt ist. Aber für mich jetzt, der außen steht, der kein Berliner ist, der sich das anschaut auf Plänen oder Fotos, sagt, meine Güte, also das Berliner Schloss war schon immer hässlich. Ich müsste das nicht haben. Oder nehmen Sie das Stuttgarter Neue Schloss. Da standen nur noch die Fassaden. Alles innen war zerstört. Und man konnte das Innere mit den damaligen Möglichkeiten der Nachkriegszeit, der 50er Jahre nicht mehr rekonstruieren. Aber es gab in Stuttgart Bewegungen, die haben gesagt, wir wollen den ganzen alten Kruscht weghaben, wir wollen das nicht wiederaufbauen. Jetzt reißen wir das bisschen Fassade vom Neuen Schloss auch weg. Aber meiner Meinung nach wäre dann die Identität vom Schlossplatz, von der Stadt Stuttgart, vom zentralen Kern verloren gegangen. Ich weiß nicht, wie sehen Sie es denn? Doch auch, auf jeden Fall! Ja, also wenn man heute auf den Schlossplatz geht, Touristen merken es nicht, was kaputt war, dass der Königsbau zum Teil kaputt war und dass am Schloss nur noch Fassaden standen. Und nehmen Sie das Alte Schloss. Das ist in den 30er Jahren großteils abgebrannt. Dann hat ein bekannter Stuttgarter Architekt den Auftrag gekriegt es wiederaufzubauen. Dann hat er gesagt ok, da wo die Teile absolut kaputt sind baue ich es so wieder auf, dass ein Laie es nicht merkt, aber ich mach eben doch deutlich das es nicht das Original ist. Das war vor allem die Fassade um den Karlsplatz hin. Und dann gab es einen riesen Streit darum. Und dann ist es eben in der Bombardierung vom Zweiten Weltkrieg wieder kaputt gegangen. Und dann hat es der gleiche Architekt, Schmitthenner, wiederaufbauen dürfen. Aber er hat es dann nicht in der gleichen Weise wiederaufgebaut, wie nach dem Brand der 30er Jahre, weil er fand, das sind jetzt andere Verhältnisse, andere Möglichkeiten. Aber Sie als Laie, wenn Sie am Karlsplatz stehen und zum Schloss rüber schauen, denken ja, das stand schon immer so da. Also Veränderungen finden Sie dann auch in Ordnung? Ja, finde ich auch in Ordnung. Sollte aber insgesamt ein größeres Bewusstsein für die historische Bausubstanz herrschen? Unbedingt. Man muss immer vom Einzelfall ausgehen. Würden Sie dann auch sagen, dass vielleicht Denkmalpfleger mehr Mitspracherecht bei solchen Diskussionen haben sollten? Absolut. Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Die Denkmalpflege muss ein viel größeres Gewicht haben in Deutschland. Es gibt natürlich die große Lobby der Architekten, wo ich jetzt auch arbeite, bei der Architektenkammer. Und die wollen immer bauen, die wollen immer etwas zu tun haben. Ist ja klar, wenn man sich in die hineinversetzt. Da kann man sagen, ok baut was wieder auf, dann haben die auch was zu tun, ja, aber die wollen am liebsten Altes schnell wieder abreißen und dann neu aufbauen. Gerade so ein wichtiges Beispiel wäre der Stadtteil Stuttgart West. Der ist komplett im 19. Jahrhundert gebaut worden. Also nicht in der Renaissance, nicht im Barock, nicht im Klassizismus, sondern später, so kurz vor 1900, kurz vor dem Jugendstil, 19. Jahrhundert. Und es ist tatsächlich in ganz Deutschland der größte zusammenhängende Stadtteil aus dieser Bauzeit, aus dieser Zeitepoche. Das ist vielen nicht bewusst, die denken, ja vielleicht in Berlin oder in Düsseldorf wurden in der Zeit ja auch ganze Stadtteile gebaut, aber tatsächlich in Stuttgart. Von der Fläche her ist der Stuttgarter Westen der größte und der ist ja auch sehr beliebt, wenn jemand eine Wohnung sucht, gerade die alten Häuser mit den schönen Verzierungen an der Fassade und die hohe Decke mit den Stuckornamenten. Und die Zimmeraufteilung ist ja auch eine ganz andere. Vergleichen sie das mit jemandem, der in einem Gebäude wohnt der Nachkriegszeit, der 70er Jahre.[…] Und da darf einfach nicht irgendwie locker abgerissen werden, weil irgendein Konzern, eine Versicherung oder Privatleute da sagen, wir wollen da neu bauen. Und deswegen muss da der Denkmalschutz ganz starke Mittel haben und eingebunden werden, dass er rechtzeitig gefragt wird. Denn oft wird versucht es so zu machen, dass gesagt wird, hoppla, da ist ja der Bagger, der ist ausversehen

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dagegen gefahren. Da können wir auch nichts dafür, sag ich jetzt mal so spöttisch. Und da muss von vornherein immer, wenn Umbaumaßnahmen, neue Baumaßnahmen stattfinden, müssen diese Pläne der Stadt vorgelegt werden und vor allem auch der Denkmalschutz muss eingebunden sein. Und wie sehen Sie so dieses Verhältnis von dem Respekt vor dem Bestehenden und aber auch dem Drang nach Neuem, weil der gesellschaftliche Wandel sich ja schon auch auf die Architektur auswirkt. Das haben Sie schön formuliert, ja. Dann muss ich so jemandem, der den gesellschaftlichen Wandel in seinem Haus sichtbar machen will oder eine Stadt, die mit irgendwelchen Neuprojekten das machen will halt Gelände suchen oder Grundstücke, wo das möglich ist. Da ist dann natürlich ein Ausgleich notwendig. Jetzt haben wir ja auf dem riesigen Areal vom Stuttgart 21, wo keine Gleise mehr verlaufen, die Möglichkeit dazu. Und Städte können natürlich nicht endlos in alle Richtungen wachsen. Da ist dann auch gerade Stuttgart mit dem Tal und mit den Wäldern, Degerloch oder Kräherwald in die Richtung, kann man nicht weiterbauen, weil es die grünen Lungen der Stadt sind. Bei anderen Städten, meine Güte, wo es total flach ist, da kommt es auf das Stadtbild nicht an.[…]München zum Beispiel oder Düsseldorf. Würden Sie sagen, dass man aus der Architektur, aus historischer Architektur, auch Wege für künftiges Bauen ziehen kann? Also dass man vielleicht auch eher eine Synthese aus den historischen und neuen Bauten machen könnte, wenn gerade Gebäude in schlechtem Zustand sind, anstatt sie dann abzureißen eben irgendwie weiterzubauen und Neues entstehen zu lassen? Ja, dem stimme ich voll und ganz zu. Aber wenn man sich eine Synthese ausdenken will, muss man eben das Alte auch kennen und einschätzen können. Und dazu haben die Universitäten, in denen Architekten ausgebildet werden, oft nicht das Feingefühl ihren Studenten auch die Seminare anzubieten, in denen über die alte Architektur gelehrt wird. Nicht, dass sie die bauen müssen, aber sie müssen ein Verständnis haben für die verschiedenen Stile. Wenn sie nie etwas von Barock oder Klassizismus gehört haben, dann fehlt ihnen Feingefühl dafür, wie sie damit umgehen wollen. Ein großes Beispiel, oder auch Vorbild ist die Stadt Paris. Da gibt es ganz strenge Bestimmungen, dort kann nicht einer einfach etwas abreißen und sich mithilfe der Architektur selbst verwirklichen, die er sich selbst ausgedacht hat. Denn Paris ist ja nicht zerstört worden und ist eine der Metropolen Europas, die komplett die verschiedenen Stile durch die Architekturgeschichte hindurch abbildet. Und von der Stadtverwaltung, vom Denkmalschutz ganz strenge Auflagen auferlegt werden. Das heißt Sie würden sich auch so etwas für hier wünschen? Ja. Okay. Aber es ist interessant wie anders das in anderen Städten gehandhabt wird oder in anderen Ländern. Das ist so, aber ich denke, dass in Italien oder in England, in Städten mit einer ganz langen wichtigen Kultur und historischen Entwicklung, dieses Bewusstsein vorhanden ist. Sie dürften in Rom oder in Florenz auch nicht leichtfertig machen, was sie wollen, auch wenn sie da jetzt Baubürgermeister wären und haben irgendwie vor, sich selbst zu verwirklichen oder den aktuellsten Stil einzubringen. Da sind sie mit ganz strengen Gesetzen konfrontiert. Das wollen aber viele Stadtverwaltungen oder Architekten gerade in Deutschland nicht wahrhaben. Weil es sie zu sehr ausbremsen würde? Ja, weil sie am liebsten neu bauen, weil sie sich selbst verwirklichen wollen und nicht so mit der wichtigen historischen Bausubstanz konfrontiert sind, wie ein Italiener, eine Franzose oder ein Engländer, der sich ganz stark mit dieser historischen Kultur der eigenen Vergangenheit identifiziert. Und gerade die Deutschen haben ein Problem mit der Identifikation, mit der eigenen Geschichte, verständlicherweise durch das Dritte Reich. Wenn Sie vor das Dritte Reich gehen, die Kaiserzeit, der Erste Weltkrieg, in der ja Deutschland ebenfalls ganz stark in Verantwortung steht, sagt man auch mit der Zeit identifizieren wir uns nicht und egal welcher König oder Kaiser oder davor, dass ist nicht unser Ding. Und England oder Frankreich und Italien haben durch die Jahrhunderte hindurch einen König oder einen Herrscher und eine historische Phase, die das ganze Land betrifft. Und in Deutschland ist das nicht so. In Deutschland haben wir den König von Württemberg und den König von Sachsen und den König von Bayern und jede Region hat ihre eigene Geschichte, sodass heute ein Deutscher an sich, wenn er sich mit einem jungen Engländer oder mit einem jungen Franzosen unterhält, gar nicht auf der gleichen Ebene diskutieren kann, weil man einen anderen Erfahrungshorizont hat und eine andere Wahrnehmung der eigenen Geschichte. Also ist das vielleicht auch ein Problem, weshalb das hier so gehandhabt wird? Ja, das kann man sagen. Da müssen Sie sich an ihre eigene Nase fassen und überlegen, was habe ich denn im Geschichtsunterricht gelernt. Und fragen Sie mal einen jungen Franzosen, wie er Geschichte lernt. Das fängt in der Grundschule an. Jetzt erzähle ich ihnen mal ganz kurz meine ganz persönliche Erfahrung. Ich war auf der Französischen Grundschule und in dieser Zeit habe ich die französische Geschichte zweimal von den Galliern bis zu de Gaulle, also bis zu dem Präsidenten der Nachkriegszeit gelernt, auf eine jeweils der Altersstufe entsprechenden Didaktik mit schönen Bildern und Zeichnungen und Texten, die das erklärt haben, jeweils ob man junger Schüler ist oder ein bisschen ein älterer Schüler. Und dann bin ich auf die deutsche Schule gekommen, aufs Gymnasium und habe gedacht, jetzt bin ich mal gespannt, wie das Ganze aus deutscher Sicht aussieht. Und dann kamen erst die Griechen und dann kamen die Römer und dann kam, was weiß ich, lange nichts und irgendwann kam dann endlich mal die deutsche Geschichte und zu meiner Zeit war man noch so geprägt von der Katastrophe des Dritten Reiches, dass man hauptsächlich die Weimarer Republik und das Dritte Reich behandelt hat. Und alles drumherum, worauf ich eigentlich neugierig gewesen wäre, da auch dann Bilder zu sehen, was für Klamotten hatten die Leute in dem entsprechenden Jahrhundert an, was für Architektur haben sie gebaut,

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mit welchen Kutschen hat man sich fortbewegt.[…]Das Ganze wird heute im deutschen Geschichtsunterricht nicht vermittelt. In Frankreich ja. Das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen. Wie das jetzt ein junger Engländer oder ein junger Grieche sieht, das weiß ich nicht. […]Okay ich glaube Sie haben dann auch schon alle meine Fragen beantwortet. Vielen, vielen Dank. Gut. Ja ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der weiteren Recherche.

Ergänzung

Eröffnung der Ausstellung Hundert Jahre Bonatzbau Leibniz-Gymnasium 1912 – 2012, Fotografien von Rose Hajdu von Bauten von Paul Bonatz, 21. April 2012 Leibniz-Gymnasium Stuttgart-Feuerbach

Dr. Marc Hirschfell Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe die ehrenvolle Aufgabe, Sie heute Abend mit ein paar Gedanken zu den Fotografien von Rose Hajdu und zu den Bauten von Paul Bonatz, insbesondere seine Feuerbacher Bauten, auf diese Ausstellung einzustimmen. Rose Hajdu ist freie Fotografin mit den Schwerpunkten Architekturfotografie, Denkmalpflege, Archäologie und Kunst. Von 1978 – 81 war sie Amtsfotografin des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg und übernimmt seitdem immer noch Aufträge des Landesamts für Denkmalpflege, wie es heute heißt, zur Dokumentation von Baudenkmalen. So hatte Sie die Aufgabe, den Stuttgarter Hauptbahnhof vor dem Umbau für das Projekt Stuttgart 21 zu dokumentieren, damit die Nachwelt im Archiv des Denkmalamts den ursprünglichen Zustand dieses Baudenkmals einigermaßen nachvollziehen kann. Das betraf nicht nur die Bauteile, die bereits komplett abgerissen worden sind (wie die Seitenflügel) oder noch abgerissen werden (wie die Gleisdächer) sondern alle Bauteile und Räume, denn durch den Umbau werden fast alle Bereiche, die äußerlich bestehen bleiben im Inneren verändert, und allein durch die Sanierung überarbeitet und umgestaltet. Daraus ergab sich als Nebeneffekt nicht nur ein schönes Buch über den Stuttgarter Hauptbahnhof. Vielmehr wurde Rose Hajdu eine Liebhaberin der Architektur von Bonatz. Allein schon an den Details der Innenräume und Treppenhäuser der Seitenflügel des Bahnhofs entwickelte Rose Hajdu eine Kenntnis und einen Blick für die Handschrift von Bonatz, der ihre – man kann sagen Begeisterung für die Architektur begründete und zugleich ihre Empörung über den Verlust dieses einmaligen und unersetzlichen kulturhistorischen Erbes und die Leichtfertigkeit, mit der die Projektträger und letztlich leider auch die Mehrheit der Öffentlichkeit über diesen kulturellen Skandal hinweg gegangen sind. Und dabei handelte es sich bei den Seitenflügeln nur um Bauteile, die für den internen Gebrauch, für Büros und technische Nutzungen dienten und die somit nicht für eine repräsentative Wirkung auf die Öffentlichkeit hin konzipiert worden waren. Doch die Treppenführungen, die Treppengeländer, die Handläufe, die Türen und Fenster, die Raumproportionen dieser scheinbar banalen Verkehrsflächen zeugen, zeugten von einer Liebe zum Detail, von einem besonderen Gefühl für Fläche und Raum, von einem eigenen feinfühligen Kontrast zwischen Ausschmückung und Nüchternheit. Frau Hajdu hat dies erkannt, erfasst, nachempfunden und die Lust bekommen, diese Atmosphäre in weiteren Bauwerken von Bonatz zu erkunden. Daraus erfolgte die Fotografie von weiteren Bauten für die Bonatz-Ausstellung im Deutschen Architektur Museum in Frankfurt und der begleitende Katalog. Rose Hajdu hat dabei mehrere Schulgebäude von Bonatz besucht und deren Besonderheiten und wiederkehrenden Motive für sich entdeckt. Insbesondere die in den Eingangshallen, Treppenhäusern und Fluren konzentrierten, geradezu lyrischen Baudetails hat sie in ihren Fotos in deren räumlichen Zusammenhang gesetzt.¶Und gerade mit diesem Blick auf die Details öffnet Rose Hajdu uns die Augen, lenkt unseren Blick auf bestimmte Motive, und verschafft uns im Wiedererkennen von Motivserien und deren Varianten Aha-Effekte. Denn das Motiv und seine Variation kann man bei Bonatz fast so ausgeprägt beobachten wie man es in den Fugen der Kompositionen von Johann Sebastian Bach hören kann. Das lässt sich hier an den Fotos des Leibniz-Gymnasiums wunderbar nachvollziehen. Selbst Architekturhistoriker und Kenner des Oeuvres von Paul Bonatz konnten dadurch Entdeckungen machen und neue Erkenntnisse gewinnen. So fordere ich Sie auf: begeben Sie sich auf diese komprimierte Entdeckungsreise und erleben Sie diesen ästhetischen Erkenntnisgewinn, gehen Sie bereichert aus dieser Ausstellung hervor indem Sie selbst diese Vergleiche nachvollziehen, die man allein schon zwischen den Schulgebäuden von Bonatz, der Lerchenrainschule in Stuttgart und den Schulen in Göppingen und Rottweil machen kann. Es geht beispielsweise darum, wie und wo Bonatz gezielt Materialien und Farben einsetzt, welche verschiedenen Fensterformen gleichzeitig in den Blick geraten. Ich hoffe, dass diejenigen von Ihnen, die das Leibniz-Gymnasium aus eigener Anschauung kennen, und sich vielleicht in der alltäglichen Nutzung an diese Bauelemente gewöhnt haben sie plötzlich mit neuen Augen sehen und sich ganz frisch an ihnen erfreuen können. Achten Sie insbesondere auf die fensterartigen Durchblicke in den Treppenhäusern, auf die Formen der Balluster der Geländer oder die ornamentalen Fenstergitter; Achten Sie darauf, wie Geländer unvermittelt hart an die Wand anschließen, wie klare Kanten mit subtilen Rundungen kontrastieren. Und Sie werden sehen, dass das alles nicht konventionell und langweilig-normal ist, sondern in einem unaufdringlichen, leisen Duktus ungewöhnlich, unkonventionell, originell ist und ihr Auge und Formempfinden frech kitzeln wird, wenn Sie sich darauf einlassen. Ein paar Hinweise möchte ich Ihnen zu den Besonderheiten der Schulbauten von Bonatz geben:¶Bonatz war ein Schüler des Münchner Architekten Theodor Fischer, dessen Mitarbeiter er ab 1900 auch war. Als Fischer eine Professur an der Hochschule in Stuttgart antrat holte er Bonatz 1902 als seinen Assistenten nach. Und Bonatz wurde hier im Jahr 1907 selbst Professor, als er die Nachfolge

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Fischers auf diesem Lehrstuhl antrat.¶ Die um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkommende Reformpädagogik führte zu einer sogenannten Münchner Schulreform und Theodor Fischer war einer der Protagonisten: Er baute allein 5 Schulen in München von den 1890er Jahren bis 1904. Die Heusteigschule von 1905 – 06 war Fischers erstes öffentliches Gebäude in Stuttgart und in dieser Hinsicht für Württemberg schulbildend: Langgestreckter Mitteltrakt mit pavillonartigen Kopfbauten an beiden Enden, ausgeprägt modellierte Dachlandschaft, einfache verputzte Fassade, punktueller Bauschmuck (an Eingang, Brunnen, Dachskulpturen).¶Der zum damaligen Zeitpunkt noch nicht durch den Stuttgarter Hauptbahnhof berühmt gewordene Bonatz hat im Zeitraum vor einhundert Jahren einige Schulen in Württemberg gebaut, denn damals wurde auch im Königreich Württemberg eine Schulreform umgesetzt, die zu einem beträchtlichen Baubedarf führte. So kommt es, dass viele Schulen nun in diesem Jahrzehnt ihr Jubiläum feiern können. Das Leibniz-Gymnasium von 1911 – 12 ist bereits eine der späteren dieser Reformschulen. An ihm lässt sich aber nicht nur exemplarisch das in ein Raumprogramm und in Baukunst umgesetzte pädagogische Programm zu Beginn des 20. Jahrhunderts studieren, sondern auch die besondere Handschrift und Gestaltungsweise, die Bonatz für diese Bauaufgabe entwickelte und die er an weiteren Schulen variierte. (Rottweil 1904 — Stuttgart (Lerchenrainschule) 1907 – 09 / Göppingen 1909 – 11 / Aalen 1910 – 12 — Feuerbach 1911 – 2). Die Grundpfeiler dieser Reformschulgebäude waren zunächst einmal eine Abkehr von der bisherigen Baupraxis: Man wollte weg vom Palastbau mit seinen prächtigen und damit teuren Fassaden, der in einer einfachen Ausprägung einem Kasernentypus glich. Dafür hin zu Zweckmäßigkeit, Natürlichkeit, Einfachheit mit wohnlichem Charakter ohne Schwellenangst vor autoritärem Eindruck. Neues Problembewusstsein für Hygiene und Gesundheit führte zu einem erweiterten Raumprogramm unter anderem der Anlage von Sporthallen, Sportplätzen. Neues Bewusstsein für die ästhetische Erziehung führte zu Räumen für Kunstunterricht, Werken. Dadurch auch vorbildliche räumliche und haptische Erfahrbarkeit in der ganzen Architektur des Schulgebäudes. Konkrete Richtwerte dieser Konzeption sind:¶Angemessene Dimensionen von Vorplätzen, Treppen, Fluren. Die Konzentration der Ausschmückung auf einzelne Punkte wie Vorräume, Treppe, Begegnungsorte an Flurkreuzungen, damit nicht alle Munition in der Eingangshalle oder im Bauschmuck der Fassade verpulvert wird. Die romantische, pittoreske Formensprache seines Lehrers Fischer übernahm Bonatz nicht 1 : 1, sondern entwickelte seinen eigenen Stil. In seiner damaligen Werkphase und je nach Bauaufgabe setzte er mehr auf klassizistische Elemente. Sie sehen das hier an der Decke am Klötzchenfries oder an den Fotos der Fassade am Kranzgesims, an den Pilastern mit den Kapitellen (d.h. an den nur angedeuteten in die Wand eingebundenen Pfeilern). Und doch sind diese Elemente leicht abstrahiert, flächig zurückgenommen, auch im Wandaufbau isoliert. Die Pilaster tragen keine klassisch ausformulierten Architrave (horizontale, lastende Bauglieder), sondern einfach einen verputzten Wandabschnitt. Bonatz hat ein Faible für liegende, breitgelagerte, gemütliche Baukörper, mit großen Walmdächern, ohne überfrachtende Aufbauten, die damit einen gemütlichen Landhaus-Charakter ausstrahlen. Die Festhalle ist das beste Beispiel dafür. Hier dominiert deutlich die horizontale Gliederung und auch der ausgeprägte Schwung am Dachfuß leitet in die Horizontlinie des Bodens über. So entsteht der Eindruck einer satten Erdverbundenheit, eines Baus, der auf dem Boden der Tatsachen steht. Das höhere Schulgebäude hat dagegen eine städtischere Anmutung durch die drei aufstrebenden Giebel als vertikalen Gegenakzent. Die Innenaufnahme der Festhalle zeigt übrigens gut die Gestalt der Holzdecke, die für uns Architekturhistoriker von besonderer Bedeutung ist. Schauen Sie sich diese dezent mit Ornamenten bemalte Decke beim nächsten Mal genauer an, wenn Sie in der Festhalle sind. So ähnlich sahen nämlich die hölzernen Decken des Stuttgarter Hauptbahnhofs aus, die im Zweiten Weltkrieg leider zerstört wurden. Damit habe ich den Bogen wieder zurück zum Bahnhof geschlagen. Man kann nicht, man darf einfach nicht in diesen Tagen schön über Bonatz reden oder eine solche Ausstellung feierlich eröffnen, und so tun als ob uns in Sachen dieses großartigen architektonischen Werks kein Wässerchen trüben könnte. Die Verstümmelung des Hauptbahnhofs ist eine schreckliche Kulturschande, und das sage ich Ihnen als Fachmann für Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Das werden uns die nächsten Generationen noch vorhalten und es wird später einmal niemand verstehen können, warum man nicht diese Bahnstrecke realisiert hat, auch mit dem sogenannten, vermeintlichen, Tiefbahnhof, indem man den Bonatzbau komplett erhalten hat. Denn das wäre technisch möglich gewesen, wenn man nur gewollt hätte. Es war auch ursprünglich von der Bahn so geplant und in Skizzen in Werbebroschüren kommuniziert, so dass man sich als Bürger dieser Stadt zumindest in diesem Punkt der Wertschätzung eines unter Schutz stehenden Kulturdenkmals lange in trügerischer Sicherheit wähnte. Die Volksabstimmung wäre noch einmal eine Gelegenheit gewesen, diese Fehlplanung zu korrigieren. Im Zentrum Stuttgarts waren sich die Bürger in dieser Sache mehrheitlich einig: 52 % stimmten dort gegen Stuttgart 21. Aber alle Bezirke außen um den Kessel herum haben mehrheitlich für diese Realisierung des Bahnprojekts gestimmt und damit, so interpretiere ich es einfach mal etwas provokativ, eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte und der Baukultur der Innenstadt dokumentiert. Ich habe es für Sie extra nachgeschlagen: in Feuerbach haben nur 46 % gegen S 21 gestimmt. Ich persönlich lese in diesem lokalen Ergebnis der Volksabstimmung eine Spaltung zwischen Innenstadtbewohnern und Vorortbewohnern. Dabei wäre es wünschenswert, in Zukunft das Bewusstsein für eine gemeinsame Identität als Stadtbürger zu entwickeln, überzeugte, stolze Stuttgarter die an einem Strang ziehen, und für die Erhaltung der wichtigsten, das Stadtbild prägenden und Identität stiftenden Baudenkmale eintreten. Nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen bei der Betrachtung dieser schönen Ausstellung. Ich wünsche Ihnen dabei auch viel Erbauung und Erkenntnisgewinn. Denn Bonatz’ Architektur vermittelt uns immer noch Botschaften über lokale und regionale Identität, über das Spannungsverhältnis zwischen Zurückhaltung und Bescheidenheit auf der einen Seite und Selbstbewusstsein auf der anderen Seite. Vielen Dank.

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Interview mit Martin Hahn 19. 12. 2019

Zuerst einmal würde mich interessieren, aus was Ihre Arbeit beim Landesamt für Denkmalpflege besteht? Also ich leite ja das Referat Inventarisation. Da geht es darum herauszufinden, welche Objekte, welche Bauten in Baden-Württemberg unter Denkmalschutz stehen. Also wir sind die, die quasi ermitteln und bestimmen können und dürfen laut Gesetz, was Kulturdenkmal ist. Das sind natürlich zum einen die klassischen Kulturdenkmale, die weitgehend erfasst sind. Schlösser, Burgen, Bauernhäuser, was weiß ich, alles Mögliche. Das heißt aber eben für die jüngeren Epochen auch, dass wir jetzt nacherfassen müssen und nachqualifizieren müssen und schauen müssen, was aus den 60er 70er und inzwischen auch 80er und 90er Jahren schon Denkmal ist. Was ist da ihr Ziel? Also ist das Ziel die Gebäude für die kommenden Generationen zu erhalten oder warum lohnt es sich ihrer Meinung nach sich für die Denkmalpflege zu engagieren? Also für die jungen Denkmale, geht es vor allem darum, dass man schaut, was in den letzten Epochen der Baugeschichte sozusagen Interessantes gebaut wurde, dass eben das auch nicht vergessen wird, obwohl es ja jetzt relativ jung ist und manche denken: Was ein Gebäude aus den 80er Jahren und schon unter Denkmalschutz? Aber das ist ja auch schon Geschichte und deswegen sind wir eben auch dabei solche jungen Kulturdenkmale jetzt zu erforschen oder zu erfassen, was schwierig ist, weil es wurde ja viel gebaut in dieser Zeit und man muss sich ein bisschen konzentrieren auf das Epochenmachende und das Wichtige, aber das versuchen wir eben herauszufinden, und solche Bauten unter Schutz zu stellen. Genau damit, dass, was sie sagen passiert, dass es eben für die nächste Generation erhalten bleibt. Und welche Werte repräsentieren dabei Denkmale, also was ist so das Besondere an Denkmalen jetzt im Vergleich zu Fotos, Filmen oder allem Möglichen an anderen Dokumentationen? Naja, Denkmale sind wirklich materielle Geschichtsquellen. Also da ist ja wirklich Bausubstanz da, die man sozusagen befragen kann, wie eine Urkunde im Archiv, in dem das Original ist und nicht eine Fotokopie. So ist auch das Gebäude das Original, das befragbar ist. Mit welchen Materialien wurde gearbeitet, mit welchen Konstruktionen hat man damals gearbeitet, egal ob im Mittelalter oder in den 1960er Jahren. Wie hat man damals geplant, gedacht, gebaut, gewohnt, gelebt? Sozusagen Zeugnisse aus der Zeit. Genau. Wie wirkt sich der gesellschaftliche Wandel auf die Denkmalpflege aus? Denn es ändert sich ja auch irgendwie dass, was für die Städte wesentlich ist im Wechsel der Epochen. Das ist immer eine Art des Blickwinkels, ja genau, was man sieht. Im 19. Jahrhundert hat man unter Denkmalen noch die großen Monumente verstanden. Das Ulmer Münster, das Heidelberger Schloss und solche Dinge, also die monumentalen Bauwerke der Vergangenheit. Und spätestens im 20. Jahrhundert, vor allem dann in der zweiten Hälfte hat man den Denkmalbegriff erweitert auf viele andere Zeugnisse, auf technische Denkmale, auf Zeugnisse des bäuerlichen Lebens, des städtischen Wohnens. Da ist auch mal ein Tagelöhner Häuschen auf der Schwäbischen Alb in die Denkmallisten hineingekommen, also eben auch ganz gewöhnliche Zeugnisse des Lebens in vergangener Zeit. Und wie wird ein Objekt zum Denkmal? Was wären so Kriterien? Kriterien stehen im Denkmalschutzgesetz. Es muss wissenschaftliche, künstlerische oder heimatgeschichtliche Gründe geben, das ist die Denkmalfähigkeit, also dies müssen wir erstmal untersuchen. Und dann gibt es noch die Denkmalwürdigkeit. Am Erhalt dieser Objekte muss ein öffentliches Interesse bestehen. Also vereinfacht gesagt, so wie nicht jedes alte Stück Papier eine Urkunde ist, die man im Archiv aufheben muss, ist auch nicht jedes alte Haus ein Denkmal, das man schützen und bewahren muss. Wir müssen das mit diesen Kriterien prüfen und eine Begründung schreiben, warum wir meinen, dass das eben aus wissenschaftlichen, künstlerischen und heimatgeschichtlichen Gründen denkmalwürdig ist und können dann so ein Objekt in unsere Denkmalliste aufnehmen. Inwieweit kann der Denkmalschutz eingreifen, wenn zum Beispiel ein Abriss anstehtt? Also hat das dann auch Auswirkungen auf das Baugeschehen? Ja natürlich, also Denkmale sollte man im besten Falle nicht abreißen. Ja, aber könnte man auch ein Gebäude, das noch nicht unter Denkmalschutz steht, davor bewahren abgerissen zu werden? Also wenn der Abriss schon besiegelt ist, sag ich jetzt mal und genehmigt, ist es sehr schwierig, dann noch mit dem Thema Denkmalschutz zu kommen. Es müsste schon ein höchstwertiges Objekt sein, das bisher, aus welchen Gründen auch immer, nicht in unserer Denkmalliste verzeichnet war. Aber das ist nur im äußersten Notfall quasi anwendbar, dass man in ein Abbruchverfahren, das eigentlich schon beschlossene Sache ist nochmal reinkrätscht, sag ich jetzt mal. Kommen auch Leute auf Sie zu, die Interesse am Denkmalschutz von ihrem Gebäude haben? Ja also es kommen immer wieder die Eigentümer auf uns zu. Es kommen aber auch andere geschichtlich interessierte Leute, Vereine oder was auch immer. Anfragen werden uns aus allen möglichen Ecken gestellt.

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Denken Sie damals nach dem Krieg war es die falsche Entscheidung die zerstörten Gebäude nicht wiederaufzubauen? Falsch oder richtig, gute Frage. Es ist immer schwierig zu sagen, weil es waren ganz andere Zeiten. Ich war letzthin im Neuen Schloss in Stuttgart und hab den Stuck betrachtet und hab mich gefragt, das war schon eine mutige Entscheidung in den 60er Jahren, da zu sagen, das bauen wir wieder auf, wo es wahrscheinlich auch eigentlich ganz andere Probleme gab in der Zeit, überhaupt was zu essen auf den Tisch zu bekommen und so weiter und so fort. Insofern Hut ab für solche Entscheidungen, dass man so etwas wiederaufgebaut hat, aber auch Verständnis, dass man nach dem Krieg vielleicht bei der einen oder anderen Ruine gesagt hat, dass schaffen wir nicht, das bauen wir nicht mehr wieder auf. Schwierig, das aus heutiger Sicht jetzt zu verurteilen, sag ich mal, dass etwas nicht wiederaufgebaut wurde. Manchmal tut es ein bisschen weh, wenn man sagt oder wenn man sieht, dass eigentlich ja ganz schön viel noch da war und man es hätte wiederaufbauen können, so ein Gebäude und es dann eben doch abgerissen wurde, aber ich glaube es ist ein bisschen vermessen aus unserer heutigen Sicht zu sagen, die haben das falsch gemacht. Ja, das ist leichter gesagt. Kann man das irgendwo einsehen, welche Gebäude jetzt zum Beispiel aus der Zeit unter Denkmalschutz stehen? Also die Denkmallisten in Baden-Württemberg sind leider noch nicht öffentlich einsehbar, da das Datenschutzgründe hat. Wir arbeiten aber daran, dass in den nächsten Jahren zu ermöglichen, dass wir ein Onlineportal sozusagen schaffen, wo man die Denkmallisten einsehen kann. Aber im Moment geht es eben noch nicht. Wie ist denn das Verhältnis von Denkmalschutz gerade zu den Gebäuden der Nachkriegsarchitektur, also auch in Hinblick auf die Qualität der Gebäude. Also werden da jetzt mehr auch unter Denkmalschutz genommen als früher? Also wir müssen natürlich bei dieser enormen Anzahl an Objekten, die nach dem Krieg gebaut wurden – also wenn man sich umschaut, das meiste was in Städten und Dörfern rumsteht ist ja eigentlich erst aus der Nachkriegszeit gebaut – müssen wir natürlich im Moment noch sehr streng auswählen, weil Seltenheit ist kein Kriterium. Schulen der 60er Jahre gibt’s zu Hauf. Sie waren vielleicht selber in einer. Landratsämter, Behördengebäude, Wohnhäuser sowieso. Also da gibt es ja unendliche Massen und insofern müssen wir ja im Moment mal schauen, welche herausragenden Leuchttürme aus dieser Zeit sind sozusagen Anzeiger, wie man gebaut hat, also stellvertretend, exemplarische Bauten und die versuchen wir sehr mühevoll, aus der Masse der Bauwerke dann eben die, vielleicht die momentan Wichtigen herauszufiltern und unter Schutz zu stellen, aber das ist sozusagen die Herausforderung vor der wir stehen. Könnten Sie mir da ein Beispiel nennen, also was so exemplarisch wäre? Ja, also beispielhaft haben wir jetzt die Kirchen der Nachkriegsmoderne, der 60er und 70er Jahre in ganz Baden-Württemberg untersucht. Das sind sage und schreibe knapp 1000 Objekte. 1000 Kirchen wurden in dieser Zeit gebaut. Das ist ungefähr ein Drittel des Kirchenbaubestandes überhaupt in Baden-Württemberg. Und wir haben sehr streng geschaut in Hinblick auf die Frage, welche Kirchen erhalten werden müssen für die Nachwelt. Und haben von diesen 1000 Kirchen 150 unter Schutz gestellt. Also daran sieht man schon, dass man schon streng bewertet und aussortiert. Wird das dann in einer Gruppe entschieden? Das haben wir in einer Projektgruppe hier entschieden, ja. Es gibt da ja auch diese Ausstellung der 12 Kirchen. Hängt diese damit zusammen? Genau, genau. Also von diesen 150 haben wir dann nochmal 12 ausgesucht, die wir beispielhaft eben in dieser Ausstellung zeigen, die für die anderen 150 auch werben sollen, weil das ist auch so ein Problem der jungen Kulturdenkmale, diese sind als Denkmale oft in der Bevölkerung noch nicht so akzeptiert, haben eher einen schlechten Ruf. Mit dem Werkstoff Beton können sich viele nicht anfreunden, mit den gewagten Formen können sich viele nicht anfreunden und man fremdelt noch ein bisschen mit dieser Architektur und deswegen muss man diese jungen Kulturdenkmale ganz besonders erklären, veranschaulichen und vermitteln. Und das soll die Ausstellung auch vermitteln? Und das soll die Ausstellung vor allen Dingen machen, genau, also einfach mal tolle Bauwerke zeigen, die Leute ein bisschen begeistern für diese Epoche, für diese Bauzeit und aufwärmen für das Thema und dass Kirche eben nicht nur das Ulmer Münster und barocke Kirchen sind und vielleicht schöne Kirchen aus dem 19. Jahrhundert, sondern dass es eben auch aus der Zeit ganz tolle Kirchenbauten gibt. Finden Sie der Denkmalschutz sollte da mehr einbezogen werden in irgendwelche Bauvorhaben von neuen Gebäuden? Also ob mehr Mitspracherecht zum Beispiel bei irgendwelchen Entwurfsdiskussionen für Denkmalpfleger vielleicht gut wäre? Dass nicht irgendwas abgerissen wird, was eigentlich noch von großer Bedeutung wäre. Ja wir werden im Prinzip schon einbezogen, also wenn es ein Denkmal ist, werden wir sowieso einbezogen, das ist klar. Bei anderen Gebäuden, ja da fehlt es dann manchmal. Das stimmt schon. Da haben Sie Recht. Da könnte man schon mehr einbezogen werden, aber auch das findet statt, indem eben vorher noch angefragt wird, steht das Objekt vielleicht doch unter oder käme vielleicht Denkmalschutz in Frage. Finden Sie es sollte insgesamt ein größeres Bewusstsein für historische Bausubstanz herrschen? Das könnte durchaus stärker sein dieses Bewusstsein, ja. Es besteht t manchmal ein Mangel sowohl in der Bevölkerung, als auch bei den Architekten und es würde nicht schaden, wenn man da mehr Bewusstsein hätte, ja. Okay ich glaube dann haben sie auch schon meine ersten Fragen beantwortet. Vielen herzlichen Dank. Gerne, wenn Sie noch Fragen haben, wenn ihnen noch etwas einfällt, dann melden Sie sich einfach nochmal.

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Gespräch mit Brigitte Sölch 03. 12. 2019 Aufgeschriebene Gedanken

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Warum haben Sie angefangen sich mit Kunstgeschichte bzw. Architekturund Designgeschichte zu befassen? Was interessiert Sie daran? Es scheint erst einmal leicht sich mit der Gegenwart zu befassen. Alles ist aber immer erst einmal fremd. Nichts ist gegeben. Weshalb hat die Nachkriegsarchitektur ein so schlechtes Ansehen? Sind es Symbole des Scheiterns? Was würden Sie sagen verbirgt sich hinter den Betonsünden? Wo sehen Sie die Probleme? Worin liegen die Qualitäten und Potenziale dieser Gebäude? Wieso und inwieweit sollten sie weiterhin Bestand haben? Ist es möglich daraus Wege für künftiges Bauen abzuleiten? Es gibt verschiedene Sichten des Wortes Qualität. Qualität von Wohnen, von Bauten, von städtebaulicher Eingliederung. Es findet auch ein Wechsel an Werten statt. Der Verkehr stand damals zum Beispiel über allem. Abriss ist nicht immer eine Alternative. Weiterbauen und Überformen. Bauen im Bestand. Gebäude werden neu kombiniert, ähnlich wie beim Rom-Prinzip. Irgendwo entdeckt man immer etwas Neues. Die Gegenwart kann mit der Vergangenheit neu kombiniert werden. Oft können Dinge entdeckt werden. Gerade, was das Experimentelle angeht, ist in der aktuellen Architektur nicht mehr viel zu finden. Dabei ist das leicht Utopische von damals ein Potenzial. Auch die Fragenhorizonte verschieben sich immer weiter. Zwar sieht es manchmal schwierig aus, aber es gibt dennoch Potenziale. Vielleicht sollten auch einmal die Bewohner befragt werden. Zum Beispiel Hören im Raum. Manche sehen Hellhörigkeit als Potenzial. Potenziale gibt es auch auf ganz anderen Ebenen, Kunst am Baurecht zum Beispiel. Kunst wurde zum verbindlichen Gesetz. Oft liegen die Potenziale also in Details. In der Interaktion. Wie sehen Sie das Verhältnis von Respekt vor dem Bestehenden und dem Drang nach Neuem? Sollte ein größeres Bewusstsein für die historische Bausubstanz herrschen und, wenn ja, wie könnte man es erreichen? Durch den Massenwohnungsbau der 70er Jahre ist überhaupt erst die Architekturkritik entstanden. Seitdem kommt es immer wieder zu einer wiederkehrenden Altstadtdebatte. Die Debatte um die historische Bausubstanz findet sich auch bei der Frankfurter Altstadt und den Neubauten wieder. Es gibt verschiedene Lager. Diejenigen, die sehr eng am Stil sind im Vergleich zu Offeneren. Was halten Sie davon, dass sich damals eine Abkehr von historisierenden Formen ereignet hat? Damals entschied man sich für Neubau, wieso also heute nicht? Zunächst war die Situation damals eine ganz andere. Damals gab es vor allem Ruinen. Heute ist die Grundlage eine ganz andere. Man weiß darum. Das Neue muss bewusst abgerissen werden. Oftmals handelt es sich hierbei um eine Ressourcenverschwendung. Jeder Abriss. Die ökologische Frage wird wahrscheinlich auch immer aktueller. In Italien bekommt beispielsweise, was das betrifft, jeder die gleiche Bildung. Das gleiche kulturelle Verständnis. Bei uns werden die Mittel hierbei immer gekürzt. Es gibt einen Kunstleistungskurs, Kunstkurse, die einen gewissen Geschichtsanteil haben, aber eben Anteil. Es stellt sich also die Frage, wer kann wie Zugang haben. Das ist ein großes Thema und eine sehr emotionale Debatte und wird es auch immer sein. Denn Kunst ist Lebensraum. Finden Sie Denkmalpfleger sollten mehr Mitspracherecht bei Entwurfsdiskussionen haben? Es gibt verschiedene Denkmalansichten. Da stellt sich auch die Frage nach der Definition von Architektur überhaupt. Meint sie die fertigen Bauten oder die, die noch im Bau sind?

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Architektur wahrnehmen

In der Brockhaus-Enzyklopädie wird Architektur als Baukunst definiert und diese wiederum als »älteste und am meisten zweckgebundene der bildenden Künste.«1 Dieser Aspekt der Kunst, der meist als Begriff mit der Baukunst verbunden ist, auf jeden Fall aber mit dem Zusatz der künstlerischen Gestaltung versehen, verbindet damit die Definitionen der klassischen Nachschlagswerke.¶ Das Prestel Taschenlexikon Architektur von Klaus Richter definiert Architektur als »Bezeichnung für die Kunst des Baumeisters, Ingenieurs und Stadtplaners«.2 ¶ Das Wörterbuch Synonyme übersetzt Architektur mit Baukunst und Baukunst mit Architektur.3 ¶ Die Zeit – Das Lexikon in 20 Bändern schreibt: »Unter A. versteht man i. Allg. den Hochbau, in dem sich, im Unterschied zum Tiefbau, Zweckerfüllung mit künstler. Gestaltung verbindet«.4 ¶ Im Bertelsmann Lexikon heißt es denn auch entsprechend, Architektur sei »Baukunst, die profanen wie sakralen Zwecken dienenden älteste aller bildenden Künste; deren Ergebnis die Behausung im weitesten Sinn ist«.5 ¶ Im Duden heißt es: »Architektur ist die Baukunst [als wissenschaftliche Disziplin]«, ferner ein »[mehr oder weniger kunstgerechter] Aufbau und [künstlerische] Gestaltung von Bauwerken« und drittens die »Gesamtheit von Erzeugnissen der Baukunst«.6

Alexandra Abel 90 Prozent unserer Zeit verbringen wir in Architektur und die restlichen 10 Prozent fast ausschließlich in ihrer unmittelbaren (Sicht-)Nähe. Alles, was unser Leben ausmacht – essen, trinken, lieben, schlafen, geboren werden, sterben, krank sein, gesund, glücklich, unglücklich, arbeiten, feiern, alleine sein, zu zweit, groß werden, klein sein – all dies geschieht unter den Vorgaben von Architektur. Architektur gestaltet die Realität unserer Existenz. Sie ist der Raum, in dem sich unser Leben vollzieht. Ihre und unsere eigene Identität sind miteinander verwoben, hängen voneinander ab. Dadurch macht sie unsere Freiheit aus und das ist zugleich ihre Verantwortung.7 Winston Churchill We shape our buildings, and afterwards our buildings shape us.8 Alexandra Abel Wenn wir Architektur in ihrer Bedeutung für uns verstehen wollen, müssen wir aufmerksam werden: nicht auf Architektur, sondern auf unsere Interaktion mit Architektur. Dann können wir Ansprüche an sie entwickeln und selbstsicher werden in unserer Wertung. Architektur in den klassischen Nachschlagswerken ist definiert als kunstvoll Gebautes, zumeist bezeichnet als Baukunst. Das ist eine Definition, die ein Urteil, eine Wertung in sich trägt. Wer aber fällt dieses Urteil? Jeder für sich? Oder nur Experten? Architekturkritiker? Wie lange gilt ein solches Urteil? Muss für jedes Gebäude neu entschieden werden, ob es sich um Architektur handelt? ¶ Architektur soll hier zunächst ganz allgemein als gebaute Umwelt verstanden werden. Jede Wertung basiert auf Wahrnehmung. Über die Beschäftigung mit der Wahrnehmung wird Wertung nachvollziehbar und damit das sonst kaum zu fassende ›Mehr‹, als Gebautes zu kunstvoll Gebautem werden lässt.¶Architektur entsteht für uns Menschen. Deshalb kann sie nicht gelingen fernab von uns. Wenn sie Kunst ist, ist sie es in Bezug auf uns. Und die Resonanz wiederum kann man wahrnehmen. Architekturwahrnehmung in diesem Sinn meint also nicht die Fähigkeit, uns selbst und unser Gegenüber (er)lebend in und mit ihr wahrzunehmen.9 ¶Mensch sein heißt, im Raum sein und in der Zeit. Diese Dimensionen definieren die Bedingung unserer Existenz.¶In der Zeit sind wir nicht frei. Wir können uns in ihr nicht vor und zurück bewegen, sie nicht anhalten. Können wir die Dimension der Zeit in irgendeiner Weise beeinflussen? Etwa durch unsere eigene Geschwindigkeit, im Sinne einer Entschleunigung oder durch Einsteins Zeitdilatation? Unsere Sehnsucht nach dem Augenblick,[…] ist immer auch der Versuch, unserer menschlichen Beschränktheit in der Dimension der Zeit etwas entgegenzusetzen. Uns inmitten von so viel Unendlichkeit mit unserer eigenen Endlichkeit am Augenblick festzuhalten. Fortgespült werden wir dennoch, denn wir können in der Zeit nicht ankommen. Die Zeit nimmt alles mit: perfekte Momente, unperfekte, Glück, Leid, unsere Erinnerung, uns selbst.10 Eric Clapton Es ist die Zeit, die uns in die Knie zwingt.11 Alexandra Abel Geborgenheit gibt es für uns nur im Raum. Nicht im grenzenlosen Weltall, das wir im nächtlichen Sternenhimmel erahnen.12 Blaise Pascal Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.13 1 Vgl. Brockhaus. Die Enzyklopädie. In 24 Bänden. Band 2, Mannheim: Brockhaus 1987, S. 82. 2 Vgl. Klaus Richter, Architektur des 20. Jahrhunderts, München: Prestel Taschenlexikon 2000, S. 5. 3 Vgl., Herbert Görner und Günter Kempcke, Wörterbuch Synonyme, München: dtv 1999; S. 80, S. 125. 4 Vgl. Die Zeit – Das Lexikon . In 20 Bändern. Band 1, Mannheim: Bibliographisches Institut 2005, S. 343. 5 Vgl. Bertelsmann Lexikon. Band 1; Güterloh: Bertelsmann Lexikon-Institut 1992, S. 288. 6 Vgl. Dudenredaktion, Duden – Deutsches Universalwörterbuch. 5. überarbeitete Auflage, Mannheim Dudenverlag 2003, S. 163.

7 Alexandra Abel, Bernd Rudolf (Hg.), Architektur wahrnehmen, Bielefeld: transcript Verlag 2018, S. 21. 8 Dieses Zitat ist aus der Rede, die Winston Churchill (1874 – 1965), britischer Staatsmann und Premierminister anlässlich der Zerstörung und des Wiederaufbaus des House of Commons am 28. Oktober 1943 im House of Commons gehalten hat. Dieses Zitat selbst ist zitiert nach: hansard.millblanksystems.com(commons/1943/ oct/28/house-of.commons-rebuilding. Aufgerufen am 01. 05. 2020. 9 Alexandra Abel, Bernd Rudolf 2018, S. 22 f. 10 Vgl. Ebd., S. 23.

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11 Tears in Heaven von Eric Clapton. siehe: https://www. songtexte.com/songtext/eric-clapton/tears-in-heaven33d58829.html. Aufgerufen am 01. 05. 2020. 12 Alexandra Abel, Bernd Rudolf 2018, S. 24. 13 Blaise Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände, Übertragen und herausgegeben von Ewald Wasmuth, 9. Auflage, Gerlingen: Lamberg Schneider Verlag 1994, S. 106.

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Alexandra Abel [I]nnerhalb dieser grenzenlosen unfassbaren Dimension können wir uns Behausungen schaffen, uns abgrenzen, einrichten, ankommen,– für eine Zeit. Wir können dem unendlichen Raum eigenen Raum abtrotzen und diesem eine Identität geben, unsere Identität, können diese Identität weiterreichen, Raum durch Zeit.14 Blaise Pascal Denn, was ist zum Schluß der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All.15 Alexandra Abel In dieser schmerzhaften Zwischenposition, die Bestimmung unseres Daseins ist, brauchen wir die schützende Behausung, aus der heraus wir auf das unendliche Sternenmeer schauen können.16 ¶Architektur schafft Räume und verändert den Raum, der uns als Außenraum umgibt. Die abstrakte Dimension Raum umgibt uns in Form eines realen Raumes, der ganz wesentlich von Architektur geprägt ist. Ihn können wir begreifen, ergreifen, berühren und für wahr nehmen, mit all unseren Sinnen. In der Auseinandersetzung mit diesem Raum können wir ankommen in der Realität unserer menschlichen Existenz.17 Alexandra Abel In Sartres Theaterstück Geschlossene Gesellschaft sitzen drei Menschen in einem Hotelzimmer. Irgendwann wird ihnen und den Zuschauern klar: Sie sind in der Hölle. Nicht, weil es dort raucht und knallt und extrem heiß ist, sondern weil sie einander Hölle sind. Die Hölle, das sind Menschen und Räume, die uns nur negatives spiegeln. Unsere Identität entsteht durch Begegnungen: mit uns selbst, den anderen (Menschen, Tieren…), dem anderen (Umwelt). Im Spiegel dieser Begegnungen entwickeln und bewahren wir unser eigenes Selbst. Wenn ein Baby geboren wird, streichelt seine Mutter es.¶Und ihre Hände zeigen dem Baby die Grenzen seines Körpers. Wenn das Baby den Mund spitzt, lächelt, weint, ahmt die Mutter instinktiv seinen Gesichtsausdruck nach, selbst Geräusche, die es macht. Wie in einen Spiegel schaut das Baby, wenn es in das Gesicht seiner Mutter schaut. Und begreift so seine eigenen Gefühle. Sie ist seine Resonanz. Wenn die Verbindung zwischen den beiden erst hergestellt ist, funktioniert der Spiegel auch in der anderen Richtung. Die Mutter lächelt das Baby an. Das Baby imitiert ihr Lächeln. Und fühlt sich dadurch glücklich. Auf die gleiche Weise kann man seine eigene Stimmung aufhellen, wenn man sich im Spiegel anlächelt oder zehn wildfremde Menschen erfreuen, die man in der Fußgängerzone zum Lächeln bringt, indem man sie anlächelt. Und auf ähnliche Weise interagieren wir mit Architektur. Wir beziehen sie immer auf uns selbst. Wir fühlen uns erhaben im Straßburger Münster oder verschüchtert und klein. Das Haus birgt und behütet uns, beschützt uns. Oder es bedrückt und verängstigt uns. Diese Resonanz bestimmt unsere Gefühle. Unser Verhalten. Deshalb spüren wir in Architektur immer nur uns selbst. Ihre Wirkung ist auf uns selbst bezogen. Wenn Architektur uns diese Resonanz verwehrt oder uns dauerhaft negative Gefühle eingibt, wird sie uns zur Hölle. Identität entsteht aus Begegnungen: Begegnungen mit uns selbst. Dem anderen. Der Umwelt.¶Architektur prägt unsere Identität dabei zweifach: in der direkten Begegnung zwischen dem eigenen Selbst und der Umwelt und indirekt, weil Architektur auch soziale Interaktionen beeinflusst.¶Was wir sind, was wir sein könnten, was wir sein werden, hängt deshalb zu einem Großteil ab von dem gestalteten Raum, der uns umgibt.18 Die Funktionsweise und die Auswirkungen (aller) Begegnungen […] erschließen sich uns nur durch das Verständnis unserer Wahrnehmung. Denn die Wahrnehmung ist unser Bezug zur Wirklichkeit. Sie ist realer für uns als die Wirklichkeit selbst.19 Alexandra Abel Unser Bewusstsein ist beschränkt, selektiv, individuell, komplex, konstruktiv und kreativ.[…]Vorstellungen im Sinne solcher Wahrnehmungserweiterungen unterscheiden beispielsweise Architekten von Nicht-Architekten. Kann ein Nicht-Architekt die Konstruktion eines Hauses wahrnehmen, wenn er keine Vorstellung davon besitzt? Sieht er eine Dachtraufe? Ein Gesims? Eine Gebäudefunktion hinter der Fassade? Um Dinge wahrnehmbar zu machen, muss man sie vorstellbar machen.20 ¶Zum Teil werden wir auf Faktoren aufmerksam, automatisch und ohne unsere Zustimmung. Aber wir können auch selbst entscheiden, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.21 ¶Auffallen basiert auf dem Kontrast zum Nichtauffallen.22 ¶Wir können nicht neutral und objektiv wahrnehmen.23 ¶Das Sehen ist ein Fernsinn, intellektuell, dem Denken näher als dem Fühlen. Wirklich dicht in Kontakt treten mit ihr können wir nur, wenn wir beginnen, sie auch zu hören, zu fühlen, zu riechen. Wenn wir unsere Hand nach ihr ausstrecken und anfangen, sie zu berühren. Wenn wir beginnen, mit ihr zu kommunizieren, mit unseren Schritten und dem Widerhall unserer Schritte von der Wand.24 ¶Bis heute sind wir in unserer Wahrnehmung auf Bewegung fixiert. Wir nehmen optimal wahr, während 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Alexandra Abel, Bernd Rudolf 2018, S. 24. Blaise Pascal 1994, S. 43. Alexandra Abel, Bernd Rudolf 2018, S. 24. Ebd. S. 25. Ebd. S. 25 f. Ebd. S. 26. Ebd. S. 27. Ebd. S. 29. Ebd. S. 30.

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23 Ebd. S. 33. 24 Ebd. S. 36.

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wir selbst uns bewegen. Und wir nehmen bevorzugt wahr, was sich bewegt. Deshalb hat es Architektur mitunter schwer, Aufmerksamkeit zu erregen. Denn sie bewegt sich nicht im Raum und nicht für uns wahrnehmbar in der Zeit.25 Le Corbusier Ich kann nur leben, wenn ich sehen darf.26 Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper.27 Martin Heidegger Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen.28 Alexandra Abel Wohnen in diesem Heideggerschen Sinn geht über das private Wohnen in den eigenen Räumen hinaus. Es steht für das tatsächliche Ankommen im Raum und ist als solches Zweck und Bestimmung aller Bauten. Deshalb kann man Architektur letztlich nur wahrnehmen, während man in ihr wohnt und danach werten, wie es sich in ihr wohnt.29 Rudolf Arnheim Alles Wahrnehmen ist auch Denken, alles Denken ist auch Intuition, alles Beobachten ist auch Erfinden.30 Alexandra Abel Unser Wunsch nach Kreativität bei der Wahrnehmung entspringt unserem Wunsch nach Teilhabe. Nur wenn wir selbst in dem Prozess der Wahrnehmung etwas hinzufügen können, haben wir wirklich Anteil an unserer Umwelt, an der Welt, die uns umgibt. Schönheit und Perfektion sind uns zu wenig. Sie lassen unserer Wahrnehmung keinen Raum. Wir wollen in unserer Wahrnehmung den letzten Schritt zur Vollkommenheit selbst tun, wollen die Gesamtkomposition selbst entdecken. Wir wollen kein Kunstwerk vorgesetzt bekommen, das wir nur bewundern können. Wir wollen durch unsere Wahrnehmung Mitschöpfer sein, durch sie die Trennung zwischen unserem eigenen Ich und der Umwelt überwinden. Deshalb lieben wir es, Details zu entdecken, versteckte Gesamtkompositionen und Gestaltungsabsichten zu enträtseln. Ob im Blick auf die Wolken, auf Felsformationen oder in den Gassen Venedigs. Auch mehrdeutige Wahrnehmungsangebote erlauben diese kreative Wahrnehmung, so sie sich durch unsere eigenen Wahrnehmungsenscheidungen in etwas Sinnhaftes auflösen lassen. Wahrnehmungshindernisse fordern und fördern uns, weil wir aktiv werden müssen und dadurch bewusst erleben, was wir sowieso immer sind: Erschaffer unserer eigenen Wirklichkeit. Denn Platon hatte nur teilweise Recht: Wenn man uns fesselt, an Händen und Füßen und am Hals und uns an die gegenüberliegende Höhlenwand starren lässt, uns Schatten zeigt von etwas, vielleicht von einer Amphore und einem Pferd, so werden wir ein Theaterstück daraus machen, Formen, Bedeutung, Handlung hineinsehen, ergänzen, erfinden und erraten. Wir sehen nicht Schatten, sondern unsere eigene Vision der Wirklichkeit an der Höhlenwand.31 Paul Valéry Die Überraschung ist das Erwachen im Wachen. Man wird mitten im Wachen geweckt.32 Alexandra Abel Was geschieht, wenn die Wände, die uns umgeben, nicht mehr unsere Aufmerksamkeit erregen? Wenn wir nicht mehr über das Fenster und seine Gestaltung nachdenken, weil das im Bildschirm reflektierte Licht von draußen uns doch nur blendet? Wenn unser virtueller Körper dominanter wird als unser realer? Dann sind wir angekommen in Aldous Huxleys Schöne[r] neuer Welt. Dann leben und sterben wir fernab von der Realität unserer Körper. Um dies zu verhindern brauchen wir heute mehr denn je zusätzlich zu den virtuellen Räumen reale Räume, die so sehr Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitseinladung sind, dass sie uns weiterhin stark und sicher mit dem realen Raum und dadurch mit uns selbst verbinden. Ästhetik ist dem Wortsinn nach Wahrnehmung. Sie zu verstehen ist kein Vorrecht eines Berufsstandes. Dieser Berufsstand aber kann Orte schaffen, die uns zu eben jener sinnlichen Wahrnehmung einladen und uns dadurch ästhetisch machen.33 ¶Der Kontakt zwischen Mensch und Architektur ist kein theoretischer. Praktisch gelebt aber beginnt jede Interaktion zwischen Mensch und Architektur mit Sinneserfahrungen. Lädt ein Gebäude zum Heideggerschen Wohnen ein? Wie antwortet der Raum auf unsere Schritte? Wollen wir einen Fenstergriff berühren? Hat die Wahrnehmung einer Fassadengestaltung Platz für unsere eigene kreative Teilhabe? Ist ein Krankenhaus vorbereitet auf unseren Schmerz, unsere besondere Empfindlichkeit? Der Sinn von Architektur muss für unsere Sinne verständlich sein. Theoretische Lösungen, die unsere Wahrnehmung nicht nachvollziehen kann, sollten Theorie bleiben. Sie entstehen nicht für uns. Architektur gestaltet die Realität, in der sich unser Leben vollzieht. Sie umgibt uns wie kein anderer Umweltfaktor. Sie beeinflusst unser Erleben 25 Ebd. S. 39. 26 Le Corbusier, Feststellungen, Braunschweig: 1987, S. 21. 27 Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, Berlin, Frankfurt am Main, Wien: 1963, S. 38. 28 Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, 1951, unter:http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/Lehrstuhl/deu/heidegger.pdf. Aufgerufen am 08. 03. 2016. 29 Alexandra Abel, Bernd Rudolf, 2018, S. 40 f.

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30 Rudolf Arnheim, Kunst und Sehen. eine Psychologie des schöpferischen Auges. 3. unveränderte Auflage, Berlin [u. a.]: 2000, S. 6. 31 Alexandra Abel, Bernd Rudolf, 2018, S. 42 – 44. 32 Paul Valéry, Ich grase meine Gehirnwiese ab. Cahiers, Auswahl, Frankfurt am Main: 2011, S. 262. 33 Alexandra Abel, Bernd Rudolf, 2018, S. 46.

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und Verhalten. Sie wird zu unserer Erinnerung, prägt über unsere Wahrnehmungsdepots und -bahnungen unsere Persönlichkeit. Sie prägt unsere Identität und durch sie manifestiert sich unsere Identität, Identität, die man kommunizieren und weiterreichen kann, Raum durch Zeit.¶So vieles in unserem Leben müssen wir hinnehmen, weil uns keine andere Wahl bleibt, weil wir keinen Einfluss haben. Hier aber, an dieser Stelle ist das anders: Wir können Einfluss nehmen auf die gestaltete Umwelt, als Architektur Schaffende und als von Architektur Betroffene. Wir können Ansprüche entwickeln und einfordern. Und das sollten wir auch tun.34 Frank Werner Die Stadt muss als lebendiger, atmender Körper betrachtet werden, der dem Wachstum ausgesetzt ist, den aber auch Krankheit, fieberhafte Krisen befallen können, die er überwinden muß.35 ¶Jede Stadt muß sich auf den Weg zu ihrer ureigenen Gestalt machen: Sie findet diese Gestalt sowohl in Kunst- und Lebenswillen der dahingegangenen Geschlechter, deren Zeugnisse die Gegenwart durchaus noch beleben, als auch in dem neuen Formwillen der jeweils gegenwärtigen, die jüngste Weltsekunde erlebenden und erfüllenden Generation. Zu dieser aus Vielfältigem zusammengesetzten Idee von sich selbst muß sich auch eine Stadtgesellschaft wie die Stuttgarts wieder aufmachen.36 Frank Werner WissenschaftlicheUntersuchungen haben die Vermutung bestätigt, daß Menschen in sterilen, ahistorischen oder ständig sich verändernden Umgebungen lebensunfähig sind. Es gibt dort keine Identifikationen.37 Albert Knoepfli Auf welche Art sich die Altstadt gesamthaft für unsere Zeit präparieren läßt und in welcher Weise ihre Geschichtlichkeit dem Bewohner und Gast von heute nahegebracht werden soll, darüber besteht keine Einigkeit; sie kann auch gar nicht bestehen, weil die generationeninterne, unbewußt stille Übereinkunft, was für Wahrnehmung und Erlebnis an geschichtlichen Stadtelementen wesentlich sei und gerettet werden soll, sich im Pendelschlag der Lebensalter wie im Wechsel der Epochen ändert […] Grund genug, nach Formel und Wunsch der eigenen Generation das Architekturerbe durchzukämmen, auszusieben und auch schon im Namen künftiger Generationen selbstgerecht zu verkünden, was für sie gerettet und übrigbleiben darf.[…] Nach diesem merkwürdigen Erbrechtsbegriff aber zerstören wir ganze Altstädte und Siedlungsbilder.38 Bruno Taut Die Architektur ist Träger, Ausdruck, Prüfstein für jede Zeit. (Die Stadtkrone 1919) […] Architektur nennen die Manifestanten […] bleibende Gestaltung des öffentlichen Raumes. Straße, Platz, Stadtraum sind gemeinsamer Besitz, dessen Wert von der Gestaltqualität der Bauwerke abhängt.39 Julius Posener Wir werden also darauf achten müssen, wie die Leute leben und wie sie leben wollen. Wir werden es nicht für unter unserer Würde erachten dürfen, diese Bedürfnisse so zu befriedigen, daß sie funktionieren; denn die Städte und die Stadtteile, die man heute plant und baut, funktionieren schlecht. Die Künstler unterstellen immer wieder, daß sie zweckrational geplant werden. Gewiß, ganz ohne Sinn und Verstand werden sie nicht geplant: sie dienen schon jemandem, nur nicht den Benutzern. Werden sie ihnen dienen, wenn die Künstler sie gestaltet haben? Hängt wirklich ihr Wert von der Gestaltqualität der Bauwerke ab? Wie sagte doch Nietzsche: »Die Architekten lügen so viel. Wie bin ich der Architekten müde!«40 Wolf Jobst Siedler Die Zeit wisse noch, wie das Besondere, nicht aber wie das Selbstverständliche auszusehen hat. Das Defizit komme nicht aus technischen, sondern geistigen Prozessen.41 Henry van der Velde Der vollkommen nützliche Gegenstand, der nach dem Prinzip einer rationellen und folgerichtigen Konstruktion geschaffen wurde, erfüllt die erste Bedingung der Schönheit, erfüllt eine unentbehrliche Bedingung der Schönheit; und dadurch, daß wir diese unentbehrliche Bedingung forderten, bestimmten wir allerdings den Unterschied zwischen der modernen Schönheit und der prämodernen und mittelalterlichen Schönheit.42 34 Ebd., S. 46 f. 35 Frank Werner, Alte Stadt mit neuem Leben. Architekturkritische Gänge durch Stuttgart, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH 1976, S. 7 f. 36 Ebd. S. 8. 37 Ebd., S. 20. 38 Ebd., S. 30 f. 39 Roland Ostertag (Hg.), Stuttgart soll schöner werden. Warum muss so vieles so hässlich sein? Wettbewerb der Stiftung Architekturforum Baden-Württemberg. Erstes Schwarzbuch, Stuttgart: Peter-Grohmann-Verlag 2007, S. 7.

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40 Ebd. 41 Ebd., S. 4. 42 Ebd., S. 6.

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Abb. 16

Abb. 17

Postkarten zeigen oftmals bekannte Bauwerke, Sehenswürdigkeiten sowie charakteristische Plätze eines Ortes. Die Abbildungen solcher Ansichtskarten sind identitätsstiftend für diesen Ort. Ein Eindruck wird vermittelt. Dieser Eindruck wird häufig als repräsentativ für diesen spezifischen Ort betrachtet. Mit was identifizieren sich die Menschen? Was ist von Bedeutung? Zugleich kann auch ein Blick auf die andere Perspektive geworfen werden: Was hat von außen betrachtet Relevanz? Interessant scheint es also eine Entwicklung der Postkarten zu betrachten. Wie verändert sich das Bild bzw. die Wahrnehmung eines Ortes?

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Abb. 18

Abbildung 16 – 19 zeigen aktuelle Postkarten, wie sie in der Touristeninformation zu finden sind. Abbgebildet sind vor allem alte Gebäude wie das Neue Schloss oder die Staatsoper. Vereinzelt werden auch repräsentative neuere Bauten dargestellt.

Abb. 19

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Abb. 20

Abbildung 5 – 12 lassen erahnen, wie die Stuttgarter Postkarten in den vergangenen Jahrzehnten aussahen. Abb. 5 stammt aus den 30er Jahren.

Abb. 21

aus den 60er Jahren

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Abb. 22

gelaufen 1974

Abb. 23

Rathausplatz

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Abb. 24

gelaufen 1956

Abb. 25

gelaufen 1975

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Abb. 26

gelaufen 1974

Abb. 27

SchulstraĂ&#x;e

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Abb. 28

Abb. 29

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Abb. 30

Abb. 31

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Abb. 32

Abb. 33

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Abb. 34

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»So differenzieren wir noch heute zwischen bauhistorisch bedeutenden Städten, die eine höchstmögliche Anzahl bedeutender Bauten im Stadtgefüge beherbergen, und solchen Städten, in denen die großen bauschöpferischen Leistungen mehr »provinziell« aufgearbeitet wurden, deren Bestand aber dennoch unabdingbar war […] für das geistige und künstlerische Leben der Zeit. Wollte man die Stadt Stuttgart in eine solche Rangliste einordnen, so wäre sie sicherlich der letzteren Gruppe zuzuteilen.«1

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1669 bezeugt der Mathematiker-Philosoph Gottfried Wilhelm Leibnitz, dass die Stadt Stuttgart keine guten Voraussetzungen für die Erfüllung ihres Zwecks aufweist. Allem zum Trotz entwickelt sich die Stadt immer weiter.2 Das moderne Stuttgart steht nun für eine ambivalente Baukultur, die sich aufgrund der hohen Bautätigkeit ständig verändert hat und verändert. Stuttgart ist ein Verdichtungsraum. Die Stadt hat ca. 2 890 Einwohner pro Quadratkilometer. Sie ist kommunal sehr kleinräumig gegliedert mit unmittelbar benachbarten Mittelzentren. Die Topografie wird in Stuttgart teilweise als Entwicklungshindernis gesehen. Sie hat die Besiedlung der Stadt stark vorbestimmt und bestimmt das Siedlungsbild auch heute noch: Der Kern erstreckt sich um die Stadt und entlang der nach außen meist in Tälern verlaufenden Verkehrslinien bzw. Entwicklungsachsen. Es mussten so in den Sektoren zwischen den Entwicklungsachsen weite Landschaftsteile, meist Höhenlagen, von intensiver Bebauung freigehalten werden. Diese Voraussetzungen führten zu einer Übernutzung und Überlastung des Raums. Es ist eng geworden. Der Verdichtungsprozess führt zu Flächenmangel. Nicht alles ist bebaubar. »Weltoffenheit vereint mit schwäbischer Lebensart, das Nebeneinander von Innovation und Hochkultur, die moderne Großstadt in grüner Kessellage«3 – so stellt sich die Stadt Stuttgart vor: »Schon der Literat Eduard Mörike hatte Stuttgart in sein Herz geschlossen und schwärmt 1853 […] von schönen alten Häusern und ihren Erkern.[…]Und auch heute ist Stuttgart trotz Bombenangriffen und starker Zerstörung im Zweiten Weltkrieg voller architektonischer Schmuckstücke. Die »Großstadt zwischen Wald und Reben«, wie es einst in einem Werbeslogan hieß, ist in der Tat sehens- und erlebenswert.¶Stuttgart sei der Name, den die Schwaben dem Paradies auf Erden gegeben haben. So schreibt 1519 der Humanist Ulrich von Hutten. Ob das an den Weinbergen, den vielen Parks und Waldgebieten liegen mag? Oder vielleicht an dem südländischen Flair vieler Plätze und Viertel? […] ¶Wer aufs Geratewohl durch Stuttgart schlendert, stößt auf manch schönes altes Haus. Das Klösterle in Bad Cannstatt etwa und die alte Kanzlei am Schillerplatz zählen zu den Kleinoden unter den Bauten. Prachtvoll und imposant wie Riesen erscheinen dagegen der Königsbau mit seinen Säulenreihen oder das Haus der Wirtschaft. Ganz anderer Gattung wiederum ist die Weissenhof-Siedlung mit ihren hellen, in strenger Harmonie angelegten Häusern berühmter Architekten oder die im Jugendstil erbaute Markthalle. Die beiden Häuser von Le Corbusier in der Stuttgarter Weissenhofsiedlung sind zusammen mit weiteren Bauten des weltberühmten Architekten am 17. Juli 2016 zum UNESCO Weltkulturerbe ernannt worden.¶Kirchen und Kapellen geben den Stuttgarter Stadtteilen, den Vierteln und Plätzen ihr jeweils eigenes Flair: die Kirchen und Kapellen der Stadt. Majestätisch-würdevoll erhebt sich mitten im bunten Treiben der Fußgängerzone die Stiftskirche mit ihren beiden Türmen. Verträumt-romantisch dagegen ist beispielsweise die Grabkapelle auf dem Württemberg gelegen. Sie sind Blickfang schon von weitem, Orte der Ruhe zum Verschnaufen und Stätten zahlreicher Kunstschätze.¶ […] In Stuttgarts Museen und Galerien kommt jeder auf seine Kosten. Die Staatsgalerie mit ihren bedeutenden Gemälde- und Kunstsammlungen wie etwa der Sammlung altschwäbischer Kunst ist international bekannt. Schätze ganz anderer Art können im Mercedes-Benz- und PorscheMuseum besichtigt werden. Und das Naturkundemuseum mit seinen Krokodilsauriern und den ältesten Schildkröten der Erdgeschichte zieht vor allem Kinder in den Bann.¶Rund 600 Hektar der Stuttgarter Grünflächen bestehen aus hochwertig gestalteten und ökologisch gepflegten Park- und Grünanlagen. Dazu zählen neben den großen, zentralen Parks des "Grünen U" wie dem beliebten Höhenpark Killesberg oder dem Schlossgarten so unterschiedliche Anlagen wie der Stadtpark Vaihingen, der Travertinpark im Hallschlag oder der "Grüne Heiner" in Weilimdorf.[…] ¶Die Plätze und Viertel sorgen für südländisches Flair: die Plätze und Straßenviertel der Landeshauptstadt. Sobald nach den Wintermonaten die Temperaturen steigen und die Sonne scheint, zieht es die Stuttgarter auf die Plätze und Straßen hinaus, zu Kaffee und Kuchen im Freien oder für einen Plausch im Gras auf dem Schlossplatz. Ab und an verändert sich die Atmosphäre der Stuttgarter Plätze ein wenig – je nachdem, ob gerade ein Gemüse- und Obstmarkt statt findet, ein Antik- und Trödelmarkt oder der Weihnachtsmarkt […].¶Die Schlösser sind Zeugen königlicher Zeiten: Die Schlösser der Landeshauptstadt. Großzügig und prachtvoll angelegt ziehen sie die Blicke auf sich wie etwa Schloss Rosenstein mit seiner einladenden, von schlanken Säulen gesäumten Fassade. Andere wieder sind eher verspielt, aber nicht weniger imposant, wie etwa das weiße Schlösschen Solitude. Sie sind beliebt bei Hochzeitspaaren, bei Touristen und Einheimischen. Sie laden ein zum Promenieren, zu Führungen und dazu, sich für ein paar Stunden wie eine Königin oder ein König zu fühlen.¶Jeder einzelne der Stuttgarter Türme hat seinen eigenen Charakter: der Musikhochschulturm verwöhnt seine Besucher mit wohlklingenden Melodien, der Killesbergturm zählt zur modernen, aparten Sorte. Der TagblattTurm ist heute wegen seiner fünf Kunst- und Theatereinrichtungen vom künstlerischen Schlag und der Bismarckturm weiß Einiges aus der Geschichte zu erzählen, während der Fernsehturm einen atemberaubenden Ausblick bietet.«4 1 Frank Werner, Alte Stadt mit neuem Leben. Architekturkritische Gänge durch Stuttgart, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH 1976, S. 15. 2 Vgl. Ebd., S. 15 f. 3 https://www.stuttgart.de/stadtportrait. Aufgerufen am 06. 06. 2020. 4 Ebd.

Baukultur

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Abb. 35

Königsstraße im Juli 1944

Abb. 36

Kronprinzstraße

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Abb. 37

das kleine Haus der WĂźrttembergischen Staatstheater

Abb.38

Markplatz 1944. Rechts das Alte Schloss

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Abb. 39

am Schillerplatz

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Abb. 40/41

Arkadenbogen der Firma Papier-Haufler am Marktplatz mit Blick Richtung MarktstraĂ&#x;e

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Abb. 42

Blick aus dem ausgebrannten Wilhelmsbau

Abb. 43

Blick aus Kronprinzstraße durch Kienestraße in Richtung Stiftskirche nach den Bombenangriffen am 25. und 26. Juli 1944

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Abb. 44

Calwerstraße in Richtung Kienestraße

Abb. 45

Adelbergerhof. Früher Klostergasse mit Blick auf das Kaufhaus Breuninger

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Abb. 46

aus TrĂźmmern

Abb. 47

brennende CalwerstraĂ&#x;e

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Abb. 48

Altes Schloss

Abb. 49

Olgabau am Schloßplatz

Abb. 50

Altes Schloss mit herabgestürzten Kapitellen von Säulen der Galerien im Innenhof und im Vordergrund eine Benzinflammstrahlbombe

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Abb. 51

Kreuzung Friedrich- und Lautenschlagerstraße

Abb. 52

Bombentrichter und aufgerissene Straßenbahnschienen in der Tübinger Straße

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Abb. 53/54

Blick aus zerstörter Kronprinzstraße auf Stiftskriche durch Kienestraße

Vermutlich ist Stuttgart schon aufgrund seiner Kriegsindustrie besonders gefährdet gewesen. Gleich mehrere kriegswichtige Industriezweige waren in der Stadt angesiedelt. Daher wurden in umfangreicher Weise Verteidigungsmaßnahmen getroffen: Die Stadt wurde von einem Ring schwerer Flakstellungen (Flugabwehrkanonen) umgeben und auf dem Birkenkopf eine große Flakfestung erbaut. In der Stadt selbst wurden auf den Werksdächern von Daimler-Benz und dem Hauptbahnhof sowie Robert Bosch eigens Flaktürme errichtet. Der Stadtbaudirektor entwickelte laut Bardua ein Verfahren, künstliche Nebel im Talkessel zu erzeugen und die Stadt so vor den Blicken der gegnerischen Flieger zu verbergen. Viele Zeitzeugen erinnern sich noch an die Apparate. Harald Schukraft berichtete, dass die helle Fläche des Innenhofs des neuen Schlosses dunkel gefärbt und das schneeweiße Schloss Solitude mit einem grünen Tarnnetz überspannt wurde. Selbst die spiegelnde Oberfläche des Theatersees im Oberen Schlossgarten wurde abgedeckt. »Herr Gott im Himmel, ein Großangriff auf unsere Stadt. Alle sehen einander an, kein Ton kommt über die Lippen, die Männer setzen die Stahlhelme auf, Gasmasken, Tücher, Kerzen, Streichhölzer in der Hand stehen wir da. Die Flak schießt, was die Rohre hergeben. Wir liegen alle auf der Erde, Herr Gott, erbarme dich, mach es gnädig und kurz. Dein Wille geschehe. Nun Krach auf Krach, die Erde zittert, Schlag auf Schlag. Dazwischen der Krach der zusammenstürzenden Häuser, man meint immer, es sei das eigene. An der Kellertüre rüttelt der Sturm, man meint, sie kommt herein.« Anna Wagner schrieb diese Zeilen in einem Brief an einen Verwandten. Sie flüchtete sich am 25. Juli 1944 in den Keller ihres Wohnhauses in der Nähe der Russischen Kirche im Stuttgarter Westen. Über Drahtfunk erfuhren sie, dass Stuttgart nun die schlimmste Serie von Luftangriffen bevorstand. Zu diesem Zeitpunkt war ihr noch nicht bewusst, dass diese Angriffsserie mehrere Tage dauern, viele Stuttgarter das Leben kosten und die Stadt unwiderruflich zerstören wird. Spät am Abend des 24. Juli starten 614 Bomber in England. Gegen 1 Uhr läutete die Luftlagemeldung: »Achtung, Achtung! Störflugzeuge über Hannover und Braunschweig. Stärkere Kampfverbände über Westdeutschland und Südwestdeutschland.« Durch mehrfache Kurswechsel des Bomberstroms gelang es den Briten, das eigentliche Ziel des Angriffs bis kurz nach Mannheim zu verschleiern. Um 01:20 Uhr erhob sich der Alarm schließlich über dem nächtlichen Stuttgart .1

1 Vgl. Violetta Hagen, »Bomben auf Stuttgart. Die Geschichte der Familie Wagner – und ihrer Stadt«, in: Stuttgarter Zeitung / Stuttgarter Nachrichten. Aufgerufen am 19. 05. 2020.

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Abb. 55

Friedrichsbau

Abb. 56

Kanzlei- Ecke KronprinzstraĂ&#x;e

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Abb. 57

Innenhof des Alten Schlosses

Abb. 58

Ecke Calwer- und BĂźchsenstraĂ&#x;e im Juli 1944. Im Hintergrund die Hospitalkirche

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Abb. 59

Abb. 60

Ecke Kronprinz- und KanzleistraĂ&#x;e

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Abb. 61

LazarettstraĂ&#x;e

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Abb. 62

Ecke Marktplatz und SchulstraĂ&#x;e. Reste des Gebäudes der Firma Korb-Mayer

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Abb. 63

Imnesenbachviertel

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Abb. 64

In der Dorothenstraße mit dem niedergebrannten Haus Königin von England

Abb. 65

Ecke Neckar- und Schillerstraße nach dem Angriff am 2. März 1944

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Abb. 66/67

Königsstraße im Juli 1944

»Geht man [vom Hauptbahnhof] ein paar Meter [in Richung Königsstraße] weiter und wendet den Blick zurück, sieht man heute wie damals der Hauptbahnhof mit seinem imposanten Turm – damals freilich noch ohne Mercedesstern. Auffälliger ist die vom Betrachter aus rechte Straßenseite. Der heutige Schlossgartenbau hat mit dem von 1942 nur den Namen gemein. Damals hatte er noch die äußere Form des einstigen Marstalls. Darin untergebracht war unter anderem ein Kino: Bis weit in die Nachkriegszeit herrschte auf der Königstraße reger Verkehr. Auch 1942 fuhren Straßenbahnen oberirdisch, durften Autos hier entlangrollen. Gleichwohl war der Verkehr vergleichsweise überschaubar. Verglichen mit der heutigen »Stadtmöblierung« wirkt die Straße jedenfalls angenehm leer: Am Schlossplatz wirkt die Königstraße vergleichsweise originalgetreu. Marquardt- und Königsbau haben eindeutig die Formensprache des 19. Jahrhunderts. Unser Vorher-Nachher-Vergleich zeigt aber, dass die beiden Gebäude nach dem Krieg nur vereinfacht wiederaufgebaut wurden.[…]Beim Blick zurück Richtung Hauptbahnhof fällt links das Kronprinzenpalais auf. Es bildete mit dem Wilhelmspalais am Charlottenplatz eine Sichtachse, die inzwischen durch das Kunstmuseum wieder hergestellt ist. Das Palais wurde nach dem Krieg entfernt, um Platz für den Verkehr zu machen. […]Der Spaziergang endet am heutigen Rotebühlplatz, wo die Königstraße einen Knick Richtung Tagblattturm macht. Der Turm stand schon 1942, und überhaupt ist zumindest der rechte Teil der Straße weitgehend erhalten. Im linken Teil wird das Eckgebäude gerade neu gebaut.«2

2 Jan Georg Plavec, »Stuttgart 1942. Die Königstraße damals und heute«, in: Stuttgarter Zeitung / Stuttgarter Nachrichten (25. 05. 2020). Aufgerufen am 03. 06. 2020.

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Abb. 68/69

StraĂ&#x;endepot am Vogelsang

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Abb. 70

vor einem Luftschutzkeller in der Neckarstraße

Abb. 71

Tagesangriff auf Zuffenhausen am 10. September 1944 in Böhringerstraße

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Abb. 72

nach einem Tagesangriff im Stadtinneren

Abb. 73

Ecke Calwer- und KienestraĂ&#x;e

Abb. 74

KronprinzstraĂ&#x;e

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Abb. 75

Suche nach Verschütteten in der Schloß- und Friedrichstraße

In einem Brief schrieb Erna Doh Jahrzehnte später von der Nacht des 26. Juni 1944. Sie befand sich zu dieser Zeit im Bunker der Frauenklinik in der Bismarckstraße als die Bomben gegen 01:45 Uhr über Stuttgart hereinbrachen. Es waren 550 Bomber in dieser Nacht. Dieses Mal kamen sie auch mit Hochexplosivbomben und 27000 sogenannten J-Bomben, die beim Aufprall einen neun Meter langen Flammenstrahl ausswarfen. »Ich selbst hatte innerlich mit dem Leben abgeschlossen und war bereit, dem Kommenden eiskalt entgegenzusehen. Ich konnte nicht mehr beten, hielt aber meinen Rosenkranz wie eine Waffe in meiner Hand versteckt. Ich konnte nicht mehr an mich und mein Kind denken. Es war wie: In Deine Hände empfehle ich meinen Geist.« »Auf einmal erschütterte ein schwerer Schlag das Haus, und die Leute weinten und schrien. Es brannte nur noch das Notlicht.«3

3 Vgl. Thomas Faltin, »Von Zeit zu Zeit: Luftangriffe 1944«, in: Stuttgarter Zeitung (2014), S. 1 – 4, hier: S. 1. Aufgerufen am 19. 05. 2020.

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Abb. 76

Marktplatz nach den Angriffen am 16. Juli 1944

Abb. 77

Marktplatz im Juli 1944. Links die SchulstraĂ&#x;e

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Abb. 78

das Stadtinnere

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Abb. 79

Notausstieg eines Hauses in der EĂ&#x;linger StraĂ&#x;e

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Abb. 80/81

die Nacht vom 25. zum 26. Juli 1944

Heinz Bardua hatte schon in den 1960er Jahren Kontakt nach England. Ein Angehöriger der Royal Air Force, der auch Angriffe auf Stuttgart geflogen hat, schrieb ihm, das er es sehr bedauere, dass der Stadt solcher Schaden zugefügt worden sei. Aber er habe auch erleben müssen, wie befreundete Soldaten umgekommen und wie auch Nachbarn durch deutsche Bomben getötet worden seien.4 ¶ Karl Strölin schrieb über die Brände: »Der Feuersturm war so stark, dass Teile von Wellblechdächern bis zu sechs Quadratmeter Fläche wie Bettfedern durch die Straßen flogen. Die Straßen waren in Zeitkürze durch Trümmer schwer passierbar oder versperrt. Die Luft war angefüllt von dem rasenden Funkenflug, von Rauch und ungeheurer Hitze.«5

4 Vgl. Thomas Faltin, »Von Zeit zu Zeit: Luftangriffe 1944«, in: Stuttgarter Zeitung (2014), S. 1 – 4, hier: S. 3. Aufgerufen am 19. 05. 2020. 5 Ebd.

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Abb. 82

Tagesangriff auf Bahnhof Stuttgart Zuffenhausen am 10. September 1944

Abb. 83/84

Wohnviertel in Gablenberg

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Abb. 85/86 Trümmer

Abb. 87

Trümmerfrauen

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Abb. 88

Unterer Herdweg. Zerstörung durch Luftminen. Relenberg- und Dazenbergstraße

Abb. 89

Eichstraße mit Blick in Richtung Marktplatz

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Abb. 90

WĂźrttembergische Staatstheater

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»Dieser Berg / nach dem Zweiten Weltkrieg / aufgetürmt aus den / Trümmern der Stadt / steht / den Opfern zum Gedächtnis / den Lebenden zur Mahnung.«1

Birkenkopf Ursprünglich 471,00 m über NN Heute 511,20 m über NN Erhöhung um 40,20 m 1953 – 1957 durch Aufschüttung von 1,5 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt aus der in 53 Luftangriffen im 2. Weltkrieg zu 45 % zerstörten Stadt Stuttgart2 1 Inschriften Birkenkopf, Stuttgart-West 2 Ebd.

Erinnerung

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Heulend kommt der Sturm geflogen, Der die Flamme brausend sucht. Prasselnd in die dürre Frucht Fällt sie, in des Speichers Räume, Und als wollten sie im Wehen Mit sich fort der Erde Wucht Reißen, in gewaltiger Flucht, Wächst sie in des Himmels Höhen Riesengroß! Hoffnungslos Weicht der Mensch der Götterstärke, Müßig sieht er seine Werke Und bewundernd untergehen.1

Erinnerung

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Neubau oder Abriss? Neubau oder Instandsetzung?

Vor und während dem Zweiten Weltkrieg festigte sich der Ruf Stuttgarts eine der »schönsten Städte Deutschlands« zu sein. Als dann aber die großen Fliegerangriffe 1944 über Stuttgart hereinbrechen, werden 4562 Menschen getötet, von 73000 erfassten Gebäuden 23000 komplett zerstört, 20000 mittelschwer und 28000 leicht.2 Das entspricht einem Drittel der gesamten Bausubstanz und mehr als der Hälfte des Wohnraums. Nur 2000 Gebäude bleiben unbeschädigt. Mehrere Großangriffe im Hochsommer und im Herbst 1944 und im Januar und Februar 1945 haben das Gesicht der Stadt bis zur Unkenntlichkeit verwüstet.3 ¶Die Stadtmitte lag in Schutt und Asche als am 22. April 1945 die französischen Truppen in Stuttgart einmarschierten. Das alte Stuttgart war am Ende. Doch gleichzeitig war es die Chance für einen neuen Anfang. Der Wiederaufbau ging nur langsam voran, da die Stadt sich mit Problemen der Versorgung der Bevölkerung sowie der technischen Versorgung, beispielsweise mit Strom und Wasser, konfrontiert sah. Einwohner deckten Ruinen ab und beseitigten leichtere Schäden. Einzelhändler reparierten ihre Läden notdürftig um nutzbare Räume zu schaffen. Wiederverwendbare Baustoffe wurden aufgrund eines Mangels an Baustoffen freigelegt und die Resttrümmer auf den Trümmerberg Birkenkopf, oder auch Monte Scherbelino, verlagert. Zwischen 1953 und 1957 wuchs der Berg um rund 41 Meter. 14 Millionen Kubikmeter werden insgesamt auf den Birkenkopf transportiert.3 Stuttgart wird die erste Stadt, die trümmerfrei ist. Heute symbolisiert der Berg ein Mahnmal in der Stadt.¶Vor diesem Hintergrund hält der erste Baureferent Stuttgarts nach dem Krieg, der Architekt Eugen Mertz am 25. Oktober 1945 eine Rede. Er fordert den Wiederaufbau, den Umbau der Stadt zu einer Kur- und Badestadt. »Den Weg gezeigt, den Willen zum Wiederaufbau, zur Ausgestaltung und zur Verschönerung der Stadt geweckt zu haben, war mir Verpflichtung; weiterzuführen, anzuregen, auszugleichen und zu fördern; alle Hemmungen zu beseitigen ist mein Wunsch.«5 ¶»Wir müssen jetzt, da unsere Stadt in allen wesentlichen Teilen schwer gelitten hat, bei der Gesamtplanung mit höchster städtebaulicher Verantwortung ans Werk gehen. So falsch wäre es, aus übertriebener Sparsamkeit oder Pietät überall wieder den alten Bauzustand anzustreben, so falsch wäre es, wollten wir Stuttgart im Zuge des Wiederaufbaus radikal verändern und unserer Stadt damit ein grundlegend neues oder gar großartiges Gepräge geben.« ¶»Das Tempo der Zeit, die vordringlich gewordenen Verkehrsprobleme, die neuen Baumethoden, die immer wieder neue Baumöglichkeiten planerischer, technischer und materialmäßiger Art eröffnen, haben dazu geführt, daß solche auf lange Sicht berechneten Pläne wieder und wieder umgeworfen und von neuen Planungen abgelöst wurden. Das brachte in das Wachstum unserer Städte eine Unstetigkeit, die verderblich wirkte und den Stadtbildern schwere Schäden zugefügt hat.«7 1 Das Lied von der Glocke, Friedrich Schiller 9 2 Frank Werner, Alte Stadt mit neuem Leben. Architekturkritische Gänge durch Stuttgart, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH 1976, S. 19. 3 Hannes Kilian, Die Zerstörung. Stuttgart 1944 und danach, Berlin: Quadriga-Verlag Severin 1984, S. 9 4 Andreas Brunold (Hg.), Stuttgart. Stadt im Wandel, Tübingen: Silberburg-Verlag 1997, S. 105. 5 Frank Werner 1976, S. 19 6 Ebd., S. 19.

Erinnerung

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»Der Wiederaufbau ist ein Aufbau und Neubau, er ist eine Neuordnung, er ist eine Planung im Sinne eines Entwicklungsfortschrittes.«7

Wie sollte die künftige Stadt gestaltet werden? Alte Strukturen und Werte hatten ihre Bedeutung verloren und neue waren noch nicht etabliert. Die unmögliche Realisierung kleinster Projekte, schuf Raum für utopische Entwürfe. Richard Döcker schreibt 1927: »Die große Linie gegenüber dem Alten bedeutet für das Neue ein völliges Freimachen vom Hergebrachten, von Sitte und Gewohnheit.[…]Das Neue kümmert sich nicht um Tradition, um Philosophie und Ästhetik des Bisherigen.«8 Fortschrittsgläubigkeit und Zukunftsorientierung waren für ihn entscheidend. Einen behutsamen, integrierenden Wiederaufbau gab es für ihn nicht. Für ihn war es eine Chance eines Neuanfangs. In seiner Antrittsvorlesung als Ordinarius für Städtebau sagte Döcker, es ginge darum, »die vielfach vorliegende Ansicht der Möglichkeiten einer Synthese zwischen dem Gestrigen, dem Traditionellen und dem Konventionellen und dem Neuen als abwegig nachzuweisen.[…]Das Neue greift das Traditionelle nicht an, das Neue entwickelt das völlig Andere!« Selbst Gebäude wie das Neue Schloss und das Kunstgebäude sollten seiner Meinung nach abgerissen werden. Er hatte radikale, sozialistische Utopien. Hierzu gehörte auch der Vorschlag, Stuttgart völlig neu abseits der alten Stadtanlage zu errichten.¶»Das Neue Schloß war einst Repräsentation eines Königreichs und der Laune eines Fürsten entsprungen. Kann es heute die Repräsentation eines Volksstaates darstellen?«9 ¶»Das Neue Schloss ist nicht mehr Symbol für Stuttgart, Stuttgart ist längst etwas ganz anderes und seine Sehenswürdigkeiten sind und werden andere sein.[…]So ist die Frage nach dem Wiederaufbau des Stuttgarter Neuen Schlosses […] zu einer prinzipiellen von ganz besonderer Bedeutung geworden. Ihre Lösung wird daher Symbol sein, für unsere Zeit und für die Hoffnung auf eine Zukunft.« ¶Die Trümmer, der Schutt, die Überbleibsel der schrecklichen Jahre zuvor sollten beseitigt, werden. Eine neue Gesellschaft sollte entstehen, die Vergangenheit bewältigt werden. Er sah die Stadt als ein zukünftiges Gesamtkunstwerk. Damit unterschätzte er die Bindung vieler Menschen an die Stadt, an das wofür sie stand, wofür die Bauten stehen. Durch den Krieg hatte sich dies nur noch verstärkt.10 ¶Im Mai 1946 wurde Döcker zum Generalbaudirektor und Leiter der Zentrale für den Aufbau der Stadt Stuttgart (ZAS) ernannt. Unter ihm wurde die Grundgestaltung der Innenstadt gelegt. Seine mangelnde Kooperation z.B. mit den Interessen der Grundstücksbesitzer sorgte jedoch für eine kurze Tätigkeit. »Sollte bruchlos im traditionalistischen »Heimatstil« weitergebaut werden, oder sollte sich der zum Internationalen Stil weiterentwickelte Rationalismus in Deutschland durchsetzen können?«11 Die Auseinandersetzung zwischen konservativen und modernen Architekten lebte hiermit auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf. Die Frage nach einem modernen oder traditionellen Baustil wurde viel diskutiert. Bedingt durch die politische Situation war die Entscheidung zwischen Tradition und Moderne mehr als eine gestalterische Frage: Sie war zu gleich politisches Bekenntnis. Nachdem zur Zeit des Nationalsozialismus die moderne Architektur als »undeutsch« abgeschrieben wurde und sich nur auf traditionelle Formen konzentrierte, sollte Stuttgart nun modern werden. Abgelehnt wurde die in Städten wie München, Nürnberg, Augsburg oder Freiburg vorherrschende Meinung einer behutsamen Modernisierung unter Beibehaltung des alten Stadtbildes. Veränderungen im Stadtraum wurden in vielen Fällen einseitig und übertrieben zugunsten des Fahrzeugverkehrs vorgenommen.12 Das Ende des Zweiten Weltkrieges lässt sich also nicht als ein Neuanfang sehen, selbst wenn sich von allem alten losgesagt wurde. Besonders deutlich führte dies der Streit um die Professur Schmitthenners an der Technischen Hochschule zu Tage. Nach seiner Entnazifizierung aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft durfte Schmitthenner nicht mehr lehren. Dieser Fall gilt als eine exemplarische Abrechnung der Modernen mit den Traditionalisten.13 Die neuen Dozenten, wie Richard Döcker, Rolf Gutbrod, Rolf Gutbier, Günther Wilhelm, Hans Volkart und Hans Brüllmann waren alle aus der Stuttgarter Schule hervorgegangen. Die Stuttgarter Schule stand im Zeichen des Traditionalismus. Sie verwarf den Historismus, die Bauweise war aber trotzdem geprägt von einer klassischen, konservativen Bauweise. Die Schule konnte sich folglich nicht dem Bauhaus annähern. Die sogenannte zweite Generation der Stuttgarter Schule, zu welcher die genannten Dozenten gehören, entfernten sich aber weit von den damaligen Prinzipien. Sie gingen im Tempo des Wiederaufbaus verloren.14 Von den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges getroffen wurde das Stadtbild von 1945 durch mutige Zeichen einer wieder und neu belebten Moderne geprägt.¶In diesem Zuge wurden bis zum Denkmalschutzgesetz 1972 eine große Anzahl an historischen Gebäuden aus der Umgebung entfernt.15 Die vielen Veränderungen sorgten für ein verändertes Stadtbild. Aus den Trümmern des Krieges entstand eine moderne Metropole. Alles war im Bau. Bauarbeiter gehören zum Stadtbild. Straßen, Schulen, Krankenhäuser und Wohnungen entstehen. Es ist eine lebendige Zeit. Der Wiederaufbau geht schnell voran. Das Ausmaß an Veränderungen wurde teilweise auch kritisch gesehen. Gleichzeitig zieht die Stadt aber auch immer mehr Menschen an.16 Die »Bauzeitung« schrieb 1952: »Die Stadt Stuttgart, in der sich überall eine große Aufgeschlossenheit für zeitgemäßes Bauen zeigt, darf wohl zu den modernsten Städten Deutschlands gezählt werden.«17 ¶Bei der Frage nach dem Neuen Schloss als Repräsentant des Feudalismus aber zugleich als Herz von Stuttgart, entschied man sich jedoch letztendlich für den Wiederaufbau. Ebenso bei der Stiftkirche und dem Hauptbahnhof. Der Landtag bekam jedoch einen eigenen Platz auf dem Gelände der kriegszerstörten Akademie und das Rathaus wurde neu erbaut, der neugotische Turm aus dem Jahr 1905 nicht erhalten. Auch Klett sprach sich hierfür aus und forderte »einen mutigen Schritt nach vorwärts.«18 Die Option einer vollkommen neuen Konzeption der Innenstadt kam jedoch nicht in Frage, da sie einen schnellen Wiederaufbau verhindert hätte und das Leistungsnetz der Straßen sowie das Netzwerk des Bodenbesitzes trotz der Zerstörung der Gebäude unversehrt blieben. Das neue Konzept der Stadt, welche zu einem erheblichen Teil von der Autoindustrie lebte, beinhaltete eine Gewichtung der Verkehrsbauten. Die Stadt sollte 7 Gilbert Lupfer, Architektur der fünfziger Jahre in Stuttgart, Tübingen, Stuttgart: Silberburg Verlag Titaus Häussermann GmbH 1997, S. 76 – 77. 8 Ebd. S. 76 – 77. 9 Ebd. S. 30. 10 Ebd. S. 77. 11 Ebd. S. 34. 12 Andreas Brunold 1997, S. 105 - 111. 13 Gilbert Lupfer 1997, S. 33. 14 Ebd. S. 34.

Erinnerung

90 Prozent des Kernbereichs der Stadt rund um den Marktplatz war zerstört worden. Im September 1945 schrieb die Stadtverwaltung einen Ideenwettbewerb für den Wiederaufbau des Stadtkerns aus. Die Ergebnisse wurden 1947 veröffentlicht. Keine der Konzeptionen war aber realisierbar, trotz vieler namenhaften Architekten, die sich am Wettbewerb beteiligten.

15 Andreas Brunold 1997, S. 112. 16 G. Braun (Hg.), Die 50er Jahre. Ein Stuttgarter Jahrzehnt in Bildern, Karlsruhe: G. Braun 1994, S. 31. 17 Gilbert Lupfer 1997, S. 34. 18 G. Braun 1994, S. 31.

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schnell wieder funktionstüchtig sein.19 Arnulf Klett hatte nach dem Krieg eine Hochschulgruppe »Stadtplanung und Verkehr«20 zusammengerufen. Kurz danach die Zentrale für den Wiederaufbau der Stadt Stuttgart (ZAS). Sie war leitende und koordinierende Planungsinstanz für Wiederaufbaufragen. Beide »sollten ein neues Baukonzept entwickeln, alte Mängel beseitigen.«21 Die ZAS versuchte mit Leitlinien und Bausperren einen einheitlichen Wiederaufbau durchzusetzen. Sie orientierte sich dabei am Neuen Bauen, an den in der Charta von Athen niedergelegten städtebaulichen Prinzipien des Funktionalismus, am Ziel großzügiger Verkehrserschließung, an sozial- und bodenreformerischen Idealen. Diese Vorstellungen ließen sich in der Praxis aber nur schwer umsetzen. Die Grundstückbesitzer, ebenso wie der konservative Teil der Architektenschaft, der Parteien und der Presse leisteten Widerstand.¶ »Hier widerstreben sich städtebauliche Schönheit und Autoverkehr. Soll der Autoverkehr alle Werte umrennen?« Diese Frage stellte Bonatz bei der Auseinandersetzung bezüglich des Wiederaufbaus des Kronprinzenpalais. Und genau das passierte einige Zeit später.22 Die erste Nachkriegs-Planergeneration unter Mertz, Döcker und Hoß will den innerstädtischen Bereich durch ein damals noch relativ bescheiden dimensioniertes Rechteck-Tangentensystem für den Verkehr entlasten. Schon vor dem Krieg hatten sich die zunehmenden Autos in der Königsstraße und am Hauptbahnhof gestaut. Stuttgart sollte eine verkehrsgerechte Stadt werden. Die Folgen sind heute noch spürbar. Mit der Zeit werden durch den autobahnähnlichen Ausbau diverser Tallängs- und Quertrassen lebenswichtige Sicht-und Wegbeziehungen zwischen historischen Stadtvierteln durchtrennt. Isolierte Viertel entstehen. Eingesessene Sozialstrukturen »kippen um«.23 Die anschließende Kahlschlagsanierung ganzer Stadtteile schafft Platz für maßstabssprengende, fremdartige Gebilde, die, nur den Gesetzmäßigkeiten der Expansion und der Rendite gehorchend in neue historische Nachbarschaften eindringen. Willkürliche Platzgebilde sind ähnlich einem »Sanierungs-Karussel«24, in dem es keine Ruhe gibt. Sie werden durch qualitätsärmere und einseitig wirtschaftlich genutzter Bebauung ersetzt. In den ersten drei Jahrzehnten nach Kriegsende bekommt die Stadt also eine völlig neue Erscheinung. Der historische Teil wird fragmentiert, durch die Beschneidung der dortigen Lebensqualitäten die Bewohner vertrieben, entvölkert, von Wohnnutzungen befreit. Banken, Versicherungen und andere Dienstleistungen siedeln sich wegen der neuen Infrastruktur des U- und S-Bahnnetzes in der Innenstadt in Wohnquartieren an. Unattraktive Altstadtbereiche verrotten vor sich hin. Lebensnotwenige Lebensmittel- und Kleinbetriebe müssen weichen. Von Canstatt bis zum Marienplatz erstreckt sich ein Graben, der bislang funktionsfähige Wohngebiete anschneidet, auseinanderreißt, wichtige Talquerlinien unpassierbar macht, platzähnliche Gebilde für gar nicht mehr vorhandene Platzbewohner und eine wachsende Trennungslinie schafft zwischen Bewohnbarem und Unbewohnbarem, zwischen Erlebbarem und Verödetem. Einen der wichtigsten und schwerwiegendsten Eingriffe stellt auch der Planiedurchbruch dar. Anstelle des abgebrochenen Gaabschen Kronprinzenpalais entstand hier der Kleine Schlossplatz. Ursprünglich sollte die Verkehrsplanung einem »Abflußkanal« für den Verkehr dienen. Es wurde jedoch viel mehr ein »Graben, der die Kulturmeile zerschneidet und die City von den Außenbereichen trennt.«26 Ein Zustrom von Flüchtlingen sorgte zusätzlich für noch mehr Wohnbedarf. Wohnungen für Ausgebombte, wie Evakuierte und Heimatvertriebene. Die Wohnungsnot war eines der tiefgreifendsten Probleme der Stadt und die Möglichkeiten sie zu beheben waren nur sehr gering. In den 50er Jahren ging es also hauptsächlich um die rasche Realisierung von günstigem Wohnraum. In der Bundesrepublik Deutschland fehlten 1950 4,5 Millionen Wohnungen. Wichtig war folglich eine wirtschaftliche Bauweise, d.h. kostengünstige Baustoffe. Die Aufbaugesetze der Länder von 1948/49 bildeten eine erste effektive Grundlage für einen geordneten Wiederaufbau. Neben der Beseitigung der Trümmer nahm hier die Verwertung dieser auch eine wichtige Rolle ein. Bei der Ausstellung »Baustoffe aus Trümmern«27 im Juni 1946 in Stuttgart wurden verschiedene Bausysteme und Konstruktionen vorgestellt, wie die Schüttbauweise von den Ingenieuren Ludwig Bölkow, Fritz Leonhardt und Otto Graf.28 Eine weitere Möglichkeit wurde in der Fertighausproduktion gesehen. Dabei entstand die Versuchssiedlung Das Fertighaus in Stuttgart Zuffenhausen.¶Im März 1950 wurde das Erste Wohnungsbaugesetz verabschiedet. Daraus folgte das gewaltigste Wohnungsbauprogramm der deutschen Geschichte. »Innerhalb von 25 Jahren konnte das inzwischen auf fünf Millionen Einheiten angewachsene Wohnungsdefizit fast vollständig abgebaut werden.«29 Ab 1950 entstanden jährlich zwischen 6500 und 8100 Neubauwohnungen in Stuttgart. Normierung, Typisierung und Rationalisierung sowie eine intensive Bauforschung machten dies möglich. Es dominierte eine »Teilindustriealisierung«.30 Es wurden »kleine Fertigteile« verwendet, die ohne große Maschinen verarbeitet werden konnten. Neue Materialien wie Welleternit, Lamilux und Plasticlair wurden entwickelt. Die städtebauliche Leitbilder waren »organisch, gegliedert und aufgelockert«.31 Das erste städtische Wohnungsbauprojekt größeren Umfangs war die Siedlung Rot. Aufgelockerte und durchgrünte Strukturen wurden mit einfachsten Ansprüchen in der Ausstattung kombiniert. (Bsp. Rotwegsiedlung in Stuttgart Rot von Richard Döcker oder Waldsiedlung in Stuttgart-Rohr vom Städtischen Hochbauamt) Zu den zentralen Leitgedanken des Neuaufbaus sagte Walter Hoss:

Die Funktionen als Hauptstadt des 1952 gegründeten Baden-Württemberg und als Wirtschaftszentrum trugen zu einer intensiven Bebauung auf allen Sektoren bei. Durch Theodor Fischer, der seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Stuttgart lehrte, sowie die Stuttgarter Schule und die Weißenhofsiedlung des Werkbundes 1927 hatte Stuttgart eine besondere Bedeutung für die deutsche Architektur bekommen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sollte nun Stuttgart eine wichtige Rolle einnehmen.25

Im Oktober 1954 beklagt der Generalbaudirektor Professor Walter Hoss bei der Jahresversammlung der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung die hohen Grundstückspreise in Stuttgart als größtes Hemmnis beim Wiederaufbau. Stuttgart hat damals schon die höchsten Quadratmeterpreise für Bauland im Bundesgebiet.

Bei der Abbildung links handelt es sich um eine Stadtplan Stuttgarts aus dem Jahre 1945, welcher die Zerstörungen der Luftangriffe in der Stadt zeigt. Schwarz eingezeichnet sind total oder schwerbeschädigte Gebäude, die nicht mehr aufgebaut wurden. Einen hohen Zerstörungsgrad wiesen besonders die zentral gelegenen Zonen auf.

»In unserer Stadtbaukunst drückt sich das Lebensgefühl der Menschen von heute aus […]. Unser heutiges Lebensgefühl sucht Weite, Auflockerung, Grünverbindungen. Es will nicht mehr »die steinerne Stadt«; will vielmehr die Aufhebung der Schwere, will Durchsichtigkeit, verglaste Fassaden. Die Farbe kommt zu ihrem Recht. Wir versuchen Heiterkeit in die gestalteten Bilder unserer Umgebung zu bringen.«32 19 Andreas Brunold 1997, S. 56. 20 Gilbert Lupfer 1997, S. 30. 21 Gilbert Lupfer 1997, S. 30. 22 Gilbert Lupfer 1997, S. 31. 23 Martin Wörner, Gilbert Lupfer und Ute Schulz (Hg.), Architekturführer Stuttgart, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2006, S. 13. 24 Frank Werner 1976, S. 21. 25 Gilbert Lupfer 1997, S. 20. 26 Ebd., S. 31.

Erinnerung

27 Christina Simon und Thomas Hafner (Hg.), Wohnorte. 50 Wohnquartiere in Stuttgart von 1890 bis 2002, Stuttgart: Karl Krämer Verlag 2002, S. 23. 28 Ebd., S. 23 f. 29 Ebd., S. 24. 30 Ebd., S. 24. 31 Ebd., S. 24. 32 Ebd., S.25.

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Abb. 103 Die Akte20/1548 des Stadtarchivs Stuttgart enthält amtliche Unterlagen über das Bau- und Siedlungswesen. Die Trümmer, der Schutt sowie Überreste der schrecklichen Jahre zuvor sollten beseitigt, werden. Zunächst galt es Arbeit zu beschaffen. Diese Arbeitsbeschaffung wurde u. a. auch durch eine Wiederinstandsetzung zer-

störter Gebäude zu erreichen versucht, ohne dass damals im Einzelfall die Dringlichkeit oder das Bedürfnis für die Instandsetzung untersucht werden konnte. Abb. 60 – 65 beschreiben vorläufige Maßnahmen der Lenkung des Aufbauwesens.

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Abb. 107 Augrund wilder Bebauung, d.h. Bauen, welches nicht den baupolizeilichen Vorschriften entsprach, sah man sich dazu verpflichtet auf eine strenge Planung des Bauwesens zu bestehen und ein Bauverbot zu erlassen. Ausnahmen durften nur von den Landräten und den Oberbürgermeistern der Stadtkreise ausgesprochen

werden. Knappe Baustoffe sollten effizient für dringliche Aufgaben im öffentlichen Interesse eingesetzt werden.

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Abb. 109 Durch den Wiederaufbau sollte zugleich eine Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und eine Auflockerung der Bebauung erfolgen. Die Auflockerung sollte für mehr Licht und Luft sorgen. Die Industrie wurde in diesem Zuge häufig ausgelagert.

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Abb. 112 Am 10. August 1945 wurde eine Städtische Kommission zur Erhaltung von Kunstwerken und Baudenkmalen gebildet. sie hatte die Aufgabe kulturell wertvolle Bauten, die Gemäldesammlung der Staatsgalerie, des Schlossmuseums, der privaten Kunstsammlungen, der staatlichen und städtischen Archive sowie der Bibliotheken

wiederherzustellen. 25 ehrenamtliche Mitglieder umfasste die Kommission. Sie gliederte sich in Bildende Kunst, Archive und Büchereien, Architektur und Baudenkmalpflege und Kunstgewerbe.

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Abb. 115 Die Zentrale für den Aufbau der Stadt Stuttgart (ZAS) wurde gegründet um den Wiederaufbau zu lenken. Ihr unterlagen das Stadtplanungsamt mit der Baugenehmigungsbehörde, das Instandsetzungsamt sowie das Hochbauamt. Bei allen Fragen, die den Wiederaufbau betreffen, musste die ZAS miteinbezogen werden.

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Abb. 118 Jegliche Wiederaufbaumaßnahmen standen im Vordergrund des Bauwesens. Von besonderer Bedeutung war die Schaffung von Wohnräumen für die Flüchtlingsunterbringung. Es wurden zunächst diejenigen Gebäude repariert, die mit geringerem Arbeitsaufwand wieder in Stand gesetzt werden konnten. Auch Baustoffe, Räume

und Arbeitskräfte wurden so organisiert, dass möglichst schnell möglichst viel Wohnraum zur Verfügung stehen würde. Eine noch stärkere Lenkung sollte hierbei behilflich sein.

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Abb. 128 Abb. 83 – 85 enthalten eine Übersicht von zerstörten Baudenkmalen, Kunstgebäuden und Brücken, die 1951 zusammengestellt wurden. Unter ihnen waren zum Beispiel die Landesbibliothek, das Neue Schloss, das Kronprinzenpalais oder der Königsbau. Manche Gebäude wie das Staatsarchiv wurden wieder aufgebaut, andere wie die Akademie (Hohe Karlsschule) jedoch nicht.

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Abb. 132 Zwischen 1962 und 1963 wurde das beschädigte Kronprinzenpalais zugunsten des Planiedurchbruchs abgerissen. Diese Entscheidung kann auch stellvertretend für den Streit zwischen den Traditionalisten und Modernisten gesehen werden. Otto Ernst Schweizer vertrat die Traditionalisten, indem er schrieb: »Würde ein derartiges

Bauwerk verschwinden, so verschwände auch eine ganze Epoche in ihrer anschaulichen Darstellungskraft und ihrer historischen Bedeutung. Nach den riesigen Verlusten an Bau- und Kulturwerten durch den Krieg ist es umso wichtiger, die wenigen noch erhaltenen Zeugen der Vergangenheit zu erhalten und zu pflegen.«1 Arnulf Klett

schrieb hingegen: »Die Erhaltung ist dort sinnvoll, wo die geschichtlich gewordene Gegenwart die Zukunft befruchtet, dort aber nicht, wo sie die gegenwärtige und künftige Entwicklung ausschließlich oder überwiegend hemmt […]. Wertvoller als die beschädigte Fassade der Ruine des Kronprinzenpalais […] ist der […] Mensch un-

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Abb. 133 serer Zeit und unserer Stadt.«2 Zugunsten des Verkehrs sollte die Planie den Stuttgarter Westen mit der inneren Stadt verbinden. Heute steht das Kunstmuseum an Stelle des Kronprinzenpalais und der Tunnel darunter erinnert an seinen Abbruch.

1 Immo Boyken: »Neuordnung des Stadtzentrums von Stuttgart: Projekt 1948 – 54«, in: Otto Ernst Schweizer 1890 – 1965, Bauten und Projekte, Stuttgart 1996, S. 199. 2 Bernhard Sterra: »Planerische Leitvorstellungen im Widerstreit: Die Auseinandersetzung um das Kronprinzenpalais«, in: Das Stuttgarter Stadtzentrum im Aufbau:

Architektur und Stadtplanung 1945 bis 1960, Stuttgart 1991, S. 182 – 240.

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Abb. 148 Abb. 85 diskutiert den Sozialen Wohnungsbau als Maßnahme zur Bekämpfung der Wohnungsnot am Beispiel des Stitzenburggeländes. Das Problem, mit welchem man sich konfrontiert sah, kommt hier deutlich zur Geltung. Abb. 86 – 105 zeigt einen Artikel der Stuttgarter Nachrichten vom 25. Juli 1949. Er vergleicht das Stadtbild vor dem Krieg mit dem von 1949 anhand zahlreicher Beispiele. Der Artikel thematisiert damit das Ausmaß der Zerstörungen und stellt die Veränderung in einem direkten Vergleich zur Schau. Die Frage, wann wohl alles wieder hergestellt sein werde, schwebt im Raum.

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Produkte ihrer Zeit

Rationalität, industrielle Fertigung und technischer Fortschritt waren die Prinzipien, unter denen die klassische Moderne in den Zwanziger Jahren angetreten war. Von den Nationalsozialisten ab 1933 verleumdet und verfolgt, retteten sich deren Anhänger ins Exil und zogen sich zurück. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fanden nur wenige dieser Architekten zurück. Ihre Ideen jedoch zündeten. In Kombinationen der Auffassungen von Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier mit den modernen Entwicklungen in der Schweiz, in Skandinavien und in den USA entwickelte sich ein neuer Stil der Nachkriegsmoderne. Beschäftigt man sich näher mit Nachkiegsarchitektur stellt man fest, wie vielfältig die Wurzeln des Bauens in dieser Epoche sind. Man kann die Bauten nicht als einen einheitlichen Stil beschreiben. Die Architektur ist zu vielfältig, als dass man sie vereinheitlichen könnte. Alles sind Produkte dieser Zeit. Das breite stilistische Spektrum ist mehr ein Charakteristikum dieser Epoche. Die weitgespannten Hoffnungen auf eine neue Gesellschaft, auf die Kräfte der Demokratie, auf neue Lebens- und Wohnformen sowie ein wirtschaftlich gesichertes Zusammenleben in Frieden manifestierten sich in dieser Vielfalt. Erst allmählich konnten sich die Prinzipien der so lang verfemten Moderne durchsetzen. Rationalität, Verspieltheit, Traditionsverbundenheit, Modernität, Weltoffenheit, Provinzialismus, Handwerklichkeit und industrielle Perfektion. Nivellierung, Integration von Extremen und Vermischung verschiedenster Strömungen.1 Der Stil wird vielfach als unpersönlich beschrieben, bestimmt von der Abkehr historisierender Formen. Es handelt sich nicht um spektakuläre Einzelprojekte. In den 50er Jahren entstehen jedoch Gebäude, deren Wert wir erst heute wirklich zu schätzen beginnen. Die Fassadengestaltung ist Merkmal der Epoche des aufkommenden Wirtschaftswunders.2 Die schmalbrüstigen Fassaden unterliegen einem strengen Raster. In einem Beitrag aus der Deutschen Bauzeitschrift von 1958 heißt es: »Das Rastersystem ist konsequenter Ausdruck sowohl der Reihung und Schichtung von aus gleichen Elementen entwickelten Büroeinheiten, wie auch der dafür angemessenen Stahlbetonkonstruktion.« Statt historisierender Formen wurde Geschosswohnungsbau in rationalen Baumethoden betrieben. Eine Ordnung und Gliederung durch schlichten Zeilenbau. Besonders die Dachlandschaft, im Gegensatz zum modernen flachen Dach wurde verpönt. Diese Phase wird auch als »der Dächerkrieg von Stuttgart« bezeichnet. So weisen zum Beispiel die Bauten der Schulstraße zerbrechliche flach aufgesetzte Dächer auf, welche ihnen etwas Provisorisches verleihen. Ende der Fünfziger Jahre entwickelte sich die Architektur mehr zur Flächigkeit. Massivität und Gewichtigkeit des Materials, das Substanzielle wollte man spürbar machen, im Gegensatz zur Leichtigkeit. In den Fassaden und Ansichten wurden separate Raumgebilde entwickelt wie z.B. bei der Firma Leitz oder in der Relenbergstraße 10.¶Die Gegebenheiten ließen kaum Gestaltungsfreiraum. Manche sprechen von einer ästhetischen Verarmung durch Reduktion.3 Dies entsprach jedoch durchaus Döckers Intention. Er forderte schon 1923, dass ein Haus »klar, in reiner Nacktheit« erscheinen müsse, um »ehrlich und wahr sich zur Erfüllung seiner Funktion zu bekennen.« Sicherlich wurde er hier von Adolf Loos und seinem »Ornament und Verbrechen« (1908) und von Walter Gropius und seiner Forderung nach dem »klaren organischen Bauleib […], nackt und strahlend […], ohne Lügen und Verspieltheiten« beeinflusst.4 Kritiker sehen dies als Monotonie und Leblosigkeit, hervorgerufen durch den Verzicht dekorativer Zugeständnisse von Farbigkeit, Material, Proportionierung oder Baumassengliederung. Bedrückend, karg, monoton, grau und schwerfällig. Die Nachkriegsarchitektur ist damit auch ein Zeichen für die Krise, in die die am Neuen Bauen orientierte Architektur vor dem Ersten Weltkrieg nach 1945 geriet.Die strengen Baukörper sollten jedoch durch dekorative Elemente, dynamisch wirkende, unregelmäßige, »schräge« Details aufgelockert werden.5 Manche sprechen auch von expressiven Tendenzen. Obwohl die Bauten oftmals bis auf ihre Funktionsglieder reduziert sind, verkörpern sie dennoch mehr als ihre reine Funktion. Eine Gegenarchitektur zum nationalsozialistischen Bauwesen. Die Gestaltung der Gebäude der 50er Jahre war stark an die Vorstellungen von LeCorbusier geknüpft. Licht, Luft, Sonne, Freiraum und Experimentierfreudigkeit in Konstruktion. Filigrane Stahl- und Betonkonstruktionen, die Leichtigkeit suggerieren. Feingliedrige Vorhang- und Rasterfassaden stehen im Zusammenwirken mit großflächigen Verglasungen und schmalen Stützen. Dynamische Formen statt starrer Geradlinigkeit und strenger Symmetrie. Strenge Rasterung und Licht und Offenheit wechseln sich ab. Ein großer Wert liegt auf Türen und Fenstern, die oft 1 Vgl. Gilbert Lupfer, Architektur der fünfziger Jahre in Stuttgart, Tübingen und Stuttgart: Silberburg Verlag Titus Häussermann GmbH 1997, S. 420. 2 Vgl. Andreas Brunold (Hg.), Stuttgart. Stadt im Wandel, Tübingen: Silberburg-Verlag 1997, S. 116. 3 Vgl. Gilbert Lupfer 1997, S. 83. 4 Ebd., S. 83 f. 5 Ebd., S. 115.

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in raumhohen, verglasten Formen den fließenden Übergang zwischen Innen und Außen, von privatem und öffentlichem Raum verdeutlichen. Das Aufeinandertreffen von fließenden Formen und exakten Rasterfassaden kann auch als gesellschaftliche Metapher für den internen Widerstreit um Ziel und Richtung, Tradition und Moderne, Bewahrung und Aufbruch interpretiert werden. Diese stilistischen Merkmale sind künstlerischer Ausdruck einer Gesellschaft auf der Suche nach einer neuen Identität. Da die materiellen und finanziellen Mittel begrenzt sind, entsteht eine ganz neue Ästhetik mit den verfügbaren, bescheidenen Mitteln der Architekten.¶Als demokratische Eigenschaften eines Gebäudes gelten: Offenheit, Transparenz, Leichtigkeit, Bescheidenheit und Klarheit. Dem gegenüber stehen Axialität, Hierarchie, Monumentalität, schiere Größe und Massigkeit, Strenge und Pathos. Glas ist dominierendes Material für gerasterte Fassaden. Keine massiven Mauern, kein Walmdach, keine Säulenreihen.6 Eine Tradition demokratischen Bauens in dem Sinne, dass nach Gestalt, Funktion und Symbolgehalt akzeptierte Bauwerke als Vorbilder existiert hätten, gab es nicht. Die Architekturgeschichte der Nachkriegszeit zeichnet sich also mehr durch einen Versuch aus sich mit historischen Repräsentationsbauten auseinanderzusetzen.7 Es lässt sich kein eindeutiger Schwerpunkt von Bauten, welche ein Gemeinwesen repräsentieren, erkennen. Gemeinsam erscheint nur der Verzicht auf repräsentativen Aufwand und auf eine symbolträchtige Architektursprache.8 Das Gemeinwesen agiert unauffällig in der Architektur, möglicherweise aufgrund staatlicher Unsicherheit oder dem Augenmerk auf Effizienz. So spielten Kulturbauten wie die Liederhalle keine zentrale Rolle in den 50er Jahren. Der Architekt Adolf G. Schneck errichtet seinen größten Nachkriegsbau zwischen 1950 und 1953 in Botnang mit einem Altersheim für die Gehörlosenwohlfahrt. Das Gebäude steht am Hang und wächst drei- bis viergeschossig über einen hakenförmigen Grundriss empor. Substruktionen sind vor der Gebäudefront und werden als Terrassen genutzt. Zweiflügelfenster gliedern die Fassade. Nur kleine Balkone in der Mittelachse über dem Haupteingang weichen von der strengen Regelmäßigkeit ab. Ansonsten fehlt den Fassaden jeglicher Schmuck. Ein gleichmäßiges Raster einheitlicher Fensterformate erzeugt eine Gleichmäßigkeit. Insgesamt ist das Gebäude sehr unauffällig. Im Unterschied zu Döcker verfolgte Schneck das Prinzip der Anpassung und der Relativierung ästhetischer Prinzipien. »Verlust an gestalterischer Konsequenz läßt sich bei den Nachkriegsbauten der meisten Altmeister konstatieren.«9 Möglicherweise aufgrund der begrenzten Materialien hervorgerufen durch die Not der Nachkriegszeit, der antikommunistischen Adenauer-Ära, die jahrelange erzwungene Untätigkeit vieler Architekten und die Weiterentwicklung der internationalen Architektur in der Zeit der deutschen Selbstisolierung. »Müdigkeit, Resignation, Verbitterung lassen sich an Bauten ablesen.«10 Eine zeitgemäße Formensprache war in dieser unsicheren Umbruchzeit noch nicht gefunden, die moderne Architektur war während des zweiten Weltkrieges zum Stillstand gekommen, an die Traditionen hingegen wollte man aber auch nicht mehr anknüpfen. Die Bauten zeigen aber auch wie labil und komplex ein Zeitstil, wie zum Beispiel der des Neuen Bauens ist. Die Ergebnisse bleiben nicht zufriedenstellend, wenn das »Zusammenspiel von subjektiven und objektiven, künstlerischen und technischen, ästhetischen und gesellschaftlichen Faktoren« nicht stimmt.11 In Bodo Raschs Arbeiten ging es mehr darum, neue technische Entwicklungen in utopisch anmutende architektonische und städtebauliche Entwürfe umzusetzen.12 Im Gegensatz zu den Bauten von Döcker und Schenck, war die Architektur von Rasch angepasst an die Nachkriegsarchitektur, wie zum Beispiel im Falle des Deutschen Hauses.13 Der Fassadenaufbau ist zweischichtig. Geradlinig an der Tübinger Straße und geschwungen entlang der Christophstraße folgen die konventionellen Rasterfassaden dem Straßenverlauf. Die beiden Fassaden stoßen aber nicht direkt aufeinander. Sie werden durch die Gebäudeecke verbunden, welche sich jedoch zurücknimmt. Sie ist gerundet, besteht aus verputzen Brüstungsbändern. Die Fensterbänder sind durch zierliche Pfosten gegliedert. Dieser Teil des Gebäudes könnte genauso gut aus der Zeit des Neuen Bauens in den 1930er Jahren stammen. Dynamik und Schwung der »Goldenen Zwanziger Jahre«.14 Die beiden Fassaden zeigen aber auch eine gewisse Unsicherheit im Stil, wie man sie häufig in der Architektur der 50er Jahre findet. Sie wirken fast wie Schauseiten, die die eigentliche Gestalt verhüllen. Auch die Fenster schwimmen in einem nicht klar zu definierenden Feld. Trotz allem zeigt es aber eine Einpassung in Blockrandbebauungen, ohne den eigenen Charakter zu verleugnen. Sogar die Geschoßzahl und die Höhe sind dem gründerzeitlichen Nachbarhaus in der Tübinger Straße angepasst. »Die Überbrüstung und Verunklärung der Ästhetik des Neuen Bauens durch die vagen Formen der fünfziger Jahre« scheint die Entwicklung darzustellen.Oder »der Architekt war nicht starr den Traditionen verhaftet, sondern versuchte, sich dem neuen Geschmack anzupassen.«15 Ein weiteres Beispiel bildet das Gedok Haus, das Haus der »Gemeinschaft deutscher und österreichsicher Künstlerinnen und Kunstfreunde« in der Hölderlinstraße 17. Es wurde zwischen 1953 und 1954 von Grit Bauer-Revellio erbaut. Für ihr Domizil hatte die GEDOK einen Wettbewerb ausgeschrieben, Gewinnerin war Grit Bauer. Sie hatte bis 1949 an der TH Stuttgart studiert, unter anderem bei Richard Döcker. Das Gebäude beinhaltet 27 Ein- und Zwei-Raum-Appartements und 13 Atelierräume. Die Fassade wird durch die unterschiedlichen Funktionen Wohnen und Arbeiten geprägt und durch die Lage am Hang. Die Nordseite zur Hölderlinstraße zeigt drei Vollgeschosse mit Ateliers und die Südseite in Richtung Innenstadt fünf Vollgeschosse mit Wohnräumen. Die Fassade zur Hölderlinstraße ist betont flächig aufgebaut. Große Fenster und helle Putzflächen wechseln sich ab. Einen farblichen Akzent bilden die blaugrün gestrichenen Fensterrahmen. Schnörkellosigkeit, klare Proportionierung und Flächigkeit. Der Eingang und Treppenhausbereich dominiert die Fassade und ist durch unterteilte Glasflächen zur Straße geöffnet. Er ist aus der Mittelachse nach rechts gerückt. Ein überdachter Gang führt zu dem zurückgesetzten Gebäude. Die Hervorhebung dieses Bereiches ist typisch. Eher ungewöhnlich ist die schlichte Umsetzung und der Verzicht 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

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Vgl. Ebd., S. 214. Vgl. Ebd., S. 215 f. Vgl.Ebd., S. 220. Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Ebd., S. 96. Vgl. Ebd., S. 96. Vgl. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100.

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auf »Extravaganzen«.16 Die Großzügigkeit des Gebäudes repräsentiert den gemeinschaftlichen, kommunikativen Charakter. Eine Einrichtungszeitschrift schrieb hierzu: »Die Visitenkarte des Ganzen ist […] das Treppenhaus. Es bietet Gelegenheit mit seiner freundlichen Helle und Weiträumigkeit, sich zu treffen, sich zu begegnen und näher kennenzulernen.«17 Mit einfachsten Mitteln gelang der Architektin hiermit ein ästhetisch ansprechendes Ergebnis. Die Front der Talseite ist in einzelne Kompartimente aufgelöst. Mit ihrer Plastizität bildet sie einen Kontrast zur Atelierseite. Die Wände zwischen den Appartements und Loggien bilden sogleich das konstruktive Gerüst. Dadurch werden auch große Fensterflächen ermöglicht. Auf diese Weise wird jedoch die Grundrissgestaltung eingeschränkt, weshalb es vor allem für Appartementhäuser geeignet ist. Man spricht von einer Schottenbauweise.18 Damals war dies eine große Innovation. Die Stuttgarter Zeitung schrieb hierzu: »Das äußere Bild ist uns noch ungewohnt, da es von dem des überkommenden, ringsum gemauerten Hauses mit ausgesparten Einzelfenstern wesentlich abweicht.« Die Brüstungen der Talseite wirken belebend. Die Talseite wirkt durch die sichtbar belassene Bauweise modern. Das Gebäude als Ganzes scheint aber deshalb so bemerkenswert, weil es keinen Bruch zwischen den Fronten darstellt. Es ist eine Synthese aus Traditionen und aktuellen Tendenzen. Im Industriebau ist die funktionale und rationale Bauweise während des Nationalsozialismus weiterhin möglich, weshalb nicht erst nach verschütteten Traditionen gesucht werden muss. Zahlreiche, qualitätsvolle Industriebauten sind deshalb in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu finden. Jedoch sind viele Gebäude aus dieser Zeit aufgrund des hohen Veränderungsdrucks des Wirtschaftsstandorts Stuttgart verändert oder nicht mehr erhalten. Ein Beispiel ist die Automobilfabrik Ferdinand Porsche in Zuffenhausen von Rudolf Gutbrod. Ausgewogene Proportionierung und die Verwendung von wenig Materialien kennzeichnen die Fassade. Die Stahlskelettkonstruktion bleibt sichtbar. Das Leitmotiv ist Funktionalität ähnlich zum Produkt. Hierzu gehört auch die exakte typologische Ausformung der einzelnen Teile. So sucht Gutbrod für unterschiedliche Bauaufgaben auch unterschiedliche, der Funktion angemessene formale und typologische Lösungen.19 Großsiedlungen und Trabantenstädte beseitigen in der Nachkriegszeit die Wohnungsnot und schaffen Wohnraum für »breite Schichten des Volkes«. Insbesondere die Genossenschaften haben in hohem Maße dazu beigetragen die Wohnungsnot zu reduzieren und bis zum Beginn der 70er Jahre zu beheben. »Anfang der sechziger Jahre konnte die extreme Wohnungsnot, die die Nachkriegszeit bestimmt hatte, als überwunden gelten.«20 Vor allem mit den großen Neubauten am Rande der Stadt wie z.B. Freiberg und Neugereut wollen die Genossenschaften günstigen und guten Wohnraum zur Verfügung stellen. Dadurch werden teilweise auch Experimente mit neuen Haus-und Wohnungstypen zum Beispiel Terrassen- und Wohnhügelhäuser entwickelt. Am Stadtrand entstehen nun sogenannte »Schlafstädte« wie Asemwald, Fasanenhof, Neugereut oder Freiberg. Großtafelbauweise, »Wohnmaschinen« im Sinne Le Corbusiers oder experimentelle Bauten für ein kollektives Zusammenleben. Ehemalig unabhängige, ländliche Dörfer am Stadtrand von Stuttgart verlieren ihre Identität. Ein Spötter spricht von Stuttgart anstatt einer »Großstadt zwischen Wald und Reben« von einer »Großstadt zwischen Hängen und Würgen«.¶Über den Stadtteil Rot in Zuffenhausen und insbesondere die Bauten Romeo und Julia schrieb Hans Häring in Geometrie und Organik: »Der erste Akt der Planung galt hier einer eingehenden Erforschung der Wesenheit dieses Baues, der Erforschung dessen, was in diesem Bau vor sich gehen soll, wie er der Erziehung zu dienen hat.[…]In der Erforschung der Wesenheit wuchs die Gestalt der Bauanlage heran.«21

Die Wohnhochhäuser Romeo und Julia waren sein erstes Projekt, das er in der Nachkriegszeit umsetzen konnte. Der Name der Häuser kam von Scharoun. Er sah in Romeo, das Männliche, Hochaufragende und im breitgelagerten Halbkreisbau Julia verkörpert. Romeo erscheint von jeder Perspektive anders. Die Außenwände sind mehrfach geknickt und teilweise in Sichtbeton belassen. Die Balkone springen in unregelmäßigen Dreiecken hervor. Die Dachlandschaft ist stark gegliedert. Julia unterscheidet sich sehr von dem hochaufragenden Turm. Im Innenhof befinden sich Laubengänge. Die Außenfassade und die Dachlandschaft ähneln der Romeos. Die Wohnungen scheinen »aus den Fugen geraten« und aufgrund ihrer Form unpraktisch.22 Romeo und Julia zeigen eine Diskrepanz zwischen Innen und Außen und einen antiorthogonalen Formalismus.23 Die begrenzte Regelverletzung durch punktuelle Abkehr vom rechten Winkel, sparsam eingesetzten Brechungen und vorspringende Bauteile gehörte zum Repertoire der zeitgenössischen Architektur.¶Romeo und Julia sind 1952 in Stuttgart-Rot entstanden. Sie stehen in der Schwabacher Straße 15 und wurden von Hans Scharoun und Wilhelm Frank erbaut. In der Festschrift der Firma Baufinanz schreibt Hans Scharoun: »Die Gebäude beziehen ihre Wesenheit aus den gegensätzlichen Grundlagen ihrer Gestaltung, die das Gemeinsame ebenso betont wie das Individuelle. Beide Hochhäuser zeugen von ihrer ihnen mitgegebenen Wesenheit. Die Architekten waren bemüht nicht nur die biologischen Wohnbedürfnisse zu erfüllen, sondern darüber hinaus – durch die Durchformung bis ins kleinste Detail – auch dem Lebens- und Wohnstil der Eigentümer gerecht zu werden, ja, ihn zu beeinflussen.«24 Vom Standpunkt der Architekten aus handelt es sich hierbei um eine zeitlose Gestaltung. Die Gestaltung zeigt, wie eine menschliche 16 Ebd., S. 101. 17 Ebd., S. 101. 18 Vgl. Ebd., S. 102 – 104. 19 Vgl. Ebd., S. 105 – 109. 20 Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1990, S. 120. 21 Gilbert Lupfer 1997, S. 127. 22 Ebd., S. 129. 23 Vgl. Ebd., S. 132. 24 Andreas Brunold 1997, S. 117.

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Gemeinschaft zur Geschichte wird und als Geschichte weiter wirkt, im Sinne einer lebendigen Tradition. Die Bauwerke sind nicht nur Produkt technischer Perfektion im Formalismus und im Ästhetischen. Sie lassen auch Raum für Improvisation. Sie erlauben die Freiheit der Wahl und rufen damit zum Mitwirken aus. Besonders sind die zurückgesetzten Atelierwohnungen in den Dachgeschossen. Eine »neue Stadt« sollte entstehen. Der Entwurf sah einen zentralen Platz mit Verwaltungsgebäude, Warenhaus, Hotel und Stadthalle vor. Hinzu kamen zwei Kinos, ein Krankenhaus sowie Gewerbe- und Industriezonen. Diese Vorgaben reduzierten sich während der Realisierung auf die notwendigen Wohnfolgeeinrichtungen. 1953 eröffnete der damals »größte Selbstbedienungsladen Deutschlands«, in dem die Kunden an Automaten auch nach Ladenschluss einkaufen konnten. Heute sind viele Einzelhandelsgeschäfte einem großen Verdrängungswettbewerb ausgesetzt. Die Siedlung Rot liegt auf den »Rotäckern«, einem Höhenrücken zwischen Zuffenhausen und Freiberg. Hier entstand die damals größte Siedlung Deutschlands. Ein paar Hochhäuser dominieren die Siedlung. Aufgrund der katastrophalen Wohnungsnot entschloss sich die Stadt zum Bau einer Großsiedlung für 20000 Menschen. Das Grundstück war seit 1936 in Staatsbesitz und wurde als Truppenübungsplatz genutzt. Es war das größte Neubaugebiet Stuttgarts. Auf dem Baugebiet lagen zuvor schon zwei weitere Siedlungen; die Malbergsiedlung aus den Jahren 1928/29 und die Kleinsiedlung »Am Rotweg«, die wegen ihren Bewohnern auch als »SSSiedlung« bezeichnet wurde. Nach Kriegsende belegte die Stadt Stuttgart die teilweise verlassenen Häuser mit »Displaced Persons« und Wohnungsnotfällen. Begründet wurde diese Enteignung mit der SS-Zugehörigkeit der Bewohner. Die Siedler klagten auf Rückgabe ihres Eigentums und hatten Erfolg.¶Die städtebauliche Rahmenplanung für die »neue Stadt« übernahmen das Stadtplanungsamt und die »Zentrale für den Aufbau der Stadt Stuttgart«. Drei Bauten wurden nach Plänen von Richard Döcker 1951/52 erstellt. Drei L-förmige Hauszeilen zwischen Rotweg und Fleinerstraße nehmen 170 Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen auf. Die einfachen Baukörper haben eine fast abweisende Strenge. Reduzierte Formensprache, Zeilenbauweise, kubische Formen, Aufständerung, Flachdach, weißer Verputz, Balkon oder Loggia für jede Wohnung. Schon fünf Monate nach Baubeginn konnte der erste Wohnblock bezogen werden. 1962 lebten 16465 Menschen in »Rot«. Es war die erste Stuttgarter Nachkriegssiedlung, die nach den Leitbildern des »modernen Städtebaus« im Sinne der Charta von Athen entstand, in dem »jeder Bewohner eine Wohnung in gesunder und sonniger Lage mit Ausblick in Gärten oder in die Landschaft« hatte. Hiermit ist sie repräsentativ für 50er-Jahre-Siedlungen. Gegliederter und aufgelockerter Städtebau durch eine starke Durchgrünung, eine niedere Bebauungsdichte und ein zentraler Grünzug. Es sollte ein »grünes« Wohnumfeld geschaffen werden durch genügend Freiraum. Die differenzierte Gestaltung der Freibereiche wurde jedoch durch den schnellen Baufortschritt verhindert. Ein einheitliches Abstandsgrün zwischen den Zeilen und öffentliche Grünflächen entstand.¶Andererseits lassen sich auch noch Aspekte des Heimatschutzstils der Zwischenkriegszeit wiederfinden wie z.B. kurze Zeilen, Steildächer oder eine dezentrale Infrastruktur, welche über die ganze Siedlung verteilt ist, anstatt des für die 50er Jahre typischen klaren Zentrums. Das Erschließungssystem basiert auf einem rasterförmigen Straßennetz mit vier Hauptachsen, von denen Wohnstraßen in die einzelnen Quartiere führen. Die meisten Wohnblocks liegen rechtwinklig zur Straße und werden über Fußwege erschlossen. Ein übergeordnetes Fußwegesystem vernetzt Grünbereiche, öffentliche Einrichtungen und Wohnquartiere. 1954 wurde Rot mit der Innenstadt durch eine Straßenbahnlinie verbunden. Heute fahren U-Bahn und Buslinien durch die Siedlung. Es herrscht ein großer Parkplatzmangel, da es nur wenige Garagen und Stellplätze gibt. Damals entsprachen die Anzahl noch dem Standard. Neue Tiefgaragen sollen helfen.¶ Ganz nach dem Leitbild der Architektur des sozialen Wohnungsbaus der frühen 50er Jahre »Masse statt Klasse« wurde diese Siedlung errichtet. Durch den Zwang trotz Baustoffmangel in kurzer Zeit ein Maximum an Wohnungen zu produzieren, entstand normierter und typisierter Schlichtwohnungsbau. »Bis 5-geschossige Mehrfamilienhauszeilen, einige Punkthochhäuser und wenige Eigenheime. Schlicht und einheitlich. Flach geneigte Steildächer und Putzfassaden. Wiederholende Fensterelemente. Nur Balkone und Treppenhäuser gliedern die Fassade. Es dominieren Zwei- und Dreispännertypen sowie Laubenganghäuser. Vereinzelt wurden sogar Vierspänner gebaut. Die Wohnungen sind jedoch sehr klein. Eine Dreizimmerwohnung ist zwischen 47 und 60 m2 groß, eine Vierzimmerwohnung max. 72 m2. Auch der Ausstattungsstandard ist nicht besonders hoch. Vereinzelt gibt es Gemeinschaftsbäder im Keller, Durchgangszimmer und einen zentralen Kachelofen für die gesamte Wohnung. Rot hat eine der schlechtesten Wohnungsausstattungen aller Stuttgarter Nachkriegssiedlungen, trotz Modernisierung-en.¶Die Wohnungen wurden nach dem Krieg zur Hälfte an Haushalte aus Stuttgart und an Vertriebene aus Osteuropa vergeben. Nach den Notunterkünften hatten damit viele Flüchtlinge endlich wieder ein Dach über dem Kopf. Vor allem junge Familien mit Kindern, Arbeiterschichten, und berufstätigen Ehefrauen. Schon in den 70er Jahren waren die kleinen, schlecht ausgestatteten Wohnungen aber nur eine Art »Durchgangsstation«. Wer es sich leisten konnte zog weg. Seit 1962 ist der Einwohnerrückgang 40,4 %. Heute lebt dort eine überaltete Bevölkerung. Es gibt viele Alleinerziehende und Einpersonenhaushalte. Die Anteile an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern sind hoch.25 Triste Stadtrandsiedlungen, rücksichtsloser Wiederaufbau und einfallslose Rasterfassaden lassen schnell den Schluss ziehen, die 50er Jahre würden qualitätsarme Architektur bedeuten. Diese negativen Aspekte sollen jedoch nicht zu einer generellen Verurteilung führen. Die Architektur hat ihre spezifischen Qualitäten. Dazu zählt ein Gefühl für Strukturen und Proportionen, Mut und Geschick im Umgang mit Materialien und dekorativen Elementen oder der Sinn für eine »sprechende« Architektur. Die Architektur fordert zur Kritik auf, lässt aber keine pauschale Verurteilung zu. Wie sollte aber in Zukunft mit ihr umgegangen werden?

Eine wirkungsvollere Lösung der Wohnungsnot war nur auf der »grünen Wiese« zu finden. Flächennutzungspläne der Jahre 1948 und 1954 wiesen zahlreiche zusammenhängende, größere Wohnbauflächen aus. So entstand auf den vormals landwirtschaftlich genutzten Flächen sowie auf dem ehemaligen Truppenübungsgelände das Wohngebiet Am Rotweg, die damals modernste Siedlung Westdeutschlands, und der Reihe nach Giebel, Mönchfeld, Heumaden-Süd, Dürrlewang, Fasanenhof und Freiberg 1961. Bis 1964 waren 105000 neue Wohnungen entstanden, davon 40 000 im sozialen Wohnungsbau.¶Die vor allem aus Südosteuropa heimatvertriebenen Deutschen verbrachten die ersten Jahre nach dem Kriege in einem Barackenlager auf der Schlotwiese in Zuffenhausen. Sie ließen sich durch den Verlust der Heimat nicht entmutigen, sondern gründeten die gemeinnützige Bau- und Siedlungsgenossenschaft »Neues Heim«. Es wird weiter berichtet: »Im Mai 1949 zogen die ersten an einer neuen Wohnung Interessierten mit Hacke und Spaten zum Rotweg hinauf, um die Erdarbeiten für den ersten Wohnblock in Selbsthilfe zu leisten. Zusammen mit der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Zuffenhausen entstanden so über 3 000 neue Wohnungen.26

Zuvor wurden circa 35 % aller Wohnungen der Siedlung »Am Rotweg« im Zweiten Weltrkieg zerstört. In den »Allgemeinen Richtlinien für die Kleineigenheime am Rotweg im Stadtteil Zuffenhausen vom Februar 1938«, die der Bauträger aufstellte, konnte man annehmen, dass zwar nicht ausschließlich, aber doch zu einem erheblichen Teil Angehörige der SS und andere NS-Parteigliederungen sowie der Gestapo bei der Vergabe der Eigenheime zum Zuge kamen. Fest steht, dass das Siedlungsvorhaben insgesamt von Seiten der örtlichen SS vorangetrieben und trotz der Kriegsvorbereitungen und der dadurch gebundenen Mittel durchgeführt wurde.¶Bereits die Benennung der Straßen der neu errichteten Siedlung kann einen Hinweis auf die Hintergründe geben. Die heutige Löwensteiner Straße hieß damals König-Heinrich-Straße, »nach König Heinrich I. (876 bis 936), dem eigentlichen Begründer des Deutschen Reiches«; die heutige Gemmrigheimer Straße hieß Otto-Planetta-Weg, »nach dem ostmärkischen Freiheitskämpfer Planetta (+1934)«; der heutige Völterweg trug den Namen Franz-Holzweber-Weg »nach dem ostmärkischen Freiheitskämpfer Franz Holzweber (+1934)«; die heutige Talheimer Straße hieß Wilhelm-Neth-Weg nach dem »oberschwäbischen HJ-Führer Wilhelm Neth (+1933)«. Der heutige Franckeweg schließlich trug die Bezeichnung AdolfKling-Weg nach dem um den »Aufbau der NSV (nationalsozialistische Volkswohlfahrt) in Württemberg verdienten Gauleiter der NSV Adolf Kling«. In einem Schreiben des Arbeitsamtes Stuttgart von 1937 wird die Bezeichnung »Eigenheimsiedlung für Schutzstaffelmänner und alte Parteigenossen in Zuffenhausen »Am Rotweg« gebraucht.¶ Heute wird nur noch von wenigen älteren Mitbürgen die Siedlung entsprechend dem damaligen Sprachgebrauch als »SS-Siedlung« bezeichnet. Dieser Begriff ist heute auch in keinster Weise mehr gerechtfertigt. Heute sind mehr als 50 Jahre nach der unsäglichen NS-Zeit vergangen. Die damaligen Besitzer sind verstorben oder in einem betagten Lebensalter. Eine junge Nachkriegsgeneration bewohnt die Gegend. Die alte Rotwegsiedlung hat sich durch das große Engagement der heutigen Besitzer zu einen Kleinod mit höchster Wohnqualität entwickelt. Alle Häuser wurden liebevoll restauriert, oftmals vergrößert, die Gärten befinden sich in einem sehr gepflegten Zustand. Die heutigen Besitzer sind um Ihr Eigentum zu bewundern. Und wenn, was selten vorkommt, ein Haus zum Verkauf ansteht, so werden Spitzenpreise erzielt. Das ganze Gebiet ist verkehrsberuhigt und ein alter Baumbestand trägt weiter zur »parkähnlichen« Ausstrahlung der Siedlung bei. In letzter Zeit ist auch ein verstärkter Zuzug von jungen Familien zu beobachten.27

25 Vgl. Christina Simon und Thomas Hafner (Hg.), Wohnorte. 50 Wohnquartiere in Stuttgart von 1890 bis 2002, Stuttgart: Karl Krämer Verlag 2002, S. 110 – 113. 26 Vgl. http://stuttgart-rot.info/historie/. Aufgerufen am 06. 06. 2020. 27 Vgl. Ebd.

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Ausstellung: Terrassentyp als Prinzip Richard Döcker (1894 – 1968) Architekt des Neuen Bauens Weissenhofwerkstatt 12. 10. – 22. 12. 2019

Diese Ausstellung thematisiert den Terrassentyp, welchen Richard Döcker propagierte. Von öffentlichen Großbauten über das Einfamilienhaus bis zum Städtebau. Döcker sah den Terrassentyp als eine Art der Bauform der Zukunft. Besonders gezielt wurden seine Ideen im Bezirkskrankenhaus Waiblingen umgesetzt. Auch in der Weißenhofsiedlung entwickelte er zwei Einfamilienhäuser als Terrassenhäuser. Richard Döcker wird zum bedeutendsten Vertreter des Neuen Bauens im Südwesten von Deutschland. Einen Beitrag hierzu leistet auch die Publikation Terrassentyp. Beide Häuser der Weißenhofsiedlung wurden jedoch 1944 im Krieg zerstört. Das Haus 21 auch nicht wiederaufgebaut, Haus 22 im Jahre 1951 wieder völlig aufgebaut.

Manfred Rommel Es ist merkwürdig: Mit dem, was die bildenden Künstler, die Musiker, die Theaterleute schaffen, befassen wir uns täglich. Die Zeitungen, der Funk berichtet, die Stammtische diskutieren; wer sich unterrichten will, kann sehen und hören, kann Galerien, Konzertsäle und Theater besuchen. Still hingegen ist es um die Architektur. Die Räume, in denen wir leben, wachsen, nachdem die Fachleute heftig diskutiert haben, empor und wir nehmen sie – selten zustimmend – einfach zur Kenntnis. Die Klage über Betonwüsten helfen uns nicht viel – es fehlt die öffentliche Auseinandersetzung, mit den Architekten, mit den Baukünstlern darüber, was und zu welchem Preis denn an ihre Stelle gesetzt werden kann.1 Prof. Dr.-Ing. Jürgen Joedicke Den älteren unter den Architekten wird Richard Döcker als Hochschullehrer noch in lebendiger Erinnerung sein, der die Geschicke der nach 1945 neu begründeten Architekturabteilung an der Technischen Hochschule Stuttgart maßgeblich bestimmte und als Ordinarius für Städtebau und Entwerfen von 1947 bis 1958 tätig war; – den jüngeren dagegen wird wohl nicht einmal mehr sein Name geläufig sein. Die eigene, die unmittelbare Vergangenheit scheint immer mehr aus dem Blickfeld zu geraten, seit die Architekten das weite Gebiet der Baugeschichte wieder für sich entdeckt zu haben glauben. In dieser unmittelbaren Vergangenheit aber liegen die Wurzeln unseres heutigen Architekturverständnisses, und es ist deshalb notwendig, sich kritisch mit dieser Zeit auseinanderzusetzen. Richard Döcker war in den zwanziger Jahren einer der streitbarsten Kämpfer für ein neues Bauen, und er war ein Architekt von hohem Rang und Können.¶Sein Name ist verbunden mit der Entstehung und Realisation der Weißenhofsiedlung. Als der Deutsche Werkbund diese Ausstellung durchzuführen beschloß, schien es selbstverständlich zu sein, daß Paul Bonatz den Lageplan entwerfen sollte. Dagegen richtete sich der Protest einer Gruppe jüngerer Architekten, deren Wortführer Richard Döcker war. Auf ihre Initiative hin übernahm schließlich Ludwig Mies van der Rohe die Oberleitung, Richard Döcker war für die Baudurchführung verantwortlich. Die beiden von ihm erbauten Häuser auf dem Weißenhof wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Nicht viel anders erging es seinem wohl bedeutensten Werk, dem Kreiskrankenhaus in Waiblingen, das 1926 –  28 erbaut wurde. Es überlebte zwar die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, wurde jedoch umgebaut und in seiner Substanz zerstört. Nur noch aus Publikationen läßt sich ermessen, was er angestrebt hatte.¶Es war nicht mehr und nicht weniger als die Utopie einer neuen, schöneren Welt, »einer glücklichen und gesunden Zukunft«, der er mit diesem Bau den Weg bereiten wollte. Von dieser Aufbruchstimmung der zwanziger Jahre sind wir heute weit entfernt. Rückbesinnung und Nostalgie oder Forderungen nach einem radikalen Eklektizismus wären wohl bei ihm auf bares Unverständnis gestoßen. Die Werte, an denen er sich orientierte, hießen »Erfüllung des Zweckes und der lebensnotwendigen Bedürfnisse«, waren »Erfüllung des Wunsches nach Luft, Licht, Sonne« und die »Einbeziehung des Außen-Raumes«. Das alles zeigt die 1 Bund Deutscher Architekten, Landesverband Baden-Württemberg (Hrsg.), Richard Döcker 1894 – 1968, Ausstellungskatalog, Stuttgart 1982, S. 6.

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terrassenförmige Anlage des Kreiskrankenhauses in Waiblingen mit den den Krankenzimmern vorgelagerten Balkonen, auf welche die Betten nach außen geschoben werden konnten, aber, so muß man notwendigerweise hinzufügen, der Wert des Baues erschöpft sich nicht darin.¶Wie immer sind Äußerungen von Architekten über sich selbst nur cum grano salis zu verstehen. Und diese Argumentation diente wohl auch dazu, sich von einer eklektischen oder sehr tradtitionsgebundenen Architekturauffassung abzusetzen. Der promovierte Architekt Richard Döcker wußte nur zu genau, daß Architektur nicht die logische Folge von Zwecken sein kann, sondern immer auch Form ist. Wie Hugo Häring, sein Freund, forderte er daher das »gefühlsmäßige Finden der Form«. Was er ablehnte, war die a priori festgelegte Form, war die vorgewußte oder anderen Stilen entlehnte Form; – was er wollte, war Formfindung.¶ Und anders als andere forderte er zwar die Beherrschung neuer Techniken und Konstruktionen, was er aber ablehnte, war die Technik als Selbstzweck. Er sah in ihr vielmehr ein Mittel in der Hand des schöpferischen Architekten.¶Und fast gegenwärtig klingt es, wenn er für die Architekten »die Kenntnis und Übersicht der Stile aller Kunstepochen, ihrer Mittel und ihrer konstruktiven Möglichkeiten wie ihrer Art der Weltanschauung und der Weltbilder« forderte, aber, nun im völligen Gegensatz zu manchen Vertretern der heutigen Architekturszene, nicht als ein zur Verfügung stehendes Repertoire an Formen, sondern um aus der Kenntnis und dem Wissen der Vergangenheit eine der eigenen Zeit angemessene und in der Qualität der Vergangenheit vergleichbare, neue Architektur zu schaffen.2 Richard Döcker Sonne und Luft für alle Räume! Und damit das Einbeziehen des Außen-Raumes und die Verbindung mit dem Freien durch die Terrasse in ihren verschiedensten Möglichkeiten und Konsequenzen ist voraussichtlich das Merkmal, das die Bauten der Gegenwart und Zukunft von denen der Vergangenheit scheidet.3 Die Sprengung des alten, gewohnten Blockes eines geschlossenen vollen Baukörpers ist erfolgt, die abgeschlossene Welt innerhalb des Hauses hört auf, sie drängt heraus ans Licht, an die Sonne und sucht die Verbundenheit mit der Natur und mit der Landschaft. Die Trennung zwischen Haus und Garten zwischen Innen und Außen verschwindet.4 Das Vielerlei als Gesamtheit – den Stadtorganismus als Raumgestaltung – zu erleben ist das Wichtigste. Nicht das Einzelhaus ist wesentlich, es ist erst Element der städtebaulichen Gesamtkomposition und hat sich als solches einzuordnen im Interesse des Gesamtergebnisses. Die dritte Dimension der Höhe zu untersuchen ist heute wichtiger denn je.5 Der Leitgedanke der Architektenerziehung ist nicht das Wie der architektonischen Form, sondern heute – die soziale Baukultur, der gesunde Grundriß von bestem Gebrauchswert und die Erfüllung der Bedürfnisse des Lebens der menschlichen Gesellschaft von heute als einer sozialen Gemeinschaft. So ist der Terrassen-Typ auch einer von den Wegen für den Bau einer glücklichen und gesunden Zukunft!6 Wohnen ist heute mehr denn je eingestellt auf den Zusammenhang mit Licht, Sonne, Luft. Das Wohnhaus erhält daher große Fenster, dünne Pfeiler, wärmehaltende Wände. Das Wohnzimmer meist direkten Zugang nach dem Freien, um einen unmittelbaren Zusammenhang, um ein Sichöffnen nach außen zu erreichen, im Gegensatz zu dem Sichabschließen gegen die Außenwelt des alten und heutigen Wohnbegriffen ungenügenden Hauses. Der Grundriß ist daher im Gegensatz zum bisherigen meist ein anderer, nicht beengter, in ein Rechteck oder Quadrat gezwängter, nach den Verhältnissen des Bauplatzes, der Zugangsrichtung, der Ansicht der Sonne usw. Deshalb auch nicht mehr das bisher gewohnte Aussehen einer mehr oder weniger imposanten Äußerlichkeit mit sogenannter »Fassade« und Mittelachse, die sich generiert, die eigentliche Benützung im Innern oder außen zu zeigen, sondern eine äußere Erscheinung, die ohne weiteres die Anlage und den Gebrauch des Innern nachweist. Das zunächst Ungewohnte oder Auffallende an der neuen Auffassung ist die Dachlosigkeit, das heißt das flache Dach im Gegensatz zum gewohnten Steil- und Giebeldach. Es ist aber nicht so, als ob das Flachdach das Dogma der »modernen Architektur« wäre. Im übrigen wäre diese Form nicht neu und auch nicht erstmalig. Das Problem Flachdach und Steildach liegt anders. Die typische Erscheinungsform einer Architektur mit Steildach ist zum Beispiel ein schwäbisches Giebelhaus oder ein Schwarzwaldhaus. Der Typ 2 Ebd., S. 14. 3 Richard Döcker, Terrassentyp. Akademischer Verlag Dr. Fritz Wedekind & Co., Stuttgart 1929, S. 3. 4 Ebd., S. 1. 5 Ebd., S. 136. 6 Ebd., S. 139.

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des Schwarzwaldhauses besteht überhaupt in seiner äußeren Erscheinung eigentlich nur aus Dachflächen, die auf zwei oder drei Seiten fast bis zum Boden reichen. An und für sich ist hier das wetterschützende Element der Dachhaut, der Dachdeckung zum Architekturmittel geworden, da in jenen Gegenden und in jenen Zeiten der Erbauung dieser Typen ein anderes Dachdeckungsmaterial und eine andere Konstruktionsart nicht möglich war. Die Frage Flachdach oder Steildach ist so zu beantworten, daß zunächst die Dachdeckung überhaupt eine Überlegung des Wetterschutzes ist und damit auch eine Frage der Konstruktion und des Materials. Erst schöpferische Kräfte haben aus diesen Überlegungen die Ableitung des formalen Gestaltungswillens hergenommen. Der Einwand, der vor allem bei diesem Problem häufig gemacht wird, daß etwa das Steildach besonders unseren klimatischen Verhältnissen entspräche, und daß das Steildach fast eine typisch nationale und deutsche Eigenart sei, dürfte ernsthaftem Nachdenken auch keine Sekunde standhalten. Die Gründe zur Entscheidung, ob Flachdach oder Steildach, liegen auf ganz anderem Gebiet. Die Freiheit der Grundrißentwicklung eines neuzeitlichen Wohnbaues oder irgend eines zweckvollen Gebäudes führt zu Grundrißanlagen, die eben ihre Zweckmäßigkeit und die Erfüllung heutiger Bedürfnisse ermöglichen unter Vermeidung aller Überflüssigen und die Verbesserung der Wohn- und Arbeitsräume mit allen Mitteln des Fortschrittes betreiben – unbekümmert um »Architektur« und Dachlösung. Beim neuen Grundriß, der eben, wenn er neu ist, die zweckvolle, freie Lösung aller Bedürfnisse sucht, wird es meistens schwierig oder unmöglich sein, eine Steildachlösung in befriedigender Weise darüberzuziehen. Das unbedingte Verlangen nach dem Steildach bringt ohne weiteres die sinnvolle, zeitgemäße und zweckvolle Lösung einer heute notwendigen Grundrißanlage in Gefahr. Die moderne Architektur drängt aus diesen Gründen in den allermeisten Fällen zu Lösungen ohne Steildach. Wenn sich dagegen sogenannte Bestrebungen einer Verschandelung der Landschaft und dergleichen zu Wort melden, so gäbe es für diese Stimmen Hunderte von schlagenden Gegenbeispielen. Im übrigen sind Geschmacksfragen sehr schwierig zu entscheiden. Bei dieser Erörterung sind nicht zu vergessen Bestrebungen gegen das Flachdach, die von wirtschaftlich interessierten Kreisen am Steildach ausgehen – eine Idee läßt sich nicht aus wirtschaftlichen Interessen und Bedenken zerstören! Die Frage des Flachdaches ist also die der konstruktiven, technischen Durchbildung und die Lösung einer zeitgemäßen Grundrißanlage. Es ist eine Frage, ob die architektonische neue Lösung und Gestaltung darin ihr Ziel findet, einen verhältnismäßig alten Grundriß zu übernehmen und den Baukörper als einfachen Kubus ohne Steildach zu gestalten? Es ist eine Frage, ob sie einen neuartigen Grundriß benützt und eine schematische Flächenkomposition des Äußeren überlegt ohne organischen Anfang, ohne eigentliches Ende? Es ist eine Frage, inwieweit die Architektur ihr Bauobjekt zu einer Verbundenheit mit der Umgebung oder Landschaft und zu einer organischen Einheit in sich gestaltet? Es ist eine Frage, ob das Ziel der neuen Gestaltung allein unter dem Gesichtspunkt, wie man vielfach sagt, der rein sachlichen, technischen und zweckmäßigen Lösung allein zu suchen ist? Hierzu kann gesagt werden, daß die Vertreter der sogenannten reinen Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit bei ihren vermeintlichen »nur« sachlichen Schöpfungen mit diesen Dingen durchaus nicht ausgekommen sind und auch nicht auskommen werden. Fensterbänder, Übereckfenster usw., oder den ganzen Bau auf Pfeiler gestellt oder Dachgärten, zwei und drei Geschosse über dem Wohnraum, das sind alles Dinge, die nicht nur sachlich verteidigt werden können, jedenfalls aber für die lebendige Gestaltung sozusagen aus formalen Gründen erwünscht und notwendig waren. Jede schöpferische Leistung kann sich ja nur in einer Form ausdrücken und diese Form wird sich bilden je nach den ästhetischen Bedürfnissen, je nach dem künstlerischen Instinkt und Talent des Verfassers. Aber Freude über diese »Unsachlichkeit«, über die Poesie und Phantasie dieser sachlichen Architekten.[…]Das Neue, Kommende sucht für die Gegenwart und Zukunft die Welt zu schaffen mit allen Mitteln und Möglichkeiten des Fortschrittes und mit den Menschen von heute.¶Das Neue hat keine Klagen über böse Zeiten und schlechte Menschen von heute, das Neue hat keine Sehnsucht nach allem der guten alten Zeit. Die Menschen von heute und die Menschen der Zukunft sind froh, gesund und mutig, frei, lebensbejahend und ohne »Paragraphen«.7 7

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Ebd. S. 28 f.

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»Der Wohnungsbau der Boomjahre steht vor allem für das Erproben des Neuen bis zu den Grenzen des Machbaren: Dimensionen (Höhe, Größe, Fernwirkung), Erschließung, Topografie und Dichte wurden ausgereizt. In kaum einer Phase wurde mehr experimentiert: Mit den Freiraumbezügen, der Erschließung, der Konstruktion und den Grundrissen.«1

1 Karin Hopfner, Christina Simon-Philipp und Claus Wolf (Hg.), größer höher dichter. Wohnen in Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre in der Region Stuttgart, Stuttgart und Zürich: Karl Krämer Verlag 2012, S. 258.

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größer, höher, dichter »Wir sahen, wie der erste Mensch seinen Fuß auf den Mond setzte, und bekamen den Kennedy-Mord in Zeitlupe vorgeführt. Vietnam-Greuel, Afrika-Massaker, Minirock, Beatles-Musik, Sexwelle, Aufklärung, Herztransplantation – nichts blieb uns erspart und auf nichts mußten wir verzichten. Was für ein Jahrzehnt!«2

Anfang der 1960er Jahre schien es fast als habe es das Chaos der Nachkriegszeit nicht gegeben. Das Wirtschaftswunder prägte die Stadt. Die Welt war schwarz-weiß. Autos wie der VW-Käfer spielten eine große Rolle. Eine Revolution gegen die Spießigkeit der Elterngeneration, das Recht auf Freiheit und Lebensfreude, Anti-Establishment, das Experiment mit Materialien, Formen und Farben, Lack, Leder und Kunststoff, die sogenannten Hippies prägten die Zeit.3 War man ein paar wenige Jahre zuvor noch glücklich gewesen ein Dach über dem Kopf zu haben, stiegen nun die Ansprüche an Wohnungen und Wohnumfeld. Ende der 50er Jahre öffnete sich die Architektur stärker den internationalen Einflüssen. Es folgte eine Formvergrößerung und Formerweiterung. Anfang der 60er Jahre lösten hochgeschossige Wohnscheiben die bisher 3 bis 5-geschossigen Zeilen und Punkthochhäuser ab, wie z.B. in der Stadtrandsiedlung Fasanenhof. Mitte der 60er Jahre begann man dann die Wohnscheiben in Höhe und Richtung zu differenzieren. Das neue städtebauliche Leitbild hieß »Urbanität durch Dichte«.4 ¶Es war nun vermehrt möglich qualitative Kriterien und als modern gedachte gesellschaftliche Leitvorstellungen miteinzubeziehen. Neue Leitbilder verdeutlichten den Übergang von Wohnsiedlungsbau der 1950er Jahre zu einem komplexen, integrierenden Städtebau. Es sollte nicht nur mit Wohnungen versorgt, sondern diese auch gestaltet werden. In den Städten wurde das Bauland knapper und die Baupreise stiegen. Eigentumswohnungen entstanden. Die Wohnungsbaugesellschaft stellte eigene Verwaltungen auf, um diese neue Form des Miteinanders zu organisieren. Eine neue Form von Siedlungen und Stadtteilen entstand. Sie sollten das Problem der immer noch zu geringen Wohnungen und wachsenden Haushalte lösen. »Neue Städte«5 entstanden. Die Konzentration auf bestimmte Räume, verstärkte die Auffassung, dass neue, dichte Stadterweiterungen die Lösung darstellen sollten. In den neuen Wohngebieten gewann die soziale Infrastruktur durch eine Ausstattung mit Kindergärten, Schulen, und Einkaufsmöglichkeiten für den alltäglichen Bedarf an Bedeutung. Vieles davon wurde in Wohnungsnähe realisiert. Vorteile sollten eine vielfältige Infrastruktur bieten und eine bessere Teilhabe am gesellschaftlichen, städtischen Leben. Funktionale Vielfalt, soziale Durchmischung, häufigere nachbarschaftliche Interaktion. Das Wohnen in den neuen Siedlungen als Ideal modernen Wohnens. Die Wohnungswirtschaft legte großen Augenmerk auf gesellschaftliche Aufgaben. Der soziale Wohnungsbau wurde neu ausgerichtet. Nach der flächendeckenden Förderung sollte nun eine räumliche Schwerpunktbildung mit gezielter Ausrichtung auf einzelne Bevölkerungsgruppen folgen. So engagierten sich die Baugesellschaften zum Beispiel beim Bau von Wohnungen speziell für die Bedürfnisse älterer Menschen. Die Unternehmen, die bereits damals generationsübergreifendes Wohnen in einem Quartier zu ihrem Thema machten, haben heute weniger Probleme mit dem einseitigen Belegungsstrukturen und sozialen Brennpunkten. Die räumliche Konzentration des sozialen Wohnungsbaus auf bestimmte Standorte verstärkte die Auffassung, dass neue, dichte Stadterweiterungen und große Siedlungen den Wohnungsbedarf lösen könnten. In den Siebziger Jahren war der Wirtschaftsaufschwung gestoppt, eine Rezession brach herein. Der soziale Wohnungsbau und die Bebauung neuer Wohngebiete war eine vordringliche Aufgabe. Weltwirtschaftskrise, Terrorismus, Arbeitslosigkeit, erhöhte Sozialabgaben, Kurzarbeit, der autofreie Sonntag, VW Golf, Atomkraftwerke, die Anti-Atomkraft-Bewegung der »braven« Bürger, Müll, Fernseher, Supermärkte, der jugendliche Touch der guten Stube und ein lockerer, relaxter Zeitgeist sind die Schlagworte der Zeit. Bauen für die »große Zahl«.6 Diese Belastung der Innenstädte führte zudem zu einer Stadtflucht. Die Stadt vegetierte vor sich hin, überstrapaziert durch diese nie geahnte Belasung. So waren in der Innenstadt fast nur noch Dienstleistungsbetriebe zu finden.7 Die Merkmale der 60er und der 70er Jahre waren die Knappheit von Raum und damit die Tendenz in die Höhe zu bauen. Verdichtung durch großzügigere, zusammenhängende Freiflächen galt als eine Lösung für die Wohnungsnot. Hohe Wohnhäuser waren Ausdruck modernen Wohnens. Eine großstädtische Lebendigkeit sollte damit erzeugt werden.¶Häufig wurden hohe Wohnungsbauten in Kombination mit flächigen niedrigeren Bautypen geplant wie in Neugereut und Freiberg. Sie standen aber auch alleine in der Landschaft wie in Asemwald. Durch eine zentrale Erschließung wurde versucht den motorisierten Verkehr vom Fuß und Radverkehr zu trennen. Zum Parken wurden häufig Tiefgaragen unter den Gebäuden oder mit begrünten und gestalteten, nutzbaren Oberflächen angelegt. Für die großzügigen zusammenhängenden Freiflächen wurden fließende, raumbildende Gestaltungen konzipiert, in die die Einrichtungen integriert wurden. Architektonische und technische Entwicklungen und Forschung im konkreten Bauen und gesellschaftlichen Experimentieren mit neuen Lebensformen wurde betrieben. Es entstand eine Vielfalt an städtebaulichen Konzeptionen. Material und Werkgerechtigkeit spielte mehr eine Rolle. Industriell vorgefertigte Bauteile wurden eingesetzt. Es gelang sich von den alten Vorbildern und Debatten loszusagen. Die rationalistische Architektur vergaß die ästhetische und gesellschaftspolitische Radikalität des Neuen Bauens. Der Traditionalismus verlor seine Verwurzelung in der Gesellschaft. Die Organik entwickelte sich von einer Weltanschauung zur Fassadendekoration. Extreme wurden abgeschwächt. 2 Ebd., S. 20. (Quelle: Stern, Dezember 1969) 3 Vgl. Karin Hopfner, Christina Simon-Philipp und Claus Wolf (Hg.), größer höher dichter. Wohnen in Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre in der Region Stuttgart, Stuttgart und Zürich: Karl Krämer Verlag 2012, S. 20. 4 Christina Simon und Thomas Hafner (Hg.), Wohnorte. 50 Wohnquartiere in Stuttgart von 1890 bis 2002, Stuttgart: Karl Krämer Verlag 2002, S. 26 f. 5 Karin Hopfner, Christina Simon-Philipp und Claus Wolf, 2012, S. 28.

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6 Wolfgang Pehnt, Deutsche Architektur seit 1900, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2005, S. 330. 7 Vgl. Frank Werner, Alte Stadt mit neuem Leben. Architekturkritische Gänge durch Stuttgart, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH 1976, S. 8.

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Eine gute Qualität der Gebäude, ein breiter Wohnungsmix, eine attraktive Lage und ein hoher Anteil von Eigentumswohnungen sorgten für das Funktionieren solcher Siedlungen.¶Die sogenannten Trabantenstädte waren jedoch aufgrund ihrer großen Abstands-und Ausgleichsflächen sehr isoliert. Grundverschiedene Bautypen wurden ohne städtebaulichen Bezug nebeneinandergesetzt. Manche dieser großen monofunktionalen Siedlungen mit einem hohen Anteil an öffentlich geförderten Mietwohnungen haben sich zu Problemgebieten und benachteiligten Stadtteilen entwickelt.¶Der Bau vieler Hochhäuser fand schon früh Kritiker und wurde in der Öffentlichkeit nach seiner Notwendigkeit diskutiert. Durch die Differenzierung in Höhen und Längen, eine Staffelung der Gebäude und der Dächer wurde aber zumindest versucht die Masse an Gebäudevolumen nicht monoton aussehen zu lassen und in die Landschaft und Struktur der Umgebung zu integrieren. Es wurde auch gezeigt, dass qualitätvolles Wohnen in großen, hohen Gebäuden möglich ist. Die Innen- und Außenwahrnehmung geht hier stark auseinander.8 Bewohner sehen die Bebauung nicht als »Schreckensgespenst«9 oder als einen anonymen Wohnungsbau. Es wurden sogar Wohnanlagen mit stark überbauten Grundstücken errichtet, die das nach Baunutzungsverordnung zulässige Maß der baulichen Dichte überschritten. Die neuen Gebäudetypen und eine geschickte städtebauliche Anordnung zum Beispiel durch Staffelung stellten ein möglichst ungestörtes Wohnen mit Freiflächen trotz der Verdichtung her. Nur selten entwickelte sich städtisches Leben in den neuen Siedlungen. Die Anbindung an die Stadt war eher schwierig. Die Zusammensetzung eher homogen. Auch städtebaulich waren die Gebiete durch die Verwendung gleichartiger Baustoffe, die serielle Produktion von Wohnungen eher monoton. Die Vorstellung des urbanen Wohnens, der Interaktion, Kommunikation, Gemeinschaft, blieb meistens Utopie. Häufig ist das darauf zurückzuführen, dass bauliche Strukturen für eine individuelle Aneignung sowie eine fehlende Abstufung zwischen privaten und öffentlichen Räumen nicht geeignet waren. Alexander Mitscherlich lehnte »die funktionale Entflechtung der Lebenswelten ab, weil er in dieser Trennung die Gefahr einer Neurotisierung vieler Menschen sah. Deshalb vergleicht Mitscherlich die neu geschaffenen, technisch-industriellen Stadtregionen mit einem technischen Binnenraum, aus dem der Mensch vertrieben sei.«10 Zu dieser Entflechtung gehört beispielsweise die Trennung von Arbeit und Wohnen. Die Verdichtung sollte zwar diese Trennung lösen, der ansteigende Individualverkehr durch das Auto problematisierte dies jedoch. Hinzu kam, dass die Siedlungen nicht nur noch an ihren eigenen Defiziten litten. Das zunehmende negative Bild und Image verhindert einen differenzierten Blick auf die eigentlichen Qualitäten. Die Gebäude lieferten einen großen Beitrag zur Lösung des Wohnraumproblems. Für ein neues modernes Wohnen breiterer Bevölkerungsschichten war das Konzept aber zu wenig ausgereift, zumal es zugleich soziale Aufgaben lösen sollte. Zunehmende Partizipation der Bewohner war ein Schritt in die richtige Richtung, welche jedoch letztendlich zu wenig genutzt wurde. Otto Borst schreibt zurecht gegen Ende seines Buches »Stuttgart – Die Geschichte der Stadt«, »daß man es sich ohne das Wissen um die zahlreichen planerischen Sachzwänge, denen Stuttgart nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgeliefert gewesen ist, sehr leicht mache, wenn man die städtebaulichen Entwicklungen der letzten dreißig Jahre pauschal abqualifizieren wolle.«12 Im Herbst 1975 schreibt Frank Werner den Artikel »Die Brücke« in der »Stuttgarter Zeitung«. Er beinhaltet eine Gegenwartsanalyse der planerischen und baulichen Situation der Stadt. Der Aufsatz schockierte die Stadt. Die beiden Museumsdirektoren Peter Beye (Staatsgalerie) und Friedrich Kußmaul (Lindenmuseum) brachten dies auf den Punkt: »Unzureichende Zielvorstellungen, fragwürdige Prioritäten, mangelnde Koordination, Kompromißbereitschaft am falschen Platz, bisweilen auch enervierende Gleichgültigkeit gegenüber dem Bestand des überkommenden Erbes haben dazu geführt, was heute jedermann wahrnimmt: ein vor allem im kulturellen Zentrum durch Verkehrsadern zerrissenes Stadtbild, das die historisch gewachsene Bausubstanz völlig negiert.[…] Wird die Stadt, in der viele der renommiertesten Wirtschaftsunternehmen der Bundesrepublik ansässig sind, von den Sünden der Nachkriegszeit eingeholt?«13 Es wurde darüber geklagt, dass die Stadt ein zu teures Pflaster geworden sei, beinahe ausschließlich einflussreichen Interessengruppen überlassen, die die Stadt in ein Eldorado der Beton- und Bunkerarchitektur verwandelt haben, in dem fast nur noch Dienstleistungsbetriebe zu finden sind. Die für das urbane Leben so notwendige Innenstadt habe ihre »Atmosphäre« verloren.14 Ziel sollte es sein Wohnen und historische Bausubstanz zu einer stadtbildprägenden Symbiose zusammen zu bringen. Noch intakte, historische Stadtreste sollten gegenüber einseitigen Wirtschaftszwängen zusammengeflickt werden. »Es hängt auch viel davon ab, ob es der Verwaltung gelingt, die bedeutenden Kapitalinteressen in dieser Stadt zum »Maßhalten« gegenüber der Versuchung zu bewegen, ohne große Rücksicht auf ästhetische und architektonische Bedingnisse Geschäfts- oder Wohnkolosse zu errichten.«15 Besonders viele Bauten aus der Vergangenheit hat Stuttgart nicht mehr vorzuweisen. Es erscheint also umso wichtiger bei allen architektonischen Vorhaben »künstlerische und umweltfreundliche Architektur-Aspekte zu berücksichtigen – damit die Gegenwart vielleicht hervorbringe, was manche Epochen der Vergangenheit versäumten.«16 Max Horkenheimer sagte: »In dieser Periode wird das Ganze nur von Einzelnen in Gang gehalten, und jeder Einzelne wäscht seine Hände in Unschuld, er beruft sich auf die Übermacht, die sich wieder auf ihn beruft.«17 8 Vgl. Karin Hopfner, Christina Simon-Philipp und Claus Wolf, 2012, S. 30. 9 Ebd., S. 260. 10 Ebd., S. 31. 11 Vgl. http://stuttgart-rot.info/historie. Aufgerufen am 06. 06. 2020. 12 Frank Werner, 1976, S. 185. 13 Ebd., S. 9.

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Die Konzentration von Sozialwohnungen und fehlendem Bauplatz für individuelles Bauen führte auch in der Siedlung Rot zu einer unausgeglichenen Sozialstruktur. Durch den verstärkten Zuzug kinderreicher und junger Familien in den 50er und 60er Jahren und der höchsten Einwohneranzahl von 17 000 Einwohnern war die Alterspyramide an der Basis breiter als im Stadtdurchschnitt. Die einheitliche Neubebauung und der Mangel an Tradition führten zu Spannungen und Unzufriedenheit in dem Neubaugebiet, die sich in verstärkter Jugendkriminalität und Neurosen der älteren Bevölkerung bemerkbar machten.¶Seit 2003 wird die Siedlung Rot mit dem Bund-Länder-Programm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Die Soziale Stadt« gefördert. Mit diesem Programm ist es gelungen, die Aufbruchsstimmung, die den Stadtteil in seiner Entstehung geprägt hat, wieder aufzugreifen. An der Förderung sind Bund und Land mit 60 % und die Stadt mit 40 % der Kosten beteiligt. Im Gegensatz zu herkömmlichen Sanierungsprogrammen ist die Soziale Stadt nicht darauf beschränkt die Bausubstanz zu erneuern, sondern verfolgt ein ganzheitliches Ziel. Die Qualität eines Stadtteils wird von vielen Aspekten des Lebens bestimmt. Deshalb umfasst auch das Programm alle wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen, kulturellen und städtebaulichen Maßnahmen für eine nachhaltige Entwicklung.¶Die Bürger haben die Möglichkeit, sich intensiv und wirksam in den Prozess der Erneuerung ihres Stadtteils einzubringen. Die Arbeitskreise und Gruppen der Einzelprojekte der Bürgerbeteiligung stehen allen Bürgerinnen und Bürgern jeden Alters offen. Sie können sich dort aktiv bei Themen oder Projekten einzubringen, die sie interessieren.11

14 Ebd., S. 9. 15 Ebd., S. 12. 16 Ebd., S. 12. 17 Ebd., S. 186. 18 Helmut Heißenbüttel, Eindrücke und Einsichten, in: Merians Monatshefte, 14. Jahrgang, Heft 2, Hamburg 1961, S. 11.

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Im Jahre 1973 schrieben zwölf namhafte Architekten in ihrem Manifest für Architektur: Täglich wird wertvolle städtebauliche Substanz wirtschaftlichen Interessen geopfert,oder aus Ignoranz, geht menschliches Milieu verloren … Dennoch schießen täglich geistlose Ortserweiterungen aus dem Boden, zerschlagen Maßstäbe gewachsener Strukturen und zerstören unwiederbringliche Landschaften, entstehen täglich Verwaltungsbauten, Eigentumswohnungen und sogar Sozialwohnungen in unsinnigen Dimensionen: ohne spürbaren gestalterischen Anspruch – Neubauten ohne Architektur … Dennoch fordert kaum ein Auftraggeber architektonische Qualität … weil, die Interessen des Einzelnen höher bewertet werden als die der Gemeinschaft, man die ganzheitliche Funktion von Architektur nicht mehr erkennen oder wahrhaben will, Quantität mehr gilt als Qualität, Baugesetze mehr an Rechtsansprüchen als an menschlichen Bedürfnissen orientiert sind, weil, architektonische Gestaltung nicht unter die sozialen Aufgaben gerechnet wird. Deshalb sucht das breite Publikum Ersatz für die veruntreute Gestaltung der Umwelt im stillen Winkel, in engen Gassen, in alten Bauten, in gewachsenen Städten und Dörfern, suchen Touristen im Ausland nach der verlorenen Schönheit ihrer eigenen Städte,flieht der Bürger die Trostlosigkeit und Menschenverachtung neuer Stadtteile, sucht nach Erlebnisdichte, Milieu, Identifikation in der architektonischen und räumlichen Qualität vergangener Epochen …

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Architektur Darf kein Konsumgut mit eingebautem Verschleiß, kein kurzlebiger Wegwerfartikel sein, sondern bleibende Gestaltung des öffentlichen Raumes, Straße, Platz, Stadtraum sind gemeinsamer Besitz, dessen Wert von der Gestaltungsqualität der Bauwerke abhängt … Deshalb fordern wir von den Architekten, sich auf ihre ganzheitliche Aufgabe zu besinnen und sie zu vertreten; von den Nutzern, die gleichen Ansprüche an die Gestalt ihrer Umwelt zu stellen wie an deren materielles Funktionieren; von allen Auftraggebern, aber auch von der Industrie, sich der Auswirkungen ihrer Produktion auf die Gesellschaft endlich bewußt zu werden und ihre Leistung nicht alleine nach Quantität, sondern nach architektonischer Qualität zu messen; von der Stadtplanung, räumliche Konzeptionen zu entwickeln, die Architektur wieder möglich machen; von den Politikern, aus dem Anspruch nach besserer Qualität des Lebens auch die Konsequenz durch Forderung nach besserer Qualität der Architektur zu ziehen; von den Hochschulen eine ganzheitliche Architektenausbildung anstelle verfrühter und Praxisferner Spezialisierungen, getrennter Ausbildungszweige und einseitiger Verwissenschaftlichung; von der Presse qualifizierte Architekturkritik; von allen, sich gegen die Verweigerung von Qualität der Gestaltung zu wehren, gegen die Menschenverachtung der gebauten Massenware zu protestieren, nicht länger auf Architektur zu verzichten.18

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Interview mit Constantin Hörburger 28. 11. 2019

Welche Bauten sind für Sie identitätsstiftend in Stuttgart? Was sind Protagonisten oder was steht sinnbildlich für diese Era? Da gibt es ein paar Bauten von Architekten wie zum Beispiel Gutbrod oder Stohrer, die zum großen Teil auch denkmalgeschützte Gebäude sind. Zum Beispiel die Liederhalle oder der Landtag. Oder auch von Behnisch, demokratische Architektur, späte sechziger Jahre. Da geht es dann mehr um eine Offenheit, Transparenz, auch Glas als Baustoff. Aber das ändert sich in der öffentlichen Wahrnehmung ja auch. Da ist das Image auch ein anderes, als bei den Gebäuden, die wir uns anschauen. Zum Beispiel das Rathaus in Stuttgart oder der Platz drum herum, das ist ja mittlerweile ganz gut angenommen, angesehen. Das, was uns jetzt betrifft in unserem Projekt Sharing Brutalism ist nochmal ein speziellerer Ausschnitt, eher die 60er und 70er. Das ist natürlich auch die zentrale Epoche in der Nachkriegsmoderne. Aber auch nochmal mit dem Schwerpunkt Brutalismus als Architekturstil, als Bauweise, und die soziale Idee dahinter.¶Zu unserem Projekt: Ein Teil des Projektes im vergangenen Jahr war erstmal, dass die Studierenden in der Region Orte gesucht haben, Gebäude aus dieser Era, die wir als Betonmonster übertitelt haben. Monster, das waren einerseits ikonenhafte Gebäude, die vielleicht schon denkmalgeschützt sind und vielleicht auch eher zu den bekannteren gehören, aber auch andere, die nicht als Ikonen, sondern wirklich als problembehaftetes Monster betrachtet wurden. Da wusste man dann entweder, das Gebäude wird bald abgerissen, da gibt es von Berichten aus der Presse den Standpunkt, dass Wandel bevorsteht, dass es verkauft werden soll oder dass eine Unternutzung vorliegt. Diese Gebäude, die Monster mit den Problemen, wurden dann auch als Entwurfsprojekte angegangen. Die Studierenden haben Ideen gesammelt, wie man damit anders umgehen kann. Das war sozusagen der Ausgangspunkt. Die Gebäude wurden in einem Atlas festgehalten. Das sind hier jetzt 20 Gebäude mit Karte geordnet nach verschiedener Typologie. Also von Kirchen über Gemeindezentren, Kindergärten, Rathäuser, Verwaltungsgebäude bis hin zu Wohnanlagen. Der Atlas ist mittlerweile auch ein bisschen gewachsen. Aber wenn wir jetzt wirklich mehr von den 60ern bis 80ern sprechen oder auch dem Brutalismus als Nachkriegsmoderne, dann gibt es sicherlich ein paar ziemlich herausragende Gemeindezentren, zum Beispiel oben in Sonnenberg von Ernst Gisel. Da gibt es diese Ausstellung Zwölf über die Kirchenräume, die im Moment in 12 Kirchen oder Gemeindezentren in Baden-Württemberg stattfindet. Da war der Auftakt erst dort oben in Sonnenberg. Das ist eine ganz tolle

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Anlage und zählt vielleicht auch eher zu den Bekannteren.¶In Stuttgart sonst finde ich spannend, dass es durch die Hanglage verschiedene Typologien, im Sinne von Hangbebauungen gibt. Also Wohnanlagen, die als Hügelhäuser, als Terrassenhäuser, speziell auch in diesem Kontext entstanden sind, nicht nur in Stuttgart, aber eben auch. Die faszinieren mich einfach als Bauwerk, die auch mit dem Kontext umgehen, mit der Lage, der Einbettung für die maximale Ausrichtung, Besonnung, quasi auch private kleinere Terrassen, Balkone, Rückzugsorte schafft. Wie ein Haus im Haus sozusagen. Und natürlich die Begrünung, die ein großes Thema war. So zum Beispiel die Terrassen-Hügelhäuser in der Tapachstraße. Die sind leider im Moment durch Sanierung verkleidet und außen sieht es anders aus. Das war für uns auch eher ein spannendes Studienobjekt, diese Typologie. Vor allem diese große Platte oben und diese Straße. Hier war es spannend zu überlegen, wie man so eine Straße anders beleben kann, mit Geschäften, mit sozialen Funktionen, dass man das Wohnen teilweise ersetzt durch Gemeinschaftsfunktionen. Die gab es hier auch in der Planung, aber eigentlich dient es, bis auf vielleicht einen Friseur, fast nur dem Wohnen einfach als Riesenstrecke und Betonmonster. Aber da wären sicher Potenziale, gerade wenn man so einen Grundriss sieht. Diese ganzen Aufgänge. Streets in the sky. Der Begriff aus dem Brutalismus von dem Smithsons in London. Wenn man dort etwas anders belebt, dann kann das auch so einem Organismus oder einem Stadtquartier guttun und es bereichern. Deshalb hatten wir uns solche Sachen angeschaut. Die Studierenden haben in den Entwürfen dann auch Vorschläge gemacht.¶Es gibt auch einige Wohnsiedlungen aus den Jahrzehnten in Stuttgart, wie Asemwald. Vielleicht deshalb noch spannend, weil es als die größte Wohnanlage Europas geplant war. Die drei Scheiben, die jetzt hier so separiert stehen, sollten eigentlich als eine lange 2 000 m Scheibe gebaut werden. Dieser Komplex bietet ein Programm an Gemeinschaftsräumen, an Einkaufsmöglichkeiten. Es gibt bis heute oben ein Schwimmbad und eine Sauna, die auch extern besuchbar sind. Das sind Ideen, die nach wie vor verankert sind. Es ist auch ein ziemlich gut angenommenes Wohngebiet. Es hat eher das Problem, wie viele der Wohnbebauungen aus den Jahrzehnten, dass oft noch die ursprünglichen Bewohner darin wohnen, die Kinder aber ausgezogen sind. Heißt, das war irgendwie mal für, ich glaube ursprünglich 2000 Bewohner ausgerichtet und mittlerweile wohnt nur noch gut die Hälfte dort. Heißt, die Bewohner haben riesige Flächen und dieser Sharing-Gedanke oder dass man den Raum effizienter nutzen kann, das ist ein bisschen ins Absurde umgekehrt. Deshalb war für uns interessant zu schauen, wie man damit anders umgehen kann oder wie man Grundrisse umgestalten müsste. Die Wohnungen werden heute wieder super teuer verkauft, weil das auch eher eine begehrte Wohnlage ist, mit Ausblick und dem Grünen. Da war doch auch erst eine Ausstellung in der Galerie Kernweine, bei der das Gebäude mit Wohnkomplexen aus Wien verglichen wurde? Stimmt, ja, das Alt-Erlaa. Genau. Da war ich in Elternzeit unterwegs. Die Ausstellung habe ich jetzt nicht gesehen. Das ist sozusagen auch das zweite Projektteam in dem Reallabor. Ansonsten gibt es auch verdeckte Ikonen wie von Gutbier in der Jägerstraße, unscheinbare, spannende Gebäude zum Beispiel in der Stadtmitte, die Verwaltungshochschule, die DHBW. Das ist wirklich eine Landschaft, offene Treppen, die Idee der Begrünung, die gab es in der Planung schon. Dort gibt es Pflanztröge entlang der Treppenlandschaft im Inneren und im Äußeren und auch die Kommunikation über die Ebenen hinweg als Idee. Die Verknüpfung von innen und außen. Auch der Stadtraum. Eigentlich geht das hier weiter über Terrassen bis fast vor zum Katharinenhospital und eigentlich ist es auch ein stückweit wie ein gebauter Weinberg. Man kann durch das Gebäude oder neben dem Gebäude hochgehen und kommt dann auch über die Straße bis zum Chinesischen Garten oder fast Richtung Akademie. Dann vielleicht noch das Haus Beck Erlang. Das ist international relativ bekannt. Erstaunlich, dass es in Stuttgart, weiß ich nicht, trotzdem kaum jemand kennt. Das ist ein Wohn- und Atelierhaus, auch heute noch in der Nutzung. Das ist recht gut dokumentiert in historischen und zeitgenössischen Büchern. Bis heute trotzdem noch ein bisschen eingewachsen und versteckt in Stuttgart Ost. Das ist eigentlich eine kleine Ikone, die etwas vergessen ist und gut erhalten. Wie kam die Idee sich ausgerechnet mit diesen Gebäuden zu beschäftigen? Du hast vielleicht von dem Reallabor gehört, bevor es dieses Sharing Brutalism Teilprojekt jetzt gab. Damals hatten wir auch Räume in der Stadt, in der Stadtmitte, in der Calwerpassage. Zufälligerweise war das auch ein Gebäude aus der Zeit, dass jetzt abgerissen ist von Kammerer und Belz. Also ein Bürobau aus dem Jahr 78 und da hatten wir eben unsere Räume drin, die wir für diese Sharing Testphase bespielt haben und die dann auch offen waren, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Stunden die Woche. Dort haben wir getestet, was passiert, wenn man ganz viele verschiedene Nutzungen in einen Raum bringt, was man dann anpassen muss, wo Konflikte sind und wie man diese lösen kann. Das war schon ein Punkt, wo wir gemerkt haben, okay die Gebäude haben auch Potenziale. Gerade das Bauwerk war auch ein bisschen strenger. Eine Rasterfassade, nicht die großen offenen Räume, aber mit Rasterung oder modularem System. Dadurch hat man gemerkt, wenn man sowas entwickelt, so ein Flexibilisierungskonzept und das dort funktioniert, kann man es auch übertragen auf andere Bauwerke, die vielleicht ähnlich modular aufgebaut sind. Das war ein Punkt dahinter und natürlich ist es schon auch im Moment ein spannendes Umfeld. Es geht ja nicht ganz an einem vorbei. Dass hat uns vielleicht schon auch beeinflusst. Und in Stuttgart speziell, weil es hier sehr wenig dazu gab. Das war natürlich eine Möglichkeit einzusteigen. Wir haben auch ein bisschen über den Lehrstuhl das Thema der Gebäudetypologie. So haben wir es verknüpfen können mit Lehre und dem Forschungsthema. Also es liegt dann auch irgendwie an Einzelpersonen. Ich bin da ja jetzt mit dem Promotionsthema dran. Marianne Müller, die den Lehrstuhl leitet, ist da schon auch in London dran, wohnt im Barbican Centre, einer Brutalismusikone, ein Kulturzentrum in der Stadtmitte. Sie hat dann auch selber Interesse und Hintergrund mitgebracht und wir haben dann das Thema entwickelt und den Antrag geschrieben. Inwieweit prägt die Nachkriegsarchitektur das Stadtbild Stuttgarts? Zwischen 1945 und 1980 sind 1600 neue Kirchen und Gemeindezentren in Baden-Württemberg entstanden. 1990 waren mehr als 30 % aller Bestandsbauten in Deutschland aus den 60er und 70er Jahren. Heute

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sind je nach Typologie immer noch ca. 50 % der Baumasse aus dem Zeitraum von 1945 bis 1985. Also in allen Bereichen gab es da sehr viel Bauaktivität und eben auch brutalistische Architektur, im Sinne von dem Begriff béton brut, also der Sichtbeton. Das ist jetzt die eine Erklärung des Brutalismusbegriffs. Aber in dem Kontext haben wir uns am Anfang aufgehalten. Das sind die Sachen, die du auch auf der Webseite findest. Wir überarbeiten das noch, es wächst noch. Wir haben das sozusagen ein stückweit auch als so einen Open Source Atlas angedacht, angelegt, sodass uns immer wieder Leute Sachen zutragen. Und ja, das ist ein Zwischenstand, der ist nicht vollständig, aber wir haben einfach gemerkt, dass die Zahl der Gebäude in der Stadt Stuttgart relativ groß ist. Und das Andere ist, dass was du ja auch schon gesagt hast, diese Tendenz, dass wahnsinnig viel davon jetzt recht schnell verschwindet. Sehr viel befindet sich jetzt in einem kritischen Alter. Und man überlegt jetzt, ob man es sanieren kann und wenn ja mit welchem Aufwand. Oft wurde noch nicht wirklich was gemacht. Das kann eine Chance sein um die Gebäude in einem guten Zustand zu erhalten, aber es kann auch ein Problem sein, wenn man energetisch so viel reinstecken müsste oder die Bauphysik problematisch ist. Oft sind die Investoren dann schneller, der Flächendruck in Stuttgart ist ein riesen Thema. Grundstücke, Mieten sind super teuer. Sodass oft Wohnbau oder Abriss folgt. Es wird etwas Neues an so einem Ort gebaut bevor sich irgendjemand darum kümmert, ob es vielleicht ein schützenswertes Gebäude ist. Und das ist sicherlich besonders in Ballungsgebieten wie in Stuttgart der Fall. Hier hat man sehr stark diesen Druck, dass es wenig Zeit zum Nachdenken gibt oder, dass dann oft der Abriss schneller kommt als einem lieb ist, vor allem wenn man sich ein bisschen mit dem Gebäude beschäftigt hat und die Qualitäten auch kennt. Weshalb hat die Nachkriegsarchitektur ein so schlechtes Ansehen? Wo sehen Sie die Probleme? Ich glaube es gibt das Problem, dass einige dieser Gebäude, was dieses Thema Bauschäden, Bauphysik betrifft, ein kritisches Alter haben. Oft herrschen Sanierungsrückstände. Was die Bauphysik angeht, war Wärme, Schall, Energiesparen kaum eine Frage bis zur ersten Ölkrise 1971. Dann ist die Ausführung und Umsetzung teils nicht so gut. Bei vielen dieser Ideale gab es oft Schwierigkeiten, wenn man auch von geteiltem und gemeinschaftlichem Raum spricht. Leider ist es manchmal in der Umsetzung nicht so geglückt, wie in der Idee. Und es handelt sich eher um Abschreibungsmodelle, auch was den Preis und den Flächendruck angeht. Man müsste einfach wahnsinnig viel reinstecken. Auch Baumaterialien die verbaut wurden, sind problembehaftet, was man damals nicht wusste. Ist es Asbest oder PBC. Das dominiert auch die Medienlandschaft schnell, wenn es öffentlich wird. Am Ende ist es noch eine Schule, die mit den Materialien belastet ist. Dann macht das die Runde und die Eltern sind zurecht besorgt. Ich glaube die Presse sorgt dafür, dass sich so etwas schneller verbreitet als eine Qualität eines namenlosen Gebäudes, die man vielleicht auch noch schwierig bemessen kann. Sowas ist dann noch schneller in aller Munde. Bauunternehmer würden dann lieber schnell einen neuen Wohnungsbau schaffen und damit auch Geld verdienen, im Gegensatz zum Erhalt von solchen Flächen.¶Viele Gebäude davon stammen sozusagen von Namenlosen, naja nicht Namenlosen, aber von Architekten, Autoren, die eigentlich eher in den Planungsämtern der Gemeinden, in den Städten saßen. Der Stempel des Planungsamtes steht dann dahinter, nicht der Architekt direkt. Angestellte der Ämter haben solche Sachen umgesetzt. Teilweise echt super Architektur, erstaunliche Qualität, auch hier eben das Gebäude, der Neubau 1, der jetzt als Kulturdenkmal gelistet wurde, aber kaum Beachtung gefunden hat, weil es jetzt nicht den Klaus Franz gab, sondern Architekten aus den Behördenstuben. Das ist vielleicht oft ein Problem, weshalb die Gebäude nicht so beachtet werden und es eher schwierig ist überhaupt eine Öffentlichkeit dafür zu generieren. Das ist ein Bürogebäude, die Diakonie. Das wird jetzt gerade abgerissen in Stuttgart Ost. Das ging jetzt doch schneller als gedacht. Da kommt ein Wohnungsbau hin. Das war auch eine Terrassenanlage, eigentlich ein spannendes Ding, aber eher ein effizienter Bau aus modularen Elementen, Fertigbetonteilen. Der Student, der das Gebäude bearbeitet hat, hat diesen Grundriss komplett transformiert und größere Gemeinschaftsbereiche in der Planung, im Konzept integriert. Das Gebäude mit Mittelgang und Zellenstruktur ist dann vielleicht auch eher, dass was man unter Nachkriegsarchitektur versteht. Sehr rational. Die Qualität des Räumlichen ist hier eher weniger gegeben. Es gibt beides und wir schauen dann schon eher auf die räumlich spannenderen Gebäude hier drin. Worin liegen die Qualitäten und Potenziale dieser Bauten? Wieso und inwieweit sollten sie weiterhin Bestand haben? Einige Gebäude sind räumlich und architektonisch sehr spannend. Das Gebäude hier, der Neubau 1 zum Beispiel, auch aus der Era, 1965 gebaut, kommt jetzt auch in den Atlas rein. Das ist ja auch Wahnsinn kann man sagen. Riesige Flächen für die Erschließung, riesige Treppen. Das würde man heute auch nicht mehr so bauen, weil es nicht effizient ist in dem Sinne. Aber da sind auch Qualitäten, die verloren gehen, wenn solche Gebäude abgerissen werden. Also Qualitäten durch Splitlevel, offene Adrien, Treppenräume, Landschaften, wirklich qualitätsvolle Räume. Und die Kommunikation der Nutzer untereinander, wenn verschiedene Nutzergruppe in so einem Gebäude aktiv sind. In den folgenden Jahrzehnten hat man das kaum noch gehabt. Da ging es dann mehr um Effizienz. Es gibt nicht nur gute Architektur, es gibt auch problembehaftete, aber es gibt Dinge die verloren gehen würden. Und natürlich gibt es zurecht auch Probleme und man kann auch nicht immer alles sanieren. Das muss man auch überlegen und überrechnen und bedenken, auch was Materialien angeht. Tolle Natursteinböden wie jetzt zum Beispiel hier oder das Massivholz der Treppe. Diese einzelnen Stufen könnte man theoretisch unendlich abschleifen und hätte immer wieder neue Treppenlage. So haben sie wirklich Werte an Baumaterialien, die man so eigentlich heute auch nicht mehr bauen könnte. Bis hin dazu, dass es dann eigentlich Kunstwerke sind, die mitverbaut sind. Aber sowas ist oft nicht vermittelbar. Das ist schwierig und da müssen wir uns vielleicht selber manchmal fragen, wo noch Probleme sind. Deshalb ist es auch gut, dass du solche Fragen stellst. Spannend ist bei den Bauten, dass man oft Teams hatte, bei denen nicht nur Architekten und Ingenieure dabei waren, sondern auch Soziologen, Künstler und man eine Problemstellung und das Konzept gemeinschaftlich entwickelt hat. Wie wollen wir leben, wie ist die Gesellschaft, auch gerade nach dem

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Krieg. Was hat sich geändert. Deshalb sind vielleicht auch diese besonderen Grundrisse und Gebäude entstanden. Das sieht man auch vor allem wieder in Kirchen und Gemeindezentren, oder auch über Kunst am Bau. Es gibt wirklich tolle Beispiele. Noch ein Name ist vielleicht Klaus Franz, ein Architekt, der auch Professor hier an der Akademie war. Von ihm gibt es Gemeindezentren in Fellbach, einen Kindergarten in Feuerbach. Die Gebäude wurde auch bis hin zur Graphik von ihm mitentworfen und umgesetzt, soweit ich weiß. Aus einer Hand wurde ein wirklich tolles Ensemble geschaffen. Die Klaus Franz Kirche in Fellbach ist ein ganz interessantes Gebäude, Kegelstumpf, aber auch mit einem angegliederten Gemeindezentrum. Das Gebäude steht auch noch nicht unter Denkmalschutz, ist eher ungewiss. Die Heilig-Geist-Kirche in Stuttgart Ost wäre ein eher vergessenes, aber spannendes Betonmonster, was ich ganz faszinierend finde. Dort wollen wir auch eine Veranstaltung im Januar machen. Wie eine Art Burg, sehr monolithisch. Ein geschlossenes Ding, was auch ein bisschen das Problem ist. Es öffnet sich wenig zur Gemeinde, zur Stadt drum herum, obwohl es mitten im Wohngebiet liegt und fast an der Straßenbahn. Ein spannendes Nutzungs- und Raumprogramm, aber sehr introvertiert. Dort wollen wir jetzt mit diesem Ansatz, mit diesem Sharing Gedanken, den wir im Forschungsprojekt haben, bei dem es um ursprüngliche Nutzungsideen oder gemeinschaftlichen, geteilten Raum geht, das Gebäude mit einer kleinen Intervention an einem Wochenende, wahrscheinlich am 19. Januar stärken und exemplarisch zeigen. Das Gebäude steht nicht vor dem Abriss, aber es ist unterbenutzt und irgendwie auch spannend, niemand weiß davon. Es gibt eine Kegelbahn über die gesamte Länge im Untergeschoss, einen Jugendclub und andere spannende Räume. Aber irgendwie ist es kaum genutzt. Weil es hier zwei Projektarbeiten, Entwurfskonzepte gab, wollen wir nun zeigen, wie man mit dem Gebäude künftig anders umgehen könnte. Die Konzepte sind auch relativ radikal. Einer macht riesige, kreisrunde Einschnitte in die Decken um Licht und Luft reinzubringen und verknüpft damit die Etagen, schafft einen zentralen Raum, der das alles verbindet. Das Untergeschoss wird zum Stadtraum geöffnet. Das ist jetzt nur das Konzept, aber vielleicht sind sie doch noch interessiert dran und es geht weiter.¶ Die Hauptidee, oder was für uns interessant ist oder in meinem eigenen Forschungsprojekt die Fragestellung ist, ist diese Idee, dass Räume gemeinschaftlich werden, dass verschiedene Raumprogramme zusammenkommen, wie es auch schon oft in der ursprünglichen Planung bestand. Uns geht es darum, das aktuell neu anzuschauen, zu verstärken oder zu verbessern, also sozusagen mit diesem Sharing Gedanken durch zeitgleiche Nutzung von verschiedenen Akteuren im Gebäude einen Mehrwert zu generieren, der für eine Gesellschaft da ist, der auch sozial messbar ist, finanziell natürlich, weil ich mit mehreren Leuten die gleiche Fläche nutze, aber auch ökologisch. Die räumliche Qualität, wie gesagt diese spannenden Zwischenräume, Erschließungsflächen, offenen Adrien, das sind Gemeinschaftspotenziale, die man kaum mehr so bauen könnte. Aktuelle Wettbewerbe, auch für öffentliche Gebäude, sind oft schon mit einer Effizienzklausel versehen, die einem gar nicht die Spielräume als Planer, als Architekt geben. Da musst du erstmal in einem ziemlich engen Korsett nachweisen, dass du die Flächen unterbekommst. So ist eigentlich kaum die Möglichkeit, wie hier im Haus über mehrere Geschosse offene Lufträume einbauzubauen, das sind ja auch Qualitäten und nicht nur Probleme. Der eine sieht es als Problem, weil er es heizen muss, aber es würde verloren gehen. Viele der Gebäude, vielleicht auch weil man es noch nicht so dezidiert berechnet hatte oder einfach die Planung schnell ging, sind so ausgeführt, dass sie deutlich mehr Lasten tragen könnten. Man kann die Gebäude teilweise auch aufstocken, könnte noch ein Geschoss draufsetzen. Das ist auch ein Potenzial, wenn man überlegt, dass eine Stadt keinen Wohnraum hat und man über Nachverdichtung nachdenken muss. Bevor man abreist und neu baut, kann man die Gebäude teilweise intern, innerlich anders umstrukturieren oder aufstocken. Also es geht schon auch um dieses Weiterentwickeln? Es stellt sich ja auch immer die Frage nach der Bedeutung einer Bewahrung von historischer Bausubstanz. Oder wie sehen Sie das Verhältnis von Respekt vor dem Bestehenden und dem Drang nach Neuem? Ja, ich glaube es ist beides. Ein reines Bewahren sehe ich auch nicht in allen Fällen nur glücklich oder produktiv. Wenn man zum Beispiel das Gebäude hier betrachtet: Es steht jetzt als Kulturdenkmal unter Schutz. Das heißt aber auch, dass es in seiner Nutzung geschützt wird, heißt es geht weiter als Architektur, als Lehrfakultät funktionierend. Aber da muss man sich eigentlich überlegen, was die aktuellen Anforderungen sind, wie man Dinge, auch Technik hier integrieren und auch Kompromisse finden muss um das zu ermöglichen. Ich denke eine Transformation muss schon stattfinden, ein Umbau und eine Adaption. Aber es ist einfach auch die Masse, die hier in den letzten Jahren verschwunden ist oder auch aus dem Atlas, den wir bearbeiten. Es gibt jetzt sicherlich drei, vier Sachen aus unserem Atlas, bei denen im letzten Jahr entschieden wurde, dass sie abgerissen werden, ohne dass wir vorher davon wussten. Und deshalb natürlich, klar, kann auch ein Denkmalschutz überhaupt darauf aufmerksam machen. Eine Denkmalschutzbehörde ist da vielleicht die richtige Adresse um erstmal etwas in Gang zu bringen. Eine Möglichkeit auf jeden Fall. Oder dass man zweimal darüber nachdenkt ob man es abreißt oder ob es eben doch Potenziale hat? Oder ja, ich sage mal, das ist komfortabel. Wir sind ja kein Investor, der zwingend damit sein Geld verdienen muss. Ein spannendes Beispiel ist die Kirchengemeinde Nikodemus in Stuttgart Botnang. Hier stand eigentlich 2009 der Abriss fest. Kirchengemeinden haben eher schrumpfende Mitgliederzahlen, im Gegensatz zu allen anderen Gebäuden in Stuttgart, bei denen der Flächenbedarf immer mehr steigt. Aber die Gemeinden schrumpfen. Diese Gemeinde hat auf jeden Fall in Feuerbach eine zweite Kirche, hat sich dann aber entschieden diese tolle Anlage aus den 70ern, späten 60ern abzustoßen. Sie haben sich dazu entschieden sie zu verkaufen, sie zum Abriss freizugeben. Dazu hat die Gemeinde sich 2009 in einer Umfrage entschieden. Zum Glück ist seither nicht viel passiert. Wir hatten zwei Gruppen von Studierenden, die sich das angeschaut haben. Die Studierenden haben eine Bestandsaufnahme gemacht, auch ganz viele Materialien portraitiert und geschaut, was dort verbaut ist. Das sind eigentlich tolle Sachen, sehr hochwertig und speziell für den Ort von Künstlern und Architekten zusammen entworfen.

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Dann haben sie sich eben auch angeschaut, was für Möglichkeiten es gäbe oder wo die Probleme sind. Das war dort, dass die Anlage am Hang ist, also auch wieder viele Treppen hat. Für eine alte Kirchengemeinde, jetzt Altersstruktur der Gemeindemitglieder, wäre auch schon viel getan wenn sie einen Aufzug reinbauen könnten. Das war wohl eine Idee, die gab es auch schon in den 90ern. Damals hatte man zu wenig Geld und jetzt denken sie aber immerhin noch einmal darüber nach. Also vielleicht kann man mit wenigen Eingriffen manchmal auch vieles bewirken. Neben diesem Aufzug gab es auch radikalere Überlegungen, wie zum Beispiel aus dem Kirchenschiff ein Schwimmbad und aus dem Gemeindehaus, das Atriumhaus mit dem Innenhof, eine Wohngruppe zu machen. Die Idee war praktisch dort, wo man nicht alles retten kann und die Gelder für die Gemeinde auch nicht da sind, Teile anders zu nutzen oder abzugeben, vielleicht auch zu verkaufen und im Zweifelsfall abzureißen um einen anderen Teil wiederum zu schützen. In Botnang sind sie jetzt soweit, dass wirklich noch einmal darüber nachgedacht wird, was mit der Anlage passiert. Also es wurde wirklich nochmal zurückgerudert. Die Gemeinde hat auch einen neuen Pfarrer, der eigentlich ziemlich begeistert ist. Es gibt auch andere Mitglieder der Gemeinde, die sagen, dass vielleicht doch noch einmal darüber nachgedacht werden sollte. Mit denen sind wir jetzt im Diskurs und hatten dort diese Veranstaltung im Juli. Da gibt es eine Bildreihe auf der Webseite, bei der alle um die großen Modelle stehen und diskutieren und jeder seine Meinung sagen durfte, auch was er davon hält, von Bauteilen, von der Kirche und wo die Probleme liegen. Es wurden konstruktiv neue Vorschläge gesammelt. Das ist eigentlich eine ganz schöne Geschichte. Vielleicht geht es da wieder anders weiter. Im Reallabor als Format hat man einmal den Forschungshintergrund, diese historische Einbettung und Fragestellung, aber auch Praxisakteure und die Gesellschaft, die wir dazu holen wollen. Deshalb sind wir jetzt auch nicht rein wissenschaftlich und können alle Fragen bauhistorisch beantworten, wie auch die Geschichten zu den Gebäuden.¶Im Moment leite ich auch ein Seminar bei dem wir uns jetzt vier Gebäude speziell anschauen, auch aus diesem Atlas. Da geht es zum Beispiel darum, wenn alle über Nachhaltigkeit reden, und man überlegt, ja gut da baue ich jetzt ein modernes effizientes Gebäude an Stelle von so einem Betonbunker, ob das überhaupt funktionieren kann, rein rechnerisch im Sinne der Nachhaltigkeit. Erstmal muss das Gebäude abgerissen werden, wodurch wieder wahnsinnig viel an Ressourcen frei wird oder verloren geht. Und deshalb wollen wir zum Beispiel in dem Seminar schauen, wieviel graue Energie in diesen Gebäuden steckt, damit man sowas mal wirklich zahlenmäßig belegen kann, also auch die CO2-Billanz. Was würde passieren, wenn ich abreiße und etwas Neues baue? Kann sich das überhaupt rechnen? Ich glaube, das ist schon ziemlich eindrücklich, was da an Masse verbaut ist und was verloren gehen würde.¶Spannend hierbei ist vielleicht noch die Ausstellung Stuttgart reißt sich ab zu erwähnen, die hier oben in der Weißenhofgalerie vor drei Jahren stattfand. Die Ausstellung hat gezeigt, wie in der Masse in den letzten Jahren dieser Abriss so schnell von statten geht und ging und dass man da, denke ich, aufpassen sollte, dass man eben nicht Dinge verliert bevor sie erfasst sind oder ein Bewusstsein dafür da ist. Man wird auch Sachen abreißen müssen und sollen zurecht, aber es geht nicht um eine Musealisierung der ganzen Gebäude und Denkmalschutz kann, glaube ich, auch nicht alles retten. Aber man muss damit anders umgehen. Es gibt einige Gebäude, die Qualitäten haben. Es gibt auch eine Dokumentation über die Ausstellung. Das ist ganz interessant. Sollte ein größeres Bewusstsein für die historische Bausubstanz herrschen und, wenn ja, wie könnte man es erreichen? Also bei uns geht es vielleicht schon eher darum, dass man sich fragt, wie man diese Gebäude transformieren, anders damit umgehen kann und das auch behutsam macht. Denkmalschutz kann eine Chance sein, um die Gebäude zu schützen, aber ich würde sogar sagen, das ist eigentlich nicht unbedingt der erste Gedanke. Ich weiß nicht, ob der Denkmalschutz da immer das Richtige ist, weil es eine gewisse Flexibilität braucht und man manchmal auch Dinge ein stückweit ändern muss, auch strukturell und baulich. Da können die Auflagen im Denkmalschutz auch restriktiv sein. Auch die Eigentümer, die damit konfrontiert werden, inwieweit sie was machen können, in welchem Umfang. Dann gibt es da wieder Konflikte. Man brauch schon eine gewisse Freiheit. Wegen dem zunehmenden Abriss wollten wir auch mit dem Atlas darauf hinweisen, dass es wahnsinnig viel in allen Baukategorien, in allen Typologien gibt. Kennst du vielleicht die SOS Brutalismus Seite und die Ausstellung im DAM dazu? Oliver Elser war bei uns auch Gastkritiker in einem Entwurf. Und wir machen jetzt, wenn alles klappt in Aalen eine Ausstellung im Januar, in der wir quasi als kooperierende Hochschule mit den Modellen vom Rundgang, die du gesehen hast, dort eine Ausstellung im Rathaus zusammen kuratieren. Sozusagen Aalen und Stuttgart als eine regionale Einheit verstehen, zeigen, dass das ein größerer Kontext ist. Auch die Gebäude aus dem Atlas sollen auf die SOS Brutalismus Seite, in der Stuttgart im Moment gar nicht so wahnsinnig gut repräsentiert ist. Es gibt ein paar Gebäude. Manchmal sind die aber auch nicht klar zugewiesen. Das ist ein Teil von unserem Projekt, dieses aufmerksam machen, dieses Wissen darüber teilen und trotzdem auch kritisch hinterfragen. Tatsächlich wird es jetzt lustigerweise auch Sprechstunden geben, so wie wir es jetzt hier machen. Sodass wir einmal die Woche eine offene Sprechstunde haben, weil es auch andere Leute gibt, die sich für das Thema interessieren und nach den Ausstellungen immer mal wieder Anfragen kamen. Auch denke ich, ist eine Vermittlung hierbei sehr förderlich. Architektonische Spaziergänge oder auch eine Würdigung namenloser Autoren. Eine andere Möglichkeit wäre der Denkmalschutz oder Ensembleschutz. Es geht also um die Erhaltung einer Gruppe von Gebäuden, die räumlich und architektonisch im Zusammenspiel historisch erhaltenswert erscheinen oder als Gesamtkunstwerke gewürdigt werden. Wie wird das Projekt weitergehen? Es ist ein bisschen die Frage, wie wir das schaffen. Eigentlich ist das Projekt jetzt noch begrenzt auf ein halbes Jahr. Ein paar Dinge stehen jetzt noch an, eine Publikation und zwei größere Ausstellungen. Dann sehen wir ein bisschen, dass wir das eher nicht mehr viel erweitern. Obwohl vielleicht sind das dann auch eher Namen und ein Bild, dass man sagt: Achtung es gibt noch Gebäude, auch wenn die da nicht so ganz aufbereitet sind. Vielleicht gibt es auch eine Fortsetzung. Da schauen wir jetzt, dass wir das in einer anderen Form vielleicht weiterführen.

Dialog

185


Baukulturregister Stuttgart 50er – 70er Jahre

Baukultur

186


Mitte

Am Fruchtkasten Arnulf-Klett-Platz Berliner Platz Breitscheidstraße Charlottenplatz Charlottenstraße Danneckerstraße Dobelstraße Dorotheenstraße Eberhardstraße Eberhardstraße Esslinger Straße Ferdinand-Leitner-Steg Friedrichstraße Fritz-Elsas-Straße Gerokstraße Hauptstätter Straße Holzgartenstraße, Holzgartenstraße Holzgartenstraße Hospitalstraße Jägerstraße

3

Jägerstraße Keplerstraße Keplerstraße Kleiner Schloßplatz Konrad-Adenauer-Straße Konrad-Adenauer-Straße Konrad-Adenauer-Straße Königsstraße Königsstraße Königsstraße Königsstraße

58

Königsstraße Kriegsbergstraße Kriegsbergstraße Marktplatz Marktstraße Neckarstraße Oberer Schlossgarten Paulinenstraße Rotebühlstraße Schillerstraße Schlossplatz Schulstraße Schulstraße Stafflenbergstraße Stafflenbergstraße Stitzenburgstraße Theodor-Heuss-Straße

West

Botnang

1 – 3 29/31 12 2 28 1a 10 29 12 16 9a 36 26

11 – 17 11 3 4 6 9 27 30 33 34 60 1 1 – 3 121 6 50 77 2 28 76 – 78 4

Urbanstraße Urbanstraße Fleckenwaldweg Forststraße Gänßleweg Johannesstraße Johannesstraße

7/ 28 18 – 20 3 43 18 45

Marienstraße

40 /42

Paulusstraße Reuchlinstraße Rosenbergstraße Rosenbergstraße Silberburgstraße

30 32 92 194 86

Erweiterungsbau Commerzbank Zeppelin-Bau und Carré Liederhalle Universitätscampus Stadtmitte Charlotten-Hochhaus LOBA Haus Hochhausgruppe Ludwig-Hofacker-Kirche Städtisches Bürogebäude »Königin von England« Kaufhaus Merkur Schwabenzentrum Parkhaus Breuninger Fußgängerbrücke über die Schillerstraße Hahn Hochhaus Max-Eyth-Schule Selbstbedienungsladen Schwabenzentrum Universitätscampus Stadtmitte Bibliothek der Universität Stuttgart Max-Kade-Studentenwohnheim Synagoge Ehem. Bürogebäude der Schwäbischen Treuhand AG Hörsaalgebäude der Verwaltungshochschule Universitätscampus Stadtmitte Kollegiengebäude I und II der Universität Stuttgart Baden-Württembergische Bank Landtag Hauptstaatsarchiv Landesbibliothek Königin Olga Bau Kaufhaus Union Geschäftshaus am Kleinen Schloßplatz Haus Englisch Geschäftshaus Speiser Universitätscampus Stadtmitte Katharinenhospital Rathaus Breuninger Deutsche Verlags-Anstalt Kleines Haus Haus der Zürich-Vita-Versicherung, Büro- und Geschäftshaus Verlagsgebäude Ernst Klett Fußgängerbrücke über die Schillerstraße Kunstgebäude mit Verbindungsbau und sog. Oberlichtsaal Fußgängerzone Kaufhaus Merkur Büro und Archiv der Diakonie Katholische Kirche St. Konrad Hochhausgruppe Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie US-Generalkonsulat Justizgebäude Nikodemuskirche Dillmann-Gymnasium Siedlung Aspen Königin-Olga-Stift EVT-Verwaltungsgebäude - Eingangshalle und Haupttreppenhaus Bürogebäude der Hamburg-MannheimerVerischerung mit ehem. Tankstelle Vogelsangschule Johannes-Gemeindehaus Evangelische Rosenbergkirche Paul-Gerhardt-Hof Friedrich-Eugens-Gymnasium

Baukultur

1970 – 72 1955 – 56 1956 – 65 1960er 1949 – 50 1949 – 50 1954 – 56 1959 – 60 1978 – 85 1958 – 59 1961 1962 – 64 1955 – 62 1955 – 56 1978 – 85 1956 – 65 1958 – 61 1952 – 53 1951 – 52 1953 – 56 1971 1956 – 65 1956 – 60 1963 – 68 1959 – 61 1964 – 69 1964 – 70 1950 – 54 1950 – 53 1968 – 70 1949 / 1954 – 55 1950 – 51 1956 – 65 1956 – 67 1953 – 56 1951 – 58 1959 – 62 1964 – 66 1952 – 57 1961 1958 – 61 1950 – 58 1954 1976 1969 1954 – 57 1954 – 55 1950 – 56 1956 – 58 1963 – 66 1954 – 55 1956 1952 – 54 1957 – 59 1956 1951 – 53 1952 – 54

187


Nord

Botnang

Birkenwaldstraße Eduard-Pfeiffer-Straße Eduard-Pfeiffer-Straße Flamingosee, Höhenpark Killesberg Fleckenweinberg Friedhofstraße Heilbronner Straße Heilbronner Straße Herdweg Herdweg Herdweg Holbeinweg Hölderlinstraße Hölderlinstraße Im Falkenrain Im Falkenrain Mönchstraße Parlerstraße Relenbergstraße Rudolf-Steiner-Weg Schottstraße Seidenstraße Stresemannstraße Tunzhofer Straße Tunzhofer Straße Wolframstraße Boslerstraße Gablenberg, Albert-Schäffle-Straße

Ost

Süd

Feuerbach

Weilimdorf

Reinsburgstraße Umgeltenweg Vaihinger Landstraße Albrecht-Dürer-Weg Am Kochenhof Am Weißenhof

Sommerrain Heslach Weinsteige

1/ 3 /5 123 15 – 21 1 98 29 101 29 11/ 25 41 43 59 64 72 53 14 17 1a 5 3 /5 100 10 /57 10 110 – 112 64 16a 16 61/63 1

Hackländerstraße Haußmannstraße Im Schellenkönig Landhausstraße Marquardtstraße Neckarstraße Planckstraße Villa Berg Edelweißweg Böhmisreuteweg Finkenstraße Neue Weinsteige Römerstraße

16 44 56 192 10 230 60 2 11 19 36 80 91

Strohberg Tübinger Straße Kremser Straße Kyffhäuserstraße Langhansstraße Rüdigerstraße Siemensstraße Siemensstraße Wiener Straße Wiener Straße Bergheim/Giebel Engelbergstraße Grubenäcker Giebelstraße

42 13 – 15 16 59 35 – 61 14 11 64 51 53

Köstlinstraße Mittenfeldstraße Pirolweg, Salamanderweg, Solitude Straße

189

15

Siedlung Aspen Karl-Wacker-Heim Diplomaten-Siedlung Messe- und Kongresszentrum Killesberg Neubau 1, Campus Weißenhof, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Hymnus Chorheim Mehrfamilienhaus Wohnhaus Fischer Milchbar Christophkirche Eisenbahner Wohnhochhäuser GENO Haus Handwerkskammer Stuttgart Gerling Haus Bürohaus Storer Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Haus Gabriel und Haus Fahlbusch Gedächtniskirche Gedok Haus Haus Gabriel und Haus Fahlbusch Wohnhaus Roser Wohnhochhaus Mühlbachhofschule Wohnhaus Freie Waldorfschule am Kräherwald Wohnhäuser Heinle und Wischer Gartenatelierhaus Messe- und Kongresszentrum Killesberg Bürgerhospital, Bau 2 Bürgerhospital, Verwaltungsgebäude, Bau 3 Bürgerhospital, Personalbau, Bau 1 Heilig-Geist-Kriche Kirche und Gemeindezentrum Zum heiligen Bruder Klaus von der Flüe Wohnhaus Auditorium, Waldorfschule Uhlandshöhe Württembergischer Kunstverein Leo-Vetter-Bad Haus Beck-Erlang Funkhaus des Südwestrundfunk Haus Beck-Erlang Funkstudio des Südwestrundfunk Jugendamt Tageseinrichtung Josefskirche Katholische St. Josef Kirche Haus Windstoßer Lehenschule, Sprachheil- und Schwerhörigenschule, Jugenhaus der Evang. Markusgemeinde Mehrfamilienhaus Bossert Deutsches Haus Wartehalle mit Kiosk St. Monika ECA-Siedlung Am Heimberg Verlagsgebäude des Georg Thieme Verlags Verwaltungsgebäude, ehem. Kantine Werksgebäude der Firma Louis Leitz Kaufmännische Berufs- und Wirtschaftsschule Hallenbad Wohneinheiten Wohneinheiten Wohneinheiten Katholische Jesus-Christus-Salvator Kirche mit Sakristei Friedhofstbauten Wohneinheiten Wohneinheiten Wohneinheiten Wohneinheiten

Baukultur

1950 – 51 1963 – 66 1950 – 53 1955 – 56 seit 1949 1964 – 68 1967 – 70 1960 – 61 1950 1950 1968 – 70 1954 – 56 1969 – 72 1954 – 61 1959 – 60 1961 1954 1954 – 55 1956 – 57 1953 – 54 1954 – 55 1949 – 53 1959 1967 1966 – 67 1958 seit 1949 1955 – 59 1955 – 59 1974 – 76 1967 – 69 1954 – 55 1975 – 77 1966 – 68 1956 – 60 1964 – 66 1972 – 77 1964 – 66 1953 – 57 1956 – 58 1973 – 75 1970 – 75 1959 1962 – 65 1956 – 57 1951 – 52 1953 1971 – 73 1952 – 53 1979 – 81 1953 1965 1959 – 64 1959 – 64

1955 – 57 1964 – 66

188


Zuffenhausen

Rot Rot Rot Rot

Mühlhausen

Freiberg Freiberg Mönchfeld Freiberg

Neugereut

Freiberg Mönchfeld Mönchfeld Freiberg

Cannstatt Hallschlag

Waiblingen Sillenbuch

Heumaden

Birkach Plieningen Degerloch Möhringen Sonnenberg Sonnenberg Fasanenhof Vaihingen Dürrlewang Dürrlewang Dürrlewang

Haldenrainstraße Haldenrainstraße Moritz-Horkheimer-Straße Porschestraße Schwabbacher Straße Schwabbacher Straße Silcherstraße Rotweg

Tapachstraße Adalbert-Stifter-Straße Balthasar-Neumann-Straße Hechtstraße Ibisweg Kafkaweg Max-Brod-Weg Mönchfeldstraße Flundernweg Stichlingweg Wallensteinstraße Brenzenäckerstraße, Kormoranstraße, Pelikanstraße Am Leuzebad Auf der Steig Hattinger Platz Löwentorstraße Marktstraße Mercedesstraße Mercedesstraße Jesistraße Bockelstraße Hochholzweg Kleinhohenheimer Straße südlich der Kirchheimer Straße Melonenstraße Mendelssohnstraße Schemppstraße

200 25 42 15 25 134 /136/ 138 /140/ 142/146/ 148 /150/ 152 /154 75 – 97

17  – 19

14

1 – 6 21 65 59 109 137 21 11 25 57 49

Walter-Flex-Straße Grüningerstraße Welfenstraße

22 25 31

Auf dem Haigst Jahnstraße Kauzenhecke Albstadtweg

2 120 7 – 15 9

Bonhoefferweg Fleckenäckerstraße Korinnaweg

14 2 50/A/B/ C/52 5 20

Sautterweg Solferinoweg Allmandring Dachswaldweg Dietmannstraße Dürrlewangstraße Hessenlauweg Im Himmel Lunaweg Pascalstraße Pfaffenwaldring, Reinbeckstraße Robert-Leicht-Straße Stiftswaldstraße

124 10 12 100 31 161

Silcherschule Zuffenhausen Auferstehungskirche Büro- und Fabrikgebäude Automobilfabrik Ferdinand Porsche Romeo und Julia Silcherschule Zuffenhausen Silcherschule Zuffenhausen Wohnsiedlung

1952 – 54 1956 1951 – 52 1951 – 53 1955 – 59 1952 – 54 1952 – 54 1950 – 51

Wohnsiedlung Wohneinheiten Wohneinheiten Wohneinheiten Wohnanlage Schnitz Wohneinheiten Wohnhaus Apollo Wohneinheiten Wohnstift Wohneinheiten Wohneinheiten Wohngebiet

1969 – 71

Mineralbad Leuze Steigkirche Fischträger-Brunnen Bürogebäude der Sparkassenversicherung Kron-Apotheke Clubzentrum des VfB Stuttgart Bürogebäude und Automobilmuseum der DaimlerChrysler AG Seniorenzentrum Marienheim Wohnbebauung Heumaden Wohnbebauung Heumaden Michaelskirche »Über der Straße« Wohngebiet Haus Mansfeld inkl. Garten Katholische Kirche St. Michael Evangelische Emmaus-Kirche und Pfarrhaus Wohnhaus Sillenbuch Evangelisches Studienzentrum »Haus Birkach« Leichenhaus Wohnstadt Asemwald Wohnhaus Kieferle Fernsehturm Mehrfamilienhäuser Verwaltungszentrum der Ärzte und Zahnärzte Fasanenhof, Bonhoefferkirche Gemeindezentrum Sonnenberg Wohn- und Wirtschaftsgebäude (Einfamilienhausgruppe) Wohnhochhaus Salute Wohnhochhaus Fasan I Universitätsgelände am Pfaffenwald Terrassenhaus Wohneinheiten Wohneinheiten Ehem. Haus Woernle Wohnhaus Bardroff Wohneinheiten Hauptverwaltung der IBM Deutschland Universitätsgelände am Pfaffenwald Haus Iron Wohnhaus Sänger Wohnbebauung Lauchhau

Baukultur

1973 – 74 1967 – 69 1969 – 73

1953 – 54 1966 1952 1972 – 74 1977 1978 – 81 1956 – 61 1962 – 63 1968 – 72 1968 – 72 1952 – 53 1954 – 55 1952 – 53 1950 / 1956 1955 1977 – 79 1950 1968 – 72 1963 – 64 1954 – 56 1949 – 50 1977 – 81 1965 – 70 1964 – 66 1964 1961 – 63 1961 – 64 ab 1957 1969 – 70 1950 1951 1967 – 72 ab 1957 1966 1959 – 61 1968 – 70

189


Abb. 102

Stuttgart Mitte

Abb. 105

Stuttgart Nord

190


Abb. 104

Stuttgart West

Abb. 106

Stuttgart Ost

Abb. 103

Stuttgart Süd

191


Abb. 171 – 191

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Charlottenstraße 29

Baukultur

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Gerokstraße 12

Am östlichen Rand der Stuttgarter Mitte steht ein kleiner Feinkostladen. Auf den ersten Blick ist er eher unscheinbar, etwas heruntergekommen. Möglicherweise liegt es auch an dem etwas niedrigen, unter dem Straßenniveau liegenden Gebäude. Die Farbe der Fassade blättert bereits ab und Rost ist an der Markisenstange. zu erkennen. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich bei diesem Bauwerk jedoch um ein eher ungewöhnliches Gebäude mit einem trapezförmige Grundriss. Das Dach des eingeschossigen Hauses ist dynamisch gewölbt. Hinten beginnt es etwa vier Meter über der Hoffläche und steigt nach vorne um fast drei Meter an. Nahezu symbolisch für die Aufbruchstimmung seiner Entstehungszeit. Das Gebäude entstand 1955/56 nach Plänen von Eduard W. Hanow und enthält Stuttgarts ersten speziell errichteten und heute noch bestehenden Selbstbedienungsladen. Heute würde man von einem Supermarkt sprechen. Durch den Krieg entstand an dieser Stelle eine Baulücke. Eigentlich sollte dort ein Geschäfts- und Wohnhaus stehen, das sich kaum von den Häusern ringsum unterschieden hätte. Einsprüche der Nachbarschaft brachten den Bauherrn jedoch dazu, diese Lücke auf eine andere Art zu schließen. Zudem war der Architekt auch begeistert von einer neuen Form des Betonbaus. Sie war revolutionär für Stuttgart und eine Premiere für Württemberg. Auf ein Netz aus aufgespannten Seilträgern wurde Beton aufgebracht, der die Leichtbetonschale der Hängedachkonstruktion entstehen ließ. Dieses Prinzip war zwei Jahre zuvor erstmals in Europa in Form der Schwarzwaldhalle in Karlsruhe errichtet worden. Selbst die Baurechtsbehörde schenkte der Konstruktion noch nicht so recht glauben. Sie bestand darauf, dass sämtliche konstruktive Bauteile erst durch die Abteilung für Baustatik genehmigt werden. Bei dieser Konstruktion stehen im Inneren keine Säulen, die das Dach tragen müssen. Die Häuser links und rechts sind deutlich höher, nutzen den Baugrund besser und intensiver. Jederzeit könnte ein Investor auf den Gedanken kommen im Zuge einer Nachverdichtung das Gebäude abzureißen.1

1 Vgl. Ulrich Gohl, Gesichter ihrer Zeit. Unbekannte Stuttgarter Bau- und Kulturdenkmale, Tübingen / Stuttgart: Silberburg-Verlag Titus Häussermann GmbH 1992, S. 72 ff.

Baukultur

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Abb. 192 – 214

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Jägerstraße 58

Baukultur

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Stafflenbergstraße 76 – 78

Baukultur

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Abb. 215 – 233

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Stitzenburg- /Danneckerstraße

Baukultur

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Baukultur

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Marienstraße 40/42

Bei diesem Bauwerk handelt es sich um ein mächtiges, siebengeschossiges Bauwerk. Schon durch eine Leuchtschrift wird es als Versicherungsbau ausgewiesen. Vor dem Bauwerk befindet sich ein elegantes, einstöckiges, rundes Gebäude, das fast nur aus Glasscheiben besteht. Früher diente es als Bürohaus der HansaVersicherung. Heute ihrem Nachfolger, der Hamburg-Mannheimer. Im Rundbau davor verkauft ein Autoteilehändler seine Ware. Früher diente der Rundbau als Tankstelle. Durch diese Nutzungsänderung konnte das Gebäude den vereinheitlichenden Umbauten der Mineralölkonzerne entgehen und blieb als letztes seiner Art und Entstehungszeit in Stuttgart weitgehend im baulichen Originalzustand erhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren an der Stelle des Bauwerks nur noch Ruinen zu finden. 1950 legte der Architekt Paul Weber Entwürfe vor. Seine ersten Entwürfe wirkten eher konventionell und langweilig. Sie sahen einen sechsstöckigen Klotz mit flachem Satteldach vor. Erst der zweite Entwurf demonstriert die Aufbruchsstimmung der Zeit. Die Hauptfassade wird im Bogen achtelrund nach hinten eingezogen. In den unteren sechs Stockwerken gliedert eine regelmäßig angeordnete Fensterreihe die Fassade. Dadurch wirkt das Gebäude sehr streng und mächtig. Durch den siebten Stock entsteht eine gewisse Leichtigkeit mit einem durchgehenden Fensterband, das etwas zurückgesetzt ist. Das Flachdach steht, wie bei vielen Bauwerken der 50er Jahre, deutlich über. Solang die nicht zur Versicherung gehörende Spitze des Grundstücks gar nicht oder nur flach bebaut wurde, konnte die Gesamthöhe genehmigt werden. Nachdem entschieden war, dass hier überhaupt gebaut werden sollte, mit dem Nachteil, dass der Zugang zur Versicherung wenig repräsentativ an der Seite zu liegen hatte, einigte man sich darauf eine einstöckige Tankstelle davor zu errichten. Der Architekt Wilhelm Ritter von Graf löste seinen Entwurf ebenfalls eher schwungvoll. An den vordersten Punkt des Grundstücks setzte er 1954 einen runden Ausstellungsraum mit einem Band aus Schaufensterscheiben. Das Betanken des Fahrzeugs erfolgte im breiten, überdachten Durchgang zwischen Rundbau und Verwaltungsgebäude. Es ist kaum vorstellbar das sich niemand an den Abgasen der Tankstelle gestört hatte. Eine Kombination aus Bürogebäude und Tankstelle war wohl nur in den motorisierenden 50ern denkbar.2 Abb. 234 – 250

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2 Vgl. Ulrich Gohl, Gesichter ihrer Zeit. Unbekannte Stuttgarter Bau- und Kulturdenkmale, Tübingen / Stuttgart: Silberburg-Verlag Titus Häussermann GmbH 1992, S. 68 ff.

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Baukultur

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Eduard-Pfeiffer-Straße 29

Das Terrassenhaus wurde zwischen 1960 und 1961 von Chen Kuen Lee erbaut. Chen Kuen Lee war langjährigerMitarbeiter von Hans Scharoun und schuf in diesem Vier-Familien-Haus eine bemerkenswerte Adaption. Seine Ideen wurden in schöpferischer Weise umgesetzt. Der Bau besitzt eine sehr unkonventionelle Gestalt und ist in einen Steilhang hineingebaut. Besonders charakteristisch sind die leicht versetzt angeordneten, vorkragenden, assymetrischen Balkone mit spitzen Ecken, die bis zu 4,80 Meter hervorragen. Das Dacht ist teilweise gewölbt. Es handelt sich um eine fließende, spannungsvolle Raumsituation. Rechte Winkel wurden sowohl innen als auch außen vermieden.3 Abb. 251 – 273

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3 Vgl. Martin Wörner, Gilbert Lupfer und Ute Schulz (Hg.), Architekturführer Stuttgart, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2006, S. 115.

Baukultur

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Boslerstraße 1

Nach der Zerstörung der Heilig-Geist-Kirche während des Zweiten Weltkrieges entschied man sich dafür, anstatt einer Kirche ein Gemeindezentrum zu errichten. So wurde das Gebäude 1974 nach den Plänen von Reiner L. Neusch erbaut. Es fügt sich relativ unauffällig in seine Umgebung ein. So passt es sich gut in die steile Lage ein. Die Pläne sahen vor, dass sich das Gebäude sowohl vom Erdgeschoss, als auch vom Untergeschoss begehen lässt. Augenmerk wurde sowohl auf »Liturgie (imweitesten Sinne des Wortes) und Diakonie (im Sinne von Begegnung und Füreinander-Dasein)«4 gelegt. Heute ist das Gebäude ein Beispiel für den Brutalismus in Stuttgart, steht jedoch nicht unter Denkmalschutz. Im Zuge des Reallabor Sharing Brutalism wurde ein Konzept entwickelt, wie die Heilig-Geist-Kirche umgedacht werden könnte. Gesellschaftliche und architektonische Potenziale werden im Kontext des Sharing-Gedankens aufgezeigt. Das Gebäude steht damit beispielhaft für eine soziale Utopie, welche produktiv auf denen der Nachkriegsjahrzehnte aufbaut ohne das Bauwerk abzureißen. Am 19. 01. 2020 fand hier im Rahmen des Neujahrsempfangs der Gemeinde eine Ausstellung statt, die eine solche Intervention aufzeigte.5

4 Broschüre des Gemeindezentrums Heilig-Geist – Stuttgart Ost 5 Reallabor Space Sharing, Heilig-Geist-Kirche, Reallabor Pop-Up, 19. 01. 2020

Baukultur

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Landhausstraße 192

Hier steht ein massiver Betonbau, der sich nahezu hinter hohen Bäumen und Gebüsch versteckt. Hier steht das Leo-Vetter-Bad, der erste Schwimmbad-Neubau Stuttgarts nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine architektonischen Qualitäten nimmt nahezu keiner war. Zunächst dachte man an einen Wiederaufbau des alten Stadtbads, entschloss sich aber dann doch dafür ein völlig neues Gebäude zu errichten. Der erste Entwurf des Architekten Werner Gabriel im Jahre 1955, war noch recht zögerlich und bestand aus einem konventionellen, riesigen, rechteckigen Baukörper. Mit seinem Entwurf von 1958 zerlegte er den Bau in unterschiedlich große Kuben, zieht die Wand entlang der Julienstraße schräg vor und krönt die Kuppel der Schwimmhalle mit einem gewellten Dach aus Kupferblech und spiegelt damit die Formensprache seiner Zeit wieder. Auch charakteristische Baumaterialien wie Glas und Beton wurden verwendet. Die gesamte Front und der gesamte obere Teil des rechten Hauptfassadenabschnitts bestehen aus Glasbausteinen mit unterschiedlicher Struktur, die die Fläche gliedern. Oben befinden sich Steine in unterschiedlichen Farben, von welchen eine Flachplastik von Cuno Fischer aus buntem Bandstahl hängt. Drei kräftige, V-förmig nach oben weisende Eisenträger stützen das Dach. Außen und innen, mit seinen dynamisch komponierten, bunten Steinfußböden, Glasfenstern in fröhlichen Farben und vielen weiteren Details, strahlt die Halle den Charme der Entstehungszeit aus.6 Abb. 274 – 293

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6 Vgl. Ulrich Gohl, Gesichter ihrer Zeit. Unbekannte Stuttgarter Bau- und Kulturdenkmale, Tübingen / Stuttgart: Silberburg-Verlag Titus Häussermann GmbH 1992, S. 81 ff.

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Marquardtstraße 10

Das Haus Beck-Erlang wurde, wie schon im Namen erwähnt, von dem Architekten Wilfried Beck-Erlang errichtet. Das Gebäude ist das Arbeitsund Wohnhaus des Architekten. Dieser Standort bot eine Reihe von Bedingungen, so die topografische Lage und das Baurecht. Das Haus musste in der gleichen Flucht stehen, wie auch seine Nachbarn. Wegen dem hohen Verkehrslärm auf der Planckstraße legte BeckErlang die Arbeitsräume ins Erdgeschoss und die Wohnbereiche in den ersten Stock zum Garten nach hinten hin orientiert. Die nach vorne gerichteten Obergeschosse wurden zurückgesetzt. Vorspringende Brüstungen verhindern, dass der Krach in die Räume dringt. Zudem gliedern sie das Gebäude. Nischen und Öffnungen lockern die Fassade auf, sodass das Gebäude nicht massig wirkt. Die Bebauung an der Talseite lässt Lücken für Aussichten über das Neckartal frei. Das Bauwerk kommt nahezu wie eine moderne Großplastik daher.7

7 Vgl. Ulrich Gohl, Gesichter ihrer Zeit. Unbekannte Stuttgarter Bau- und Kulturdenkmale, Tübingen / Stuttgart: Silberburg-Verlag Titus Häussermann GmbH 1992, S. 84 f.

Baukultur

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Abb. 294 – 315

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Finkenstraße 36

Baukultur

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Tapachstraße 75 – 97

Baukultur

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Stuttgart reißt sich ab

Wie lange Dauern die Werke? So lange Als bis sie fertig sind. So lange sie nämlich Mühe machen Verfallen sie nicht. Einladend zur Mühe Belohnend die Beteiligung Ist ihr Wesen von Dauer, so lange Sie einladen und belohnen. Die nützlichen Verlangen Menschen Die kunstvollen Haben Platz für Kunst Die weisen Verlangen Weisheit Die zur Vollständigkeit bestimmten Weisen Lücken auf Die langdauernden Sind ständig am Einfallen Die wirklich groß geplanten Sind unfertig1

Baukultur

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Heiko Stachel ist Architekt und lehrt an der Universität in Stuttgart Darstellende Geometrie und Architekturdarstellung. Er betreibt die Seite Zitronenwolf.com. Besonders sind hier die virtuellen Rundgänge durch Gebäude, die es schon bald nicht mehr geben wird bzw. schon nicht mehr gibt. Heiko Stachel ist es hierbei wichtig, dass vom Abriss bedrohte Gebäude dokumentiert werden. Bei diesen Rundgängen handelt es sich um sehr realistische Eindrücke. Man bewegt sich frei durch alle Räume, blickt in jede Richtung und kann selbst an Details nah heranzoomen. 2

2016 fand die Ausstellung Stuttgart reißt sich ab in der Architekturgalerie am Weißenhof statt, die genau dieses Problem thematisierte. Abriss ist ökologisch nicht nachhaltig. Zeit, Geld, Energie, Baustoffe werden verbraucht. In Fachkreisen spricht man von grauer Energie, die in einem noch gebrauchstüchtigen Gebäude steckt. Es ist schwierig zu sagen, ab wann es in Ordnung ist, Gebäude abzureißen und es sich nicht mehr lohnt Gebäude wiederaufzubauen. Stuttgart reißt sich ab wurde von Wilfried Dechau gemeinsam mit Claudia Betke kuratiert. Im Folgenden spricht Wilfried Dechau über diese Ausstellung: »Damit Sie mich von vornherein nicht missverstehen: Ich bin keineswegs grundsätzlich gegen Abriss. Im Gegenteil. Es gibt hierzulande, und damit meine ich nicht nur Stuttgart und das Ländle, es gibt hierzulande eine Menge Bauten, auf die ich gut verzichten könnte. Als Architekt denke ich natürlich zuallererst an misslungene, an verkorkste Bauten, deren Anblick nicht nur das Auge des Ästheten beleidigen. Vor allem geht es aber um solche Bausubstanz, die komplett ausgedient hat. Zugegeben, darüber zu debattieren, ab wann es sich nicht mehr lohnt, altes Gemäuer noch einmal aufzupäppeln, ist nie eindeutig. Das muss in jedem Einzelfall sorgfältig untersucht und abgewogen werden.¶ Eines aber kann man ganz sicher konstatieren: Ein ordentlich detailliertes, solide gebautes Haus abzureißen, das mal gerade fünfzig Jahre auf dem Buckel hat, ist in jedem Fall eine Affenschande – ganz unabhängig davon, ob ich diesem Gebäude aus architektonischer Sicht eine überragende Bedeutung beimesse oder nicht. Und damit sind wir bereits mitten drin in der Ausstellung: ¶ Als es vor gut zwei Jahren dem Innenministerium – keine hundert Schritt von hier entfernt an die Substanz ging, bin ich spontan mit Stativ und Kamera angerückt, um den Abriss genau in dem Moment zu dokumentieren, als sich von der Planie aus ganz neue Perspektiven öffneten. Genauer: Der Abrissbagger hatte in den Baukörper des Innenministeriums eine Bresche geschlagen, die den Blick zum Rathausturm freilegte. Der Rathausturm, Anfang der 50er vom renommierten Stuttgarter Architekten Paul Stohrer errichtet, hat gestalterisch, architektonisch die gleiche Klasse wie das in dem Moment schon halb angefressene Innenministerium. Ja, da hätte man doch den Rathausturm gleich mit abreißen und das Dorotheenquartier über den Marktplatz hinweg noch etwas größer bauen können! ¶ Nein, nein, natürlich habe ich das nicht im Ernst erwogen, sondern im Zorn vor mich hin gebrummelt. Die dabei entstandene Fotoserie habe ich genannt Stuttgart reißt sich ab. Sie wurde 2014 im Zusammenhang mit der Ausstellung Fokus S, bei der zehn Fotografen um ihr Bild von Stuttgart gebeten worden waren, in der Weissenhofgalerie und danach im Rathaus gezeigt. Wenn ein Gebäude bereits von Abrissbaggern angefressen wird, ist ja – in jeder Hinsicht – schon alles zu spät. Auf jeden Fall zu spät für dokumentarische Fotos des noch intakten Gebäudes. Deshalb ist das Innenministerium in der Ausstellung durch Fotos vertreten, die der Stuttgarter Architekturfotograf Wolfram Janzer zuvor vom noch vollständig intakten Gebäude gemacht hatte.¶ Darüber hinaus kann ich jedem von Ihnen, der sich nicht mehr so recht an das vor zwei Jahren abgerissene Innenministerium erinnern kann, nur raten, im Internet mal auf die Seite Zitronenwolf.com zu gehen. Da wird das gerade eben noch intakte Gebäude in vielen interaktiven 360-GradPerspektiven dokumentiert. Außerdem noch weitere Stuttgarter Gebäude, die heute nicht mehr existieren.¶ Für mich stand zur Fortsetzung meiner Fotoserie fest, Stuttgarter Gebäude, deren letztes Stündlein geschlagen hat, vor und während des Abrisses zu fotografieren. Und zur Komplettierung später das zu dokumentieren, was an Stelle der abgerissenen Gebäude entstanden ist.¶ Im Falle des Innenministeriums kann man sich allmählich ein Bild davon machen, wie es dort in Zukunft aussehen wird. Im Interview des Südwestrundfunks wurde ich gefragt, was ich – aus architektonischer Sicht – vom Dorotheenquartier halte. Sinngemäß habe ich geantwortet, das sei nicht die schlechteste Architektur, es gäbe schlimmeres. Dass klingt erst mal neutral zurückhaltend. Aber nicht schlecht ist einfach nicht gut genug.¶ Viel gravierender aber ist etwas anderes. Dem Viertel wird eine gewaltige Großstruktur übergestülpt. Sie sprengt den Maßstab des vormals kleinteiligen Stadtgefüges. Viele der inzwischen abgerissenen Gebäude hätten in das Gesamtkonzept mit einbezogen werden können. Das solide gebaute und hervorragend erhaltene Innenministerium hätte – angepasst und umgebaut – weitere fünfzig Jahre dienen können.¶ Dass bei dem gewaltigen Breuninger-Rundumschlag wenigstens das Hotel Silber erhalten blieb, verdanken wir dem Eifer und Engagement des nimmermüden Roland Ostertag – Sie werden das in der Stuttgarter Zeitung verfolgt haben.¶ Bei anderen Bauten, die ich in der Zeit von Mitte 2014 bis Mitte 2016 fotografiert habe, wird es noch eine Weile dauern, bis man sehen kann, was dort nach dem Abriss entstehen wird. Insgesamt ist die fotografische Ausbeute dieser beiden Jahre reichhaltig und niederschmetternd. Würde man all die platt gemachten Flächen addieren, könnte man sich ausrechnen, wie lange es dauert, bis man von seiner eigenen Stadt kaum noch etwas wiedererkennt. Fotografiert habe ich nur jene Bauten, die es verdient hätten, für eine weitere Nutzung ertüchtigt zu werden. Fotografiert habe ich nur jene Bauten, die uns im Stadtbild fehlen werden.¶ Der Abriss eines noch viele Jahre nutzbaren Gebäudes ließe sich auch nicht dadurch rechtfertigen, dass das an seiner Stelle Gebaute architektonisch anspruchsvoll gerät. Das wäre ja immerhin denkbar und durchaus möglich. Dennoch 1 Bertolt Brecht, Über die Bauart langdauernder Werke, 1929. 2 Vgl. Thomas Faltin, »Abrissreife Häuser in Stuttgart: Virtuelle Tour gegen das Vergessen«, Stuttgarter Zeitung (26. 12. 2013), S. 1. Aufgerufen am 31. 05. 2020.

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wäre es blauäugig, darauf zu hoffen. Denn ein Investor hat keineswegs die lautere Absicht, die Stadt zu verschönern (auch wenn er sein Tun damit lautstark zu bemänteln weiß). Denken Sie zum Beispiel mal an all die kleinteiligen, innerstädtischen Strukturen, die für das unsägliche Gerber niedergemacht wurden. Wurde die Stadt dadurch schöner? Ach was! ¶ Von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, hat ein Investor mit Baukultur wenig am Hut. Er schaut weder auf die Ästhetik noch auf Nachhaltigkeit, sondern nur auf die Rendite. Und wenn es sich – aus seiner Sicht – rentiert, einen zum Teil nicht einmal zwanzig Jahre alten Gebäudekomplex abzureißen und durch innerstädtischen Edel-Wohnungsbau zu ersetzen, dann wird er es tun. Punkt. Auch wenn es sich dabei um hervorragende, preisgekrönte, hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit optimierte Gebäude handelt. Ich spreche von der EnBW. Das zur Kriegsbergstraße gelegene Gebäude ist gut vierzig Jahre alt. Es wurde von den Stuttgarter Architekten Kammerer und Belz gebaut. Der rückwärtige Anbau ist noch nicht einmal volljährig. Arno Lederer hat ihn 1994 bis 1997 gebaut. Ich hätte gedacht, das Grundgesetz gelte für Jedermann, also auch für Investoren. Im Artikel 14 des Grundgesetzes heißt es ganz eindeutig: Eigentum verpflichtet. Verpflichtet dazu, nicht nur an den eigenen Geldbeutel, sondern auch an Belange der Allgemeinheit zu denken. Habe ich immer gedacht. Als sich der Zorn über die Barbarei auf dem EnBWGelände bereits öffentlich artikulierte, fiel es auch dem Stuttgarter Baubürgermeister auf, dass dort wohl etwas aus dem Ruder gelaufen sein müsse – und dann hat er in der Stuttgarter Zeitung seine Muskeln spielen lassen. Ob er wirklich glaubt, der Münchner Investor, der das Quartier samt Abrissgenehmigung gekauft hat, werde daraufhin von seinen Plänen lassen? Nein, so naiv wird selbst Herr Pätzold nicht sein. Freiwillig wird kein Investor auf die bereits errechnete Rendite verzichten.¶ Ja, es ist aus ökologischer Sicht, im Sinne der Nachhaltigkeit völlig idiotisch, ein Gebäude abzureißen, dass noch fast neu ist. So etwas wirft man nicht ungestraft fort. Es hat viel Zeit und Geld gekostet, es klug und nachhaltig zu entwerfen, es hat viel Geld und Energie gekostet, die Baustoffe dafür zu produzieren und das Gebäude zu errichten. Erst in Jahrzehnten würde man ermessen können, ob all der Grips, der in seine Nachhaltigkeit investiert worden ist, auch Früchte getragen hat. Es jetzt abzureißen, wäre also nicht nur aus architektonischer Sicht eine Schande. Es jetzt abzureißen, hieße, schon wieder viel Energie aufwenden zu müssen, um es abzutragen. Auch der Neubau wäre wiederum mit viel Energieverbrauch verbunden. In Fachkreisen redet man von der grauen Energie, die in einem noch gebrauchstüchtigen Gebäude steckt. Doch das klingt zu sehr nach grauer Theorie. Deshalb habe ich den Sachverhalt hier lieber etwas handgreiflicher und drastischer beschrieben. Das alles scheint dem Investor egal zu sein. Er muss die Frage ja nicht beantworten, ob es vertretbar ist, mit Energie und Ressourcen so verschwenderisch umzugehen. Für ihn ist die Sache erledigt, wenn seine Zahlen stimmen. Wie aber wäre es, wenn er ökonomisch für die ökologische Gesamt-Bilanz mit verantwortlich gemacht werden würde? Ginge seine Rechnung immer noch so glatt auf, wenn er gegenüber der Allgemeinheit, also gegenüber der Stadt für jedes entgangene Nutzungsjahr eines viel zu früh abgerissenen Gebäudes Geld berappen müsste? Ich glaube, dann sähe es anders aus. Dann sähen auch unsere Städte anders aus. Aber dazu müssten unsere Politiker den Mumm haben, entsprechende Forderungen auch aufzustellen. Davon sehe ich aber weit und breit – mindestens hier in Stuttgart – nichts.¶ Noch ein Nachsatz für all jene, die sich langsam fragen, warum ich denn kein Wort über den Bonatz-Bahnhof verloren habe: Indirekt habe ich sehr wohl die ganze Zeit auch über den Bahnhof geredet. Denn er ist Teil eines übergeordneten baukulturellen Problems. Und das heißt: Abriss. Und deshalb meinen wir eigentlich auch mehr als nur den Bahnhof, wenn wir rufen: Oben bleiben!«3 »Gegenüber der alten Baggergesinnung breitet sich zunehmend eine Gesinnung des Respekts vor der Vergangenheit aus. Aber es kommt auf das Maß des Bewahrens an. Man darf auch die Vergangenheit nicht inflationieren, denn dadurch würden dem gesellschaftlichen Fortschritt Zügel angelegt werden.«4

Das meint Oberbürgermeister Manfred Rommel. Es geht nicht darum jegliche historische Architektur auf Biegen und Brechen zu erhalten. Es sollten jedoch auch nicht Gebäude durch »milieuschädigende Fremdkörper ersetzt werden«.5 Mitarbeit bei Aufstellung und Abänderung, ein erweitertes Mitspracherecht bei Entwurfsdiskussionen von Denkmalpflegern, die architektonisch geschult sind, stärkere Einbeziehung auch von Fragen der Erhaltung der Sozialstruktur und didaktische Öffentlichkeitsarbeit für ein besseres Verständnis von Denkmalschutzmaßnahmen und Bauen in historischer Umgebung. Im Stadtbezirk Stuttgart stehen ungefähr 4 500 Gebäude unter Denkmalschutz. Rund 80 aus der Zeit nach dem Krieg.6 Die Meisten würden wahrscheinlich den Hauptbahnhof, das Schloss, den Fernsehturm, ein paar Kirchen oder die Weißenhofsiedlung als Denkmäler aufzählen. Kulturdenkmale wie Schlösser, Kirchen, Burgen usw. sind weit verbreitet. Es gibt aber auch Kulturdenkmale aus jüngerer Zeit. 3 http://wdechau.de/wp-content/uploads/2016/08/ Stuttgart_reisst_sich_ab_160815.pdf. 4 Frank Werner, Alte Stadt mit neuem Leben. Architekturkritische Gänge durch Stuttgart, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH 1976, S. 186 f. 5 Ebd., S. 29. 6 Andreas Brunold (Hg.), Stuttgart. Stadt im Wandel, Tübingen: Silberburg-Verlag 1997, S. 112.

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»Kulturdenkmale im Sinne dieses Gesetzes sind Sachen, Sachgesamtheiten und Teile von Sachen, an deren Erhaltung aus künstlerischen, wissenschaftlichen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht.«7

Denkmalschutz und Denkmalpflege sind Aufgaben der Länder. Sie regeln die Zuständigkeit und die Aufgaben der Institutionen in Denkmalschutzgesetzen. Entsprechend komplex und vielschichtig ist der Denkmalschutz in Deutschland. Auch wenn Denkmalschutz und Denkmalpflege in erster Linie Aufgaben der Länder sind, zählt der Erhalt wichtiger nationaler Kulturdenkmale auf Bundesebene zu den Schwerpunkten der Kulturpolitik. Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz (DNK) ist auf Bundesebene eine Plattform für Denkmalpflege. Als fachliches und politisches Gremium fungiert es an der Schnittstelle zwischen Fachebenen, Regierungen und Verwaltungen. Zu den Mitgliedern des DNK zählen Vertreter aus der Politik, der Wirtschaft, von Kirchen, den kommunalen Spitzenverbänden, Medien und weiteren Institutionen. Daneben setzen sich zahlreiche professionelle und private Akteure, Netzwerke und Vereine auf unterschiedliche Weise für den Erhalt des baukulturellen Erbes ein. Sie gründen sich einerseits aufgrund des besonderen Interesses an Denkmalschutz und Denkmalpflege, andererseits entstehen sie häufig auch in Reaktion auf den Personalmangel bei staatlichen Institutionen. 18

So steht es im baden-württembergischen Denkmalschutzgesetz in Paragraph 2 des 1. Absatzes, dass man zum 1. Januar 1972 verabschiedete. Damals diente dieser Schutz historischen Gebäuden, von denen viele durch den Stadtumbau abgerissen wurden. Erst dieser große Verlust sorgte dafür, dass sich Widerstand regte. »Dieser Verlust war insbesondere durch mangelndes Fachwissen und Fachverständnis (der Planer wie auch der Fachbehörden) in den Wohnvierteln der Gründerzeit, bei Kirchenausstattungen des Historismus oder den technischen Denkmälern des 19. Jahrhunderts festzustellen.« 8 1975 kamen mit dem europäischen Jahr des Denkmalschutzes Förderprogramme für Stadt und Dorfsanierungen, die unter anderem den Auftrag der Erhaltung und Nutzung historischer Bausubstanz erhielten. Listen mit Kulturdenkmälern wurden erstellt.¶ In einem preußischen Runderlaß vom 6.Mai 1904 steht geschrieben: »Da der Begriff Denkmal nicht immer feststeht ist zu beachten, daß zu den Denkmälern alle Reste vergangener Kunstperioden gehören, wenn sie entweder rein geschichtlich oder zum Verständnis der Kultur- und der Kunstauffassung vergangener Zeitläufe wichtig sind […] ebenso auch, wenn sie von malerischer Bedeutung sind für das Bild eines Ortes oder einer Landschaft, oder wenn sie für das Schaffen der Gegenwart […] vorbildlich erscheinen. Der Wert eines Denkmals liegt […] nicht selten in der Bedeutung für einen begrenzten Landesteil oder für den Ort, an dem es errichtet ist.«9 Ein Denkmal ist also keineswegs nur ein Zeugnis längst vergangener Zeiten, sondern auch ein Zeugnis zum »Verständnis der Kultur- und der Kunstauffassung vergangener (oder sagen wir jüngst vergangener) Kunstperioden.«10 Aber was ist vergangen? Im preußischen Erlass von 1904 steht geschrieben: »Die letzte dieser Epochen rechnet etwa bis 1870.«11 Geschichte neu begreifen, neu entdecken und zu denken ist wohl die Aufgabe der Denkmalpflege. Auch wenn die Grenzen zwischen Epochen oft fließend erscheinen. Mit der Zeit bilden sich Kriterien heraus, die eine Beurteilung einer Epoche ermöglichen. Schwierig scheint aber die Denkmalpflege beispielsweise in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Die Vorstellung vom Denkmal als einer dinglichen Urkunde, die neben den Schrift- und Bildquellen ein wichtiges Geschichtsdokument ist, ermöglichte schließlich auch die Erhaltungsforderung für Zeugnisse aus dieser Zeit. Damit ist die Denkmalpflege »eine aktive Teilnahme an der Gestaltung der Gegenwart und ist auf die Zukunft insofern gerichtet, als historische Sachquellen auch neu entdeckter Geschichte für nachfolgende Generation erhalten werden sollten.«12 Dadurch, dass sich in zunehmendem Maße so schnell und so viel ändert, bleibt aber keine Zeit darauf zu warten, dass die jeweiligen vergangenen Zeiten allgemein anerkannt werden. Denn die Architektur der Nachkriegszeit kann wohl als eine »abgeschlossene Epoche eines bestimmten Baustils« betrachtet werden.13 Die Gerichte scheinen sich jedoch mit der Anerkennung der Gebäude etwas schwer zu tun, was sich am Beispiel des Gebäudes in der Marienstraße 42 von Paul Weber zeigt.14 In einem Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27. September 1993 steht geschrieben, dass das Gebäude kein Denkmal nach Paragraph 2 Absatz 1 des Denkmalschutzgesetzes ist: »Die Denkmalfähigkeit des Gebäudes Marienstraße 42 stützt sich weder auf wissenschaftliche noch künstlerische Gründe. Heimatgeschichtliche Gründe scheiden von vornherein aus.«15 Die Merkmale dieser Epoche sind vielfältig und können nicht nur als der Wunsch nach Licht, Luft, Sonne sowie einer Experimentierfreudigkeit betrachtet werden. Floraler Schwung und funktionelle Ästhetik wie bei Gutbrod und Abel und bei der Liederhalle oder bei Leonhard und dem Fernsehturm prägen die Epoche, aber auch traditionelle Formen der Vergangenheit einer traditionellen Architekturfakultät. Die Bedeutung ist architekturgeschichtlich sehr groß.16 Die neue experimentelle Architekturrichtung war aber schon damals vielen Angriffen ausgesetzt. In der Zeitschrift Der Bauherr von 1957 wurde geschrieben: »Die Gefahr eines neuen Formalismus. Leider macht sich in zunehmendem Maße ein neuer Formalismus breit. Jeder Formalismus bedeutet eine Verkennung des Wesens echter und ehrlicher Gestaltung. Das Kennzeichen formalistischen Bauens ist die Überbewertung der Form gegenüber den übrigen Erfordernissen, die nun einmal beim Bauen – zum Unterschied von anderen Kunstgattungen – berücksichtigt werden müssen. Der neue Formalismus bedient sich zwar anderer Mittel als der Formalismus des 19. Jahrhunderts mit seiner den wahren Zwecken der Gebäude widersprechenden Verwendung historischer Stilformen, ist aber um kein Haar besser und ehrlicher. Wie wenig sich der Formalismus unserer Tage von dem des 19. Jahrhunderts unterscheidet, verdeutlicht folgendes: Man wirft mit Recht den Architekten des 19. Jahrhunderts vor, dass man ihren Bauten nicht ansieht, ob hinter der in stilgebundenen Formen entworfenen Fassade ein Bahnhof, ein Amtsgebäude, eine Schule oder eine Mietskaserne liegt. Ebenso wenig lässt die äußere Form zahlreicher moderner Neubauten einen Schluss darüber zu, ob es sich um eine Fabrik, ein Krankenhaus, ein Verwaltungsgebäude, eine Schule oder eine Wohnanlage handelt. Bei ersten ehrlichen Lösungen dürfen solche Zweifel gar nicht aufkommen. Ein deutlicher Beweis für das Vordringen dieses neuen Formalismus sind die Architekturwettbewerbe, bei denen Projekte, die kein ebenes Dach und keine großen Glasflächen vorsehen, heute vielfach kaum Aussicht haben, auch nur in die engere Wahl zu kommen, oder bei denen für eine moderne Lösung derselbe fiktive Kubikmeterpreis zugrunde gelegt wird wie für eine traditionelle Lösung.«17

7 8 9 10 11 12 13 14 15

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 113. Ebd. Vgl. Ebd., S. 113–116 Ebd., S. 116.

Baukultur

16 Vgl. Ebd., S. 117. 17 Ebd., S. 118 f. 18 Bundesstifung Baukultur, Baukulturbericht. Erbe – Bestand – Zukunft. 2018/19, S. 46 f.

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Diskussionsforum »Nachhaltigkeit in der Architektur« in der Veranstaltungsreihe »Elephant in the Room« 15. 01. 2020

Das Diskussionforum »Nachhaltigkeit in der Architektur« fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Elephant in the Room« im Wintersemester 2019/2020 statt. In diesem Forum wurden sogenannte »blinde Flecken« des Architekturdiskurses zur Sprache gebracht. Auf diese Weise sollte eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung ermöglicht werden, um dabei das Nachdenken über und das Weiterdenken von vorhandenen Strukturen anzuregen. Es wurden sowohl unterschiedliche Lebensentwürfe, disziplinimmanente Arbeitsbedingungen und diffuse Vorstellungen von nachhaltiger Architektur in den Fokus der Diskussionsforen gestellt und von verschiedenen Positionen beleuchtet. Prof. Matthias Rudolph, Klasse für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Entwerfen, erörterte gemeinsam mit der Akademischen Mitarbeiterin Claudia Nitsche und dem Akademischen Mitarbeiter Christian Degenhardt, Jan Theissen (AMUNT), Stefan Behnisch (Behnisch Architekten), und mit Anna Braune (DGNB), Christian Holl (Marlowes) und Caroline Thaler (Architects for Future) unterschiedliche Weisen der Betrachtung über ebenso unterschiedliche Erwartungshaltungen an nachhaltige Architektur in einer konfrontativen Methode. Ein Spannungsfeld von (Außen-)Wahrnehmung und Realisierbarkeit sollte ausgebreitet und Problemdeutungen in ihren Ursachen und Auswirkungen angestellt werden.

Nachhaltigkeit heißt die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Bei jeder Kleinigkeit zu fragen: Wo kommt es her? Wo geht es hin? Das erschlägt einen. Vor allem, weil wir heutzutage die Möglichkeiten haben an all diese Information zu kommen. Die Dinge, die wir dafür benötigen, stimmen gar nicht mehr mit den Grundprinzipien überein. Es herrscht eine wahnsinnige Bereitschaft für nachhaltiges Bauen. Das Problem ist eher, dass wir ein Wirtschaftssystem haben, das gar nicht dazu passt, und eine Politik, die sehr zögerlich damit umgeht. Gründe für nachhaltiges Bauen sind: Es erspart kosten. Es herrscht ein geringeres Risiko in Bezug auf die Zukunft. Es erschließen sich neue Märkte. Seine Reputation würde schaden. Darüber muss nachgedacht werden: Begrenzte Fläche, Klimawandel, Umweltprobleme, Schadstoffe, Gesundheitsaspekte, Baukultur (Ansonsten wird nach 30 – 40 Jahren, wie hier in Stuttgart, abgerissen.) Viele Dinge müssen neu gedacht werden um Innovation zu fördern.

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Eine Autonomie von Architektur ist komplette Illusion. Um gute Architektur zu machen muss Architektur politisch sein. Nachhaltigkeit kann man nicht definieren, nur beschreiben. Damit würde die Illusion erzeugt werden, man könne sie in einen Rahmen bringen. Man sollte Nachhaltigkeit als Verb, als Prozess sehen. Nachhaltige Architektur ist welche, die über sich hinaus weißt. Wir müssen uns überlegen, auf welchen Ebenen wir steuern wollen, weil es nichts bringt dem Einzelnen die Peitsche vorzuhalten. Was trifft auf Architektur zu? Diese Komplexität zu schichten wäre Teil des Politischen. Wie? Faire Baumaterialien. Wenn man darüber Bescheid weiß, weiß man vielleicht damit umzugehen. Das kritische Nachfragen ist wichtig. nachhallen Die Frage, die man sich stellen muss lautet: Wie reagiert Architektur auf den Klimawandel? Wir betrachten zu viele Aspekte eines Problems, sodass wir dazu neigen eine Wand von Problemen vor uns aufzubauen. Klischees raushalten. Wir verkomplizieren, betrachten viele kleine Lösungen. Wir müssen darauf aufpassen die rote Linie nicht zu verlieren. Letztendlich sollte man doch so ressourcenschonend bauen, dass nicht mehr verbraucht wird, als die Erde produziert. Die Debatte muss pragmatisch geführt werden. Wo ist es sinnvoll? Die Nachhaltigkeitsfrage ist in einer solchen Konsumgesellschaft ein bisschen schwierig. Vielleicht ist es auch eher eine soziale Frage. Die Bundesarchitektenkammer hat Fragebögen erstellt. Phase Nachhaltigkeit Architects for Future Danach sollte es besser sein als vorher. Gebäudeteile auseinandernehmen Wir sind am Ende der Industrialisierung angekommen. Wir müssen über Werte neu nachdenken. Das Problem ist eine Diskrepanz zwischen Wert und Preis. Nachhaltigkeit ist ein schwieriges Wort, sehr passiv. Es sollte in der Ausbildung vermittelt werden: Es geht um Werte. Was den Elefanten im Raum angeht: Alle sehen ihn und tun so, als wäre er nicht da. Eigentlich sollte ja Nachhaltigkeit genau anders herum sein. Man sollte einen Elefanten dadurch hervorbringen. Die Art wie wir mit Architektur umgehen muss verändert werden. Dann ist Architektur auch Kultur. Nachhaltigkeit muss immer neu gedacht werden. Sie ist nie fertig gestellt, muss immer adaptiert werden.

Architects for Future ist ein freier Zusammenschluss von Angehörigen des Bausektors. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von Absolvent*innen der Architektur und des Bauingenieurwesens. Sie stellen zahlreiche Forderungen an die Baubranche als Hauptverursacher des enormen Ressourcen- und Energieverbrauchs in Deutschland. Nicht nur werden wertvolle und schwindende Ressourcen bei einem Abriss und Neubau verschwendet, sondern auch bedeutend mehr Energie. Bei der Betrachtung der Energiebilanz des gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes fällt auf, dass durch den Einsatz von grauer Energie jede Sanierung selbst dem Bau von Passivhäusern vorzuziehen ist.¶Tropenholz, PVC-Fußbodenbeläge, Kunstharze, chemische Lösungsmittel – wir können uns für fremde und günstige Materialien entscheiden oder aber anders denken. Alternativen sind regionale, nachwachsende und gesunde Materialien. Denn die Wahl der Baumaterialien beeinflusst maßgeblich den Gesundheitszustand der Nutzer von Gebäuden und unsere Umwelt.¶Viele Bauentscheidungen werden im Hinblick auf finanzielle Entwicklungschancen getroffen. Der Komfort und die Nutzung der Räume werden sekundär betrachtet zugunsten einer Gewinnoptimierung der Investoren. Wir sollten uns wieder die Frage stellen, für wen wir eigentlich entwerfen und bauen.¶ Neben nachwachsenden Materialien wie Holz, Stroh, Schafswolle oder Flachs müssen kreislaufgerechte Materialien verwendet werden, die richtig eingebaut zerstörungsfrei lösbar sind und somit wiederverwendet werden können. Das Gebäude verliert so über seinen Lebenszyklus nicht an Wert, sondern kann dekonstruiert und verkauft werden.¶ Schon heute wird der überwiegende Teil des anfallenden Bauschutts wiederverwendet. Jedoch handelt es sich hierbei weniger um Recycling als um Downcycling, die Qualität und Funktionalität wird verschlechtert. Dem muss durch echtes kreislaufgerechtes Konstruieren entgegengewirkt werden.¶ Wenn Gebäude dennoch abgerissen werden, müssen Rohstoffe systematisch erfasst und zurückgewonnen werden. Primärrohstoffe sind endlich, sodass die Verwendung von Sekundärmaterialien letztendlich unabdingbar wird.¶Bautätigkeiten gehen oft mit einem enormen Flächenverbrauch einher, wodurch wertvolle Lebensräume der Tier- und Pflanzenwelt zerstört werden. Versiegelte Flächen verlieren zudem den Nutzen zur Nahrungsproduktion, Naherholung sowie der Regenwasserversickerung. Verantwortungsvolles Planen kann die Zerstörung von Naturräumen nicht nur mindern, sondern bietet auch das Potenzial die Artenvielfalt und gesunden Lebensraum zu fördern.1

1 https://www.architects4future. de. Aufgerufen am 17. 05. 2002.

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Adornos Ästhetische Theorie als politische Kritik Einführung Kritik Kritik gilt als »wesentlicher Aspekt von Denken überhaupt«.1 Wenn man reflektiert, argumentiert, fundiert begründet und Schlussfolgerungen zieht, verfährt man auf eine gewisse Weise kritisch. Kritik und Krise gehen beide auf dasselbe griechische Wort krínein zurück, welches soviel bedeutet wie entscheiden, urteilen, scheiden bzw. trennen.2 Es kann also kein Zufall sein, dass Kritik vor allem in Krisen zum Tragen kommt und zwar »als Negation des Bestehenden«3 mit dem Ziel der Besserung einer bestehenden Situation. So wendet sich zum Beispiel in der Aufklärung die Kritik gegen die bestehende Gesellschaftsform. Wenn man Kritik übt, muss auch gesagt werden, wie es besser gemacht werden kann. So wird Adornos Kritik häufig als eine negative kritisiert. Damit wird aber Teilen der Gesellschaft das Recht auf Kritik abgesprochen.4 Nicht jeder steht in der Position auch eine Veränderung herbeizuführen. Man stößt zwangsläufig an eine Grenze bei welcher die Erfüllbarkeit durch das Mögliche begrenzt wird. Dass Kritik negative und nicht nur konstruktive Züge hat, ist aber wohl kaum abzustreiten. Indem jemand oder etwas negiert wird, wird destruktive Kritik ausgeübt. Negative Kritik kann in Versuchung führen, zu einfach zu funktionieren. Macht man es sich jedoch nicht genauso leicht negative Kritik zu negieren? Im Kontext der Aufklärung nimmt vor allem Kant eine wichtige Position ein. Die Kritik durch Vernunft sowie die Selbstkritik der Vernunft sind für Kant nicht verschieden. Sie ist für ihn Aufgabe der Öffentlichkeit. Aufklärung erfordert die Freiheit diese Vernunft öffentlich anzuwenden.5 Es gilt sich dieser Freiheit durch Kritik zu versichern. Auch Adorno erachtet es als durchaus legitim den Begriff der Vernunft mit dem der Kritik gleichzusetzen.6 Es scheint, dass sich negative, destruktive und positive, konstruktive Kritik bedingen.7 Durch das Negative rückt das Positive näher. Eine kritische Hinterfragung ermöglicht eine Veränderung. Ein erster Ansatz der Kritik ist nach Adorno, dass »sie Wirklichkeiten mit den Normen konfrontiert, auf welche jene Wirklichkeiten sich berufen«.8 Er schreibt, »daß das Falsche einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist«.9 Kulturkritik Während der Aufklärung entsteht ein Wirtschaftssystem, indem sich alles um den Marktwert dreht. Durch die Arbeitsteilung und damit den Zerfall in einzelne Arbeitsbereiche scheint es nicht mehr möglich sein eigenes Handeln kritisch zu betrachten. Das Verlangen nach Selbstreflexion wird den Menschen ausgetrieben. Der Fortschritt ist ein von der Vernunft gelenkter absoluter Gedanke. Ökonomische Prinzipien bestimmen die Welt. Im Kapitalismus wird diese Entmächtigung durch die fehlende Selbstreflexion nicht als solche erfahren. Negatives wird nicht als solches wahrgenommen. Der Kapitalismus entwickelt selbst einen Schein, der dieses selbst entwickelte Negative verbirgt. Negativität im Sinne einer selbstständigen Größe, die mit der Vernunft in einem Widerspruch steht. Sie ist kein Mangel an günstigen Umständen, sondern eine Gegenkraft zur Vernunft.10 Diese Form der Gesellschaft benötigt den Schein. Der Schein hat eine Macht über die Einstellungen der Gesellschaft. Sie unterliegt somit unfreiwillig einer Täuschung. Auf der anderen Seite steht der Schein jedoch nicht fest, sondern man ist dazu geneigt ihm zu verfallen.11 Dabei ist die Gesellschaft also im Besitz einer Freiheit. Sie kann entscheiden, ob sie dem Schein verfällt oder nicht.12 Man erhält durch das Eigentum die Gewissheit eines Lebenssinns. Es erzeugt eine Sicherheit in einem sehr unsicheren, vergänglichen Leben und verleiht der Tätigkeit, der Arbeit einen Sinn.13 Das Eigentum wird als erstrebenswert erachtet. Das Negative, die Täuschung und die Gleichgültigkeit verselbstständigen sich gegenüber der Vernunft.14 Diesen gesicherten Sinn als Sinnersatz kritisiert Adorno. Die zunehmende Identifikation durch das individuelle Eigentum sorgt für eine Gleichgültigkeit in der Gesellschaft und unterstützt damit den Schein. Diese Gleichgültigkeit wird von ökonomischen Profitinteressen bestimmt. Indem nur danach gefragt wird, was jemand für einen Mehrwert bringt, fängt man an einander als Objekte zu behandeln.15 Durch ein bestimmtes Denken über Gegenstände werden gesellschaftliche Strukturen beeinflusst und verändert. Das Problem besteht also im »Umschlag der Aufklärung in ihr Gegenteil«.16 Dadurch, dass auch Ästhetik in dieses System miteingeflochten ist, kann sie auch keinen Widerspruch gegen diesen Zwang leisten.17 Durch die eigene Täuschung entschwindet auch die Empfänglichkeit für Kritik. Diese gilt es zunächst aus dem Weg zu räumen. Adorno will zur Erkenntnis verhelfen: »Ästhetische Identität soll dem Nichtidentischen beistehen, das der Identitätszwang in der Realität unterdrückt.«18 Kunstwerke können zwar keine neuen Ordnungen entwerfen, können laut Adorno aber eine Kritik am gesellschaftlich notwendigen Schein ausüben, indem sie den Betrachter für dessen Kritik empfänglich machen und den Schein als solchen offenbaren. Dadurch verhindert sie, dass man ihm verfällt und sich täuschen lässt. Der Kunst kommt nach Adorno eine durchaus wertvolle Funktion zu.19 Ästhetische Theorie »Kritik wird als ästhetische Kritik […] wirksam.«20 Diese These lässt sich unter anderem auf die ›Ästhetische Theorie‹ Theodor W. Adornos zurückführen. Ist es möglich, dass Kunst der Gesellschaft etwas entgegensetzt? Meine Arbeit erläutert die ›Ästhetische Theorie‹ Adornos als politische Kritik. Hierbei wird zunächst auf die ›Ästhetische Theorie‹ eingegangen. Sie wird anhand der Autonomie, des Sprach- und Rätselcharakters, der Form sowie der Logik erläutert. Im Anschluss wird näher betrachtet und kritisch beleuchtet, inwiefern seine ›Ästhetische Theorie‹ als eine politische Kritik verstanden werden kann. Erfahrung und Reflexion werden im Kontext des Zugangs zur Kunst diskutiert, ebenso wie die utopische und kritische Intention und die der Kunst innewohnende Wahrheit im Hinblick auf eine politische Kritik. 1 Gerhard Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag GmbH 1996, S. 21. 2 Vgl. Ebd., S. 21. 3 Ebd., S. 21. 4 Vgl. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften 10.2. Kulturkritik und Gesellschaft II Eingriffe. Stichworte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1977, S. 789. 5 Vgl. Gerhard Schweppenhäuser, 1996, S. 23. 6 Vgl. Theodor W. Adorno, 1977, S. 786. 71 Vgl. Gerhard Schweppenhäuser, 1996, S. 24. 81 Theodor W. Adorno, 1977, S. 792. 91 Ebd., S. 793. 101 Vgl. Tilo Wesche, Adorno. Eine philosophische Einführung, Ditzingen: Philipp Reclam Verlag GmbH 2018, S. 36 f.

Protest

111 Vgl. Ebd., S. 128. 121 Vgl. Ebd., S. 131. 131 Vgl. Ebd., S. 146. 141 Vgl. Ebd., S. 37. 151 Vgl. Ebd., S. 148 f. 161 Ebd., S. 34. 171 Vgl. Ebd., S. 150. 181 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1970, S. 14. 191 Vgl. Tilo Wesche, 2018, S. 150. 201 Ebd., S. 150.

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Ästhetische Autonomie Adornos ›Ästhetische Theorie‹ geht von der Kunst der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts aus. In ihr zeigt sich eine Loslösung von der Tradition bis hin zu einer Abstraktion. Die Kunst hat sich damit zu einem »autonomen Bereich«21 entwickelt, d.h. sie ist nicht mehr an äußere und fremde Zwecke gekoppelt, sondern von gesellschaftlichen Bindungen unabhängig. Weder der Staat noch die Kirche bestimmen bzw. üben ihren Einfluss aus, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Kunst muss laut Adorno autonom sein, um zu gelingen. Ist sie dies nicht, wird sie zum Prinzip ökonomischer Interessen und von der Gesellschaft mitbestimmt. Sie kann ihr auf diese Weise nichts entgegensetzen. Das heißt nicht, dass autonome Kunst zwecklos ist. Kunst hat stattdessen sich selbst zum Zweck.22 Wie lässt sich das verstehen? Dieser innewohnende Zweck ist einerseits der »Kunstgenuss«23 und andererseits die »ästhetische Kritik«.24 Durch den Genuss soll man sich von der Realität zu entfernen versuchen. Man entflieht der Realität zugunsten einer anderen. Zwar kann man nun nicht mehr von der Schein-Realität getäuscht werden, doch geschieht dies auf Kosten eines weiteren Scheins. Man befindet sich in einer genussreichen, unterhaltenden Schein-Realität. Adorno kritisiert hierbei die fehlerhafte ästhetische Autonomie, denn es scheint als würde Kunst doch der Ökonomie dienen. Sie wird zur Ware, dient dem Profit, dem Genuss. Adorno spricht von einer »Kulturindustrie«.25 Zudem verschleiert die Kunst damit auch vor sich selbst diese Abhängigkeit, da sie von einer Realität entlastet. Auf der anderen Seite liegt die ästhetische Kritik als der Selbstzweck. Wie ist es aber möglich, dass Kunst ihre Autonomie nicht verliert, gleichzeitig aber eine politische Kritik ausübt? Politik meint in diesem Zusammenhang einen sehr allgemeinen Begriff der Politik. Politik im Sinne von der Art und Weise wie eine Gesellschaft geordnet ist. Die Kritik legt frei wofür Kunst instrumentalisiert wird und sichert ihr damit ihre Autonomie. Kunst ist also durch den Schein autonom, den sie kritisiert. Sie sichert sich ihre Freiheit um sich der Vernunft hinzugeben. Autonome Kunst erscheint autonom, verdankt ihre Autonomie aber der Kritik. Tilo Wesche schreibt: »Autonome Kunst erzeugt Erkenntnis nicht um eines anderen Nutzens, sondern um ihrer selbst.[…]Kunst und Kritik stehen nämlich in einer Wechselbeziehung zueinander.«26 Denn demgegenüber verschafft autonome Kunst auch der Kritik ihre Wirksamkeit. Autonomiekunst ist kein Entzug aus der Realität, wie der Kunstgenuss es anstrebt. Eher das Gegenteil, die Auseinandersetzung mit Bestehendem. Adorno wendet sich damit strikt gegen ein »direkt politisches Engagement«27 von Kunst. Diese Form von Engagement stellt ihre Kritik offen zur Schau, will überzeugen. Kunst ist aber kein Mittel zur Übermittlung eines politischen Ziels. Dann wäre ihre Autonomie und ihr Selbstzweck nicht mehr gegeben. »Der Zweck des Kunstwerks ist die Bestimmtheit des Unbestimmten.«28 Schon Hegel spricht von einem »sinnlichen Scheinen der Idee«.29 Der Schein der Kunst bringt das zum Ausdruck, was das Bestehende übergeht. Kunstwerke wollen nichts mitteilen und schaffen dadurch Raum um etwas zu zeigen. »Eindeutigkeits- und Verwertungszwänge«30 werden entfernt. Gerade weil die Kunst nichts mitteilen will, »schafft sie die Voraussetzung, dass man für einen Denkanstoß empfänglich wird«.31 Interesse wird geweckt. Eine Aussage wird verweigert und gerade dadurch Inhalt vermittelt. Die Aussage ist erst durch den Selbstzweck, durch die Freiheit möglich. Hier wird auch der Widerspruch zu ökonomischen Prinzipien deutlich. Ökonomische Prinzipien verweigern einen Selbstzweck. Er bringt keine Gewinnsteigerung. Unter diesen Bedingungen der Verwertungszwänge kann es also zu keiner Erkenntnis kommen. Befähigt aber nicht genau diese offene Art der Mitteilung den Betrachter der Täuschung, des Widerspruchs oder einer mangelnden Zugänglichkeit? Sprach- und Rätselcharakter Um diese Empfänglichkeit einzuholen, bedarf es etwas, das Adorno als eine Sprache der Kunstwerke bezeichnet.32 Damit meint er wohl die Erfahrung, dass Kunstwerke den Betrachter ansprechen, aufmerksam machen, sein Interesse wecken. Mit herkömmlicher, kommunikativer Sprache hat dies aber wenig zu tun. Adornos Sprachcharakter meint in diesem Zuge eher eine Sprachlosigkeit.33 Das Schöne wirkt als eine Art »Anziehungskraft«.34 Man fühlt sich dem Schönen hingezogen, es weckt Begehren. Der Betrachter wünscht sich das Gemälde zu verstehen, es zu durchleuchten. Er begehrt die Erkenntnis.35 Zunächst scheint dieser Aspekt vorangegangenen Eigenschaften autonomer Kunst zu widersprechen. Kunst öffnet den Betrachter aber in Hinblick auf eine Erkenntnis, indem sie jegliche Verblendung beseitigt. Diese Sprache der Kunst hat keinen Inhalt. Es geht ihr nur um das Ansprechen, nicht aber um die Vermittlung eines Inhalts. Das Kunstwerk ist der Auslöser. Der Auslöser des Auslösers ist die Darstellung um ihrer selbst willen. Auch wenn es fragwürdig ist, ob der Betrachter sich ohne jegliches Interesse damit auseinandersetzen würde. Sprache hat immer auch eine Ebene, die man nicht entziffern kann, ein widerständiges, gegenläufiges Moment. Adorno schreibt: »Sprache sind Kunstwerke nur als Schrift.«36 Die Schrift der Sprache, ihre materielle Seite verhält sich ähnlich wie die Form zum Kunstwerk. Sie ist wie die Hieroglyphen, deren Entschlüsselungscode abhandengekommen ist. Hiermit beschreibt Adorno den Rätselcharakter eines Werks. Ein Rätsel setzt nicht wie eine Frage zwangsläufig ein Interesse voraus. Vielmehr ist das Interesse eine Folge des Rätsels.37 Ein Rätsel erweckt meistens den Ehrgeiz es zu lösen ohne eine Antwort bzw. eine Lösung bereitzustellen. Das Werk provoziert eine Gegenreaktion des Betrachters. Auf diesen Aspekt wird jedoch im Verlauf der Auseinandersetzung näher eingegangen. Zunächst soll die Priorität darin liegen, zu untersuchen, wie es einem Kunstwerk möglich ist eine Kritik zu vermitteln. Die Erkenntnis kommt zum Ausdruck durch die Art und Weise, wie sie ausgedrückt wird, ihre Form. Nicht wie oben beschrieben durch direkte Vermittlung einer Aussage. Mit der Art und Weise der Darstellung des Inhalts steht und fällt das Kunstwerk. Daraus lässt sich schließen, dass Kunst ihre Autonomie der ästhetischen Form verdankt.38 Form Erstellt der Künstler ein Kunstwerk, gibt er ihm eine autonome Form. Die Form lässt sich als die Konstellation bzw. Anordnung von Elementen beschreiben. Adorno erläutert dies anhand der Mimesis. Mimesis meint die »sinnlich, expressiven und kommunikativ sich anschmiegenden Verhaltensweisen des Lebendigen«.39 Der Künstler folgt nach Adorno bei der Produktion von Kunstwerken mimetischen Impulsen.40 Kunstwerke ahmen eine »objektive Form« wie das »Naturschöne«41 nach. Etwas wird dargestellt, dass keinerlei Absichten des Künstlers beinhaltet, sondern ohne diese Absicht zum Ausdruck kommt. Schließlich könnte sonst keiner, ausgenommen der Künstler, das Werk nachvollziehen können. »Es spricht gleichsam selbst, als habe es eine eigene Sprache.«42 So wie ein Musiker nach seinen Noten spielt, in einer »Nachahmung der Bewegungskurve des Dargestellten«.43 Die Kunst ahmt somit nichts Bestimmtes nach, sondern den »Charakter«44, der aber keinerlei 211 Ebd., S. 153. 221 Vgl. Ebd., S. 156. 231 Ebd., S. 156. 241 Ebd., S. 155. 251 Ebd., S. 157 f. 261 Ebd., S. 160. 271 Ines Kleesattel, »Kunst und Kritik. Das Problem in Rancières politischer Kunsttheorie und eine Erinnerung an Adorno«, in: Leonhard Emmerling und Ines Kleesattel (Hg.), Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken, Bielefeld: transcript Verlag 2016, S. 175 – 190, S. 185.

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281 Theodor W. Adorno, 1970, S. 188. 291 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 1971, S. 179. 301 Ines Kleesattel, 2016, S. 185. 311 Tilo Wesche, 2018, S. 166. 321 Vgl. Theodor W. Adorno, 1970, S. 211. 331 Vgl. Ebd., S. 171. 341 Tilo Wesche, 2018, S. 174 f. 351 Vgl., Ebd. S. 174. 361 Theodor W. Adorno, 1970, S. 189. 371 Vgl. Ebd., S. 182.

381 Vgl. Tilo Wesche, 2018, S. 163. 391 Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1985, S. 9 – 47, hier: S. 12. 401 Vgl. Theodor W. Adorno, 1970, S. 213. 411 Tilo Wesche, 2018, S. 167. 421 Ebd., S. 167. 431 Theodor W. Adorno, 1970, S. 189. 441 Tilo Wesche, 2018, S. 168.

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Intention oder Instrumentalisierung des Künstlers zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig ist die Kunst aber auch das Ergebnis eines Künstlers. Das Kunstwerk ist etwas, das vom Menschen gemacht ist. Adorno zu Folge geht diese Subjektivität in eigener Beschränkung durch die Produktion in der Spezialisierung des Künstlers und in der inneren Logik des Kunstwerks verloren.45 Sie hat praktisch schon allgemeinen Wert. Damit stellt er im Prinzip die These auf, dass Kunst nicht Ausdruck der eigenen Subjektivität ist, sondern derer Beschränkung. Der Künstler ordnet sich der objektiven Logik des Werkes unter. »Kunstwerke konfrontieren uns mit der Verständnisschwierigkeit, dass ein intentionsloses Erscheinen durch menschliche Intention ermöglicht wird.«46 Durch diese Formensprache entsteht eine ganz neue Sprache den Inhalt zu vermitteln. Man könnte also sagen, dass das politische Potenzial in der ästhetischen Darstellung liegt. Darin, dass die Wahrheit der fortschreitenden Erkenntnis unsichtbar bleibt.47 Logizität Der Prozess der Formgebung erfolgt nach einer inneren Logik und Stimmigkeit.48 »Ein Kunstwerk ist dann stimmig, wenn es ihm gelingt, etwas um seiner Darstellung willen auszudrücken«49, das heißt durch seinen Selbstzweck. Die Stimmigkeit kommt aber nur durch eine objektive Logik zustande. Keine Absicht des Künstlers sollte zum Ausdruck kommen. Hier kommt die zuvor genannte Beschränkung zum Einsatz. Diese Logik entsteht durch Konstruktion. In der Konstruktion wird Material geformt. Als Material bezeichnet Adorno, nicht die Technik mit dessen Mitteln ein Kunstwerk geschaffen wird, sondern geschichtliche Konstruktionsprinzipien, die auf das Material Bezug nehmen.50 Material steht nicht schon fest, sondern entspringt »ihrer Reflexion durch subjektive Vernunft«.51 Jedes Kunstwerk sortiert seine Elemente neu und bringt sie hervor. Ein Künstler lässt sich so von Materialien beeinflussen, wie sie ihn beeinflussen. Es gibt keine Regeln auf die man sich bezieht. Das Material der Künstler, also das materielle und geistige jeglicher Art, ist dabei nichts »was nicht aus der Welt kommt«.52 Es gibt einen gesellschaftlichen Hintergrund. In gebrochener Weise taucht die Gesellschaft im Werk auf. Die Elemente sind in ihrer Organisation also nicht komplett entkoppelt. Es herrscht eine Dialektik zwischen Form und Inhalt. In dieser Konstellation von Elementen liegt das Rätselhafte der Kunst. Der Inhalt ist niemals das, was das Kunstwerk zeigt, sondern die Differenz dessen, was es nicht ist. In und durch das Material eignet man sich Inhalt an. So sind die Form und das Material »geschichtlich durch und durch«.53 Sie setzen sich mit dem auseinander, was historisch und gegenwärtig gesellschaftlich geformt ist. Jede Form ist selbst in einer Formgebung entstanden. Sie sind nicht ursprünglich. Und so wird auch das Material des Kunstwerks neu geformt. Es kann nicht aus einem der Form eigenen Material heraus entstehen, da es kein Material gibt, das noch nicht geformt wurde. »Das formbare Material ist die Differenz zwischen den alten Werken und dem gegenwärtigen Werk.«54 Eine neue Form entsteht, indem etwas Altes, Problembehaftetes anders oder neu geformt wird. Es kommt etwas zusammen, was es nicht schon vorher gab.55 Diese Formgebung erfolgt durch den Prozess, den Adorno als »rationale Materialbeherrschung«56 beschreibt. Kunst entsteht unter der Voraussetzung, dass neue Kunst auf die alte aufbaut, sie in gewisser Weise ihre Probleme beseitigt. Rational ist sie in dem Sinne, dass alte Bestände durchdrungen werden müssen um neue schaffen zu können. Es scheint also, als könne sie nur aufgrund alter Kunstwerke entstehen, die schon hinreichend durchdrungen wurden. »Künstlerischer Fortschritt, soweit von einem solchen triftig kann geredet werden, ist der Inbegriff dieser Bewegung.«57 Es bleibt offen, ob von einer Verbesserung die Rede sein kann. Kunst kann der Wahrheit, dem Gehalt der Kunst nur gerecht werden, wenn sie die Zerrissenheit der Realität zum Ausdruck bringt.58 Dafür muss sie sich also in sich gegen sich selbst wenden. Adorno schreibt: »Die Negation der Synthesis wird zum Gestaltungsprinzip.«59 Kunst muss unter rationalen Bedingungen geschaffen werden, damit sie einen rationalen Effekt ausübt. Nur rational kann sie ein Widerstand gegen die instrumentelle Vernunft sein.60 Die ästhetische Form objektiviert durch die Rationalität in der Materialbeherrschung mimetische Impulse des Materials. Sie negiert damit das Gegenteil der Vernunft, den Schein und »verwirklicht sich«.61 Nur so können verzerrte Einstellungen ausgelöscht werden und schlussendlich Vernunft zur Folge haben. Kunst kritisiert Rationalität ohne sich ihr zu entziehen. Dies kann jedoch nur durch »das Prinzip der Formkonstitution, der Konstruktion«62 funktionieren. Es muss hierbei darauf geachtet werden, die Kunst vor der Gehaltlosigkeit zu bewahren, die Form nicht vom Gehalt auszulöschen, da der Gehalt auch die Autonomie der Kunst sichert.63 Die Kunst wendet sich gegen Konventionen und Traditionen, braucht diese jedoch auch zum Verständnis. Der Zusammenhang, der durch die Konstruktion im Material entsteht, kann durch das Widerständige gegenüber der Konstruktion aufgehoben werden und der Gehalt geht verloren. Die ästhetische Erfahrung hängt an einem seidenen Faden. Schon allein des Betrachters wegen kann die Synthese von Material und Bedeutung nie ganz gesichert werden. Es tritt durch ihn etwas zwischen Material und Bedeutung, das nicht kontrolliert werden kann. So muss die Aufhebung der ästhetischen Konstruktion, also die Aufhebung jedes alten Konstruktionsprinzips, jeder Konvention und Tradition, als ästhetischer Sinn zum Ausdruck gebracht werden sowie die ästhetische Konstruktion durch deren Aufhebung hindurch zu bewerkstelligen.64

Politische Kritik Erfahrung und Reflexion Wie kann der Betrachter einen Zugang zur Wahrheit erlangen? Zum einen kann Kunst ihren Inhalt als eine bloße Wiedergabe der Abbildung des Kunstwerks darstellen. Ein einfacher Bezug des Subjekts auf das Objekt. Eine solche Kunst würde Adornos These: »Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel«65 widersprechen. Kunstwerke, die sich mit Politik beschäftigen, sind, wie zuvor untersucht, niemals transparenter Ausdruck eines Inhalts. Sie versuchen eine Antwort zu erteilen und geben sie urteilslos doch nicht. Darin liegt ihr Rätsel. Es ist also falsch zu glauben, dass das ästhetische Urteil, wie auch schon Kant sagt, ein »Erkenntnisurteil«66 ist. Laut Kant sollte man viel eher von einer ästhetischen Form der Reflexion sprechen, indem auf das Subjekt Bezug genommen wird.67 Jedoch hätten Kunstwerke so keinerlei Darstellungsgehalt. Die Abwesenheit einer unmittelbaren, von jedem zugänglichen Aussage impliziert, dass jeder das Werk subjektiv mit seinen spezifischen Hintergründen und Vorkenntnissen deutet. Wie könnte Kunst auf diese Weise eine politische Wirkung entfalten? Nach Adorno sollte »subjektiv vermittelt, ein Objektives«68 sprechen. Es ist bei dieser Auseinandersetzung aber wichtig, dass sie sich am »ästhetischen Objekt«69 451 Vgl. Theodor W. Adorno, 1970, S. 250 f. 461 Tilo Wesche, 2018, S. 168. 471 Vgl. Theodor W. Adorno, 1970, S. 191. 481 Vgl. Ebd., S. 205. 491 Tilo Wesche, 2018, S. 169. 501 Vgl. Theodor W. Adorno, 1970, S. 222 f. 511 Ebd., S. 330. 521 Ebd., S. 209. 531 Ebd., S. 223. 541 Tilo Wesche, 2018, S. 171. 551 Vgl. Theodor W. Adorno, 1970, S. 59. 561 Tilo Wesche, 2018, S. 171. 571 Theodor W. Adorno, 1970, S. 210. 581 Vgl. Albrecht Wellmer, 1985, S. 16.

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591 Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2003, S. 232. 601 Vgl. Ebd., S. 211. 611 Tilo Wesche, 2018, S. 180. 621 Juliane Rebentisch, 2003, S. 112. 631 Vgl. Theodor W. Adorno, 1970, S. 158. 641 Vgl. Juliane Rebentisch, 2003, S. 119. 651 Theodor W. Adorno, 1970, S. 182. 661 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 115. 671 Vgl. Ebd., S. 240. 681 Theodor W. Adorno, 1970, S. 170. 691 Juliane Rebentisch, 2003, S. 285.

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vollzieht und das Subjekt durch den Sprachcharakter anspricht. Durch die Beschränkung des Künstlers kann das Kunstwerk nicht nur dem gutgeschrieben werden, der es erschaffen hat. Nur durch die Vermittlung von Subjekt und Objekt in der Produktion bewahrt sich nach Adorno eine von Machtansprüchen und der eigenen Unterwerfung befreite Subjektivität. Adorno ist der Meinung, dass durch diese objektive Subjektivität alle Subjekte gleichermaßen zusammenkommen. Sie werden alle ein Teil einer überindividuellen Subjektivität.70 Um auf den Gehalt eines Kunstwerkes schließen zu können, muss sich der Betrachter auf das Kunstwerk einlassen, es »strukturanalog zum Werk sinnlich und geistig«71 aktiv nachvollziehen. Man kann ein Werk nicht übersetzen. Kunstwerke müssen einen ergreifen, in einen eingreifen. Ein Kunstwerk zu verstehen heißt hineinzugehen und es nachzuvollziehen. In Kritik der Urteilskraft beschreibt Kant, die ästhetische Erfahrung »als eine von allen Zwecken und Begriffsbestimmungen losgelöste Erfahrung […], in der Sinnlichkeit und Verstand in ein gleichberechtigtes, offenes Spiel miteinander treten«.72 Jacques Rancière verfolgt diesen Gedanken weiter. Wie Adorno, wendet sich auch Rancière gegen Aktionismus in der Kunst, weil man, indem man dem Betrachter seine Meinung demonstriert bzw. vorschreibt, unterscheidet zwischen dem Künstler, dem Wissenden und dem Betrachter, dem Unwissenden. Solche Kunst sei »anti-politisch«, »anti-emanzipatorisch« und »entmächtigend«.73 Anstatt Freiheit und mehr Handlungsmöglichkeiten zu bieten, übernimmt sie die bestehende Ordnung. Kunst muss für ihren neuen Erfahrungsfreiraum unabhängig von »Repräsentation und Übermittlung«74 sein. Auch bei Adorno kommt eine Unbestimmtheit des Werks zum Ausdruck, die sich, wie zuvor beschrieben, im Rätselcharakter zeigt. Der Betrachter nimmt bei Rancière zudem aktiv an der Interpretation eines Kunstwerks teil. Auf diese Weise kann er die Entmächtigung umgehen. Wenn Kunst politisch sein will, muss sie durch »ihre Unbestimmtheit den Raum offenhalten für eigene, aktive Aneignungen und Abenteuer«75 eines jeden. Der Betrachter stellt in dieser eigenen Reflexion in Frage, was ist und erzeugt eine Fantasie, die jedoch abhängig von der Realität ist. Diese Realitätsfassung überlagert die Realität.76 Somit gibt es nach Rancière, anders als bei Adorno, auch keine Wahrheit hinter den jeweiligen Kunstwerken. Jeder kann in gleicher Weise seine eigene Erfahrung machen. Diese Erfahrungen können sehr verschieden sein. So sieht auch Walter Benjamin in der technischen Reproduzierbarkeit eine Demokratisierung von Kunst. Dadurch wird eine Politisierung ermöglicht. Der Ausstellungswert gewinnt im Gegensatz zum innewohnenden Kultwert an Bedeutung.77 Der Ausstellungswert bzw. die Reproduzierbarkeit kommt Massenbewegungen zu Gute, schließt aber jegliche kritische Haltung aus. Benjamin sieht den Prozess jedoch eher als Möglichkeit einer politischen Dimension, als »revolutionäre Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen«.78 Was ist aber Kunst, die die Masse anspricht? Zeugt eine solche Kunst nicht eher von Trivialität? Auch Adorno meint, dass Kunst genau dann ihr Potenzial verliert. Er sieht darin eine Verdinglichung, Täuschung und Entfremdung. Kunst wird zur Ware. Die Erkenntnis steht nicht mehr im Vordergrund, sondern führt stattdessen viel mehr zu einer Gleichheit. Benjamins Demokratisierung von Kunst führt zu dem Verlust der kritischen Reflexion der Gesellschaft. Sie rückt nur scheinbar näher. Durch die Demokratisierung der Kunst nach Benjamin und Rancière entfällt jeglicher Objektivitätsanspruch. Wo bleibt hier der Wahrheitsanspruch der Kunst? Reicht eine solche allgemeine Kritik aus? Genügt es den Betrachter gleichermaßen miteinzubeziehen, damit man den Problemen, wie hier der mangelnden Gleichheit, entkommt? Wird nicht das Potenzial der Kritik hier gar aufgelöst?79 Es scheint als würde sich alles in einer gewissen Ungewissheit auflösen. Vielleicht scheint auch eine Instrumentalisierung durch einfache plakative Aussagen zunächst einfacher. Kunstwerke erfordern nach Adorno eine intensivere Auseinandersetzung und Anstrengung. Die formale Darstellungsweise darf dem Inhalt nicht in dem Sinne äußerlich sein, dass der Inhalt auch ohne die Form rekonstruiert werden könnte. Kunst verliert zwar jeglichen Genuss, die Fähigkeit der Kunst zur Kritik wird ansonsten jedoch nicht völlig ausgelotet. Kunst wird austauschbar. Kritik kann nicht einfach zugänglich sein. Wenn etwas nur durch seine Form dargestellt werden kann, kann es anders nicht gesagt werden. Wenn sie politisch sein will, darf sie nicht nur Abbild einer These sein. Die politische Dimension der Kunst sollte keine Überzeugungen darlegen. Ihre Autonomie geht verloren und somit auch die Möglichkeit einer kritischen Instanz. Sie verliert ihren Anspruch Ausdruck von Wahrheit zu sein, wenn der Künstler aktiv eine politische Aussage damit treffen will. Auch bringt es nichts ein allgemeines Bewusstsein für Probleme zu schaffen. Dadurch verschwinden sie nicht. Kunst muss, wenn sie gelingen will, selber politisch intervenieren.Sie muss also, statt Abbild einer These zu sein, eine Distanz zur Realität herstellen. Adorno schreibt: »Ihr Prinzip […] unterbricht die direkte praktische Zündung.[…]Distanzierung, ihr Ergebnis,[…]betrifft auch das subjektive Verhalten, durchschneidet primitive Identifikationen, setzt den Rezipierenden als empirischpsychologische Person zugunsten seines Verhältnisses zur Sache außer Aktion.«80 Das Kunstwerk hält einen auf Distanz. Es greift nicht direkt ein in das Verhalten des Betrachters bzw. der Gesellschaft, genauso wenig wie der Betrachter in das Kunstwerk eingreifen kann. Tilo Wesche bringt hierbei das Bild der »Flaschenpost«81 an, welches auf Schopenhauer, Lessing und Brecht zurückgeht und auch Adorno aufführt.82 Es wird niemand direkt mit einer Aussage angesprochen. Es bleibt nur die Hoffnung, dass sich zukünftig jemand finden wird, der sich angesprochen fühlt. Wobei man in diesem Zusammenhang davon ausgehen muss, dass Flaschenpost auf subjektive Vermittlungen eines Inhalts verzichtet. Betrachtet man heutige Kunst, so liefert sie sich gar an den Betrachter durch Einbeziehung derer aus, wie es bei Installationskunst der Fall ist. Installative Werke wenden sich gegen Objektivität, indem sie bestimmte Personen ansprechen. Sie nimmt Bezug auf die zunehmende Individualisierung. Kunstwerke werden unterschiedlich erfahren.83 Der Betrachter wird auf seinen eigenen Hintergrund zurückgeworfen. Das Kunstwerk wird durch Reflexion auf sich selbst bezogen. Es steht also in starkem Gegensatz zur Kunst nach Adorno. Diese Art von Kunst bringt den Subjektivismus, gegen den Adorno sich wendet, ähnlich wie bei Benjamin und Rancière wieder zum Vorschein. Geht aber mit jeglicher Beeinflussung der Verlust der Kritikfähigkeit einher? Ist Kritikfähigkeit nur im Falle von Unabhängigkeit gegeben? In Diskussionen bei denen mehrere Personen ihre Thesen aufstellen und für die jeweiligen Positionen argumentieren, wird man doch ebenfalls mit unterschiedlichen Thesen konfrontiert. Sie werden im Idealfall mit der eigenen Meinung abgeglichen. Diese wird sicher nicht ohne Zögern aufgegeben. Natürlich, wer nicht unabhängig ist, dem droht immer die Gefahr der Instrumentalisierung. Es kann die Situation eintreten, in der man von einer anderen Meinung überzeugt wird. In gewisser Weise wird die Person fremdbestimmt, da sie zur Reflexion aufgefordert wird. Aus dieser Sicht gibt es kein unabhängiges Kunstwerk. Jedoch kann selbstbestimmt abgewogen werden. Äußere Einflüsse führen nicht zwangsläufig 701 Vgl. Theodor W. Adorno, 1970, S. 250. 711 Ines Kleesattel, 2016, S. 187. 721 Ebd., S. 177. 731 Ebd., S. 180 f. 741 Ebd., S. 181. 751 Ebd., S. 181. 761 Vgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books 2008, S. 88 ff. 771 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1963, S. 21 f.

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781 Ebd., S. 32. 791 Vgl. Ines Kleesattel, 2016, S. 183. 801 Theodor W. Adorno, 1970, S. 360 f. 811 Vgl. Willem van Reijen / Gunzelin Schmid-Noerr (Hrsg.), Vierzig Jahre Flaschenpost: ›Dialektik der Aufklärung‹ 1947 bis 1987, Frankfurt am Main: Gunzelin Fischer Taschenbuch 1987. 821 Vgl. Tilo Wesche, 2018, S. 161. 831 Vgl. Juliane Rebentisch, 2003, S. 283.

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zu einer Fremdbestimmung, in welcher die eigene Vernunft nicht mehr kritisch hinterfragt werden kann. Zudem stellt sich auch die Frage, ob es überhaupt möglich ist, dass sich das Kunstwerk, wie bei Adorno, in Objektivität auflöst. Zu viele Faktoren beeinflussen, sei es der Künstler oder der Betrachter, welche unweigerlich Subjekte sind. Auch Rebentisch argumentiert, dass sich das Subjekt nicht außer Aktion setzen muss bzw. kann.84 Indem der Betrachter seine eigenen Hintergründe reflektiert und sich auf das Objekt bezieht, treten sie ihm als äußerlich entgegen. Der Prozess kann sich nicht einfach in Objektivität auflösen. Andererseits müssen Kunstwerke im Gegensatz zu Rancières und Benjamins Auffassung aufpassen nicht zur Projektion des Subjekts zu werden und damit zu einer Ware. Der Prozess ist gleichermaßen Erfahrung eines Subjekts, wie er sich auf gesellschaftlichen Diskurs bezieht. Man könnte demgegenüber kritisch anmerken, dass diese Auseinandersetzung weder vollkommen subjektiv noch objektiv ist. Stattdessen werden die Subjekte mit der Gesellschaft an sich selbst konfrontiert. Statt wie bei Adorno wirkt das Kunstwerk nicht aufgrund einer überindividuellen Subjektivität in die Gesellschaft zurück. Es ist folglich zu Adornos Position hinzuzufügen, dass Kunst eine Verbindung aus ästhetischer Erfahrungsoffenheit und kritischer Reflexion ist. Ästhetische Kritik kann auf diese Weise als »mehrstimmiges Streitgespräch aus verschiedenen Positionen gedacht werden«.85 Ein komplexer Sachverhalt ist für mehrere Betrachter gleichermaßen erkennbar und ermöglicht so durch kritische Reflexion Dissens. Die ästhetische Erfahrung nach Adorno lädt sich in ihrer Unmittelbarkeit auch eine gewisse »Schuldhaftigkeit«86 auf. Sie ist scheinbar ein Privileg. Jedweder Versuch der modernen Kunst zum Beispiel durch direktes politisches Engagement, Institutionskritik oder Installationskunst revolutionär andere Betrachter zu erreichen, lässt sich möglicherweise darauf zurückführen. Auch andere Personen sollen erreicht werden. Der Versuch zielt dann aber gleichzeitig auch auf eine andere Art und Weise der Kunstbetrachtung.87 Denn Kunst ist nicht so unmittelbar oder universell, wie sie es vielleicht gerne wäre. Wo führt es hin, wenn man diese Grenzen der Kunst übergeht? Adorno sieht schon früher in der Revolution gegen den traditionellen Begriff der Kunst das »Lebenselement aller eigentlich modernen Kunst«.88 Sie sichert sich damit aufs Neue ihre Autonomie. Seine These widerspricht in diesem Kontext seiner Auffassung von Kunst. Adorno verbindet mit moderner Kunst zu seiner Zeit noch eine ganz andere als wir heute. Für ihn war die neu eingeholte Autonomie das Lebenselement. Juliane Rebentisch weist im Gegenzug, die Begrenzung durch die Vermeidung von gesellschaftlichen Gehalten im Kontext der Autonomiekunst als falsches und ideologisches Verständnis zurück.89 Sie meint Installationskunst würde zeigen, dass Kunst nicht nur einfaches Mittel zur Vermittlung von gesellschaftlichen Inhalten oder deren Verzicht sein kann. So ist es bei Installationskunst erst durch ihre Ästhetik und den offenen gesellschafts- und ortsbezogen Kontext möglich sich reflektierend mit diesem Kontext auseinanderzusetzen. Eine andere Art und Weise der Kunstbetrachtung scheint hier zu funktionieren, ohne direkte Aussagen zu übermitteln und gleichzeitig möglicherweise einfacher zugänglich zu sein. Kritik und Utopie Vor allem moderne Kunstwerke rücken die sogenannte »Dissonanz, Signum aller Moderne«90 in den Vordergrund. Indem Kunstwerke ihren Inhalt zugänglich machen, lassen sie den Betrachter an solchem Dissonanten teilhaben, sie machen ihn für deren Erkenntnis zugänglich. Der Betrachter bezieht den Inhalt auf sich selbst, nimmt am Geschehen passiv teil, indem er das Kunstwerk zu verstehen versucht. Möglicherweise betrifft es einen direkt oder indirekt selbst. Das Dissonante zeigt sich als etwas, das einem selbst begegnet. Der Betrachter verhält sich demgegenüber nun nicht mehr gleichgültig. Als nächster Schritt kommt dem Betrachter der Gedanke eines Aufbegehrens bzw. eines Widerstandes in den Sinn, dieses Schicksal abwenden bzw. überwinden zu wollen. Ein »kritischer Impuls«91 ist geboren. Kunst kann nur dann Vernunft einbringen, wenn sie vor Augen führt, weshalb ein Interesse an Erkenntnis von Bedeutung ist und so jegliche Täuschungen aus dem Weg räumt. Natürlich öffnet sich nicht jeder gleichermaßen dieser Erkenntnis. Sie ist keinesfalls sicher. Deswegen bleibt die Vernunft andernfalls nur Utopie.92 So schreibt auch Adorno: »Kunst hat inmitten herrschender Utilität zunächst wirklich etwas von Utopie«, indem sie auf »das Andere, vom Getriebe des Produktions-und Reproduktionsprozesses der Gesellschaft Ausgenommene, dem Realitätsprinzip nicht Unterworfene«93 verweist. Utopie wird jedoch nie direkt dargestellt. Adorno sieht sie eher widersprüchlich. So kann die Vorstellung einer glücklichen Welt auch dazu führen, dass man sich in diesem Schein verliert, die Probleme kompensiert.94 So wäre sie keine Utopie in diesem Sinne mehr. Adorno schreibt: »Erfüllte sich die Utopie von Kunst, so wäre das ihr zeitliches Ende.«95 Bedeutet dies, dass Kunst aus der Not heraus entsteht, dass wenn sich die Utopie erfüllt, keine Kunst mehr existieren würde? »Erst einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben: ihr Tod heute, wie er droht, wäre einzig der Triumph des bloßen Daseins über den Blick des Bewußtseins, der ihm standzuhalten sich vermißt.«96 Wobei schlussendlich auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kunst in einer idealen Welt wieder neu aufblüht und nur unsere heutige Welt die Kunst dazu gemacht hat, was sie heute ist.97 Auch bleibt die Frage offen, ob man in einer solchen neuen Welt, tatsächlich von jeglichem Leiden befreit wäre. Herbert Marcuse sieht in der Idee des Schönen eine Rebellion gegen die Realität. In gewissem Maße stimmt das überein mit Adornos Sprachcharakter der Kunst, der durch das Schöne wie eine Anziehungskraft wirkt. Marcuse ist der Meinung, dass das Schöne die Welt befreit.98 Die Utopie einer anderen Realität richtet sich kritisch gegen die Realität. Eine Kunst, die sich negativ gegenüber der Realität äußert, bildet sie laut Marcuse nur nach und leugnet sie. Er trifft auf das Problem, dass Kunst alleine die Praxis der Realität nicht ändern kann. Andererseits ist es auch nicht möglich sich dieser Praxis zu unterwerfen. Kunst würde ihre Autonomie verlieren.99 Sein Argument verhält sich also ähnlich wie das der positiven Kritik, die zu Beginn angesprochen wurde. Es scheint aber falsch, zu sagen, dass eine negative Kritik die Realität leugnet. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Sie akzeptiert die Realität. In ihr steckt der Wunsch sie zu einem Besseren zu wenden. Die Welt verändern kann sie genauso wenig. Eine Utopie hingegen entwirft, wie Adorno es beschreibt, einen Schein, indem es sich zu verlieren leichtfällt. Kunst zeigt also keine utopische Welt, wie sich Menschen eine bessere Welt vorstellen, indem sie einen Schein darstellt. Sondern: »In diesem Gefühl des Widerstandes gegen das bloße Dasein ist eigentlich die Utopie enthalten, daß dieses bloße Dasein nicht das letzte Wort habe.«100 Über den Widerstand gegenüber dem Dasein verweist sie auf eine Utopie. Das Kunstwerk hat also eine kritische und eine utopische Intention. Geht aber mit diesem utopischen Gedanken nicht die Utopie einher, dass es mehr als nur Kunst braucht um eine Utopie zu verwirklichen? Wie kann man mit dieser Erkenntnis nicht verzweifeln? 841 Vgl. Ebd., S. 284 f. 851 Ines Kleesattel, 2016, S. 189. 861 Theodor W. Adorno, 1970, S. 357. 871 Vgl. Juliane Rebentisch, 2003, S. 273. 881 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften 10.1. Kulturkritik und Gesellschaft I Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1977, S. 452. 891 Vgl. Juliane Rebentisch, 2003, S. 274. 901 Theodor W. Adorno, 1970, S. 29. 911 Tilo Wesche, 2018, S. 184. 921 Vgl. Ebd., S. 185. 931 Theodor W. Adorno, 1970, S. 461.

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941 Vgl. Ebd., S. 205. 951 Ebd., S. 55. 961 Gerhard Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag GmbH 1996, S. 117. 971 Vgl. Ebd., S. 118. 981 Vgl. Herbert Marcuse, Schriften 9. Konterrevolution und Revolte. Zeit-Messungen. Die Permanenz der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987, S. 235 f. 991 Vgl. Ebd., S. 113. 1001Theodor W. Adorno: Ästhetik (1958/59), Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2009, S. 52.

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Hoffnung als Voraussetzung von Wahrheit Zu viele negative Erfahrungen führen dazu, dass man ihre Änderungen für vergeblich hält. Die Situation wird anerkannt. Hoffnung entsteht nun aber dadurch, dass diese Situation verneint wird. Hoffnung kann moralisches Handeln trotz vergeblicher Erfahrungen und empirischer Erkenntnisse für möglich halten.101 In Adornos Fall ist diese vergebliche Situation die des sich selber Täuschens. Das Hoffen richtet sich auf die Aufklärung und damit auf das Verwirklichen von Vernunft. Durch die Verneinung einer vergeblichen Situation wird aber unabhängiges Handeln ermöglicht. Indem nun Kunst rationale Einstellungen hervorbringt, die unabhängig von der »Verwertungslogik«102 sind, bringt sie den »intrinsischen Wert der eigenen Bedürfnisse, des Wohlergehens anderer und de[n] Eigenwert der Natur«103, das Unbestimmte, zum Vorschein. Sie kann verzerrte Einstellungen nachhaltig verändern. Unter Verwertungslogik versteht man, dass die Einstellungen eines jeden verformt werden. Kunst kann diesen Moment aufheben. Martin Seel bringt ein Beispiel an, wodurch das Besondere des Kunstwerks deutlicher wird.104 Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV von Barnett Newman. Es handelt sich dabei um ein riesiges Gemälde, circa 3 auf 6 Meter. Links eine rote Fläche, rechts eine gelbe, in der Mitte ein blauer Streifen. Die gewaltigen Farbzonen wirken auf den Betrachter. Vor allem das Rot springt ihm entgegen und weitet sich in der Wahrnehmung über die Grenzen des Gemäldes hinaus aus. Damit überschreitet es zugleich die Ordnung in der Gesellschaft. Die Farben sind zwar im Bild akkurat gegeneinander abgegrenzt und geordnet, die Farbwirkung strahlt aber über diese Ordnung hinweg. Das Gemälde wirkt avantgardistisch gegen eine strenge Ordnung und Symmetrie. Adorno erklärt es mit den Worten: »Beredt werden sie kraft der Zündung von Ding und Erscheinung.«105 Adorno führt vor Augen, dass die Realität mehr zu bieten hat als sich einem häufig offenbart. Es bringt etwas Unbestimmtes zum Ausdruck, das nicht begrifflich erfasst bzw. bestimmt werden kann, nicht nur aus Tatsachen besteht. Sie zeigt also, dass es mehr gibt, als man sich ermächtigen kann. In ihnen »erscheint etwas, was es nicht gibt«.106 Das bedeutet es zeigt das, was wir sonst in der Realität nicht erkennen, etwas Unbestimmtes, etwas frei von Profitinteressen. Adorno spricht von dieser Bedeutung als einer Eröffnung der »Freiheit zum Objekt«.107 Laut Adorno impliziert eine Befreiung der Form auch eine Befreiung der Gesellschaft. Form vertritt das soziale Verhältnis, weswegen sie Chaos in die Ordnung der Gesellschaft bringt. Kunst will die Realität auflösen. Man wird aus der Entmächtigung und Unterwerfung befreit. Sich der Entmächtigung zu entziehen, heißt Widerstand zu leisten. In diesem Sinne ist Kunst revolutionär und politisch. Das Kunstwerk leistet Widerstand gegen feste Lebensverhältnisse.108 Nicht die Abbildung eines Werks, d.h. was dargestellt wird, hat politische Dimension, sondern wie es gezeigt wird. Das Hoffen wird von Kunst verwirklicht. In ihr liegt also sogleich der Grund für Hoffnung. Aber ob Vernunft tatsächlich verwirklicht wird, ist außerhalb der Theorie nicht sicher. Hoffnung ist kein Wissen dass und doch mehr als nur ein Wunsch.109 Sie liegt durchaus im Bereich des Möglichen und kann Vernunft trotz vergeblicher Erfahrungen und empirischer Erkenntnisse für möglich erachten. Sie bietet sogleich eine Zugänglichkeit, die notwendig ist, um eine Kritik zu üben. Man kann sich ihr zum Beispiel durch Analyse eines Kunstwerks vergewissern. Ob sich ihr der Betrachter aber öffnet, sich auf Impulse einlässt, ist keinesfalls sicher. Ähnlich wie auch im alltäglichen Leben nicht jeder Kritik annimmt. Abschließend lässt sich also sagen, dass Kunstwerke nur »kontingent«110 politische Kritik ausüben. Ebenso wie ihre Entstehungsbedingungen kontingent sind. Sie unterstehen aber letzten Endes menschlichen Handlungen, der eigenen Kraft und Fähigkeit, anders als zum Beispiel der Glaube an eine Erlösung. Schlussfolgerung Politische Kritik ästhetischer Kunstwerke ist infolge der gezogenen Erkenntnisse keine unmittelbare inhaltliche Vermittlung. In diesem Fall kann man nicht mehr von Kunst sprechen. Sie kann weder transparenter Ausdruck eines Inhalts, noch eine einfache Reflexion sein um politisch wirken zu können. Sie muss Inhalt vermitteln, ohne ihre Autonomie zu verlieren und bloßer Kommentar zu sein. Auch Journalismus beispielsweise muss kritisch sein, will er das bestehende System nicht reflexionslos unterstützen. Genauso muss sich auch der Künstler bewusst distanzieren. Erst die Autonomie sichert die Kritik. Kunst wird sich selbst nicht gerecht, indem ihre Form in den Hintergrund gerät. Ebenso wenig wie sie der Komplexität des Inhalts gerecht wird. Meistens ist der Inhalt in diesem Fall heruntergebrochen auf eine Aussage, deshalb nicht differenziert genug. Juliane Rebentisch schreibt: »Kunst kommuniziert […] nie direkt.«111 Das kann man auch als einen Nachteil sehen. Sie kommuniziert jedoch durch ihre Form, die einen Bezug auf den Inhalt nimmt und mit ihr eine Wechselbeziehung eingeht. Damit kommt der Kunst eine besondere und man könnte sagen einmalige Position zu. Die Fähigkeit der Kunst zur Kritik an der Gesellschaft zeigt sich im Rätselcharakter ihrer Formensprache. Kunst entsteht in einem Prozess der Rationalisierung. Dadurch ist sie im Stande Einstellungen zu rationalisieren, indem sie vom Schein befreit. Das Interesse an Erkenntnis tritt an die Stelle des Scheins. Das Negative wird anerkannt. Indem Kunst das Dissonante in den Vordergrund stellt, erzeugt sie einen kritischen Impuls und führt im Idealfall zur Einsicht in die Vernunft. Auf diese Verwirklichung der Vernunft kann jedoch aufgrund ihrer Kontingenz nur gehofft werden. Adornos politische Kritik liegt zwischen einer, nur aus reiner demokratischer Teilhabe, undifferenzierten Kritik und dem vermeintlichen Anspruch von allgegenwärtiger Kritik, zu der das Subjekt scheinbar ermächtigt wird. Sie versucht zur selbstreflexiven Vernunft zu verhelfen. Ästhetische Kritik bewirkt beim Betrachter, wenn er erreicht wird, Erfahrung und Reflexion. Für Adorno ist die Auseinandersetzung mit dem Werk zudem immer zeit- und gesellschaftsreflexiv.112 Die Wahrheit ist immer auf die Welt bezogen und damit veränderlich. Kunst muss immer wieder neu kritisch hinterfragt werden in Bezug auf die aktuelle Kritik. Erfahrungen verschiedener Kunstwerke müssen also immer gesellschaftlich reflektiert werden. Das künstlerische Material kommt aus der Welt und weist damit immer auch auf sie zurück, auf die Gesellschaft und die Geschichte. Es macht uns den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Kunst deutlich. Zwar scheinen einzelne Gedanken Adornos stark in einen historischen Kontext verwurzelt, der Grundgedanke ist aber trotzdem schlüssig und zeitlos. Indem Kunst nicht urteilt, gibt es uns dasjenige von der Wahrheit in seiner ganzen Komplexität wieder, das sonst verloren gehen würde.113 Kurt Lenk schreibt auch: »Das, was dem identifizierenden, auf die bloße Verdopplung des Nuneinmal-so-Seienden fixierten begrifflichen Denken der Wissenschaften abgeht, soll Kunst gleichsam noch einmal retten.«114 Kunst hat folglich das Potenzial politisch wirken zu können und die Rolle einer kritischen Instanz in der Gesellschaft einzunehmen. 1011 Vgl. Tilo Wesche, 2018, S. 195 f. 1021Ebd., S. 197. 1031Ebd., S. 197. 1041Vgl. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München, Wien: Carl Hanser Verlag 2000, S. 35 ff. 1051Theodor W. Adorno, 1970, S. 125. 1061Ebd., 1970, S. 127. 1071Theodor W, Adorno, Gesammelte Schriften 6. Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1973, S. 38. 1081Vgl. Theodor W. Adorno, 1970, S. 144. 1091Vgl. Tilo Wesche, 2018, S. 200.

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1101 Ebd., S. 198. 1111 Juliane Rebentisch, 2003, S. 277. 1121 Vgl. Ines Kleesattel, S. 186 f. 1131 Vgl. Theodor W. Adorno, 2009, S. 327. 1141 Kurt Lenk, »Adornos ›negative Utopie‹. Gesellschaftstheorie und Ästhetik«, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Soziologie im Spätkapitalismus: zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 134 – 144, hier: S. 141.

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»Unsichtbares Design. Damit ist heute gemeint: das konventionelle Design, das seine Sozialfunktion selber nicht bemerkt. Damit könnte aber auch gemeint sein: ein Design von morgen, das unsichtbare Gesamtsysteme, bestehend aus Objekten und zwischenmenschlichen Beziehungen, bewußt zu berücksichtigen imstande ist.«

1 Lucius Burckhardt, Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, Berlin: Martin Schmitz Verlag 2004.

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»Now that we can do anything, what will we do?«1 Unsere gesellschaftlichen Probleme werden immer komplexer und damit gewinnt die Notwendigkeit einer Veränderung immer mehr an Bedeutung. Um diesen Umbrüchen nachzukommen, drängt sich uns eine Gestaltung des Sozialen in ähnlicher Weise auf, wie es sich auch in Krisenzeiten in der Vergangenheit feststellen ließ. Es scheint als wäre »die Vision verbunden mit dem Anspruch, die jeweilige Gesellschaft durch Gestaltung nachhaltig beeinflussen zu können«,2 schon früher in den Köpfen der Designer verankert gewesen, wie zum Beispiel zu Zeiten des Arts and Crafts Movement das Verbessern der sozialen Umstände als Folge der Industrialisierung.3 Der Designer als Revolutionär, der nun, anstatt den Konsument zum Kauf zu bewegen, die Notwendigkeit einer »Transformation der Gesellschaft«4 postulieren soll. In ›Design ist unsichtbar‹ macht Lucius Burckhardt darauf aufmerksam, dass der Designer immer auch eine unsichtbare Komponente unbewusst mitgestaltet. Diese Auswirkungen sind sozialer Natur und betreffen ein System von Objekten und Beziehungen zwischen den Menschen. Die Aufgabe des Designers ist es also das Unsichtbare sichtbar zu machen, sodass es von allen mitgestaltet werden kann. Im Folgenden soll analysiert werden, was mit der von Lucius Burckhardt ausgerufenen Wende zum ›Social Design‹ gemeint ist und wohin diese führt. Ist es wirklich möglich durch Design, welches sonst dazu da war schöne Formen zu gestalten, die Welt zu verbessern? Hierbei wird auf den Begriff zunächst nach Burckhardts Aspekten eingegangen, um dann die wichtigsten Kriterien näher zu betrachten und kritisch zu beleuchten. Laut Lucius Burckhardt ist die traditionelle Auffassung des Tätigkeitsfeldes des Designers bestimmt von einer Einteilung nach Gegenständen, die ganz klare Grenzen und feste Bedingungen aufweist. Eben alles, was sichtbar ist. Der typische Designer ist darauf konzentriert die Dinge um ihn herum im Hinblick auf den jeweiligen Zweck besser und schöner zu gestalten. Dabei ist der Gegenstand »neutral«.5 Das Gute bzw. Schlechte kommt erst mit dem Gebrauch hinzu. Jedes neue Objekt soll »in die bestehenden Systeme eingefügt werden«6 können. Das Vorhandene bleibt unverändert. Wenn man sich dessen bewusst wird, ist es ganz offensichtlich, was Burckhardt einem vor Augen führt: Eine Einteilung, die auch alle unsichtbaren, nicht physisch greifbaren Dimensionen um das Objekt miteinbezieht. Diese soziale Funktion bleibt insofern unsichtbar, da sie vom Designer unbewusst übersehen und mitgestaltet wird. Um diese bewusst in die Gestaltung miteinzubeziehen muss eine Einteilung nach Systemen, also nach einer »institutionell organisatorischen«7 Komponente erfolgen, in welche dann eingegriffen werden kann. Unter Institutionen versteht Burckhardt in sich logisch strukturierte »Systeme von Beziehungen zwischen Menschen«.8 Bezieht der Designer diese nicht in seinen Entwurf mit ein und ist sich seiner Verantwortung nicht bewusst, beeinflussen Designobjekte ihre Umwelt / den Konsumenten im schlimmsten Falle negativ. Stattdessen wird nach Lösungen für isolierte Probleme gesucht, welche wiederum die »Notwendigkeit neuer Entwürfe« nach sich ziehen, was zu einer »Kontraproduktivität« des Gesamtsystems führt.9 Die Symptome erscheinen behoben. Die Ursache jedoch noch lange nicht. Die Probleme werden nicht gelöst, sondern wiederholt.¶Um dies zu ändern ruft Lucius Burckhardt zum »Re-Design«10 auf. Besser gesagt zu einer Wende in Richtung Social Design. Er plädiert für einen stetigen Austausch mit dem Endnutzer, vor allem während des Entwurfsprozesses, für ein kollektives Aushandeln sozialer Strukturen, damit »sowohl Rollen wie Objekte aufeinander abgestimmten Veränderungen zugeführt werden«.11 Der Designer stellt sich hinter das Gesamtsystem und wirkt damit »aktiv in die Interaktion der Gesellschaft zurück«.12 Hiermit ist das Social Design geboren. Auf den ersten Blick stellt dieser Begriff eine Verbindung von Design mit sozialem Wissen dar.13 Er grenzt sich damit vom klassischen Produkt- und Industriedesign ab, bei dem der Gegenstand im Zentrum steht.14 Wobei selbst dies nach Burckhardt nie unabhängig von seinem Umfeld betrachtet werden kann. Design kann also zunächst gar nie nicht sozial sein und ein soziales System kann auch nicht nicht designt werden. Sie unterstehen also einer Wechselbeziehung wie auch schon Lars Bang Larsen mit seiner »sozialer Ästhetik«15 andeutet. Social Design benennt in seinem Begriff sowohl das soziale Gestalten als auch die Gestaltung des Sozialen.16 Das soziale Gestalten meint den Prozess, der wie auch Burckhardt erläutert mit zu den wichtigsten Bestandteilen des Social Design zählt. Das Design ist weniger ergebnisorientiert. Der Designer wird auch selber zum Gegenstand der Gestaltung. So wie auch Burckhardt die Gestaltung von Arbeitsplätzen beschreibt, in welcher »Teilarbeit aus der Gesamtarbeit« geschieden wird und dadurch »Zusammenarbeit erzeugen oder verhindern« kann, so kann auch mit der Gestaltung einer Gestaltung produktive Zusammenarbeit ermöglicht oder begrenzt werden.17 Im Rahmen des Projektes ›Design for the other 90 %‹ formulierte das Cooper Hewitt Museum in New York 2007 die Schlüsselbegriffe des Social Designs: »Access, Adapt, Exchange, Include, Prosper, Reveal.« Schenkt man dem Glauben, so ist ein Kriterium für gutes Gelingen, inwieweit die Zielgruppen miteinbezogen werden, wie sie sich beteiligen und mitwirken, wie selbstbestimmt ihr Handeln ist und wieviel Verantwortung sie dann schlussendlich übernehmen.18 So trägt der Designer die Verantwortung nicht alleine, ähnlich wie der Arzt bei Burckhardt im Falle des Versagens sie nicht alleine tragen kann. Aber er übernimmt einen Teil. Ein Schritt in Richtung Social Design wäre aber schon allein der Gedanke, den Designer nicht mehr als einen »von der Verantwortung befreiten Ideenlieferant«19 anzusehen. Eine größere Achtsamkeit auf gesellschaftliche und soziale Einflüsse für positive Veränderungen muss erfolgen. Dem Individuum wird hiermit die Chance gegeben sich durch Entwerfen aus der Unmündigkeit zu befreien.20 Und das kann jeder. Laut Victor Papanek sind nämlich alle Menschen Designer, da der Prozess vor einer jeden Handlung, wie der Entwurf, der ein bestimmtes Ziel vor Augen hat, einen Gestaltungsprozess einführt.21 Dies beweist, weshalb die Kollektivität so bedeutend ist. Der zweite wichtige Aspekt gilt der Aus(sen)wirkung. Beeinflusst wirklich jegliches Design immer auch die Gesellschaft? Wer etwas designt, greift in die Welt ein. Wenn er also handelt, positioniert er sich immer auch selbst gegenüber seinem Gegenstand. Bruno Latour macht dies deutlich, indem er sagt: »Kein Designer wird beanspruchen dürfen: ›Ich stelle nur fest, was existiert‹ oder ›ich ziehe bloß die Konsequenzen aus den Naturgesetzen‹ oder ›Ich errechne bloß die Summe‹. Wenn Design derart ausgeweitet wird, dass es überall relevant ist, ziehen sich Designer ebenfalls den Mantel der Moral an.«22 Man kann also zumindest der These Burckhardts zustimmen, dass Design immer mehr ist als nur das Sichtbare. Design ist nicht »neutral«.23 Während Burckhardt behauptet, dass jeder Designer immer gleichzeitig kulturelle Praktiken mitgestaltet, meint Social Design dahingegen eher die spezifische Gestaltung des Sozialen. Es ist unabhängig vom Konsummarkt. Denn Design, welches die 1 Claudia Banz (Hg.), Social Design. Gestalten für die Transformation der Gesellschaft, Bielefeld: Transcript 2016, S. 36. 2 Ebd. S. 8. 3 Vgl. Ebd. S. 11 – 25. 4 Ebd. S. 8. 5 Lucius Burckhardt, »Design ist unsichtbar«, in: Klaus T. Edelmann und Gerrit Terstiege (Hg.), Gestaltung Denken. Grundlagentexte zu Architektur und Design, Basel: Birkhäuser 2010, S. 211 – 217, hier: S. 214. 6 Ebd., S. 215. 7 Ebd., S. 214.

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8 Ebd., S. 212. 9 Ebd., S. 215. 10 Ebd., S. 212. 11 Ebd., S. 216. 12 Ebd., S. 215. 13 Vgl. Claudia Banz, 2016, S. 109. 14 Ebd., S. 45. 15 Lars Bang Larsen, »Social Aesthetics«, in: Claire Bishop (Hg.), Participation. Documents of Contemporary Art, Cambridge / Massachusetts: MIT Press 2006, S. 172 –  183. 16 Vgl. Claudia Banz, 2016, S. 81.

17 Lucius Burckhardt, 2010, S. 214. 18 Vgl. Claudia Banz, 2016, S. 11 – 25. 19 Lucius Burckhardt, 2010, S. 216. 20 Vgl. Friedrich von Borries, Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 15. 21 Vgl. Victor Papanek, Design for a real World. Human Ecology and Social Change, London: Thames and Hudson 1985, S. 3. 22 Bruno Latour, »Ein vorsichtiger Prometheus. Design im Zeitalter des Klimawandels«, in: ARCH+ 196/197 (2010), S. 22 – 27, hier: S. 24. 23 Lucius Burckhardt, 2010, S. 215.

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Wirtschaft ankurbelt und immer neue, bessere Produkte nach sich zieht, kann nicht nachhaltig und verantwortlich sein.24 Dafür hat der Markt zu große Eigeninteressen, die nicht mit sozialen Intentionen der Gestalter übereinstimmen können. So haben 90 % der Weltbevölkerung keinen Zugang zum Konsumentenmarkt. Importierte Konsumgüter bilden dort den einzigen Zugang zu Design und dessen Errungenschaften. Obwohl selbst diese häufig in keinerlei Zusammenhang zu den dort herrschenden Lebensbedingungen stehen.25 Es gilt nützliche Prozesse und Lösungen aufzuzeigen. Vernünftig, kollektiv, tolerant, nachhaltig, unabhängig, sensibel, spezifisch an die Umgebung angepasst. Eine Lösung unter gleichzeitiger Berücksichtigung aller Faktoren soll entstehen. Hierbei bringt es keinen Nutzen, wenn für Probleme isolierte Lösungen gesucht werden, wenn also der »benannte Zweck […] direkt zur Abhilfe«26 wird. Ähnlich wie zum Beispiel an der Hochschule für Gestaltung in Ulm der Zweck nicht innerhalb des Systems betrachtet wurde.27 Der Nutzen eines Busses hängt beispielsweise davon ab, wann er fährt, wieviel er kostet, wo seine Haltestellen platziert sind usw. Demgegenüber inkludiert Social Design aber auch schmerzhafte Einsichten, das Anstoßen sozialer Veränderungen, die Übermittlung von Informationen und das Ermöglichen von Unternehmertum.28 Hat man nun eine grobe Vorstellung des Begriffs, muss das Augenmerk darauf gelegt werden, wo die Grenzen zu ziehen sind und wozu ein solches Bewusstsein führt. Während Esther Cleaven von einem »Containerbegriff«29 spricht, hält Anke Haarmann Social Design in seiner Verwendung für einen »greenwashing-Begriff«.30 So stellt sich einem zunächst die Frage: Wozu ist ein solcher Begriff eigentlich fähig? ¶Einstweilen erscheint das Ganze wie eine Art utopische Vorstellung, so als habe der Begriff des Social Designs das Wort »Revolution«31 ersetzt. Als wäre es uns nun möglich die Welt zu retten. Entspringt der Gedanke von Social Design nicht vielmehr einem größenwahnsinnigen Gedanken des Menschen neben dem bisher neu Geschöpften nun auch die Natur neu gestalten zu können, anstatt der Bewusstwerdung einer ethischen Verantwortung? Soll der Begriff vielleicht nur beschönigen, dass und wie der Mensch sich die Natur zu eigen macht? Ist es nicht anmaßend das Ziel schon im Namen zu nennen? Das impliziert doch, dass es schon verwirklicht ist. So erscheint Social Design doch eher als eine Form der Ideologie.32 Man könnte behaupten Designer sollen also nun dort helfen, wo die Politik versagt hat. Jedoch ist, wie auch schon Friedrich von Borries meint, die »Politik [sehr wohl] Gegenstand von Design.« Dies findet seinen Ursprung in der Spannung zwischen Entwerfen und Unterwerfen sowie in der Wirkung des Designs.33 Design ist also politisch, wenn man in die von Burckhardt beschriebenen Institutionen eingreift und das Unsichtbare, die Randbedingungen, mitgestaltet, indem man entweder Handlungen ermöglicht oder aber begrenzt durch das Auftauchen neuer Bedingungen. Social Design kann folglich nicht nur die Welt retten, sondern auch für gesellschaftsverhindernde Zwecke eingesetzt werden.¶Auch die Ästhetik kann beim Lösen der Probleme eine Rolle spielen. Gerade bei humanitärer Hilfe geht es darum den Menschen ein Umfeld zu schaffen, in denen sie sich wohlfühlen. Natürlich besteht das Ziel zunächst in der Sicherstellung des physischen Überlebens, jedoch auch im mentalen Überleben, welches an Sinnlichkeit geknüpft ist. Das Interesse der Menschen, an der Gestaltung ihrer Umgebung teilzuhaben, ist enorm groß und geschieht häufig instinktiv. Ute Elisabeth Weiland beschreibt, wie diese Orte dem Aufbau der menschlichen Zelle ähneln. Der Zellkern als geistiges Zentrum, das Skelett als Infrastruktur und die Mitochondrien als Energiezentren. Der Vergleich macht deutlich, woran dem Menschen etwas liegt: »Gemeinschaft, Begegnung, Vielfalt«.34 Jedoch ist es richtig, dass der Begriff des Social Design nicht beschönigt werden darf. So rät auch Claudia Banz zur Vorsicht, denn manches Design »scheint einen kulturellen Mehrwert zu bieten, aus dem sich zugleich ein ökonomischer Gewinn abschöpfen lässt«.35 Und das ist nicht Sinn eines solchen Designs. Social Design ist nicht automatisch gut, wie man es vielleicht aufgrund des Namens annehmen könnte. Wenn ein Unternehmen aus Marketinggründen eine Grünanlage gestaltet, damit es den Eindruck erweckt, sie würden sich nicht nur an ihrem eigenen Profit orientieren, ist das dann gut? Wohl eher nicht. Zwar ist eine neue Grünanlage entstanden, aber mit der Intention, dass weniger Leute ein schlechtes Gewissen haben ein Unternehmen zu unterstützen, welches unter schlechten Bedingungen immer billiger Objekte produzieren will, die man eigentlich nicht wirklich benötigt. Abgesehen davon lässt sich anzweifeln, ob das Unternehmen tatsächlich berücksichtigt hat, was unter Einbezug der lokalen Gegebenheiten wirklich am effizientesten und sinnvollsten gewesen wäre. Die Praxis des Social Design soll nun an einem konkreten Beispiel deutlicher werden. Es geht um die Situation in Nepal nach dem Erdbeben 2015. MORE THAN SHELTERS, ein Sozialunternehmen, das humanitäres Design für besser angepasste und menschenwürdigere Lösungen in Krisengebieten anbietet, entwickelte hier ein Unterkunftssystem mit dem Namen DOMO. Die Kooperation und der unmittelbare Kontakt zwischen MORE THAN SHELTERS und den lokalen Bewohnern war hierbei maßgebend. Verständnis, Unterstützung und Vertrauen ermöglichten positive Resultate. Mit einfachsten, vor Ort verfügbaren Ressourcen konnten hier regional spezifisch angepasste kreative Lösungen aus der Not heraus entstehen.36 Von diesem Standpunkt aus ist Social Design also nahezu unumgänglich. Möglicherweise sollte es sich dementsprechend viel mehr damit beschäftigen das Individuum selber tätig werden zu lassen. Auch Gui Bonsiepe stellt in Frage, ob nicht Entwicklung als Selbstentwicklung entstehen muss, anstatt diese zu unterdrücken.37 Obwohl natürlich nicht jeder weiß, was wirklich gut für ihn ist. So kann Social Design also als Design an bzw. für die Gesellschaft oder in der Gesellschaft interpretiert werden. Wobei das Beispiel auch gezeigt hat, dass erst die Betrachtung im Kontext zu einer richtigen Lösung des Problems führen kann. Abschließend lässt sich also sagen, dass mit der Bewusstwerdung eines unsichtbaren Designs nach Lucius Burckhardt ein Streben nach etwas Besserem zu dokumentieren ist. Es verlangt nach Partizipation sowie Anpassung und ist durch die fehlende Neutralität jeglichen Designs immer auch politisch. Social Design kann indessen aber nicht mit kritischem Design gleichgesetzt werden, da nicht jegliches Social Design auch für eine Verbesserung der Welt eingesetzt wird. Derweil wird der Begriff zudem vielfältiger angewandt als es ursprünglich Burckhardts Sinn war. Er wollte ein generelles Bewusstsein für die sozialen Auswirkungen schaffen. Der Begriff führt hier jedoch eher zu einer Übertragung des gewohnten Tätigkeitsfeldes des Designers auf andere Bereiche. So lassen sich zahlreiche Beispiele finden, die darauf hindeuten, dass Design einen Platz in der Politik findet, wie zum Beispiel das Social Design Movement in Großbritannien oder die Integration des Designs in die Innovationspolitik der EU.38 Der Begriff des Social Designs tritt in das Bewusstsein der Menschen. Der Fortschritt wird überschaubarer. Der Gedanke der Nachhaltigkeit gewinnt an Bedeutung. Die Frage ist nur inwieweit er Anklang findet. 24 Vgl. Claudia Banz, 2016, S. 104. 25 Vgl. Ebd., S. 105. 26 Lucius Burckhardt, 2010, S. 215. 27 Vgl. Ebd. S. 216. 28 Vgl. Claudia Banz, 2016, S. 81. 29 Ebd., S. 44. 30 Anke Haarmann, »Zu einer kritischen Theorie des Social Design«, in: Julia-Constance Dissel (Hg.), Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahlverwandtschaften, Bielefeld: Transcript 2016, S. 75 – 88, hier: S. 78.

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31 Claudia Banz, 2016, S. 13. 32 Anke Haarmann, 2016, S. 83 – 87. 33 Friedrich von Borries, 2016, S. 30 – 33. 34 Claudia Banz, 2016, S. 97 – 101. 35 Anke Haarmann, 2016, S. 88. 36 Vgl. Claudia Banz, 2016, S. 85 – 92. 37 Ebd., S. 65 – 67. 38 Vgl. Ebd., S. 20 – 23.

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Baukultur Bericht Erbe – Bestand – Zukunft 2018/19 Bundesstiftung Baukultur (BSBK) Davos war tief verschneit, als sich dort im Januar 2018 am Rande des Weltwirtschaftsforums die europäischen Kulturminister trafen, um die Davos-Deklaration 2018 zu beraten und zu verabschieden. Das Schweizer Bundesamt für Kultur hatte eingeladen, um auf die Notwendigkeit einer umfassenderen Baukultur hinzuweisen. Dies geschehe, so wörtlich, »in dem Bewusstsein, dass sich überall in Europa ein allgemeiner Verlust an Qualität der gebauten Umwelt und der offenen Landschaften abzeichnet, was sich in einer Trivialisierung des Bauens, in fehlenden gestalterischen Werten und einem fehlenden Interesse für Nachhaltigkeit, in zunehmend gesichtslosen Agglomerationen und verantwortungslosem Landverbrauch, in einer Vernachlässigung des historischen Bestandes und im Verlust regionaler Identitäten und Traditionen zeigt«. Damit sind die Zukunft gestalten – Erhalten und Weiterbauen aktuellen Herausforderungen klar benannt.1 Die Ausgangslage Der Druck auf Innenstädte hält an, während die Zersiedelung der Stadt- und Ortsränder weiter fortschreitet. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach dem Umgang mit dem gebauten Bestand immer drängender. Denn Bestandsarchitekturen und -infrastrukturen sind nicht nur kulturell bedeutend: Sie verfügen über einen ökologischen und ökonomischen Wert, der oftmals nicht erkannt oder unterschätzt wird. Durch das mangelnde Bewusstsein kommt es zu Verfall oder Abriss und damit zu unwiederbringlichen Verlusten wertvoller Bausubstanz. Aus baukultureller Sicht sind ein Mentalitätswandel, besonderes Engagement und ein zeitiges Eingreifen wichtig, um irreversible negative Auswirkungen auf unsere Städte und Orte zu verhindern. Die Wechselwirkungen zwischen historisch gewachsenen Strukturen und gesellschaftlichen Anforderungen bilden deshalb die Ausgangslage des Baukulturberichts 2018/19. Eine langfristig nachhaltige Entwicklung kann nur aus dem Bestand heraus erfolgen. Sie bedeutet vielfältige Möglichkeiten für ein Mehr an Baukultur. Wir Zukunft gestalten – Bestand und Neubau müssen sie nur erkennen und nutzen.2 Die Fokusthemen Die Bestandsentwicklung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit großem baukulturellem Potenzial: Ein gleichzeitig sensibler wie innovationsfreudiger Umgang mit dem gebauten Erbe kann zu neuen Nutzungsmöglichkeiten, sozialer Teilhabe und einer neuen Gestaltsprache führen. Die Fokusthemen »Gemischte Quartiere weiterbauen«, »Umbaukultur etablieren« und »Erfolgreiche Prozesse gestalten« stellen zukunftsweisende Projekte vor und erforschen Perspektiven für den nachhaltigen Umgang mit der gebauten Umwelt.3

Gemischte Quartiere weiterbauen Die Verdichtung bestehender Quartiere verringert die Neuausweisung von Siedlungs- und Verkehrsflächen und trägt zur Verbesserung der baukulturellen Nutzungsvielfalt und Gestaltqualität bei. Die Möglichkeiten erstrecken sich von Leerstands-, Frei- oder Brachflächenaktivierungen bis hin zu baulichen Maßnahmen wie Baulückenschlüssen, Aufstockungen und Ergänzungsbauten. Darüber hinaus wirken sich gut gestaltete öffentliche Räume und ein ausgewogenes Infrastrukturangebot positiv auf Teilhabe und Nutzerverhalten aus. Sie stärken die Identität eines Ortes und den Zusammenhalt seiner Bewohner. Baukulturelle Leitbilder schaffen! Die gebaute Umwelt hält bei zukunftsweisenden Transformationen einen wichtigen Schlüssel für Charakter und Identität bereit. Baukulturelle Leitbilder wirken sich positiv auf die Weiterentwicklung von Städten, Orten und Landschaften aus. Sie sichern den Erhalt regionaler Vielfalt, örtlicher Wiedererkennbarkeit und gemeinschaftlicher Werte. Mobilität als Chance für Umbaukultur nutzen! Im Um- und Ausbau von Verkehrsinfrastrukturen liegen große Potenziale für gestalterische und strukturelle Verbesserungen. Im Zeitalter einer globalen und mobilen Gesellschaft übernehmen Transiträume verstärkt die Rolle als örtliche Visitenkarte mit identitätsstiftender Wirkung.4 Öffentliche Räume für Menschen gestalten! Ob in dichten Städten oder als Dorftreffpunkt: Öffentliche Grün- und Freiflächen schaffen einen Mehrwert für alle Bürger. Mit Teilhabe, Engagement und guter Gestaltung können bei vergleichsweise geringem Aufwand städtische Brach- und Freiflächen aktiviert werden, was sich positiv auf die Lebensqualität auswirkt. 1 Bundesstiftung Baukultur (BSBK) Reiner Nagel, Baukultur Bericht. Erbe – Bestand– Zukunft 2018/19, Bundesstifung Baukultur: Potsdam 2019, S. 6. 2 Ebd. S. 11. 3 Ebd., S. 63.

Baukultur

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Umbaukultur etablieren Bei der Weiterentwicklung gebauter Strukturen sind bestehende Qualitäten zu erkennen, wertzuschätzen und zu pflegen. Umbaukultur geht über die rein ökonomische Bewertung hinaus und beinhaltet gesamtgesellschaftliche und ökologische Interessen. Qualifizierte Handwerkstechniken, nachhaltige Baustoffe und flexible Lösungen sichern baukulturelle Werte, von kleineren Umbaumaßnahmen über energetische Sanierungen bis hin zu stadtverträglichen Neubauten. Bestand halten und weiterentwickeln! Auf-, An- oder Umbauten können zeitgemäße Lösungen für Bestandsgebäude darstellen. Diese Maßnahmen leisten einen Beitrag zur ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit. Dabei muss der Fortbestand identitätsstiftender regionaler Elemente sichergestellt werden. Historischen Kontext als Ausgangslage für Neubau stärken! Baukultur zeigt sich anhand historischer Schichten, deren Besonderheiten das Wesen eines Ortes ausmachen. Durch ein Einfügen neuer baulicher Strukturen können Orte eine Aufwertung erfahren, vorausgesetzt, diese verstehen sich als Weiterentwicklung baukultureller Werte. Materielle und immaterielle Werte sichern! Nur durch eine gezielte Vermittlung können baukulturelle Werte erkannt und gehalten werden. Der Gesellschaft kommt dabei die Rolle des Verwalters des materiellen und immateriellen Erbes für die nächste Generation zu. Diese Verantwortung ist als gemeinschaftliche Aufgabe von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft wahrzunehmen.5

53 % der befragten Kommunen beschäftigen sich mit Um- und Anbauten im Siedlungsbestand. Bei Städten zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern sind es sogar 75 %. Für 46 % ist die Umnutzung ein aktuelles Thema der Bestandsentwicklung.¶ Über 90 % der Stadtplanungs-/ Stadtentwicklungsämter der befragten Kommunen bezeichnen die Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege als (sehr) gut. 22 % haben allerdings wegen der Anpassung von Grundrissen und 17 % wegen der Umnutzung von Gebäuden Konflikte mit der Denkmalpflege ausgetragen.

Der Gebäudebestand bis 2030 alt und neu laut Schätzung Bundesstiftung Baukultur (Quelle: BDA NRW 2016; BBSR 2016; Wuppertal Institut 2017; Destatis 2017) 3 % Denkmale geschätzte Anzahl fertiggestallter Neubauten 2017 – 2030 59 % Alltagsbauten 30 % besonders erhaltenswerte Bauten

50 40 30 20 10

Zukunftsfähigkeit des Bestandes Umbau und Erweiterung Neben der regelmäßigen Instandhaltung und Sanierung sichert auch die bauliche Anpassung an sich ändernde Bedarfe die Zukunftsfähigkeit von Bauwerken. Für leer stehende oder untergenutzte Strukturen schafft ein Umbau neue Möglichkeiten. Nahezu jede der bis heute erhalten gebliebenen historischen Gebäudestrukturen hat im Verlauf der Jahre Änderungen erfahren, mindestens im Hinblick auf Haustechnik und die sanitäre Ausstattung. Durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Bestand, eine tragfähige Nutzungsidee und eine Anpassung von Gebäudestrukturen an heutige Nutzungsanforderungen können bestehende Gebäude aktiviert werden. Manchmal reichen geringfügige bauliche Maßnahmen, um unattraktive Architektur aufzuwerten […]. Aus heutiger Sicht schwierige Strukturen oder Grundrisse benötigen dagegen deutlichere Eingriffe. So hat in Hann. Münden erst die Zusammenlegung von fünf Fachwerkhäusern eine erfolgreiche Hotelnutzung ermöglicht. In Lübeck sind die Salzspeicherhäuser neben dem Holstentor durch Entfernung der Trennwände zu einer gemeinsamen Ladeneinheit umgebaut worden. Die Entkernung historischer Bausubstanz ermöglicht vielerorts die Belebung des baukulturellen Erbes durch zeitgemäße Nutzungen.¶Der Umbau und die Umnutzung von Großstrukturen machen noch umfangreichere Baumaßnahmen erforderlich. Die mehrfach prämierte Umnutzung der Justizvollzugsanstalt in Luckau zeigt, wie ein ehemals unzugängliches Gelände mit schwierigen Gebäudestrukturen erfolgreich zu einem lebendigen innerstädtischen Quartier umgewandelt werden konnte.¶Handelt es sich um ein Denkmal, erfordert eine erfolgreiche bauliche Anpassung an heutige Vorstellungen stets Kompromisse. Die gestalterische Bandbreite ist groß und im Ergebnis das Resultat eines intensiven Aushandelns zwischen Stadtplanern, Architekten und Denkmalpflegern. Ziel der Kompromisse sollte immer das Ermöglichen einer Nutzung sein, denn für den Erhalt eines Gebäudes ist diese elementar. Nicht immer finden sich in diesem Zusammenhang so unauffällige Lösungen wie am Beispiel des Barockschlosses in Mannheim […], bei dem der zusätzliche Platzbedarf durch den Ausbau des Kellergeschosses gedeckt werden konnte. Das erkennbare Hinzufügen einer neuen Zeitschicht kann aber auch zu einem gestalterischen Thema werden, wie beispielsweise beim prämierten Wiederaufbau des Neuen Museums in Berlin.¶In der Fachpresse werden regelmäßig internationale und nationale Beispiele für Um- und Aufbauten, Umnutzungen und Ergänzungsbauten vorgestellt. In der Bevölkerung wird das Thema gleichermaßen nachgefragt. Zeitschriften wie Häuser, Schöner Wohnen, Living at Home oder Das Haus thematisieren immer mehr auch das Leben in historischen Gebäuden und den Bestandsumbau. Dieses Interesse bietet optimale Voraussetzungen für eine Bestandsentwicklung, die von vielen getragen wird. In der kommunalen Praxis zeigt sich jedoch auch, wie schwierig die Umnutzung vorhandener und historischer Gebäudestrukturen zum Teil ist. Dabei hat es der Bestand auch in einer zunehmend digitalisierten Planungspraxis und einer auf Neubaustandards fokussierten Bauordnung schwer. Neubauplanungen wenden künftig das Building Information Modeling (BIM) selbstverständlich an, während bei Altbauten häufig Planunterlagen und eine Bestandsaufnahme fehlen. Strukturell gerät damit der Umbau weiter ins Hintertreffen. Perspektivisch sollten deshalb digitale Bauakten für Bestandsbauten angelegt werden.¶Ein Abriss sollte der letzte Ausweg im Interessenkonflikt zwischen Eigentümern, 4 5 6 7 8 9 10

Ebd., S. 138 f. Ebd., S. 140 f. Ebd., S. 85 – 87. Ebd., S. 91 – 96. Ebd., S. 96 – 97. Ebd., S. 100 – 104. Ebd., S. 104 – 106.

Baukultur

11 Ebd., S. 107 – 108. 12 Ebd., S. 109 – 112. 13 Ebd., S. 112 – 113.

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64 % der befragten Kommunen geben an, dass unpassende Grundrisse oder Gebäudezuschnitte in den letzten fünf Jahren zu einem Abriss von Gebäuden geführt haben. 47 % der befragten Kommunen schätzen, dass der Abriss aufgrund von Investorendruck erfolgt ist.

71 % der befragten Kommunen bestätigen, dass die energetische Sanierung zu den aktuellen Aufgaben in der Kommune zur Weiterentwicklung des Bestandes zählt. 52 % geben an, dass es in ihrer Kommune in den letzten fünf Jahren zu einem Abriss von Gebäuden aufgrund des schlechten energetischen Standards kam.

Stadtplanern, Architekten und Denkmalpflegern sein. Vor allem bei leer stehenden Denkmalen sollte Zeit zum Warten sein, denn häufig ändern sich Rahmenbedingungen und Nutzungsbedarfe unerwartet, sodass scheinbar schwierige Strukturen mit einem Mal wieder funktionsgerecht und gestalterisch spannend sind. Dabei empfiehlt es sich, das Objekt nicht nur singulär, sondern in seinem Umfeld zu betrachten und zum planerischen Gegenstand einer strategischen Standortdiskussion und -entwicklung zu machen. Die Makrobetrachtung von Standort und Umfeld kann hier zu neuen nutzungsbezogenen Lösungsansätzen führen. Aus baukultureller Sicht sprechen zahlreiche Gründe für das Weiterbauen und Verändern nicht nur von Denkmalen, sondern von Bestandsbauten insgesamt. Es wäre fahrlässig, die Potenziale im Bestand nicht auszuschöpfen. Eine kreative Auseinandersetzung mit vorhandener Bausubstanz führt zu anspruchsvollen und das Stadtbild bereichernden Ergebnissen. Sie voreilig aus Gründen einer vermeintlich mangelnden Anpassungsfähigkeit oder fehlenden Wirtschaftlichkeit aufzugeben, führt zu unwiederbringlichen Verlusten. Das Weiterbauen von Bestandsgebäuden sowie das erkennbare Zusammenführen verschiedener Zeitschichten können dagegen sowohl im Quartier als auch auf Objektebene einen Grundstein für die »Denkmale von morgen« legen. Die Beibehaltung markanter und wertiger Baumaterialien ist Teil einer aufmerksamen Materialkultur und wirkt identitätsstiftend. Am Beispiel des Silberturms in Frankfurt am Main wird dies ersichtlich. Das Büro- und Verwaltungsgebäude der 1970er-Jahre wurde vom Architekturbüro schneider+schumacher unter Beibehaltung der charakteristischen Aluminiumfassade ertüchtigt und saniert und 2017 mit dem Gestaltungspreis der Wüstenrot Stiftung ausgezeichnet. Bei nicht zu rettender Bausubstanz oder Baustoffen, die nachweislich gesundheitsschädigend sind, ist ein Rückbau von Gebäuden angesagt. In diesen Fällen können und sollten Ersatzneubauten eine deutliche Verbesserung der Stadtgestaltung ermöglichen. Vor einem Abriss sollten jedoch der baukulturelle Wert, der materielle und immaterielle Nutzen und die im Bauwerk gebundene graue Energie zwingend in die Abwägung einfließen.[…]6 Energetische Sanierung Status quo und Zielstellungen Die energetische Sanierung des Gebäudebestandes ist wichtig, damit die Klimaziele erreicht werden. Laut Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V. (GdW) wurden seit 1990 bis heute an rund 66 % der Wohnungsbestände energetische Sanierungsmaßnahmen vorgenommen, mehr als die Hälfte davon waren Vollsanierungen. Zu einem anderen Ergebnis kommt dagegen der Dachverband Deutscher Immobilienverwalter e. V. Dem Verband zufolge sind 90 % aller energetischen Sanierungsmaßnahmen nur Teilsanierungen. Auch die Qualität der frühen Maßnahmen entspricht nicht den heutigen Anforderungen – denn erst seit Einführung der Energieeinsparverordnung (EnEV) 2002 müssen bei Sanierung, Anbau, Umbau oder Ausbau von Bestandsgebäuden bestimmte energetische Bedingungen erfüllt werden.¶ Die EnEV verpflichtet zu einer energiesparenden Bauweise und Heiztechnik bei Gebäuden. Seit der Einführung 2002 findet eine kontinuierliche Verschärfung dieser Verordnung statt, die letzte Novellierung erfolgte 2016. Gegenstand der Neuerung war eine weitere Reduzierung der Primärenergiebedarf-Grenzwerte um 25 % für Neubauten gegenüber der EnEV 2009. Für die Sanierung des Bestandes erfolgten keine Verschärfungen gegenüber 2009. Für denkmalgeschützte Gebäude und erhaltenswerte Bausubstanz sieht die EnEV abweichende Anforderungen vor. Sofern durch energetische Maßnahmen eine Beeinträchtigung des Erscheinungsbildes zu befürchten ist, kann von den Anforderungen der EnEV abgesehen werden. Das Aussetzen einer weiteren Verschärfung der EnEV in der laufenden Legislaturperiode begünstigt die Optimierung technischer Standards und kann baukulturelle Anliegen befördern. Gegenwärtig nehmen die Bestandsgebäude der Baualtersklassen 1949 – 1978, also der sogenannten Nachkriegsmoderne, mit 43 % den größten Anteil am Endenergieverbrauch für Raumwärme und Warmwasser ein. Vor allem die Gebäude der 1950er- und 1960er-Jahre haben häufig Schwachstellen bei der Wärmedämmung, eine veraltete Haustechnik, feuchte Keller, einfach verglaste Fenster sowie schadhafte, ungedämmte Dächer. Auch Ein- und Zweifamilienhäuser haben einen erheblichen Einfluss auf den Energieverbrauch, ihr Anteil liegt dem Gebäudereport 2016 der Deutschen Energie-Agentur (dena) zufolge bei 63 %. Da die Gebäude der Nachkriegszeit und speziell die Einund Zweifamilienhäuser einen großen Teil des Siedlungsbestandes im Bundesgebiet ausmachen, ist deren energetische Optimierung wichtig. Unterbleibt die Sanierung, lassen sich zum einen die notwendigen Klimaziele der Bundesregierung nicht erreichen, zum anderen wären die Gebäude mit Blick auf ihren Wohnstandard und Komfort langfristig nicht marktfähig. Andererseits gerät die Diskussion um die Bewertung und Unterschutzstellung der Nachkriegsmoderne dadurch unter erheblichen Zeit- druck. Vielerorts wird sich das Stadtbild bereits verändert haben, bevor der Denkmalwert dieser Baualtersklasse erfasst wurde. Als Zwischenschritt können Kommunen mit einer vorläufigen Feststellung der erhaltenswerten Bausubstanz Ausnahmeregelungen nach der EnEV ermöglichen und damit einer vorschnellen Beeinträchtigung des Stadtbildes entgegenwirken.¶In der Kritik steht die EnEV unter anderem wegen ihrer mechanischen Wirkungsweise und des sogenannten Rebound-Effekts. Die Effizienzsteigerungen senken für den Verbraucher die Energiekosten. In der Folge wird häufig mehr Energie verbraucht, sofern es für den Verbraucher nicht zu höheren Gesamtkosten kommt – für den Einspareffekt ein Nullsummenspiel. Zusätzlich negativ wirkt sich die stetig zunehmende Wohnfläche pro Kopf aus. In der Baubranche wird die EnEV 2016 noch aus anderen Gründen kritisch gesehen. Die gestellten Anforderungen an Neubauten werden als unwirtschaftlich eingestuft. Durch die Neuregelung der EnEV haben sich die Baukosten laut Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW) noch einmal um 7 % erhöht. Investitionsaufwand und Nutzen stehen nicht mehr in einem ausgeglichenen Verhältnis. Damit erschwert die EnEV zusätzlich die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum auch im Neubau. Zudem berücksichtigt auch die letzte Novellierung nicht die graue Energie eines Gebäudes. Die graue

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In 46 % der befragten Kommunen kam es zu Konflikten mit der Denkmalpflege hinsichtlich der energetischen Sanierung von Gebäuden.

Rebound-Effekt Quelle: BBSR 2014; dena Deutsche Energie-Agentur; Destatis 2012; INSM – Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 2009 Endenergieverbrauch der privaten Haushalte Energieeinsparungsziele nach EnEV zunehmender Wohnflächenverbrauch pro Person

1000 800 600 400 200

1950

2020

Energie umfasst die Energiemenge, die für Rohstoffgewinnung, Produktionsprozess, Verpackung und Transport bis zum Bau eines Gebäudes benötigt wird. Diese ist für die Sanierung von Bestandsgebäuden deutlich niedriger als für die Realisierung eines Neubaus. Die Berücksichtigung der grauen Energie ist nicht nur für eine transparente Ökobilanz unverzichtbar, sondern vor allem für die Priorisierung einer Bestaandsmobilisierung gegenüber primärenergieintensiven Neubauvorhaben.¶Die Bundesregierung hat unterschiedliche Förderprogramme auf den Weg gebracht, um die energetische Sanierung von Bestandsgebäuden voranzutreiben. Hierzu zählen beispielsweise das Programm »Energieeffizient Sanieren«, das eine Förderung sowohl von einzelnen Sanierungsmaßnahmen als auch von Gesamtmaßnahmen für private Immobilienbesitzer bereithält. Gesamtmaßnahmen haben einen KfW-Effizienzhaus-Standard zum Ziel. Der Effizienzhaus-Standard bezieht sich dabei auf die EnEV. Ein KfW-Effizienzhaus mit dem erreichten Standard 55 benötigt beispielsweise nur 55 % der Energie, die ein vergleichbares Referenzgebäude laut EnEV als Höchstwert einhalten muss. Gefördert werden von der KfW bei einer Sanierung die Standards 55, 70, 85, 100 und 115. Für denkmalgeschützte und besonders erhaltenswerte Gebäude werden mit dem »KfW-Energieeffizienzhaus Denkmal« die technischen Mindestanforderungen gesenkt. Damit genügen ein Jahres-Primärenergiebedarf von 160 % und ein Transmissionswärmeverlust von 175 % gegenüber den 100 %, die die EnEV für einen Neubau vorgibt. Im Vergleich: Bleiben Bestandsgebäude unsaniert, liegt der durchschnittliche Verbrauch eines nicht wesentlich energetisch sanierten Mehrfamilienhauses laut dena bei ca. 350 % und der eines Einfamilienhauses bei über 400 %. Die Ausnahmeregelungen für Denkmale und erhaltenswerte Bausubstanz sind folgerichtig. Doch mit Blick auf den Anteil, den Alltagsbauten am gesamten Gebäudebestand in Deutschland haben, ist dies nur ein unzureichender, wenn auch wichtiger Beitrag zur Baukultur in den Städten und Gemeinden. Entscheidend wäre, bei allen geförderten energetischen Maßnahmen auf eine baukulturelle Verträglichkeit hinzuwirken.7 Baukulturelle Verträglichkeit Energetische Sanierungsmaßnahmen führen in den Städten häufig zu Konflikten zwischen Stadtentwicklung bzw. Baugenehmigungsbehörde und Denkmalpflege. Vor allem, wenn die geplanten Maßnahmen die Dämmung von Außenfassaden umfassen, sind Kompromisse für erhaltenswerte oder unter Schutz gestellte Gebäude schwer zu finden. Mit der Dämmung der Außenhülle verschwinden häufig baukulturell wertvolle Fassadenelemente, charakteristische Fensterteilungen, Fenstertiefen und Fensteröffnungen und auch Vor- und Rücksprünge werden durch eine Außenwanddämmung überformt. Nicht nur objektbezogen, sondern auf Quartiersebene ist damit eine stufenweise Veränderung des ortstypischen Stadtbildes zu einem charakterlosen Erscheinungsbild zu befürchten. Die unzureichende Berücksichtigung der Baukultur spiegelt sich in der gegenwärtigen Praxis der energetischen Sanierung anhaltend wider.¶Der Anteil von Denkmalen am Gebäudebestand hat mit 3 % nur einen unbedeutenden Einfluss auf die bundesweite Energiebilanz. Aus Sicht der Baukultur ist im Zweifel dem zu erhaltenden Erscheinungsbild immer Vorrang einzuräumen, da viele historische Quartiere aufgrund der hohen baulichen Dichte und der kompakten Gebäudeformen und Bauweisen ohnehin energetisch vorbildliche Bedingungen aufweisen. Wenn historische Bestände jedoch energetisch saniert werden müssen – insbesondere Siedlungen der 1920er- und 1930er-Jahre sowie der Nachkriegsmoderne –, hat die baukulturelle und denkmalpflegerische Verträglichkeit einen hohen Stellenwert. Dies gelingt im erhaltenswerten Bestand mit einer veränderten Prioritätensetzung der möglichen Einzelmaßnahmen. Den größten Effekt für eine Energieeinsparung hat die Erneuerung der Heizanlage. Kommunen sollten bei Beratungen zur energetischen Sanierung privater Immobilien diesen Wirkungsgrad deutlich herausstellen und entsprechend dafür werben. An zweiter Stelle der Wirksamkeit stehen Fenster und die Dämmung von Außenfassaden gleichermaßen. Energetisch optimierte Fenster lassen sich vergleichsweise problemlos denkmalgerecht bzw. nach historischem Vorbild herstellen. Auch hier sind Kommunen aufgerufen, für einen Fensteraustausch zu werben. Dämmungen am Dach und im Keller haben zusätzliche Einspareffekte. Die Außenfassade hat für eine energetische Optimierung des Gebäudes dann nur noch geringe Effekte, sie sollte zur letzten Option werden. Doch auch wenn die Fassadendämmung unumgänglich ist, lassen sich denkmalgerechte Lösungen finden, wie das Beispiel einer geschützten Backsteinsiedlung in Hamburg zeigt. Im zweischaligen Mauerwerk wurde der Zwischenraum mit Ortschaum verfüllt und sorgt nicht nur für eine verbesserte Wärmedämmung, sondern für eine Stabilisierung des Mauerwerks.¶Im ganzen Stadtgebiet geht die Freie und Hansestadt Hamburg beispielhaft voran, um Baukultur und energetische Sanierung in Einklang zu bringen. Sie hat eine Qualifizierungsmöglichkeit zum »Backsteinberater« ins Leben gerufen, dessen Aufgabe es ist, die Eigentümer sowohl aus energetischer als auch aus stadtgestalterischer Sicht zu beraten. Anders als bei den Energieberatern ist die Berufsbezeichnung geschützt und kann nur durch Schulungsmaßnahmen der Architektenkammer erlangt werden. Die geförderten Maßnahmen werden von der Hamburgischen Investitions- und Förderbank beauftragt und vergütet. Mit Unterstützung eines Gremiums aus Mitarbeitern der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen (BSW) und Vertretern der Wohnungswirtschaft wird dabei geklärt, ob ein Gebäude backsteinrelevant ist. Der Bund hat ebenfalls im Zuge des KfW-Förderprogramms »Effizienzhaus Denkmal« den »Energieberater für Baudenkmale und sonstige besonders erhaltenswerte Bausubstanz« eingeführt. Die Qualifikation eines solchen Beraters muss von der zuständigen Koordinierungsstelle anerkannt werden. Entsprechende Fortbildungen werden u. a. von den Architektenkammern angeboten.¶Wie eine baukulturell hochwertige Sanierung eines Denkmals gelingen kann, zeigt auch die Sanierung am Fachwerkhaus Lange Gasse 7 in Quedlinburg. Die beispielhafte Sanierung beweist, dass selbst bei Verzicht auf eine Dämmung der Außenfassade ein Heizwärmebedarf im Niedrigenergiehausstandard erreicht werden kann. In dem Pilotprojekt wurden unterschiedliche Maßnahmen – verschiedene Innendämmsysteme, Deckenaufbauten, Heizsysteme und Fensterarten – getestet. Letztendlich kamen ökologische Innendämmsysteme u. a. aus Holzleichtlehmsteinen und Wärmedämmlehm in Verbindung mit unterschiedlichen Heizsystemen […] zum Einsatz. Stellt die Außenfassade kein schützenswertes Bauteil dar, lässt sich die energetische Sanierung

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des Bestandes durchaus auch für eine Verbesserung des Erscheinungsbildes nutzen. In München-Haidhausen erhielt zum Beispiel ein Bürogebäude aus den 1950er-Jahren durch eine energetische Sanierung ein gänzlich neues Fassadenbild. Einen technologisch aufwendigeren Ansatz verfolgt ein Pilotvorhaben des BMUB in Neu-Ulm von 2017. Bei zwei Wohnzeilen aus den 1930er-Jahren wurden mithilfe einer hochwertigen Dämmung und moderner Gebäudetechnik zur Nutzung erneuerbarer Energien der Standard Effizienzhaus Plus erreicht. Die Gebäude erzeugen nun mehr Energie, als sie verbrauchen. Das vom BMUB geförderte Modell soll als Vorbild dienen für die weitere Entwicklung von Bestandsgebäuden hinsichtlich Energieeffizienz und -produktion. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt von Berlin veranschaulicht in der Publikation »Denkmal energetisch« gelungene Beispiele für die energetische Sanierung von Denkmalen. Zusätzlich wird auf wichtige Einsparpotenziale wie beispielsweise das Nutzerverhalten im Gebäude eingegangen, für die Städte und Gemeinden zusätzlich sensibilisieren können.¶ Baukulturell verträglich heißt auch, dass Wohnraum in den Städten bezahlbar bleiben muss. Steigende Kaltmieten nach einer energetischen Sanierung sollten sich durch eingesparte Nebenkosten ausgleichen. Bei der umfangreichen Sanierung des Märkischen Viertels in Berlin ist das als Ergebnis der Evaluation der Eigentümerin Gesobau weitgehend eingetreten. Energetische Einzelmaßnahmen können auch Teil von regelmäßigen Instandsetzungen sein, ohne dass eine umfassende energetische Sanierung vorgenommen wird. In der Abwägung helfen manchmal bereits geringfügige erhaltende Maßnahmen, um den Bestand aufzuwerten und an heutige Wohnstandards anzupassen.[…] 8

Materialbestand pro Einwohner in Deutschland 2016 in t (Quelle: Wuppertal Institut 2017) Nichtwohngebäude Wohngebäude

80 70

50 40

Kunststoffe

Holz

Stahl

Ziegel

10

Beton

20

Flachglas

30

mineralische Dämmstoffe

60

Ressourcen und Stoffkreisläufe Materialbestand und Recycling Der Gebäudebestand ist von unterschiedlichen Baualtersklassen und deren Materialien geprägt. Auch die Menge des gesamten Materialverbrauchs unterscheidet sich. Sie ist stark abhängig von den Bauaktivitäten in den einzelnen Altersklassen. Bis 1870 wurde viel mit Stroh, Lehm und Holz gebaut, teilweise auch mit Ziegel. Die Baualtersklassen 1871 bis 1918 und 1919 bis 1948 zeichnen sich durch einen hohen Anteil an Vollziegeln aus. Mit den Veränderungen in der Bauweise für Decken- und Bodenplatten – ungefähr ab 1919 – gewinnt Beton an Bedeutung. Spätestens ab 1949 ist Beton der meist verwendete Baustoff und verursacht eine geringere Verwendung der Materialien Holz und Vollziegel. Seit 1995 ist Beton mit ca. 70 % Hauptbestandteil eines Bauwerks. Neben den unterschiedlichen Materialzusammensetzungen lassen sich auch regionaltypische Unterschiede feststellen, die unter anderem durch klimatische Einflüsse bedingt sind. Aus Sicht der Baukultur sind diese baulichen Eigenheiten gewinnbringend für eine lokale Identität. Eine besondere Herausforderung der Bestandsentwicklung ist jedoch, dass Gebäude schon nach kurzer Zeit nicht mehr ausschließlich durch typische Materialien der Entstehungszeit geprägt sind. Durch Sanierung und Umbau entsteht ein Mix an unterschiedlichen Baustoffen und Bauweisen. Damit bekommt ein Gebäude aus den 1920er-Jahren, das in den 1950ern umgebaut wurde, ähnliche bauphysikalische oder gesundheitsgefährdende Eigenschaften wie die entsprechenden Neubauten dieser Zeit.¶Die Städte binden mit ihren bestehenden Strukturen eine Vielzahl von Baustoffen und somit Ressourcen und Materialien. Diese Lagerstätte wird auch als anthropogenes Lager bezeichnet. Da der Materialbestand durch regelmäßige Neubauvorhaben weiterwächst, befindet sich das anthropogene Stofflager permanent im Aufbau. Es kann als Rohstofflager der Zukunft betrachtet werden und bildet die Grundlage für die Idee des »Urban Mining«. Damit sollen bereits verbaute Materialien im Zuge eines Abrisses als Sekundärrohstoffe genutzt und damit die Inanspruchnahme von Primärrohstoffen reduziert werden. Die Nutzung dieser über die Jahre und Jahrhunderte hinweg bereits verwendeten und identitätsstiftenden Baustoffe trägt erheblich zum Erhalt der Baukultur und der lokalen Identität von Städten bei – ein Ansatz, der auch als »Materialisierung der Geschichte« bezeichnet werden kann.¶Die Verwendung von Recyclingmaterialien kann den zukünftigen Materialbedarf für die Bauaktivitäten nicht vollständig kompensieren. Dies ist nicht zuletzt auf die niedrige Abrissquote in Deutschland zurückzuführen. Ungefähr 22 Mio. Gebäude gibt es im Bundesgebiet, rund 18,8 Mio. davon sind Wohngebäude. 2016 wurden insgesamt 17.650 ganze Gebäude – davon 7.278 Wohngebäude – abgerissen. Die Abrissquote liegt damit bei ca. 0,08 %. Jährlich fallen ca. 200 Mio. Tonnen Bau- und Abbruchabfälle an und machen ca. 55 % des Gesamtabfallaufkommens in Deutschland aus. 80 % der Bau- und Abbruchabfälle werden wiederverwertet, jedoch nur ein geringer Teil davon als recyceltes Baumaterial im Hochbau. 2010 lag der Recyclinganteil im Hochbau bei 6,6 %. Die verwerteten Baustoffe werden zum überwiegenden Teil im Straßenbau genutzt und dort bodennah für Landschafts- und Wegebau eingesetzt. Man spricht deshalb von Downcycling, weil die verwerteten Baustoffe in Bereichen zur Anwendung kommen, die keine besonderen Anforderungen an das Material mehr stellen. Der verhaltene Umgang mit dem Thema ist insbesondere auf ein eher negatives Image sowie mangelnde Kenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit Sekundärbaustoffen zurückzuführen. Auch zusätzliche Kosten für den selektiven Abbruch von recycelbarem Material, komplexe Aufbereitungsverfahren sowie fehlende Absatzmärkte verursachen eine nachteilige Marktsituation. Das Potenzial von Recycling wird in der Bauwirtschaft dennoch zunehmend erkannt.¶ Auf der kommunalen Ebene sind es entsprechend nur wenige Pilotprojekte, die bislang umgesetzt wurden. 2013 entstand das Kunstmuseum in Ravensburg aus wiederverwerteten Ziegeln und erhielt – laut Architekt Arno Lederer – gestalterisch dadurch seinen »ganz eigenen Reiz«. Häufiger als bei Neubauvorhaben kommt der Recyclinggedanke dagegen bei der Sanierung historischer Gebäude zum Einsatz. Zumindest bei Denkmalen kommen authentische Baustoffe bei einer Sanierung prioritär zum Einsatz. Die Bayerische Staatskanzlei fördert beispielsweise über die LEADER-Förderrichtlinie für den Zeitraum 2014 bis 2020/23 die Verwendung historischer Baustoffe bei Projekten.9

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Verwertbare und nicht verwertbare Stoffe Die Wiederverwertung von Baustoffen hat eine jahrhundertealte Tradition. Bis ins frühe 20. Jahrhundert wurde Baumaterial aus zerstörten Gebäuden selbstverständlich wiederverwendet und auch der Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte erfolgte vielfach aus Trümmern. Doch mit sich verändernden Baumaterialien wandelt sich auch die Wiederverwertbarkeit. Viele der im letzten Jahrhundert verwendeten Baustoffe werden mittlerweile als umwelt- und gesundheitsgefährdend eingestuft. Insbesondere der Umgang mit Asbest, das seit etwa 1930 in einer Vielzahl von Produkten eingesetzt wurde und seit 1993 verboten ist, wird bei Abbruch oder Sanierung von Bestandsgebäuden zu einer großen Herausforderung. Laut Umweltbundesamt wurden zwischen 1950 und 1985 etwa 4,4 Mio. Tonnen Asbest verbraucht, eine Vielzahl von Gebäuden wurde unter Verwendung von asbesthaltigen Baustoffen erbaut bzw. saniert. 3.000 bis 5.000 unterschiedliche Produkte kamen dabei zum Einsatz. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass bei allen vor dem Jahr 2000 erstellten oder sanierten Gebäuden Baumaterialien aus alter Mineralwolle eingesetzt wurden, aus denen bei Eingriffen krebserzeugende Faserstäube freigesetzt werden. Auch künstliche Materialfasern (KFM) – beispielsweise das krebserzeugende PCP – wurden lange Zeit als Holzkonservierungsmittel verwendet und erschweren heute den Recyclingprozess. Das BMUB listet in seinem Leitfaden »Nachhaltiges Bauen« weitere gesundheitsgefährdende Baustoffe auf, unter ihnen beispielsweise Blei, das häufig für Trinkwasserrohre zwischen 1920 und 1949 zum Einsatz kam.¶Auch heute noch werden die Schadstoffinhalte eines neuen Produkts vor der Vermarktung oft nicht ausreichend bewertet, sodass sowohl ihre gesundheitsgefährdende Wirkung als auch ihre spätere Recycelbarkeit unklar sind. Seitens der Bauindustrie sollte noch stärker auf die Rückbaufreundlichkeit und Produktkennzeichnung der Systeme geachtet werden, damit das Recyceln von Baustoffen in Zukunft leichter möglich ist. Vor allem die aktuell stark zum Einsatz kommenden Wärmedämmverbundsysteme (WDVS) gelten bislang noch als nicht recycelbar. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie »Rückbau, Recycling und Verwertung von WDVS« vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik und dem Forschungsinstitut für Wärmeschutz e. V. Neue Erkenntnisse werden in diesem Zusammenhang zwar von einem 2017 gestarteten europaweiten Projekt erwartet, bei dem aus Polystyroldämmstoff hochwertige Rezyklate entstehen sollen, doch werden die Ergebnisse nicht automatisch auf alle Dämmstoffarten übertragbar sein.¶ Gut wiederverwertbar ist dagegen Holz. Auch Materialien wie Metalle und Stahl, die für Haustechnik verwendet werden, lassen sich verwerten. Während ein Gebäude mehrere Sanierungszyklen durchläuft und viele Hundert Jahre Bestand haben kann, umfasst der Lebenszyklus der Haustechnik in der Regel nur ca. 20 Jahre. Voraussetzung für die Wiederverwendbarkeit ist, dass die verbaute Haustechnik von der Gebäudesubstanz separiert werden kann, also keine Verschmelzung von Haustechnik und Gebäudekonstruktion erfolgt ist. Aktuell ist der gegenläufige Trend zu beobachten. In diesem Zusammenhang tragen Planer und Bauwirtschaft heute Verantwortung. Dekorative Ausstattungselemente wie Badfliesen geraten nach ca. 20 bis 25 Jahren im Zuge von Renovierungen zurück in den Stoffkreislauf. Sie lassen sich bei sachgerechtem Rückbau problemlos wiederverwenden. Originale Badfliesen aus früheren Zeiten professionell aufzubewahren, ermöglicht den Erhalt authentischer Innenausstattungen im historischen Bestand. Ein Fliesenhandel in Hamburg kauft entsprechend alte Restbestände nach Betriebsschließungen und macht mit dieser Geschäftsidee 3 Mio. Euro Jahresumsatz.¶Historische Baumaterialien nehmen in diesem Zusammenhang ohnehin eine Vorreiterrolle ein. Für einzelne Baustoffe und Bauteile sind bereits Initiativen entstanden, wie das internetgestützte »Archiv historische Dachziegel«, das u. a. vom Bundesverband der deutschen Ziegelindustrie e. V. unterstützt wird. Im Unternehmerverband Historische Baustoffe e. V. haben sich mehrere Anbieter historischer Baustoffe und antiker Baumaterialien zusammengeschlossen und arbeiten bei der Wiederverwendung von Bauteilen eng mit der Denkmalpflege zusammen. Auch Kommunen zeigen in diesem Bereich bereits vereinzelt Engagement. So sammelt und lagert die Weltkulturerbe-Stadt Quedlinburg schon seit Anfang der 1990er-Jahre im Rahmen eines nichtkommerziellen Projektes historische Baustoffe, Fenster und Türen und vermittelt diese auf Antrag an geeignete Sanierungsvorhaben. Das Angebot von Bauteilbörsen richtet sich sowohl an Privatleute als auch an Handwerksbetriebe, Baugesellschaften, Planungsbüros, Abrissunternehmen und Behörden. In Deutschland haben sich seit 2006 mithilfe von Fördermitteln der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) elf Bauteilbörsen gegründet. Fünf der bestehenden Bauteilbörsen haben sich im Bauteilnetz Deutschland zusammengeschlossen und bieten Bauteile online an. In Österreich wurde das Projektkonsortium BauKarussell für die Wiederverwendung von Baustoffen im großmaßstäblichen Bereich mit dem Wiener Umweltpreis 2018 ausgezeichnet. Zusammen mit Bauträgern und Projektent- wicklern konnten anhand eines umweltschonenden Rückbaus zweier Gebäude in Wien 450 Tonnen Abfälle vermieden werden. 171 Tonnen Störstoffe wurden entfernt, weitere 74 Tonnen Abfälle konnten sortenrein getrennt einem Recycling zugeführt werden. Gleichzeitig werden dabei Arbeitskräfte aus sozialwirtschaftlichen Unternehmen qualifiziert.¶Entsprechende Geschäftsmodelle verdeutlichen, wie die Inanspruchnahme von Primärrohstoffen reduziert und eine nachhaltige Entwicklung gefördert werden können. Dennoch sind sie aktuell noch Nischenphänomene. Wichtig ist, dass diese Ansätze an Bedeutung gewinnen und sich auf dem breiten Absatzmarkt etablieren, da sie in besonderem Maße die baukulturelle Wertschätzung mit der Kreislaufwirtschaft verbinden. Wichtig für die perspektivische Wiedernutzung von Baumaterialien wäre auch die bundesweite Bestandserfassung in einem Ressourcenkataster, das quantitativ und qualitativ den Bestand der gebundenen Materialien erfasst. So können die Zeiträume für die Verfügbarkeit der verbauten Materialien sowie der damit verbundenen Abfallströme bzw. der Verwertung abgeschätzt werden. Diese Datengrundlage ist notwendig, um die Möglichkeiten der Kreislaufführung zu verbessern. Gegenwärtig wird im Auftrag des Umweltbundesamts ein Modell zur Kartierung des anthropogenen Lagers erarbeitet. Die Datengrundlage soll u. a. Angaben über die Verweilzeit bestimmter Materialien in unterschiedlichen Sektoren […] beinhalten.10

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Nachhaltiges Bauen Das Bauen in Städten und Ballungsräumen gehört zu den größten Ressourcenverbrauchern. Allein 60 % des weltweiten Materialverbrauchs, 50 % des Abfallaufkommens sowie jeweils35 % des Energieverbrauchs undderEmissionen werden von Bauaktivitäten verursacht. Anhaltende Urbanisierungsprozesse und wirtschaftliches Wachstum führen zu weiter steigenden Bedarfen an Rohstoffen. In Deutschland werden jährlich 517 Mio. Tonnen an mineralischen Rohstoffen – Metalle, Industrieminerale, Steine und Erden – verbaut, 90 % der entnommenen mineralischen Rohstoffe werden allein im Baubereich eingesetzt. Die gegenwärtig steigenden Bauaktivitäten ziehen insbesondere in Großstädten einen erhöhten Rohstoffbedarf nach sich. Der weltweiten Verknappung der Rohstoffe wie etwa Kupfer und Sand wird in diesem Zusammenhang kaum Beachtung geschenkt, wenn vor Ort in den Kommunen dringender Bedarf an kurzfristig umzusetzenden Neubauvorhaben besteht. Auf städtebaulicher Ebene trägt vor allem der Bau von Mehrfamilienhäusern bei gleichzeitiger Reduzierung des Neubaus von Ein- und Zweifamilienhäusern zu einer nachhaltigen Bauweise bei. Auf Gebäudeebene zählt immer noch die Umnutzung vorhandener Bausubstanz mit zu den effektivsten Maßnahmen im Sinne der Ressourcenschonung. Lässt sich Neubau nicht vermeiden, sollte auf eine möglichst lange Nutzung des Gebäudes hingewirkt werden. Die Langlebigkeit der verbauten Materialien und die Anpassungsfähigkeit der Gebäudestruktur an sich ändernde Bedarfe sind in diesem Zusammenhang wichtige Stellschrauben. Zudem bietet das »Triple-ZeroPrinzip« von Prof. Dr. Werner Sobek Orientierung für einen konsequent nachhaltigen Ansatz: Gebäude und Stadtquartiere sind so zu errichten, dass nicht mehr Energie verbraucht als aus erneuerbaren Energien erzeugt wird (Zero Energy), keine CO2-Emissionen entstehen (Zero Emission) und ein vollständiges Recycling möglich ist (Zero Waste).¶Einen weiteren Ansatz verfolgt die Block Research Group (ETH Zürich). Ihr Forschungsschwerpunkt sind Tragkonstruktionen, bei denen der Materialeinsatz auf ein Minimum reduziert werden kann. Sakralbauten aus der Gotik und traditionelle Bauweisen unter Einsatz lokaler Materialien dienen dabei als Vorbilder.¶Eine nachhaltige, ressourcensparende Bauweise kann auch durch eine stärkere Verwendung von Holz als Baustoff gefördert werden. Allgemein gewinnt das Thema »Holzbau« in Deutschland an Bedeutung. 2016 hat sich die Holzbauquote bei Neugenehmigungen von Mehrfamilienhäusern von 2,3 % auf 4 % fast verdoppelt. Zum Vergleich: In der Schweiz lag die Holzbauquote von Mehrfamilienhäusern im gleichen Jahr bei 10,3 %. Einerseits gilt Holz aufgrund seiner Speicherfähigkeit von Kohlenstoff bei nachhaltiger Bewirtschaftung als klimaneutral. Andererseits kann Holz als nachwachsender Rohstoff solche Baustoffe, die aus endlichen Ressourcen hergestellt werden, ersetzen. In der 2013 veröffentlichten Studie »Vergleichende Ökobilanzbetrachtung und Lebenszyklusanalyse mit erweiterten Betrachtungen« der TU Darmstadt wurde das Potenzial von Holzleichtbauweisen gegenüber einer Massivbauweise hinsichtlich der Klimaschutzziele Deutschlands erkennbar. Holzleichtbauweisen können den CO2-Ausstoß massiv reduzieren. Die Bundesregierung erarbeitet im Programm ProgRess und der Weiterentwicklung ProgRess II Gestaltungsansätze u. a. zur Stärkung des Einsatzes von Bauprodukten aus nachwachsenden Rohstoffen sowie dem Rückbau nicht länger nutzbarer Gebäude zur Rückgewinnung von Baustoffen. In der Förderinitiative ZukunftBau werden im Projekt »Runder Tisch Nachhaltiges Bauen« Lösungen für eine stärkere Berücksichtigung der Rückbau- und Recyclingfreundlichkeit von Gebäuden mithilfe des Bewertungssystems Nachhaltiges Bauen (BNB) erarbeitet. Des Weiteren liegt ein Leitfaden des BMUB für nachhaltiges Bauen vor, in dem eine ressourcenleichte Bauweise vorgestellt wird. Seit 2013 ist der Leitfaden für das BMUB verbindlich, für Länder und Kommunen hat er empfehlenden Charakter. Er richtet sich zur Orientierung aber gleichermaßen an die Privatwirtschaft.¶Die bayerischen Umweltrichtlinien sehen die Berücksichtigung des Baustoffs Holz bei allen Planungsüberlegungen vor. Das Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr und das Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten haben gemeinsam die Broschüre »Holz – zeitlos schön« herausgegeben, um mit Beispielen für den Baustoff zu werben. Das Finanzamt in GarmischPartenkirchen, ein Studentenwohnheim in Herrsching bei München und viele weitere Objekte verdeutlichen den Gestaltungsspielraum, den der Baustoff nicht nur in ländlichen Regionen, sondern auch im städtischen Kontext für die Architektur eröffnet. Auch bei Nachverdichtungsmaßnahmen im Bestand kann Holz eine Rolle spielen. Zwei überzeugende Beispiele dafür finden sich bei Wohnanlagen der 1950er-Jahre in Hamburg-Alsterdorf (Fertigstellung 2010) und in München am Innsbrucker Ring (Fertigstellung 2012).11

Die befragten Kommunen beurteilen den baukulturellen Wert von Bauvorhaben, die nach 1990 in ihrer Stadt entstanden sind, eher kritisch. Knapp ein Drittel meint, der baukulturelle Wert sei (eher) hoch, 69 % meinen, der baukulturelle Wert sei (eher) gering.

Neubau im historischen Kontext Qualität Ein qualitätsvolles Weiterbauen der Städte und Gemeinden setzt das Bauen an integrierten Standorten voraus. Qualitäten entstehen, wenn sich Bauvorhaben als neue Zeitschicht sinnvoll, bereichernd, bedarfs- und nutzergerecht in die vorhandene Stadtstruktur einbetten.¶Auf städtebaulicher Ebene hat der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl das Qualitätsmerkmal einer »Stadt des Blickkontakts« benannt. Maßstäblichkeit, angenehme klimatische Bedingungen und positive Sinneseindrücke zählen ebenso dazu wie Sehenswürdiges, Orte für Kommunikation, Sitzgelegenheiten oder auch der Schutz vor Verkehr und Unfällen. Auf Objektebene reagieren gute innerstädtische Neubauvorhaben auf ihr städtebauliches Umfeld und nehmen Verbindung auf zur bereits vorhandenen Bebauung. Dies gilt in besonderem Maße für historisch sensible Lagen. Hier sind Bezüge zur Siedlungsgeschichte, zu regionalen Bautraditionen und Baustoffen sowie die Orientierung an der Maßstäblichkeit der vorhandenen Bebauung wichtige Ansatzpunkte, um dem »Genius Loci« gerecht zu werden. Die vom Bund berufene Expertengruppe Städtebaulicher Denkmalschutz hat diesbezüglich wichtige Indikatoren benannt, wie Neubauvorhaben verträglich in die Umgebung eingepasst werden können. Sie weist u. a. im Positionspapier von 2015 darauf hin, dass die Berücksichtigung lokaler Bautraditionen und eine gründliche

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Auseinandersetzung mit dem stadträumlichen Kontext erfolgen müssen. Das Land Brandenburg hat für Immobilieneigentümer und Bauherren speziell in kleinen Städten und Gemeinden eine »Checkliste Baukultur« entwickelt, die u. a. gestalterische Aspekte wie ortstypische Baumaterialien, gesunde Bauprodukte, die Maßstäblichkeit sowie die Berücksichtigung der ortstypischen Farbgebung bei geplanten Bauvorhaben abfragt. Eine Hilfestellung für Gemeinden leisten auch Gestaltungssatzungen, in denen die äußere Gestaltung bestehender oder neuer Bauwerke in vorwiegend historischem Umfeld festgelegt ist. Gestaltungssatzungen sind Teil des Bauordnungsrechts und werden in der jeweiligen Landesbauordnung geregelt oder in städtebauliche Planungsinstrumente integriert. Aufgabe von Bauherren ist es, eine Formensprache und Gestaltung zu finden, die in den Bestand integrierbar ist. In diesem Sinne hat die Stadt Güstrow 2017 mit dem jährlich ausgelobten Bauherrenpreis für vorbildhafte Sanierungen in der Altstadt erstmals auch einen Neubau mit Wohnungen für Senioren prämiert, der nach Einschätzung der Jury durch qualitätsvolle und selbstbewusste Architektur überzeugt, ohne dabei »aufzutrumpfen«.¶ Über regionaltypische Baustoffe, passende Proportionen oder Dachformen lassen sich zahlreiche Bezüge zum städtebaulichen Kontext herstellen. Neubauten erhalten dadurch nicht unweigerlich ein traditionelles Erscheinungsbild. Auch mit modernen Gestaltungselementen lassen sich Bautraditionen zitieren. Das neue Kunstmuseum in Ahrenshoop erinnert beispielsweise nur mit seiner Kubatur an die prägenden Reetdachhäuser in Küstenregionen. Die Fassade aus Metall spricht dagegen eine rein moderne Architektursprache. Das Landesmuseum am Domplatz in Münster besticht wiederum durch eine moderne Kubatur mit spitzer Gebäudekante und zurückspringenden Vorplätzen. Als Baustoff kommt der ortstypische beigegraue Sandstein in Kombination mit hellen Beton- und Putzflächen zum Einsatz, sodass sich der Neubau gut in das historisch bedeutende Umfeld einfügt. Die in Lutherstadt Wittenberg 2013 in einer Baulücke errichtete Erweiterung des Melanchthonhauses korrespondiert über einen modern gestalteten Schaugiebel einschließlich eines niedrigen Satteldachs mit Bauelementen der Nachbarbebauung. Das Mauerwerk vermeidet bewusst die Konkurrenz mit den historisch wertvollen Putzfassaden der angrenzenden Gebäude. Auch in Iphofen gelingt die Integration neuer Gebäude in den historischen Stadtkern über Baustoffe und Bauformen, die Bezüge zur Nachbarschaft aufweisen.¶Wie wichtig auch der Bevölkerung die qualitätsvolle Gestaltung von Neubauten im historischen Umfeld ist, zeigt u. a. die Gemeinschaft zur Förderung Regionaler Baukultur e. V. Hier haben sich bundesweit engagierte Bürger mit Fachleuten zu einem Netzwerk zusammengeschlossen. Ziel ist es, auf Kreisebene Bürger und Politiker, Bauherren, Architekten, Handwerker und Bauträger bei stadtbildprägenden Projekten für das ortsspezifische Bauen im historischen Kontext zu sensibilisieren.12 Rekonstruktion Die Bedeutung von historischen Gebäuden für ein attraktives, identitätsstiftendes Stadtbild zeigt sich auch an der vielerorts getroffenen politischen Entscheidung, Neubaumaßnahmen als Rekonstruktion umzusetzen. Spätestens seit dem Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte prägen bundesweit zahlreiche wiederhergestellte Gebäude die Stadtbilder […]. Sie sind heute selbstverständliche und touristisch nachgefragte Teile des Stadtbildes.¶Es gibt unterschiedliche Motive in den Städten und Gemeinden, sich für eine Rekonstruktion zu entscheiden. Manche Städte verfolgen mit einer nach historischem Vorbild wiedererrichteten Fassade das Ziel, ein weitestgehend intaktes historisches Stadtbild zu wahren und störend wirkende Gestaltungselemente zu vermeiden. Andernorts geht es nicht um die Bewahrung eines intakten Stadtbildes, sondern vielmehr um die Wiederherstellung von ehemals identitätsstiftenden Bauwerken. Das rekonstruierte Knochenhaueramtshaus in Hildesheim aus den 1990er-Jahren oder auch der Wiederaufbau des Schlosses Herrenhausen in Hannover 2008 sind in diesem Zusammenhang Beispiele.¶Vielen Rekonstruktionen ist gemeinsam, dass sie nur äußerlich ein historisches Erscheinungsbild widerspiegeln und mit ihren Fassaden ehemalige Stadträume nachbilden. Die innere Konstruktion der Gebäude, die Raumabfolgen und die Haustechnik entsprechen meist heutigen Vorstellungen, Technologien und Regularien. Das macht sie zu nicht authentischen Bauwerken, die in der Fachwelt umstritten sind. Dabei gehen die Meinungen auseinander, ob Rekonstruktionen nur aufgrund von authentischen Relikten oder schon aufgrund präziser Baudokumentationen legitimiert sind. Aktuell spürt Frankfurt mit dem RömerNeubau seinen städtischen Wurzeln nach, mit Akribie und bewundernswerter handwerklicher Sorgfalt. Stadtgesellschaft und Gäste sind von dem Ergebnis überzeugt. Dabei gerät in Vergessenheit, dass mit dem Technischen Rathaus von 1970 zuvor an dieser Stelle ein bedeutendes Bauwerk der Nachkriegsmoderne abgerissen wurde. Rekonstruktionswünsche begründen sich also offensichtlich auf Zeitschichten, handwerkliche Solidität, Kleinteiligkeit und eine Mischung aktuell mehrheitlich empfundener Schönheit. Für die Identität einer Stadt kann auch die Wiederherstellung einer Zeitschicht wichtig sein. Grundsätzlich ist die Weiterentwicklung authentischer Stadtbilder, die die Anliegen von Baukultur berücksichtigt und historische Kulissen vermeidet, eine zentrale Aufgabe der Stadtplanung.¶Die Entscheidung zwischen der Rekonstruktion einer verloren gegangenen Zeitschicht und einer modern gestalteten Lösung kann nur ortsspezifisch und unter Einbeziehung der Bürgerschaft getroffen werden. Ziel von Baukultur ist es, möglichst viele Zeitschichten in den Städten zu bewahren und durch gute Gestaltung öffentlicher Räume miteinander zu verbinden. So entstehen lebendige Orte, die über viele Jahrhunderte gewachsen sind und diese lange EntStadtreparatur wicklungszeit auch veranschaulichen.13 Rekonstruktionen beziehen sich nicht nur auf die detailgetreue Wiederherstellung einzelner Gebäude, sondern auch auf die Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses. Beim Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte wurde dieses Prinzip ebenfalls bundesweit angewandt. Der Prinzipalmarkt in Münster, der in den 1950er-Jahren nach historischem Vorbild mit vereinfachten Bauformen nachgebildet wurde, ist heute noch beispielgebend für einen rekonstruierten Stadtraum. Nur wenige Städte wie Hannover entschieden sich für teilweise neue Pläne im Sinne der autogerechten Stadt. Mittlerweile werden die überdimensionierten Verkehrsräume wieder zurückgebaut.¶Wenn Stadtreparatur erfolgt, wird meist der mittelalterliche

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Stadtgrundriss zum Vorbild genommen. Im Städtebauförderungsprogramm Städtebaulicher Denkmalschutz bildet die Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses einen eigenen Fördergegenstand. In der UNESCO-Welterbestadt Lübeck werden derzeit in der Altstadt beispielsweise zwei Blöcke neu bebaut. Die neuen Wohn- und Geschäftshäuser folgen mit ihren Baufluchten und in ihrer Parzellierung dem historischen Stadtgrundriss. Auch die giebelständige Dachlandschaft lehnt sich an historische Vorbilder an. Die Fassaden stehen dagegen für zeitgenössisches Bauen. Auch außerhalb des Programms zeigen aktuelle Vorhaben wie die Errichtung der »neuen Altstadt« am Römerberg in Frankfurt am Main, dass der historische Stadtgrundriss und seine Qualitäten eine neue Wertschätzung erfahren.¶Vor allem wenn mit der Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses jüngere Zeitschichten verloren gehen, mit denen sich einige Bevölkerungsgruppen bereits identifizieren, werden solche Stadtreparaturen kontrovers diskutiert. So wurde in Berlin viele Jahre über die geplante Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses zwischen Rotem Rathaus und Alexanderplatz diskutiert. Letztendlich fiel die Entscheidung gegen eine Bebauung auf alter Parzellenstruktur und für den Erhalt des öffentlichen Raums, der durch die einstige DDR-Moderne charakterisiert wird. In vielen Städten, deren historischer Stadtgrundriss in der Nachkriegszeit überformt wurde, stellt sich die Frage, welches die prägende Zeitschicht ist, die es zu erhalten oder aber wiederherzustellen gilt. Diese ortsspezifischen Debatten über die verschiedenen Zeitschichten einer Stadt und ihre Bedeutung für die lokale Identität sind wichtig, damit fachliche Expertise ebenso wie der Wunsch der Bevölkerung in die Weiterentwicklung der Städte einfließen kann. Dazu gehört eine kritische Auseinandersetzung mit den Qualitäten vergangener Leitbilder und Vorstellungen ebenso wie mit den negativen Wirkungen einzelner Zeitschichten und Überformungen. Nicht alles muss erhalten bleiben. Sprechen städtebauliche oder gestalterische Gründe gegen den Erhalt einer Zeitschicht, ist Veränderung wichtig und konstruktiv.14

Erfolgreiche Prozesse gestalten Die Zukunft unserer gebauten Umwelt ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die stetig neu zu definieren und zu gestalten ist. In weiten Teilen sind Prozesse im Baugeschehen reglementiert und gesetzt. Der Erfolgsfaktor Baukultur beruht jedoch auf einem offenen und lösungsorientierten Planungsablauf, bei dem alle Akteure der Baukultur sowie Nutzer beteiligt sind. Für eine gut gestaltete Bestandsentwicklung sind insbesondere eine sorgfältige Planungs-»Phase Null« wie auch ein aktiver Betrieb in der »Phase Zehn« von Bedeutung. Verantwortungsvolle Boden- und Liegenschaftspolitik etablieren! Grund und Boden ist ein nicht vermehrbares Gut von außerordentlicher gesellschaftlicher und politischer Bedeutung. Kommunaler Grund- und Bodenbesitz bildet daher die Basis stadtplanerischer Entwicklungen für das Gemeinwohl. Gemeinsam baukulturelle Werte sichern! Für die zukunftsweisende Weiterentwicklung der gebauten Umwelt bedarf es Allianzen auf allen Ebenen und Fachrichtungen. Um für komplexe Fragestellungen und Prozesse Lösungen zu finden, braucht es individuelle Expertisen und Betrachtungsweisen. Gestaltungsinstrumente verankern! Föderale Strukturen und ein heterogener Gebäudebestand machen einen verständlichen Maßnahmenkatalog zur Umbaukultur notwendig. Auf allen Ebenen sind gut funktionierende Instrumente ausfindig zu machen und umzusetzen.15 Von Phase Zehn zu Phase Null Betrieb mitdenken: Phase Zehn Dem Prinzip eines Nutzungskreislaufs entsprechend schließt sich nach Realisierung eines Bauvorhabens eine ergänzende Phase Zehn an: eine bestenfalls sehr lange Zeit des Betriebs durch Nutzung und Unterhaltung des Bauwerks. Für einen erfolgreichen Betrieb gehören Instandhaltung, regelmäßige Sanierungen und bauliche Anpassungen zum Tagesgeschäft. Vor allem für Kommunen ergibt sich damit ein umfangreiches Aufgabenspektrum im Bereich der Bestandsentwicklung. Die Landeshauptstadt Hannover hat beispielsweise ein Portfolio von 471 Liegenschaften mit über 1 Mio. m2 Nettogeschossfläche zu verwalten und instand zu halten. Da öffentliche Bestandsimmobilien regelmäßig an neue Anforderungen – beispielsweise in den Bereichen Klimaschutz, Barrierefreiheit und Inklusion – angepasst werden müssen, muss regelmäßig investiert werden. Viele Kommunen lagern die Verwaltung ihrer Bestände auch in kommunale Unternehmen aus. Die 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Ebd., S. 113. Ebd., S. 142 f. Ebd., S. 114 – 116. Ebd., S. 116 – 117. Ebd., S. 117 – 120. Ebd., S. 120 – 122. Ebd., S. 122 – 123. Ebd., S. 123 – 127. Ebd., S. 127 – 128.

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23 Ebd., S. 128 – 130. 24 Ebd., S. 131. 25 Ebd., S. 131 – 133. 26 Ebd., S. 136 – 137. 27 https://www.salz-suppe.de/alles-wichtige/. Aufgerufen am 08. 05. 2020

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Örtliche Verbundenheit: In dieser Studie wurden unterschiedliche Altersgruppen befragt, ob sie sich mit ihrer Heimat verbunden fühlen. Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach 2018 alle 16 – 19 Jahre 30 – 44 Jahre 45 – 59 Jahre 60+ Jahre

Prozent

0 20 40 60 80 100

Freie und Hansestadt Hamburg hat beispielsweise die Sanierung und Bewirtschaftung von Schulbauten der GMH – Gebäudemanagement Hamburg GmbH – sowie der SBH – Schulbau Hamburg – übertragen. Eine klassische Delegierung ist zudem die Instandhaltung und Verwaltung kommunaler Wohnungsbestände durch kommunale Wohnungsunternehmen. Die Bestandsbewirtschaftung gehört neben der Schaffung von neuem bezahlbarem Wohnraum zu ihren Kernaufgaben. Im Gegensatz zu renditeorientierten Immobilienunternehmen steht bei ihnen der nachhaltige Bestandserhalt im Vordergrund. Es geht nicht allein um das Aufrechterhalten eines Status quo, sondern um die Zukunftsfähigkeit der Bestände durch regelmäßige Aufwertungsmaßnahmen – auch über die betriebliche Abschreibung von Gebäuden hinaus. Wie eine Untersuchung der Scope Ratings AG im Jahre 2015 ergab, investierten öffentliche Wohnungsunternehmen dafür kontinuierlich mehr in den Gebäudebestand als private Unternehmen – im Schnitt jährlich 6 Euro mehr pro Quadratmeter. Bundesweit wurden 2015 Bauleistungen in Höhe von rund 131 Mrd. Euro durch Wohnungsunternehmen an bestehenden Gebäuden getätigt. Zum Vergleich: 36 Mrd. Euro flossen in den Neubau von Ein- und Zweifamilienhäusern, 22 Mrd. Euro in den Neubau von Geschosswohnungen.¶ Wenn sich größere Veränderungen oder neue Rahmenbedingungen wie Leerstand oder Umbaubedarfe für den Bestand ergeben, mündet die Phase Zehn wieder in die Phase Null. Dann müssen erneut die Ausgangslage analysiert und Weiterentwicklungsoptionen identifiziert werden. Das Bauwerk durchläuft den Kreislauf von Planung, Baudurchführung und Betrieb ein weiteres Mal. Damit nicht nur auf Gebäude-, sondern auch auf Quartiersebene durch diesen Kreislauf ein stetiger Mehrwert erwächst, ist ein enger Kontakt zwischen Stadt und Eigentümer in jeder Phase des Planens und Umbauens wichtig. Dies gelingt leichter, wenn die Stadt beispielsweise im Bereich des Wohnens mit eigenen kommunalen Wohnungsunternehmen einen starken Partner an ihrer Seite hat. Doch auch im Bereich des Gewerbes und bei heterogener Eigentümerstruktur ist eine aktive Zusammenarbeit zwischen Stadt und unterschiedlichen Akteuren wichtig. Die vorausschauende Beschäftigung einer Kommune nicht nur mit ihren eigenen Liegenschaften, sondern mit dem gesamten Gebäudebestand ist wesentlich für den Erhalt und die Zukunftsfähigkeit von Bestandsquartieren. Denn nicht Abriss und Ersatzneubau stellen bei veränderter Ausgangslage den Idealfall dar, sondern die kontinuierliche, schrittweise Optimierung der vorhandenen Gebäude und Infrastrukturen.16 Planungsvorlauf Phase Null Am Beginn eines jeden Entwicklungsprozesses steht die Bedarfsermittlung. In Zeiten, da Nachverdichtung immer im Abgleich mit einer klimaangepassten Freiraumentwicklung erfolgen muss, stellt sich zunächst die grundlegende Frage, ob überhaupt gebaut werden soll. Innerhalb des Siedlungszusammenhangs geben in der Regel Flächennutzungsplanung und Bebauungsplan hierüber Auskunft. Doch insbesondere bei größeren Brachflächen sowie bei der Erschließung neuer Baugebiete an den Stadträndern bedarf es einer sorgsamen Abwägung der zukünftigen Bedarfe und der Flächenaufteilung. Möglicherweise weist die Nachbarschaft ein Freiraumdefizit auf, das abgebaut werden kann, wenn auf eine Bebauung verzichtet wird. Eine gute Phase Null nimmt in diesem Sinn unvoreingenommen alle Möglichkeiten in den Blick. Soll das Grundstück bzw. die Brachfläche auch baulich genutzt werden, setzt die Phase Null bei den Bedarfen an, die sich aus der Nachbarschaft ergeben. Die sinnvolle Bebauung eines Grundstücks ergibt sich aus dem Bestandsquartier heraus. Soll eine ausgewogene Mischung im Quartier erhalten bleiben, muss sich das künftige Wohnraumangebot entsprechend in die bestehenden Strukturen einfügen. Ist ein Defizit beispielsweise an Studentenwohnungen trotz Nähe zu Hochschuleinrichtungen erkennbar, sollte das neue Bebauungskonzept dies berücksichtigen. Zeichnet sich ein zunehmendes Alter unter den Einwohnern ab, sind barrierefreie Wohnungen oder betreute Angebote in die Überlegungen einzubeziehen.¶Integrierte Planung setzt damit nicht erst bei der Bauaufgabe und der Beteiligung aller Akteure des Bauens an, sondern erfordert einen vorausschauenden Blick der Kommunen, bevor die eigentliche Bauaufgabe formuliert wird. Dies gelingt nur mit einer aktiven Rolle der Planungsbehörden und einer aktiven Bodenund Liegenschaftspolitik, damit im Zuge der Nachverdichtung die sinnvolle Entwicklung aus dem Bestand heraus Priorität bekommt. Vorbildlich geht in diesem Zusammenhang bereits die Berliner Wohnungsbaugesellschaft Degewo AG vor, die die Phase Null als Teil ihres Neubauprogramms aktiv in Angriff nimmt. Zu Beginn einer jeden Planung wird geprüft, ob an dieser Stelle Bedarf für eine Bebauung besteht oder die Sicherung des Freiraums Vorrang hat. Die grundsätzliche Ermittlung der Bedarfe gestaltet sich dabei vergleichsweise leicht, da das Land Gesellschafter der Degewo ist und gezielt Flächen zur Verfügung stellt. Mehr Überzeugungsarbeit ist dagegen erforderlich, wenn eine Stadt die Entwicklung von Grundstücken mitgestalten will, die nicht in ihrem Besitz sind. Hier ist es Aufgabe der Stadtverwaltung, sich frühzeitig mit dem Grundstückseigentümer über eine Strategie zu verständigen. Gezielt eingesetzte Quartiersmanager können diesen Aufgaben nachkommen. Im Rahmen der Bund-Länder-Programme der Städtebauförderung kommt das Quartiersmanagement eher kleinräumig auf Ebene der Programmgebiete zum Einsatz. Im KfW-Programm »Energetische Stadtsanierung« wird ein Sanierungsmanager gefördert, der sich ausschließlich um die Umsetzung von Maßnahmen des energetischen Quartierskonzepts kümmert. Darüber hinaus sollten sich aber vor allem die wachsenden Städte mit Blick auf die aktuellen Neubaubedarfe ein Quartiersmanagement in ihren Verwaltungen oder Wohnungsunternehmen leisten, das die Flächen- und Nutzungsbedarfe auf Quartiersebene identifiziert und zur Grundlage für die weitere Entwicklung macht.¶Im Ergebnis einer sorgsamen Phase Null steht die Entscheidung, ob und in welchem Umfang sich ein ausgewählter Standort für zukünftige Bauvorhaben eignet. Auch technische Voruntersuchungen, Wettbewerbe und Machbarkeitsstudien können in diesem Sinne eine gute Phase Null unterstützen. Im Ideenwettbewerb für den Neubau der Kammerspiele in Ingolstadt […] konnte sich die Jury mit den Wirkungen eines Neubaus an unterschiedlichen Stellen auseinandersetzen […]. Im Unterschied zu den üblichen Phasen der HOAI, die mit der Phase Eins, der Grundlagenermittlung für konkrete Bauvorhaben, beginnt, ist die Phase Null noch frei und uneingeschränkt im Hinblick auf zu treffende Planungsentscheidungen. Das erweitert die Verantwortung und erforderlichen Kompetenzen der planenden Berufe erheblich.17

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Mitwirkung schafft Sicherheit Baukultur als Ergebnis vorlaufender Planung kann nur auf Grundlage eines umfassenden integrierten Prozesses gelingen. Unabhängig von der Baugröße können Neubauvorhaben heute nicht mehr ohne eine umfassende Beteiligung verschiedener Akteursgruppen in Angriff genommen werden. Setzen herkömmliche Beteiligungsformate im Rahmen der Bauleitplanung erst an, wenn das Konzept für ein Bauvorhaben bereits erarbeitet wurde, beginnt die Beteiligung in der Phase Null deutlich früher. Beispielhaft ist hier u. a. die Stadt Braunschweig vorgegangen. Sie hat die Bevölkerung mit in ihre strategischen Überlegungen eingebunden, wie und wo sich die Stadt in Zukunft entwickeln soll. Mehrere Expertengruppen und Bürgerwerkstätten bildeten zentrale Bausteine für das Integrierte Stadtentwicklungskonzept. In der Expertengruppe »Flächenentwicklung« wurden Nachverdichtungspotenziale innerhalb der Stadt identifiziert, die auf Bürgerwerkstätten zur Diskussion gestellt wurden. So konnte die Bevölkerung bereits vor Beginn potenzieller Nachverdichtungsprojekte eigene Vorstellungen artikulieren und beispielsweise auf die notwendige Entwicklung von Erholungsflächen hinweisen. Entwicklungspotenziale und Bedürfnisse der Bevölkerung lassen sich in solch einem Verfahren gut in Einklang bringen. Im Ergebnis lassen sich klare Planungsziele ableiten, die Anwohnerbedarfe berücksichtigen, gleichzeitig sind bei Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Nutzergruppen nachvollziehbare Entscheidungen zugunsten oder auch zulasten einzelner Gruppen möglich.¶Auch auf Objektebene sind die Planungsergebnisse umso passender und besser, je genauer die Rahmenbedingungen und Nutzerinteressen im Vorfeld ermittelt und verschiedene Akteursgruppen beteiligt werden. Damit einher gehen eine hohe Akzeptanz und Zufriedenheit aller Beteiligten mit den Ergebnissen der Planung. Dieser Gedanke lag auch den Wettbewerben »Schulen planen und bauen« zugrunde, den die Montag Stiftungen in den Jahren 2012 und 2015 ausgelobt haben. Jeweils fünf Schulbauprojekte – sowohl Um- als auch Neubauplanungen – wurden im Rahmen der Wettbewerbe ausgewählt und erhielten für die Durchführung einer Phase Null Fördermittel einschließlich einer professionellen Begleitung durch Schulbauberater-Teams. Ziel der Phase Null war die Entwicklung eines tragfähigen inhaltlichen und räumlichen Konzeptes, das die Effizienz, Bedarfsgerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit des Bauvorhabens gewährleistet. Die interdisziplinären Teams aus einem Architekten und einem Pädagogen unterstützten das fachliche Zusammenspiel zwischen Politik, Verwaltung und Schule bei den Planungen. So wurde beispielsweise in Bremen, wo ein Schulgebäude aus den 1950er-Jahren erweitert werden sollte, gemeinsam mit allen Beteiligten das Raumprogramm des Neubaus erarbeitet und dem pädagogischen Konzept der zukünftigen Schule angepasst. In Wuppertal wurde die Phase Null beim Umbau eines Gymnasiums gefördert, um ein zukunftsfähiges Raumprogramm zu erarbeiten, das neue Ansprüche an Lernbereiche, Pausenräume und Selbstlernorte berücksichtigt. Inzwischen wurde das Raumprogramm für jedes Schulbauprojekt in der Stadt übernommen. Die Dokumentation der Prozesse und Ergebnisse der Pilotprojekte belegt die Bedeutung der Phase Null für eine qualifizierte Projektentwicklung eindrucksvoll, denn für alle Beteiligten haben sich positive Effekte ergeben. Die Schulen profitieren, weil das neue Raumprofil genau auf das pädagogische Konzept abgestimmt ist. Die Bedürfnisse von Lehrern und Schülern sind in die Planung eingeflossen und tragen dazu bei, dass sie sich gerne in der Schule aufhalten und optimale Lernbedingungen vorfinden. Schulträger und Kommune gewinnen durch die hohe Akzeptanz, die sich aus der Berücksichtigung der Bedürfnisse ergibt. Der Bau wird besser behandelt, hat weniger Umbaubedarf und verursacht langfristig weniger Kosten. Darüber hinaus leistet das gute Image des Schulstandorts einen positiven Beitrag zum Gesamtbild des Quartiers und der Stadt.18

Knapp 90 % der befragten Kommunen geben an, den Denkmalstatus von Gebäuden zu erfassen, rund die Hälfte erfasst Nutzungstypen und jeweils etwa ein Drittel die Baualtersklassen, die erhaltenswerte Bausubstanz und den Sanierungsbedarf an Gebäuden. Mit Ausnahme des Denkmalstatus werden die Gebäudeinformationen vor allem von Kommunen der neuen Länder erhoben. Denkmale werden bundesweit in gleicher Weise erfasst.¶ 80 % der befragten Kommunen geben an, dass zur Weiterentwicklung des Bestandes Fördermittel eingesetzt werden. Mit 93 % nehmen am häufigsten die großen Städte ab 100.000 Einwohner eine Unterstützung durch Förderprogramme in Anspruch.¶ Das größte Hemmnis bei der Weiterentwicklung des Bestandes ist nach Auffassung der befragten Kommunen die fehlende Investitionsbereitschaft oder -fähigkeit der Eigentümer – 75 % der Kommunen sehen darin die größte Schwierigkeit. Komplexe Eigentumsverhältnisse werden von knapp 70 % der Befragten genannt.¶ 8 % der befragten Kommunen haben ein Modernisierungs- und Instandsetzungsgebot gegenüber einem privaten Eigentümer ausgesprochen, um eine Sanierung zu bewirken. Wenn das Instrument zur Anwendung kommt, sind es insbesondere die Kommunen in den neuen Ländern, die hiervon Gebrauch machen, und zwar mehrheitlich in kleinen bis mittleren Städten zwischen 20.000 und 50.000 Einwohner.

Verantwortung für den Bestand Bestandserfassung und Bestandspflege Bestandserhebungen und Instrumente zur Beobachtung von Entwicklungen sind unerlässlich, wenn Negativtrends vermieden oder behoben werden sollen. Den Gebäudebestand nach verschiedenen Aspekten zu erfassen und zu differenzieren versetzt Kommunen in die Lage, Anforderungen an die weitere Entwicklung einschließlich der hierfür geeigneten Planungsmethoden zu identifizieren.¶Es gibt vor allem im Bereich der Förderung von Bund und Ländern bestimmte Erhebungen im Bestand, die zur Fördervoraussetzung gemacht werden. Der Denkmalstatus sowie das Vorhandensein erhaltenswerter Bausubstanz begründen beispielsweise die Fördervoraussetzung im Programm »Effizienzhaus Denkmal« der KfW. Fördermittel für ein Gebäude werden nur bewilligt, wenn dem Antrag eine Bescheinigung der jeweiligen Kommune beigefügt wird, die den Denkmalwert bzw. die Einstufung als besonders erhaltenswerte Bausubstanz bestätigt. In Rheinland-Pfalz und anderen Bundesländern sind konzeptionelle und planerische Vorbereitungen, u. a. im Hinblick auf die städtebaulichen Missstände sowie die Sanierungs- und Entwicklungsziele, eine Fördervoraussetzung. Als Grundlage dienen entsprechende Erhebungen zum Zustand der Gebäudesubstanz und zum Sanierungsbedarf. Da Fördermittel laut Kommunalumfrage einen großen Einfluss auf die Weiterentwicklung des Bestandes haben, nehmen die unterschiedlichen Programme von Bund und Ländern direkten Einfluss auf die Datenlage, die in den Kommunen erhoben wird.¶Die Schlussfolgerungen, die aus der Beobachtung des Gebäudebestands in den Kommunen gezogen werden, sind unterschiedlich. Um beispielsweise städtebauliche Missstände und einen erkennbaren Sanierungsstau abzubauen, haben Kommunen mit dem §142 BauGB die Möglichkeit, für ein bestimmtes Gebiet eine Sanierungssatzung zu beschließen. Ziel eines umfassenden Sanierungsverfahrens sind erhebliche Verbesserungen im Gebiet einschließlich Bodenwertsteigerungen, die nach Durchführung der städtebaulichen Gesamtmaßnahme von der Gemeinde als Ausgleichsbeträge abgeschöpft werden, u. a. für den Sanierungsaufwand für Straßen, Wege und Plätze. Bei einem einfachen Sanierungsverfahren sind nur leichte Bodenwertsteigerungen zu erwarten. Hier werden keine Wertsteigerungen abgeschöpft, stattdessen aber Erschließungsbeiträge von den Bewohnern erhoben. In beiden

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38 % der befragten Kommunen verfolgen die Strategie des (Zwischen-)Erwerbs von Gebäuden zur Weiterentwicklung des Bestandes. Um Anreize für Investoren zu schaffen, erarbeiten 28 % Nutzungskonzepte für leer stehende Gebäude.

32 % der befragten Kommunen führen ein Leerstandskataster, vor allem kleine und mittlere Kommunen bis 50.000 Einwohner machen von diesem Instrument Gebrauch. 13 % geben an, eine Immobilienbörse eingerichtet zu haben.¶ 60 % der befragten Kommunen führen ein Baulückenkataster, ein Flächenmonitoring betreibt knapp jede dritte Kommune. Während das Baulückenkataster in allen Gemeindegrößen zur Anwendung kommt, nimmt das Flächenmonitoring mit zunehmender Einwohnerzahl zu.¶ Nur 5 % der befragten Kommunen haben kommunale Unterstützungsangebote für private Bauherren geschaffen, um die Innenentwicklung zu befördern. Am häufigsten finden sich noch in großen Städten über 100.000 Einwohner entsprechende Angebote.

Verfahren bestehen für private Eigentümer steuerliche Anreize nach §7 EstG, in die Sanierung ihrer Gebäude zu investieren.¶Trotz steuerlicher Anreize passiert es, dass Eigentümer notwendige Sanierungsmaßnahmen unterlassen. Gründe hierfür sind fehlende finanzielle Mittel, Generationenwechsel oder auch schwierige Eigentumsverhältnisse beispielsweise durch Eigentümergemeinschaften mit entsprechend hohem Abstimmungsbedarf. Dann steht den Kommunen mit dem Modernisierungs- und Instandsetzungsgebot nach §177 BauGB ein Instrument zur Verfügung, mit dem sie die Sanierung eines Gebäudes erzwingen können. Das Instrument kommt in der kommunalen Praxis jedoch selten zur Anwendung, denn der Eigentümer muss nur die rentablen Kosten der Sanierung tragen. Die Gemeinde trägt die unrentablen Kosten, die im Zuge der Modernisierung und Instandsetzung entstehen. Hiervor schrecken viele Kommunen zurück, insbesondere jene in einer Haushaltsnotlage. Da im Vorfeld eines entsprechenden Gebotes aber eine intensive Kommunikation mit dem Eigentümer die Regel ist, kann häufig auf eine freiwillige, vertragliche Modernisierungsvereinbarung hingewirkt werden. Alternativ kann die Kommune die Übernahme der Immobilie anbieten, um den weiteren Sanierungsprozess aktiv in die Hand zu nehmen.¶ Auch die Übernahme von Gebäuden hat sich vielerorts als effektive Strategie erwiesen, um den Sanierungsprozess und damit den Bestandserhalt und die Bestandspflege aktiv zu steuern. Vor allem, wenn Gebäude über Jahre leer stehen, kann die Kommune mit dem (Zwischen-)Erwerb effektiv dazu beitragen, dass historische und stadtbildprägende Gebäude erhalten bleiben. Wie viele andere Städte auch, hat die schrumpfende Stadt Naumburg gute Erfahrungen mit dem (Zwischen-)Erwerb gemacht. Bereits in den 1990er-Jahren ließ sie leer stehende Immobilien und Grundstücke durch die beauftragte Stadt- und Grundstücksgesellschaft DSK aufkaufen. In den 2000er-Jahren wurde das Altstadtprojekt »Dieses Haus will LEBEN« initiiert. Für zunächst 15 Objekte in kommunalem Eigentum wurden mittels Erstellung einer Vorplanung und Aufbereitung ansprechender Exposés Nutzungsmöglichkeiten für die Gebäude aufgezeigt. 14 Häuser konnten auf diese Weise bereits vermittelt werden. Mit der Kampagne »Dieser Raum will LEBEN« wurden zudem vier innerstädtische Brachflächen für eine Neubebauung verkauft. Vergleichsweise wenige Kommunen haben laut Befragung für die Vermarktung ihrer leer stehenden Gebäude eine Immobilienbörse eingerichtet. Rund 500 Kommunen nutzen deutschlandweit das kommunale Immobilienportal KIP, das nach den jeweiligen Bedürfnissen der Kommune als Standortmarketing- und Stadtentwicklungsinstrument eingesetzt werden kann. Kommunen können zur Bewältigung von Leerstand vor allem bei Denkmalen vielerorts auch auf zivilgesellschaftliche Initiativen sowie die Unterstützung durch die Landesdenkmalämter zurückgreifen. Unter anderem bietet das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege einen Ansprechpartner für verkäufliche Denkmale und stellt darüber hinaus Links zu meist regionalen Denkmalbörsen bereit. Losgelöst vom Denkmalstatus wurde auf regionaler Ebene im Projekt »Innenentwicklung und Ortskernrevitalisierung im Schweinfurter Land« ein vorbildliches Immobilienportal entwickelt. Die Mitgliedsgemeinden vermarkten darauf ihren Bestand an Baulücken, Leerständen oder mit Leerstandsrisiko behafteten Höfen und Wohnhäusern. Unbebaute, aber erschlossene Grundstücke in den dort gelegenen Baugebieten der 1960er- bis 1990erJahre machen mehr als 50 % aller zur Verfügung stehenden Baumöglichkeiten in den Kommunen aus.19 Mobilisierung von Flächenreserven Ein entscheidender Beitrag zu einer verstärkten Innenentwicklung ist die Nutzung von Baulücken und Brachen. Zur Mobilisierung stehen den Kommunen unterschiedliche Instrumente zur Verfügung. Das Erfassen der Flächenreserven bildet auch hier die Basis. Der Status quo wird in Baulückenkatastern sowie einem Flächenmonitoring dokumentiert, wobei das Baulückenkataster weitaus häufiger zur Anwendung kommt als das Flächenmonitoring.¶Das Erfassen der Flächenreserven bereitet idealerweise die Mobilisierung der Flächenpotenziale für eine bauliche oder anderweitige Nutzung vor. Hier sehen sich die Kommunen jedoch zahlreichen Hemmnissen gegenüber, die sich oft nur schwer abbauen lassen. Bestehende Baurechte werden von den Eigentümern nicht genutzt und Flächen bewusst für potenziell gewinnträchtigere Zukunftsbedarfe zurückgehalten. Damit werden die Entwicklungsmöglichkeiten im Bestand nicht ausgeschöpft. Um dem entgegenzuwirken, können Kommunen ein Baugebot aussprechen. Voraussetzung hierfür ist, dass sich das Grundstück im Geltungsbereich eines Bebauungsplans oder innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile befindet. Mit dem Baugebot wird der Eigentümer verpflichtet, sein Grundstück entsprechend dem Bebauungsplan zu bebauen oder ein vorhandenes Gebäude den Festsetzungen anzupassen. Diese Möglichkeit für eine Verpflichtung wird von den Kommunen jedoch nur selten genutzt, denn kommt es im Falle einer anhaltenden Weigerung des Eigentümers zu einem Enteignungsverfahren, muss die Kommune das Grundstück übernehmen und entsprechend bebauen. Hiervor schrecken viele Kommunen zurück, nicht zuletzt wegen der vielerorts gestiegenen Grundstückspreise oder aber wegen Haushaltsrestriktionen, denen Kommunen mit Haushaltsnotlage unterliegen.¶ In diesem Zusammenhang wird aktuell die Idee der Innenentwicklungsmaßnahme (IEM) diskutiert und in einem Planspiel des BBSR getestet. Grundgedanke der Maßnahme ist, ein durchsetzungsstarkes Instrument gegenüber kooperationsunwilligen Eigentümern zu schaffen, das in der Fläche und nicht allein grundstücksbezogen wirkt. Zerstreut verteilte Potenziale an baureifem Land im Innenbereich könnten mit einer IEM-Satzung oder einem IEM-Bebauungsplan belegt werden, sodass sie innerhalb einer bestimmten Frist zu bebauen sind. Das minimiert den Verwaltungsaufwand und erhöht die Effektivität im Vergleich zum Baugebot. Wenn dieser Bauverpflichtung nicht nachgekommen wird, soll der Gemeinde ein aktives Ankaufsrecht eingeräumt werden, um die Entwicklung selbst in die Hand nehmen zu können.¶Es gibt aber auch Instrumente, die weniger rigoros oder verpflichtend wirken, stattdessen aber Anreize für die Innenentwicklung schaffen. Wichtig ist dabei das grundsätzliche Selbstverständnis der Kommune, dass Bestandspolitik eine zentrale Aufgabe ist. Beispielgebend sind in diesem Zusammenhang Orte wie Barnstorf in Niedersachsen, wo ein Grundsatzbeschluss für ein nachhaltiges Flächenmanagement gefasst wurde: Wohn- und Gewerbeflächen sollen nur noch durch Innenentwicklung, Flächenrecycling und Umnutzung gewonnen werden. Ein Baulückenkataster unterstützt die Mobilisierung von Flächenreserven, die kommunale Förderrichtlinie »Leben

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Jede zweite der befragten Kommunen nutzt das kommunale Vorkaufsrecht für die Bestandsentwicklung. Vor allem Mittelstädte zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern machen von ihrem Recht Gebrauch, am seltensten erwerben große Städte ab 100.000 Einwohner unbebaute Grundstücke.¶ Bei unbebauten Grundstücken sehen 50 % der Kommunen eine objektbezogene Renditeorientierung und 40 % der Befragten eine erhöhte Bodenspekulation als Hemmnis für eine Bestandsentwicklung an.

mittendrin« schafft einen finanziellen Anreiz für den Bau oder Erwerb von Gebäuden innerhalb des Ortskerns. Auch die niedersächsische Gemeinde Bispingen hat den Beschluss gefasst, keine neuen Wohngebiete mehr auszuweisen, um das Interesse auf den Altbaubestand zu lenken. Mit dem Projekt »Storchennest« werden die Eigentümer älterer Gebäude und junge Familien, die eine solche Immobilie suchen, zusammengebracht, um ein generationenübergreifendes Zusammenleben und gemeinsame Verantwortungsübernahme für das Gebäude zu initiieren. Mit Blick auf den Ladenleerstand hat die Städtische Wohnungsgesellschaft Bremerhaven mbH (STÄWOG) die Kampagne »Springflut Bremerhaven« entwickelt. Sie schafft Anreize für Gewerbetreibende, indem leer stehende Gewerbeeinheiten in der Fußgängerzone günstig für Pop-up-Läden zur Verfügung gestellt werden.¶Mit einem Landesprogramm fördert Baden-Württemberg die Innenentwicklung von Dörfern und Städten in ländlichen Räumen. Kommunen erhalten eine Förderung bei schwer zu vermarktenden innerörtlichen Flächen, private Haus- und Wohnungsbesitzer werden bei der Sanierung innerörtlicher Bausubstanz aus den 1960er-Jahren und älter finanziell unterstützt. Das landeseigene Förderprogramm »Flächen gewinnen durch Innenentwicklung 2017« unterstützt zudem Konzepte für eine zeitnahe Mobilisierung innerörtlicher Flächen für den Wohnungsbau. Bayern bietet seinen Kommunen in ländlichen Räumen einen kostenlosen, datenbankgestützten Vitalitäts-Check zur Innenentwicklung an. Themen wie zum Beispiel Flächennutzung, Bevölkerungsentwicklung, Versorgung oder Arbeitsmarkt werden erfasst, Innenentwicklungspotenziale identifiziert und Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Solche Unterstützungsangebote vonseiten der Länder sind wichtig, damit Innenentwicklung kein punktuelles Unterfangen bleibt, sondern Aktives Flächenmanagement sich als bundesweite Strategie durchsetzt.20 Kommunaler Bodenbesitz ist ebenfalls die Basis für eine gezielte Steuerung der Nachverdichtung. Beispiele wie die mit dem Bauherrenpreis 2018 ausgezeichnete Parkplatzüberbauung am Münchener Dantebad zeigen, dass Städte im Besitz von Flächen nicht nur vorausschauende Planung betreiben, sondern auch auf kurzfristige Bedarfe reagieren können. Um die kommunale Bodenbevorratung zu erhöhen, steht den Kommunen nach BauGB ein Vorkaufsrecht bei bestimmten Grundstücken zu: im Geltungsbereich eines Bebauungsplans oder eines Bebauungsplans im laufenden Verfahren, in einem Umlegungsgebiet, in einem förmlich festgelegten Sanierungsgebiet, in einem städtebaulichen Entwicklungsbereich, im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung, im Geltungsbereich eines Flächennutzungsplans, der die unbebauten Flächen im Außenbereich als Wohnbaufläche darstellt, oder in §-34-Gebieten, in denen die Grundstücke vorwiegend mit Wohngebäuden bebaut werden können. Damit haben die Kommunen zwar zahlreiche Optionen, in den Besitz von Grundstücken zu gelangen und diese aktiv zu entwickeln, doch halten Verwaltungsaufwand und hohe Grundstückspreise insbesondere in den großen Städten die Kommunen von einem Kauf ab. Die »Bodenpolitische Agenda 2020 – 2030« des Difu und des vhw fordert entsprechend ein preislimitiertes Vorkaufsrecht für Kommunen und ein generelles Vorkaufsrecht auch für Kommunen mit einem Haushaltssicherungskonzept. Zusätzlich soll die Innenentwicklung einen ausreichenden Gemeinwohlgrund zur Ausübung des Vorkaufsrechts begründen.¶Mit einer aktiven Ankaufspolitik zum Aufbau von strategischen Grundstücksreserven übernehmen Kommunen Verantwortung für die Optimierung der Flächennutzung, Bebauung und Gestaltung nach städtebaulichen, sozialen und ökologischen sowie stadtwirtschaftlichen Kriterien. Auch im Fall der Wiederveräußerung steigt der kommunale Einfluss auf geplante Bauvorhaben beträchtlich, wenn die Stadt oder Gemeinde selbst als Eigentümerin agieren kann. Damit bewahrt sie sich die Chance, nicht nur auf die gestalterische Qualität von Vorhaben Einfluss zu nehmen, sondern auch auf die Integrationsfähigkeit im vorhandenen Siedlungsgefüge achtzugeben. Die Unterstützung von Initiativen oder Einzelpersonen, die sich um Erhalt und Weiterentwicklung des Bestands bemühen, ist im Zuge der kommunalen Liegenschaftspolitik u. a. durch die Vergabe der Grundstücke im Erbbaurecht möglich. Voraussetzung ist ein faires Vertragswerk, das die Interessen von Erbbaurechtsnehmern und -gebern berücksichtigt. Dazu zählt beispielsweise ein sozial verträglicher Erbbauzins, der nicht wie aktuell bei 4 – 6 % liegt, sondern beispielsweise bei 2 – 3 %. Für die Kommunen ist das Instrument von Vorteil, da die Flächen dauerhaft im kommunalen Besitz verbleiben. Ebenso lassen sich mithilfe privatrechtlicher Miet-, Erbpacht- oder Pachtverträge zum Grundstück Entwicklungen im Bestand beeinflussen.¶Weitere Gestaltungsspielräume und Steuerungsmöglichkeiten durch die Kommune entstehen, wenn bei einer Vergabe von kommunalen Grundstücken nicht das höchste Angebot den Zuschlag erhält, sondern im Rahmen einer Konzeptvergabe vielmehr Kriterien wie städtebauliche, gestalterische, soziale oder ökologische Aspekte Berücksichtigung finden. Das wettbewerbsartige Verfahren eröffnet nicht-renditeorientierten Akteuren wie Genossenschaften, gemeinwohlorientierten (ggf. kommunalen) Wohnungsbaugesellschaften oder selbstnutzenden Baugruppen die Möglichkeit, vor allem auch Projekte umzusetzen, die der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum dienen. In Höchstpreisverfahren haben diese Gruppen gegenüber gängigen Bauinvestoren häufig das Nachsehen. Konzeptvergabeverfahren kommen bislang vor allem in Großstädten zur Anwendung – in der Regel sind dies Kommunen mit einem angespannten Wohnungsmarkt. Erfahrungen gibt es beispielsweise in Frankfurt am Main, Hamburg, Hannover und Stuttgart. Zunehmend wird das Instrument aber auch in Klein- und Mittelstädten wie beispielsweise Göttingen diskutiert. Hier soll die Konzeptvergabe zu einem neuen Baugebiet auch wohnungspolitische Kriterien, die Vielfalt und den Anteil an barrierefreien und behindertengerechten Wohnungen, die städtebauliche Qualität sowie ökologische, energetische und verkehrliche Kriterien berücksichtigen. Wichtig bei diesen inhaltlich ausgerichteten Vergabeverfahren ist die offene und nachvollziehbare Kommunikation der Entscheidung. Eine regelmäßige Durchführung von Konzeptverfahren wirkt sich dann positiv auf die Bereitschaft privater Grundeigentümer aus, an den Verfahren teilzunehmen.¶Wie kommunale Liegenschaften nachhaltig und strategisch entwickelt werden können, zeigt auch der Ansatz der »Transparenten Liegenschaftspolitik« in Berlin. Mit dem Konzept wurden Leitlinien für den Umgang mit landeseigenen Grundstücken geschaffen. Mittels einer Portfolioanalyse erfolgen eine Bestandsaufnahme aller Liegenschaften und eine Clusterung dieser Flächen. Dabei werden die Grundstücke in vier

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Kategorien unterteilt: Flächen, die für die Aufgabenerfüllung der Stadt notwendig sind; Flächen, die vor dem Hintergrund der Sicherung der Daseinsvorsorge perspektivisch benötigt werden; Flächen, die veräußert werden können; Flächen, für die ein öffentliches Interesse besteht und die deshalb über konzeptorientierte Verfahren vergeben werden. So entsteht ein strukturierter Überblick über das Grundstücksvermögen der Stadt, der als Entscheidungsgrundlage für die Zielsetzungen einer nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik herangezogen werden kann.¶ Immer mehr Kommunen erkennen, dass sie mit einer wohldurchdachten Bodenpolitik die räumliche Entwicklung nicht nur stärker steuern, sondern oftmals auch Ansprüche an eine qualitätsvolle Gestaltung des Stadtraums mithilfe des privaten Grundstückrechts besser umsetzen können als mit dem schwerfälligen öffentlichen Planungsrecht. Gleichzeitig kann auf diese Weise eine soziale Bestandsentwicklung erfolgen, indem bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird und Quartiere durch die Diversifizierung der Bewohner- und Wohnungsangebotsstruktur stabilisiert werden. Es liegt in der Verantwortung der öffentlichen Hand, auf allen Ebenen bessere Voraussetzungen für eine aktive Bodenpolitik zu schaffen.21

87 % der befragten Kommunen geben an, dass Genehmigungen (eher) häufig auf der Grundlage von §34 Bau GB erteilt werden. Demgegenüber antworten 78 % der Kommunen, dass Bauvorhaben (eher) häufig auf der Grundlage eines Bebauungsplans genehmigt werden.

62 % der befragten Kommunen bieten (Um-) Bauberatungen zur Weiterentwicklung des Bestandes an. Mit 82 % sind es vor allem die großen Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, die solch ein Angebot bereithalten.

Gestaltungsinstrumente Gestaltungsmöglichkeiten durch Baurecht Die Genehmigung von Neu- oder Umbauten innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils erfolgt auf Grundlage des §34 BauGB –»Zulässigkeit von Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile«. Entscheidend für die Genehmigung ist dabei, ob sich ein Bauvorhaben in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Beurteilungskriterien sind Art und Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll – anhand dieser Merkmale muss sich das Bauvorhaben in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen. Damit ist der §34 BauGB eine der zentralen Vorschriften des Baugesetzbuches, da er Baurechte unmittelbar vermittelt. Die Gerichte bestätigen den Rechtsanspruch, aufgrund dessen eine Genehmigung auch einklagbar ist. Die Kommunalbefragung zum aktuellen Baukulturbericht hat ergeben, dass innerstädtische Bauvorhaben in den befragten Kommunen häufiger nach §34 BauGB genehmigt werden als auf der Grundlage eines Bebauungsplans.¶Das Ermessen zur Zulässigkeit eines Vorhabens nach §34 BauGB orientiert sich an städtebaulichen Kriterien. Gestalterische Aspekte wie Dachformen sind bei den Einfügungsmerkmalen demgegenüber nachrangig. Ein geplantes Flachdach in einer Umgebung, in der vornehmlich Satteldächer anzutreffen sind, führt beispielsweise nicht zu einem Versagen des Baurechts. Damit sich Neubauvorhaben auch gestalterisch verträglich in ihre Umgebung einfügen, sind ergänzende Instrumente erforderlich. Mit Gestaltungssatzungen für ihre Altstädte machen viele Kommunen, wie etwa Iphofen und Quedlinburg, konkrete Vorgaben zum Baumaterial, zu Dachneigungen oder hinsichtlich der Fensterteilungen. In historischen Quartieren stellt auch der Beschluss einer Erhaltungssatzung nach §172 BauGB eine gute Möglichkeit dar, Beeinträchtigungen für das Stadt- und Ortsbild durch Bauvorhaben im Bestand zu vermeiden. Sie dient dem Schutz von Ortsbild, Stadtgestalt und Landschaftsbild bzw. der Gesamtheit von Anlagen, die von städtebaulicher, insbesondere geschichtlicher oder künstlerischer Bedeutung sind. Der Rückbau, die Ände- rung oder die Nutzungsänderung sowie die Errichtung baulicher Anlagen bedürfen hier zusätzlich zum Bauordnungsrecht der Genehmigung. Diese darf versagt werden, wenn die bauliche Anlage die städtebauliche Gestalt des Gebiets beeinträchtigt.¶Darüber hinaus dienen informelle Instrumente wie denkmalpflegerische Wertepläne, Stadtbildanalysen, Gestaltungsfibeln oder städtebauliche Rahmenpläne sowohl als fachliche Grundlage für formelle Satzungen als auch für eine fundierte Vermittlung baukultureller Werte gegenüber der Bevölkerung. So hat beispielsweise die Hansestadt Lübeck in Vorbereitung der Altstadtsanierung eine Stadtbildanalyse vorgenommen, einen Stadtbildatlas erstellt, eine Gestaltungs- und Erhaltungssatzung erlassen und in der Folge einen Rahmenplan erarbeitet. Alle Planungen und Projekte in der Altstadt müssen sich an den Zielen orientieren, die der – bereits mehrfach fortgeschriebene – Rahmenplan vorgibt. Zweifelsfälle werden darüber hinaus in einem Gestaltungsbeirat behandelt. Für die Kernstadt von Biberach an der Riss mündete die Stadtbildanalyse in einer Stadtbildsatzung, die als örtliche Bauvorschrift zu berücksichtigen ist. Die unterschiedlichen Maßstabsebenen, die mit den informellen Instrumenten betrachtet werden können, verdeutlicht die Stadtbildanalyse der Stadt Göppingen für die historische Innenstadt. Die Untersuchung reicht vom städtebaulichen Ordnungs- und Gestaltprinzip über die Parzellenstrukturen bis hin zu den vorhandenen Gebäudetypen und Fassadengliederungen. Auf diese Weise schaffen sich Kommunen eine wirksame und nachvollziehbare Argumentation und Beispiele, die insbesondere in Bauberatungen helfen, bauliche Qualitäten zu sichern.22 Bauberatung und Gestaltungsbeiräte Bauberater informieren vor einem Bauvorhaben über rechtliche und formale Vorhaben. Auf kommunaler Ebene finden Bauberatungen in den Stadtplanungs- und Bauämtern statt, darüber hinaus bieten auch freiberufliche Planer Beratungen an. Ein erweitertes Beratungsangebot für gestalterische Fragestellungen kann die baukulturelle Qualität von Bauprojekten im Ergebnis deutlich erhöhen. In der vom BMUB 2012 veröffentlichten Publikation »Kommunale Kompetenz Baukultur« wird die Relevanz von kommunalen Gesamtstrategien zur Baukultur für eine verständliche und lösungsorientierte Bauberatung hervorgehoben. Bauberatungen stellen ein freiwilliges Angebot dar. Umso bedeutender ist ein offen geführter Dialog auf Augenhöhe mit den Bauherren und im Zusammenschluss mit weiteren Beratungsangeboten wie zum Beispiel Gestaltungsbeiräten. Interdisziplinär zusammengesetzte Gestaltungsbeiräte tragen mit ihrer fachlichen Kompetenz ebenfalls zu einer erkennbar höheren Qualität von Projekten im Sinne der Baukultur bei. Die unabhängigen Beiräte beraten mit ihrer Sicht von außen die Stadt bei Neubau- oder Umbauvorhaben und sollen dabei vor allem sicherstellen, dass sich Bauprojekte in das Stadtbild einpassen. Entscheidungsbefugnis haben sie jedoch keine. Neben der

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fachlichen und gestalterischen Kompetenz der Beiratsmitglieder entsteht ein deutlicher Mehrwert durch das Gremium, wenn eine breit angelegte Diskussion zu den Neubauvorhaben in Bestandsquartieren oder im historischen Umfeld angeregt wird. Tagt der Beirat öffentlich, wird zudem ein wichtiger Beitrag für eine höhere Akzeptanz des Neubauvorhabens und der Baukulturvermittlung in der Öffentlichkeit geleistet. Somit beraten Gestaltungsbeiräte die Kommunen nicht nur, sondern befördern insgesamt die Debatte über gutes Planen und Bauen in den Städten und Gemeinden. Knapp 100 Gestaltungsbeiräte waren in Deutschland bekannt, als die Bundesstiftung Baukultur den Baukulturbericht 2014/15 vorlegte. Sie waren vornehmlich in größeren Städten verortet. Kommunen erkennen zunehmend den Qualitätsgewinn, den stadtbildprägende Vorhaben durch das Gremium erfahren. Die Zahl der fest etablierten Gestaltungsbeiräte hat sich mittlerweile auf 129 erhöht.¶Mancherorts gibt es aber auch Vorbehalte gegenüber einer Einflussnahme von außen. In kleineren Städten und Gemeinden ist es in der Regel der organisatorische und finanzielle Aufwand, der als zu hoch eingestuft wird, oder die geringe Zahl an jährlichen Bauvorhaben spricht gegen ein institutionalisiertes Beratungsgremium. Um die Offenheit gegenüber Gestaltungsbeiräten zu steigern, arbeiten mittlerweile die Kammern in sieben Bundesländern an der Verbreitung oder Einführung mobiler Gestaltungsbeiräte, die temporär von den Kommunen abgerufen werden können. Im Baukulturbericht 2016/17 wurde auf das Format der mobilen Gestaltungsbeiräte bereits hingewiesen, das vor allem für Gemeinden in ländlichen Räumen Chancen beinhaltet. Einen sinnvollen Anschub können in diesem Zusammenhang auch Förderprogramme leisten. So unterstützt beispielsweise das Land Baden-Württemberg die Einrichtung und Weiterentwicklung kommunaler und auch interkommunaler Gestaltungsbeiräte mit bis zu 50 % der anfallenden Sachmittelaufwendungen für einen Zeitraum von zwei Jahren. Aktuell nehmen insgesamt zehn Kommunen diese finanzielle Unterstützung in Anspruch. Nicht zuletzt aufgrund der Förderung bildet Baden-Württemberg neben Nordrhein-Westfalen derzeit einen räumlichen Schwerpunkt mit Blick auf die Anzahl von Gestaltungsbeiräten.¶Die Bundesstiftung bemüht sich, mit ihren Aktivitäten interessierte Kommunen und ihre Gestaltungsbeiräte stärker untereinander zu vernetzen. 2016 hat im Rahmen des Konvents der Baukultur das erste bundesweite Vernetzungstreffen von Gestaltungsbeiräten stattgefunden. Dabei war nicht nur ein Erfahrungsaustausch unter den anwesenden Gestaltungsbeiräten Thema, vielmehr wurde ein informativer Rahmen für interessierte Kommunen geboten, die noch keinen Beirat haben. Ein zweites Vernetzungstreffen fand im Oktober 2017 in Freiburg statt, weitere sollen folgen. Mit der räumlichen Verbreitung und der Untersuchung des Mehrwerts der Arbeit von Gestaltungsbeiräten beschäftigte sich auch das BBSR-Forschungsprojekt »Perspektiven für die Baukultur in Städten und Gemeinden – Mehr Qualität durch Gestaltungsbeiräte«, dessen Ergebnisse 2017 veröffentlicht wurden. Unter anderem wird die Empfehlung ausgesprochen, das Instrument auf die individuellen Bedarfe der Kommune zuzuschneiden, um es sukzessive zum Teil einer Baukulturstrategie zu machen. Unterstützung erfahren interessierte Kommunen zudem durch die Publikation des Bundes Deutscher Architekten (BDA) »Gestaltungsbeiräte. Mehr Kommunikation, mehr Baukultur«, in der konkrete Projekte dokumentiert werden, die durch das Mitwirken eines Gestaltungsbeirats an Qualität gewonnen haben.23 Wettbewerbe und Vergaben […] In allen Phasen des Planens und Bauens ist ein Mitwirken und Ineinandergreifen der unterschiedlichen Fachrichtungen wichtig. Die gemeinsame Resolution der Ingenieurkammer (INGBW) und der Architektenkammer Baden-Württemberg (AKBW) bringt dies auf den Punkt. Sie fordern bessere Voraussetzungen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit beim Bau, eine Beteiligung aller Disziplinen an der Planung »auf Augenhöhe« sowie die interdisziplinäre Vernetzung der Fachrichtungen bereits im Studium. Baukultur entsteht, wenn alle Disziplinen gleichermaßen einen Beitrag zur Qualifizierung der gebauten Umwelt leisten.24 Integriertes Planen und Bauen Querschnittsaufgabe Baukultur Um- und Weiterbauen im Bestand erfordern die Berücksichtigung vielfältiger Rahmenbedingungen, die nicht immer offensichtlich sind und teilweise widersprüchlich erscheinen – wie zum Beispiel die Vereinbarung des Innenentwicklungsziels und des Erhalts von qualitätsvollen Freiflächen im Bestand. Die vermeintlich leichtere Alternative wird häufig im Neubau am Siedlungsrand gesehen, tatsächlich werden dadurch jedoch zusätzliche Probleme geschaffen wie verödende Ortskerne, wachsende Verkehrsströme und monofunktionale Siedlungsgebiete. Die Weiterentwicklung des Bestands stellt hingegen eine dauerhaft nachhaltige Aufgabe dar und die damit verbundenen Herausforderungen lassen sich nur im Rahmen eines integrierten Planungsprozesses und mit einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit auf allen Ebenen der Stadtentwicklung bewerkstelligen. Denn deutlich ausgeprägter als in einem Neubauquartier werden bei einer Planung im Bestand die Belange anderer Fachressorts berührt.¶Die Komplexität von Ideen und Projekten hat insgesamt zugenommen, kooperative Prozesse gewinnen dadurch an Bedeutung. Am Beispiel neuer Mobilitätsformen wird deutlich, dass es nicht nur verwaltungsintern einer stärkeren Vernetzung zwischen Stadtplanung und Verkehrsplanung bedarf. Ein Austausch zwischen Kommunen und Industrie oder Immobilienwirtschaft ist genauso wichtig wie das Einbinden von bürgerschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Engagement. Und letztendlich ist ein Mitnehmen und Einbinden der Öffentlichkeit elementar, denn ohne die Bevölkerung als Nutzer bleiben neue Mobilitätsangebote Theorie und Nachnutzungskonzepte für Gebäude und Brachen ohne Verbindung zum städtebaulichen Kontext.¶ Besonders ertragreich für die Bestandsentwicklung sind Akteure, die nicht nur ihr einzelnes Vorhaben, sondern die Folgewirkungen für das Bestandsquartier mit in den Blick nehmen. Die Montag Stiftungen sind aus diesem Grund

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In einer Umfrage wurden die Kommunen befragt, wie sie den baukulturellen Wert ihrer Gebäude je nach Bauepochebewerten würden. Es zeigte sich eine höhere Wertschätzung mit steigendem Gebäudealter. 1918 oder früher 1919 – 1949 1950 – 1969 1970 – 1990 nach 1990

Prozent

0 20 40 60 80 100

Das Projekt Salz & Suppe bietet allen interessierten StuttgarterInnen die Möglichkeit sich mit ihrer Persönlichkeit und ihren individuellen Erfahrungen in den Dialog über die Stadt einzubringen. Das Projekt möchte vor allem die Vielfalt an Sichtweisen und Erfahrungen zum Thema und zur Diskussion machen, die sich im Kontext des demografischen Wandels und dem zunehmenden Zuzug von Menschen zunimmt. Es soll so ein nachbarschaftliches Miteinander im Zuge dieser Veränderung entstehen. So soll dieser Prozess gefördert werden und die Stuttgarter mit unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Hintergründen zusammen bringen. Im Vordergrund steht die erfolgreiche Vernetzung sowie die Förderung eines gesellschafts- und stadtteilübergreifenden Dialogs. Das Projekt steht so für eine neue Gesprächskultur über gesellschaftliche und räumliche Grenzen hinweg. An mehreren Quartiers-Kochrunden kommen jeweils sechs BürgerInnen zusammen. Einzelne TeilnehmerInnen laden als Gastgeber zu einem Essen in privatem Rahmen ein. Als Gastgeber erhalten Sie eine finanzielle Unterstützung. Auch öffentliche Orte mit Küche im Stadtteil stehen zur Verfügung.27

91 % der befragten Kommunen schätzen die Wohnzufriedenheit der Bevölkerung in den Stadterweiterungsgebieten der Gründerzeit als hoch und (eher) hoch ein, 87 % meinen dies in Bezug auf historische Stadtkerne und innenstadtnahe Gebiete der Nachkriegszeit. In Großwohnsiedlungen der 1960er- bis 1980er-Jahre schätzen knapp 64 % die Wohnzufriedenheit als hoch und (eher) hoch ein.

in einigen Städten ein wichtiger Partner, da sie Nachbarschaftsinitiativen unterstützen, die gemeinschaftlich Immobilien entwickeln und dabei das Gemeinwohl des Quartiers in den Blick nehmen. Diese und vergleichbare Initiativen benötigen einen festen Ansprechpartner in der Verwaltung, der sie auf Augenhöhe in die Bestandsentwicklung von Quartieren integriert. Im Ergebnis wirken kontinuierlich unterschiedliche Experten mit ihrem Fachwissen an Baukultur mit.¶Aus gutem Grund macht der Bund seit 2012 ein integriertes Planungskonzept, das unter Beteiligung der Öffentlichkeit entstanden ist, zur Voraussetzung in allen Programmen der Städtebauförderung und stellt zusätzlich Fördermittel zur Erarbeitung der integrierten Konzepte zur Verfügung. Im Programm Stadtumbau liegen in nahezu 90 % der Programmkommunen städtebauliche Entwicklungskonzepte vor und in knapp 10 % sind sie in Erarbeitung. Tatsächlich sind Einzelmaßnahmen am besten im Rahmen eines integrierten Gesamtkonzepts wirksam. Somit leisten Förderprogramme einen deutlichen Beitrag für eine integrierte Bestandsentwicklung in der kommunalen Praxis.¶Die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) verlangt in ihrem Positionspapier »Städte in Deutschland 2030«, dass staatliche Unterstützungs- und Finanzierungsprogramme die Interdisziplinarität konsequent fordern und fördern. Der Deutsche Städtetag (DST) formuliert in seinem Positionspapier »Planungsund Baukultur in der integrierten Stadtentwicklung« gemeinsam mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund (DStGB) u. a. das Ziel, die Bauherrenfunktion der Städte und Gemeinden weiter zu stärken und dem Kompetenzabbau in der Verwaltung entgegenzuwirken. Planungs- und Bauleistungen, insbesondere in der konzeptionellen Phase, sollen von der Behörde selbst bearbeitet werden. Diese Forderung ist elementar und zielführend. Denn in der Kommunalverwaltung ist das Wissen der vielen verschiedenen Fachressorts gebündelt und auf kurzem Wege vernetzbar. Mit Blick auf die Komplexität einer integrierten Stadtentwicklungsstrategie muss das Qualifikationsprofil für eine Tätigkeit in der Planungs- und Bauverwaltung jedoch entsprechend erweitert werden, so der DST.¶Die Kommunalumfrage […] hat ergeben, dass nur sehr wenige Kommunen in Deutschland diese Gestaltungskompetenz wahrnehmen. […] Es wäre ein wichtiger und richtiger Schritt, wenn Kommunen auch auf konzeptioneller Ebene wieder mehr Verantwortung übernehmen, damit die Bestandsentwicklung an Qualität gewinnt. Aufgabe der Planungsbehörden sind nicht nur das Verwalten, Moderieren und Beraten, sondern auch das Steuern und Gestalten.25 Vermittlung und Vernetzung Integriert planen und handeln heißt auch, Baukultur in das öffentliche Leben zu integrieren. Dabei geht es nicht nur um das Kommunizieren und Vernetzen in Fachkreisen, sondern auch um das Sensibilisieren und Begeistern der Bevölkerung für baukulturelle Belange. Zum Beispiel könnten in öffentlichen Gebäuden wie in Rathäusern, Schulen oder Museen, die bereits aus ihrer Funktion heraus einen baukulturellen Bildungsauftrag erfüllen, Kreativräume zur baukulturellen Vermittlung vorgesehen werden. Auch die Sichtbarmachung von Erfolgen trägt wesentlich zur allgemeinen Bewusstseinsbildung mit bei. Gute Beispiele müssen daher Verbreitung finden und beworben werden, damit ein Bewusstsein für gebaute Qualitäten entsteht. Hier setzt der Kommunikationsauftrag der Bundesstiftung Baukultur an, die sich die Vermittlung guter Beispiele, wie mit dem Baukulturbericht, zur Aufgabe macht.[…] ¶In Nordrhein-Westfalen besteht bereits seit den 1980er-Jahren die Arbeitsgemeinschaft »Historische Stadt und Ortskerne in Nordrhein-Westfalen«, an der insgesamt 56 Kommunen mitwirken. Sie haben sich 2016 auf ein »Zukunftsprogramm 2030« mit zentralen Eckpunkten für die Bewältigung aktueller Herausforderungen im historischen Bestand verständigt. In Brandenburg sind 31 Städte in der Arbeitsgemeinschaft »Städte mit historischen Stadtkernen des Landes Brandenburg« vernetzt und arbeiten an gemeinsamen Projekten […]. Das »Netzwerk Baukultur« des Landes Baden-Württemberg veranstaltet einmal jährlich eine landesweite Konferenz. Gute Beispiele werden auf der Internetplattform »Baukultur Baden-Württemberg« präsentiert. Unter dem Titel »Weiterbauen« existiert in Hamburg ein Veranstaltungsformat zur Vernetzung von Bürgerschaft, Architekten und Hochschule. Die Landesinitiative StadtBauKultur NRW will das Bewusstsein und Engagement für Baukultur unter Bürgern, Bauherren, Fachleuten und Kommunen stärken.[…] Der Appell an die Kommunen lautet somit: Vernetzt euch untereinander und profitiert von euren Erfahrungen! Als Kommune hat sich Koblenz mit dem »Schaufenster Baukultur« vorgenommen, für baukulturelle Qualitäten zu sensibilisieren und die Öffentlichkeit in die aktuellen Neubauvorhaben der Stadt einzubinden. Im 2017 neu eröffneten Kulturpalast Dresden wurde das Zentrum für Baukultur Sachsen als offener Eckladen eingerichtet. Neben der Vermittlung des baukulturellen Erbes werden aktuelle Tendenzen in Architektur und Städtebau aufgezeigt. Ein Schwerpunkt ist dabei die baukulturelle Sensibilisierung von Jugendlichen.[…] ¶Publikumswirksam sind zudem bundesweite Veranstaltungen wie der »Tag der Architektur« der Architektenkammern mit Vor-Ort-Besichtigungen, Vorträgen und offenen Büros. […] ¶Damit auch Personengruppen erreicht werden, die sich nicht über die klassischen Formate wie Publikationen, Ausstellungen oder Informationsveranstaltungen angesprochen fühlen, bedarf es zusätzlicher Formate wie beispielsweise der Hashtag-Idee »Betonperle« während der Ausstellung »SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster!«. Unter diesem Stichwort konnten Fotos von selbst entdeckten brutalistischen Bauten mit anderen Personen geteilt werden.[…]Einen ungewöhnlichen Weg geht auch das Projekt »Salz und Suppe« der Stadt Stuttgart. Die Stadt organisiert gemeinsame Stadtrundgänge in ausgewählten Quartieren, anschließend wird gemeinsam in der Wohnung eines Teilnehmers gekocht. Dabei stehen sowohl das Zusammenleben in der Stadt und im Quartier als auch konkrete Projektideen zur Aufwertung des Quartiers zur Diskussion.¶Baukultur ist das Ergebnis einer Vielzahl von Einflüssen und Aushandlungsprozessen. Wenn eine möglichst große Bandbreite von Akteuren an der Qualität der gebauten Umwelt mitwirkt, ist viel für die Baukultur gewonnen. Ziel ist, dass bei allen Beteiligten ein nachhaltiges Verantwortungsbewusstsein für den Siedlungsbestand wächst. Eine kontinuierliche Optimierung der vorhandenen Gebäude und Infrastrukturen gibt nicht nur dem historischen Erbe eine Zukunft, sondern bewahrt die bauliche und kulturelle Vielfalt.26

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»Geschichtsbewusstsein und Gegenwartsbewusstsein – ich halte beide also für wichtig – bedürfen der Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit. Stadtgrundriss und Stadtbild, Straßenraum und Platzgestalt müssen solche Kontinuität bewahren und herstellen, d.h. auch in ihrer Wandlung weitervermitteln.« 1

1 Karin Hopfner, Christina Simon-Philipp und Claus Wolf (Hg.), größer höher dichter. Wohnen in Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre in der Region Stuttgart, Stuttgart und Zürich: Karl Krämer Verlag 2012, S. 25.

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bewahren, erneuern und verbessern

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»Das kontniuierliche Beibehalten und Überformen von Strukturen, die selbst in ihren Fragmenten noch lesbar bleiben, und eine Dialektik zwischen neuerer und älterer Formensprache beleben als produktive Impulse den kontinuierlichen Wandel des europäischen Stadtbildes.«2 Was kann man von den bestehenden Siedlungstypologien weiter entwickeln, was kann man korrigieren und was muss man verwerfen? Oft sind es nur kleine Dinge bei Renovierungen, die verändert oder zerstört werden und damit das Gesicht eines Hauses verändern. Gleichzeitig müssen aber ökologisch und ökonomische Faktoren beachtet werden.¶ Die Debatte, die im 20. Jahrhundert durch die Kultur und Gesellschaftskritik an dem Städte- und Wohnungsbau begonnen wurde, ist bis heute noch nicht zu Ende diskutiert. Es wurde nicht geschafft, die der Architektur und dem Städtebau innewohnenden Bildwelten und ästhetischen Qualitäten in die Breite der Gesellschaft zu kommunizieren. Wir stehen heute vor ähnlichen Herausforderungen. Ein guter Ansatz wäre also die sozialen Werte und die Idee des bezahlbaren Wohnraums für alle sowie die Experimente zu studieren. Unter Umständen war der Städtebau der 1970er trotz der schlecht gedämmten Bauten ökologisch, weil er dichter und kompakter war. Auch wenn manche Gebäude möglicherweise tatsächlich nur Monotonie und Belanglosigkeit verkörpern, kann man es wohl kaum auf den gesamten Bestand ausweiten. Der kritische Diskurs mit der Vergangenheit sollte weitergeführt werden, damit sich ein Bewusstsein für Geschichtlichkeit in der Gesellschaft verankert.3 Heute stellt sich die Frage nach dem Potenzial, nach der Transformationsfähigkeit der Bauten. Die Bauten bieten gute Voraussetzungen, die ergänzt werden können, z.B. durch soziale Infrastruktur oder Handelsnutzungen. Dabei ist eine Gesamtgestaltungsidee wichtig um einzelne Gebäude in ein urbanes Stadtgefüge zu verwandeln. Es sollte über das Wiederverwerten von bestehenden Strukturen nachgedacht werden. Es lohnt sich zwar nicht überall, aber oft. »Neue urbane Qualität heißt auch mit den Brüchen der Stadt weiterzuleben und sie in einen Prozess der Transformation einzubinden. Gerade an den Nahtstellen und Brüchen entsteht durch Spannung und Reibung in der Auseinandersetzung. Inspiration für Neues.«4 Die Gebäude der Nachkriegszeit zeugen von Aufbruch und Mut einen Gegenentwurf zu wagen, sie sind in den geglückten Fällen Beispiel von »Ingenieurskunst und individueller Leistung«.5 Sie zeigen eine Synthese von Architektur, Bildender Kunst und Farbe in den Entwürfen, der Wunsch nach Erneuerung und starke Zukunftsorientierung, Wohnexperimente und sozialkritische Themen, die Bedeutung der Gestalt des Ensembles im Sinne von wirtschaftlicher Effizienz. Der Wohnungsbau der Nachkriegsjahre steht für das Experimentieren mit Neuem, Austesten und Probieren selbst bis an die Grenzen des Machbaren. Zwangsläufig hervorgerufen durch den Mangel. Schematische Zeilenbauten zur schnellen Lösung, Standardisierung und Rationalisierung, oft mit Fertigteilen gebaut. Grundmodule wurden entwickelt, die flexibel einsetzbar und kombinierbar waren. Der Schwerpunkt lag auf bautechnischen Innovationen. Sichtbeton und Flachdächer wurden zu prägenden Elementen. Starre Betonfassaden, neue Haustypen mit ihrem kargen, ungewohnten und bisweilen abweisenden Erscheinungsbild provozierten das ästhetische Empfinden. Baukastenähnliche Fertig- und Montagebauweisen sorgten aber auch für Schematismus. Später wurde versucht diesen mit Farbe zu durchbrechen.6 ¶Das Problem des Stadtbaus lag in der Zersiedelung der Landschaft durch Einfamilienhäuser und Massenwohnungsbau. Ein zentraler Gedanke bestand darin, die Qualitäten des Eigenheimbaus mit denen des Geschosswohnungsbau zu verbinden. Die Bewohner sollten sich trotz der Verdichtung mit ihrem Wohnort identifizieren können. So zum Beispiel sollte eine Staffelung der Geschosse die Privatsphäre sowohl innen als auch außen sichern. Die Experimentierfreude mit neuen Bautypen zum Beispiel am Hang führte aber auch dazu, dass Hänge bebaut wurden, die das Stadtbild sehr prägen.¶Um die Stadt positiv weiterzuentwickeln, muss jedoch jedes Gebiet unter speziellen Eigenschaften und Wertschätzung seiner Qualitäten erneuert und weiterentwickelt werden. Jede Generation hat die Freiheit und Verantwortung sich der Vergangenheit und Zukunft aufs Neue zu stellen. Viele Siedlungen haben heute ihre Randlage verloren. Es gibt also Potenzial für eine integrierte Stadtentwicklung.¶Trotz allem sind die Gebäude eine wichtige Ressource für eine nachhaltigkeitsorientierte Stadtentwicklung. Ähnlich wie heute das Thema Nachhaltigkeit war damals das Thema einer verkehrsgerechten Stadt, auf welche alles zugeschnitten wurde. Auch heute sollten die veränderten Wohnwünsche, Lebensmodelle und energetischen Anforderungen weiterentwickelt und die Qualitäten bewahrt werden. Die Lebensstile differenzieren sich immer mehr aus, Arbeiten und Wohnen rücken näher zusammen, die Bevölkerung wird »älter, weniger, bunter«.7 Standardisiert sind sie nicht mehr.¶ Die Experimente waren gewagt, aber da wir noch heute vor denselben Fragen stehen, können wir daraus profitieren. Die Siedlungen, die nur für die schnelle und möglichst günstige Linderung der Wohnungsnot gedacht waren, weisen oft Probleme auf. Eingriffe und Veränderungen sind notwendig. Die damals einseitige Sozialstruktur, der hohe Anteil an geförderten Wohnungen, stereotyper Städtebau und mangelnde baukonstruktive Qualitäten führen zu Defiziten, die sich auf das Image auswirken. Die Bauten sind sperrig. Sie nehmen wenig Rücksicht auf den Kontext indem sie stehen. Sie zeugen von Ideen und Visionen, die sich in vielen Aspekten als nicht haltbar herausgestellt haben. Sie sind Zeichen des Scheiterns einer positivistischen Sicht auf das Wachstum, das heute kritisch hinterfragt wird. Sie sind Symbol eines Wertewandels. Sie bieten eine hohe Transformationsfähigkeit. Sie bieten Freiräume durch großzügige Strukturen und sie bieten die Möglichkeit der qualifizierten Nachverdichtung.¶Was bleibt ist also der Gedanke der Transformation, der kritischen Hinterfragung, der Auflehnung, der widerständigen Auseinandersetzung, der immer wieder kehrenden Renaissancen. Nachhaltig wirken sich die Jahrzehnte erst durch Protestbewegungen aus. 2 Ebd., S. 26. 3 Vgl. Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 27. 6 Vgl. Ebd., S. 258. 7 Vgl. Ebd., S. 261. 8 Oscar Niemeyer, Wir müssen die Welt verändern, München: Verlag Antje Kunstmann 2013, S.8.

Resumée

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Bildnachweise

Abb. 1

Abb. 2 – 10 Abb. 16 – 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 Abb. 34 Abb. 35 – 90 Abb. 92 – 101 Abb. 102 Abb. 103 – 165 Abb. 166 Abb. 167 Abb. 168

Abb. 169

Abb. 170 Abb. 171 – 215

http://www.lascaux-dordogne.com/en/patrimoine-culturel/historic-site-and-monument-cavesand-shelters-containing-rock-art/caverne-de. Aufgerufen am 15. 06. 2020. https://archeologie.culture.fr/lascaux/de/besichtigung-der-hoehle. Aufgerufen am 10. 06. 2020. Fotografie: © Fotoverlag Huber Fotografie: Eigentum der Süddeutschen fotografischen Gesellschaft Dr. Sommer & Co. Zuffenhausen-Stuttgart Dr. Hans Knöpfel Verlag, Heilbronn / Neckar PZB Krüger Schwäbischer Kunstverlag Hans Boettcher, Stuttgart Zobel-Verlag Stuttgart Andres + Co. Verlag Hamburg Krüger Andres + Co. Verlag Hamburg Zobel-Verlag Stuttgart Krüger Schwäbischer Kunstverlag Hans Boettcher, Stuttgart Dr. Hans Knöpfel Verlag, Heilbronn / Neckar PZB Fotografie: Eigentum der Süddeutschen fotografischen Gesellschaft Dr. Sommer & Co. Zuffenhausen-Stuttgart Fotografie: Hannes Kilian, Die Zerstörung. Stuttgart 1944 und danach, Berlin: Quadriga-Verlag Severin,1984. Quelle: Stadtarchiv Stuttgart Fotografie: Stadtmessungsamt Stuttgart Quelle: Stadtarchiv Stuttgart Fotografie: Wolfgang Mayer. Quelle: Andreas Brunold (Hg.), Stuttgart. Stadt im Wandel, Tübingen: Silberburg-Verlag 1997, S. 121. Gilbert Lupfer, Architektur der fünfziger Jahre in Stuttgart, Tübingen und Stuttgart: Silberburg Verlag Titus Häussermann GmbH 1997, S. 84. Bauen und Wohnen 7/1955, S. 353. Quelle: Gilbert Lupfer, Architektur der fünfziger Jahre in Stuttgart, Tübingen und Stuttgart: Silberburg Verlag Titus Häussermann GmbH 1997, S. 106. DBZ 1/1962, S. 16. Quelle: Gilbert Lupfer, Architektur der fünfziger Jahre in Stuttgart, Tübingen und Stuttgart: Silberburg Verlag Titus Häussermann GmbH 1997, S. 133. Gilbert Lupfer, Architektur der fünfziger Jahre in Stuttgart, Tübingen und Stuttgart: Silberburg Verlag Titus Häussermann GmbH 1997, S. 84. Quelle: © 2020 GeoBasis-DE / BKG, GeoContent, Landeshauptstadt Stuttgart, Maxar Technologies, map data (© 2009), Google.

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Impressum

Ein Denkprozess. Zukunft gestalten durch Architektur Diese Arbeit ist im Rahmen eines Projektes der Klasse von Prof. Gerwin Schmidt entstanden; Studiengang Kommunikationsdesign an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. (Wintersemester 19/20 und Sommersemester 20)

Konzept und Gestaltung: Sophie Kraft Schriften: Suisse Works Regular Suisse Int’l Regular Suisse Int’l Semi Bold

Mein besonderer Dank gilt Dr. Martin Hahn, Dr. Marc Hirschfell, Constantin Hörburger M.A., Prof. Dr. phil. Brigitte Sölch sowie Sylvie und Thomas Kraft, Lisa Vollrath, Robert Wenzel, Jakob Mayer und Gerwin Schmidt.

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ÂťArchitektur ist nur ein Vorwand. Wichtig sind das Leben und der Mensch! Dennnoch kann die Architektur eine politische Funktion haben, denn sie befasst sich mit dem Menschen und der Art, wie er lebt.ÂŤ8


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Zu jeder Zeit setzen sich Menschen mit ihrer politischen und sozialen Umgebung auseinander und reagieren auf sie. Das betrifft auch den öffentlichen Raum. Kaum etwas spiegelt so sehr gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen wieder wie Architektur. Sie ist also immer auch inhaltlich. Architektur ist eine dynamische Praxis. Sie ist niemals vorbei, sondern bildet sich immer wieder neu. Erst durch die Reflexion ihrer Entwicklung wie auch der Gegenwart kann auf eine Zukunft verwiesen werden, die ihre gesellschaftliche Wirkung in den Vordergrund stellt. Eine kritische Architektur verweist auf die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Auch scheint sie notwendig, um das Bestehende immer wieder neu zu hinterfragen, ebenso wie das Vergangene. Dieser Prozess hat das Potenzial, eine Gegenposition einzunehmen und ist ein essenzieller Bestandteil unserer Gesellschaft.

14. 10. 2019 – 25. 06. 2020 ein Projekt von Sophie Kraft


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