Faces of Neckar

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FACES OF NECKAR

LASSE LANGNER



FACES OF NECKAR

LASSE LANGNER



FACES OF NECKAR

LASSE LANGNER



NAMENSENTWICKLUNG nik

Nikros

Nicarus

Neccarus Necker Neckar

NAMENSBEDEUTUNG Heftiger, bรถser, schneller Fluss


km 

KAPITEL — NORD km 

km 

km 

KAPITEL — WEIN km 

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KAPITEL — BAD CANNSTATT

km 08

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km 06

KAPITEL — KANAL km 05

km 04

km 03

KAPITEL — HAFEN

km 02

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KAPITEL A ― HAFEN 01 ― Paul Fischer Kapitän von Katharina Traub

02 ― Adam Wiśniewski Staplerfahrer von Dominic Berner

03 ― Philip Sporer Eventmanager von Philip Sporer

04 ― Siegfried Köhler Wasserschutzpolizist von Dominic Berner

05 ― Mia Engelhard

024 026 032 040 042

Studentin von zwanzig Autoren

KAPITEL B ― KANAL 06 ― Conny Camper Touristin von Susanne Langner

07 ― Holger Schönbuch Angler von Lasse Langner

08 ― Lotte Frey Studentin von Xenia Wahl

09 ― Franziska Herzog Physiotherapeutin von Tatjana Bessner

10 ― Tamara Groß Handballerin von Jana Klein

050 052 056 062 072


C ― BAD CANNSTATT 11 ― Herr Frack

076

12 ― Ivi Gutjahr

078

13 ― Sydney McKutney

082

14 ― Jonas Seifert

084

15 ― Dr. Donald Geiger

088

Fischsommelier von Jan Kirchherr

Heimkehrerin von Liina Ott

Trend und Szene Managerin von Maria Hiegelsberger

Unternehmensberater von Katja Schröpfer

Naturschützer von Dominic Berner und Lasse Langner

D ― WEIN 16 ― Annelie C. Scheuermann

094

17 ― Neckar

096

18 ― Elsa Ellerbrock

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19 ― Callum Autmnfields

104

20 ― Lisa Lutz

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Ministry of floating Arts von Christine Hartmann

Fluss von Tanita Geiger

Rentnerin von Louisa Hoppe

Engländer von Jonas Favorite

Standesbeamtin von Heike Lauer


E ― NORD 21 ― Julius Siewert

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22 ― Simon

112

23 ― Ich

114

24 ― Toni Weinecken

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25 ― Maja Charlotte Taub

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Sportler von Dominic Berner

Anwohner von Leon Bauer

Arbeitslos von Lynn Hartmann

Studentin von Anja Rieker

Autorin von Tina Becirovic und Lasse Langner

FACES BEHIND THE FACES Autoren

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Impressum

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DIE GESICHTER DES NECKARS

Nach den langen Semesterferien stand, wie schon für viele Jahrgänge vor uns, ein Umzug an. Es handelte sich um den Umzug aus dem großräumigen Atelier im Erdgeschoss in die zwei kleineren Räume mit besserer Aussicht im zwei-

ten Obergeschoss. Doch nicht nur räumlich zogen wir um. Aus der bisherigen Klasse Wichmann wurde die Klasse Schmidt. Nachdem sich mein Kurs drei Monate nur in Kleingruppen getroffen hatte, war es heute zum ersten Mal

nach dem Rundgang im Sommer wieder soweit. Wir alle sahen uns in unserem neuen Besprechungsraum zusammen mit unserem Professor Gerwin Schmidt wieder. Neben einigen organisatorischen Informationen präsentierte uns Gerwin auch unser Hauptprojekt. Das Thema: „Ein Problem in Stuttgart“ sollte in

Form von vier Unterprojekten umgesetzt werden. Wie auch schon unsere Vorgängerklassen, war es unsere Aufgabe, ein Buch, eine Schrift, ein Animati-

onsfilm und ein Filmplakat zu erstellen. Doch unsere erste Aufgabe war es, ein Stuttgart-spezifisches Problem zu finden, welches wir aufarbeiten wollten.

Soweit waren die Rahmenbedingungen abgesteckt und jeder einzelne begann

sich Gedanken zu machen, was sein Problem in Stuttgart darstellen könnte. Bei mir zog sich dieser Prozess zwei Wochen bis ich schließlich zum Schluss

kam, den Neckar zu meinem Problem zu machen. Doch was ist eigentlich das Problem mit Stuttgart und dem Neckar? Ich selber bin in Stuttgart groß geworden, doch der Neckar war nie so ein großes Ding für mich, wie die Isar für

meine Münchner Freunde oder die Spree in Berlin. Zum Teil mag es daran liegen, dass ich auch nicht an einem Neckar nahen Stadtteil groß geworden bin, doch das allein kann es nicht gewesen sein. Denn auch meine Freunde aus

Cannstatt hatten keinerlei Bezug zum Fluss. Ich begann also, meine Problembewältigung Neckar mit einer Problemsuche am Neckar. Für mich war schnell klar, das Problem am Neckar muss mit seinen mangelnden Freizeitmöglich-

keiten und der betonierten Kanalisierung zusammenhängen. Mit diesem Ge-


danken im Kopf begann ich, mit Kamera und ein paar Fragen bewaffnet, vor

Ort zu recherchieren. Am Neckar merkte ich aber schnell, die Probleme die ich in meiner Vorstellung mit dem Fluss hatte waren falsch. In mehreren Interviews erzählten mir Passanten wie toll es am Neckar sei und was es hier für

schöne Orte gebe. Daraus entstand ein anderes Problem für mich, denn meine Fragen und mein Konzept in meiner Vorstellung passte nicht zur Realität. Ohne

zu wissen, was ich eigentlich mit meinem Projekt anfangen wollte, besuchte ich ab diesem Zeitpunkt die Ufer immer häufiger und schuf mir mein eigenes Bild vom Fluss. Durch diese Besuche und anschließende Gespräche mit Stutt-

gartern, die ein ähnliches Bild vom Fluss hatten wie ich, formte ich mir mein

Problem mit dem Neckar und nannte es „Faces of Neckar“ oder auf Deutsch „die Neckargesichter“.

Ziel meiner Arbeit war es, den Neckar so darzustellen wie er ist, also mit sei-

nem Hafen, dem kanalisierten Abschnitt am Wasen, aber auch mit den Weinbergen am Max-Eyth-See. Ich wollte die schönen, aber auch nicht so schönen

Seiten des Flusses zeigen. Da es aber nicht nur das Gesicht des Flusses gibt,

sondern dieser auch geprägt wird durch die unterschiedlichen, menschlichen Gesichter am Fluss, wollte ich Menschen aufnehmen, die mit dem Fluss interagieren. Für viele Stuttgarter ist der Neckar ein grüner Strom, der sich zwi-

schen Schnellstraße und Wasen befindet. Nur unscharf sind die Eindrücke der Menschen, wenn sie sich den Fluss vorstellen. Diese unscharfen Eindrücke

sind wichtiger Bestandteil meines Buches, denn das Buch besteht aus erfundenen Geschichten, Texten und Interviews über Personen. Diese Faces of

Neckar und ihre Geschichten sind nicht real, aber könnten in ihrer Form so am Neckar anzutreffen sein. Der Versuch ist es, durch das Buch eine Utopie zu

schaffen, wie der Neckar als Lebensraum für den Menschen aussehen könnte, ganz individuell aus unterschiedlichsten Blickwinkeln.













A ― HAFEN 01 ― Paul Fischer Kapitän von Katharina Traub

02 ― Adam Wiśniewski Staplerfahrer von Dominic Berner

03 ― Philip Sporer Eventmanager von Philip Sporer

04 ― Siegfried Köhler Wasserschutzpolizist von Dominic Berner

05 ― Mia Engelhard Studentin von zwanzig Autoren


DER NECKAR-KÄPT‘N

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„Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön“ – das dachte sich wohl auch meine Oma, als sie die ganze Familie 09 der ganzen Familie eine entspannende zu einer Schifffahrt auf dem Neckar einlud. Denn „was gibt es Schöneres, als mit und abwechslungsreiche Schifffahrt zu erleben“ – so verspricht es zumindest der Flyer des Neckar-Käpt‘ns. ―― Deshalb standen wir dann am 06. Juli 2013 an der Anlegestelle Wilhelma und freuten uns auf die entspannte Fahrt. Das Boot lag schon an der Anlegestelle und der überraschend junge Käpt‘n kam gerade nur mit einer Badehose bekleidet aus seiner Kajüte. Bei seinem Anblick mussten wir lachen, denn man sah ihm 08 die durchzechte Nacht ziemlich an. ―― „Wie es wohl wäre mit dem Käpt‘n auf seinem Schiff zu feiern“, ging es mir durch den Kopf. „Er sieht schon ziemlich süß aus“, fantasierte ich weiter und stellte mir vor wie ich gemeinsam mit dem Käpt‘n nachts auf dem Boot Wein trank und die Sterne beobachtete. Meine Oma riss mich jäh aus meinem Tagtraum und streckte mir mein Ticket hin. ―― Dann ging es los. Alle gingen an Bord und das Schiff legte ab. Wir steuerten Richtung Max-Eyth-See. Der Käpt‘n erklärte uns alles Wissenswerte über den Neckar. Langsam zog die Landschaft an uns vorbei.07Ein paar Ruderer überholten uns und wir winkten ihnen zu. ―― Nach einer Weile kamen wir endlich zur Schleusenkammer. Das Wasser sank langsam ab. Doch plötzlich neigte sich das Schiff. Es kippte immer mehr zur Seite. Dann hörte ich ein Klirren – alle Gläser rutschten nach und nach von den Tischen. Panisch schauten wir uns um. Und dann sahen wir das Problem. Der Neckar-Käpt‘n hatte vergessen ein Seil zu lösen und da das Wasser immer mehr sank, kippte das Boot immer mehr und der Knoten surrte sich fest -so fest, dass es keine Chance mehr für den Käpt‘n gab diesen zu lösen. Mein kleiner Cousin 06 fing panisch an zu schreien. Ich versuchte ihn zu beruhigen, doch mir gingen nun auch Untergangsbilder durch den Kopf. „Was wenn wir in der Schleuse alle von Bord gehen. Was wenn das Schiff uns alle unter sich begräbt“. Die Zeit kam mir endlos vor. Und dann – „ratsch“. Das Seil konnte das Gewicht des Schiffes nicht mehr halten. Durch die 05 bei entstandene Spannung schwang das Schiff wieder in die Höhe, in einem Tempo wie einer Achterbahnfahrt. Alle kreischten. Dann war es still. Das Schiff wippte leicht hin und her und kam zur Ruhe. ―― Erleichtert lachten wir alle los. Mein Onkel fing an Witze zu machen über betrunkene Kapitäne. Dann krächzte es durch das Mikrofon. Die Stimme des Neckar04 Käpt‘ns ertönte. Er entschuldigte sich offensichtlich peinlich berührt für den Zwischenfall und wir setzen die Fahrt weiter fort. Doch so richtig konnten wir die Fahrt nun nicht mehr Anlege­stelle genießen und auch der Neckar-Käpt‘n erzählte kaum noch Wissenswertes über den NeUnter­türk­heim ckar. Und als wir eine Stunde später wieder von Bord gingen, waren wir alle heil froh wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. ―― Den Neckar-Käpt‘n hab ich seit dem nicht 03 mehr gesehen. Auch wenn er beinahe meine ganze Familie getötet hätte, würde ich immer noch gerne nachts mit ihm Wein auf seinem Schiff trinken und „die Sterne beobachten“.

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Name

Paul Fischer (62) Herkunft

Rostock, Deutschland Verbindung zum Neckar

Kapitän auf der MS Wilhelma

Paul Fischer

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von Katharina Traub

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Adam Wiśniewski

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von Dominic Berner


DER STAPLERFAHRER 

Es ist kurz nach halb sechs, als Adam Wiśniewski den Schlüsselbund aus der Seitentasche seines Blaumanns kramt. Er  schließt die schwere Stahltür auf der Flussseite der Lagerhalle auf. Doch bevor er eintritt, dreht er sich noch einmal um und hält inne. Er steht da, an der geöffneten Tür. Kräftig zieht er die kühle Morgenluft in seine Lungen und betrachtet die vielen Lichter, die aus der Dunkelheit blitzen. Rot, gelb, weiß. Sie spiegeln sich im ruhigen Wasser des Neckars wieder. Er blickt auf die Hallen des Stuttgarter Hafens, die gestapelten Container, die Kräne auf dem Kai. Silhouetten in der Dämmerung. Alles weit, alles groß, alles wuchtig und schwer. Dieses Bild, nein dieses Gefühl, bezaubert ihn jeden Tag aufs Neue. 09 Zeit, den er sich nimmt. Und das seit 31 Jahren. ―— Es beginnt kein Arbeitstag ohne dieses Ritual, diesen Augenblick Eine lange Zeit, wie er findet. Der große, stämmige Mann atmet ein und atmet aus. Bestimmt zwei Minuten steht er so da. Man hört das stille rauschen der Autos auf der B10. Ganz leise. Ein sonores Hintergrundgeräusch, dass immer da ist; immer da gewesen ist. Das allenfalls durch das Hallen aufeinander krachender Container oder das Piepen rückwärtsfahrender LKW unterbrochen wird. Ja, Adam Wiśniewski liebt 08 diesen Ort. Er ist glücklich, dieses neue Leben zu haben. Plötzlich durchbricht das Dröhnen einer Sirene die Stille. Das Zeichen, dass seine Schicht beginnt. Er wendet sich der Halle zu und geht zielstrebig in das taghelle Innere.

DOCH DIESES NEUE LEBEN – ES HATTE SEINEN PREIS. 07

OŁAWA 1979 Wiśniewski ist Staplerfahrer. In den 31 Jahren, die er bereits in der Logistikfirma arbeitet, hat er es in eine führende Positi06 on geschafft. Nun hat er sieben Mann unter sich. „Morgen Meister!“, ruft einer der Mitarbeiter. Wiśniewski schmunzelt, nickt dem jungen Mann wortlos zu. „Das sind alles kräftige und fleißige Jungs, gute Männer“, sagt Wiśniewski und steuert auf das Lagerbüro zu. „Aber niemand ist so stark wie ich. Obwohl ich so ein alter Sack bin.“ Der 55-Jährige zieht die Schutern nach hinten und lacht trocken. ―— Die Muskelkraft, das war schon immer Wiśniewskis Stärke gewesen. Geboren ist 05 er im polnischen Oława. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf, sein Vater war Polizist, seine Mutter kümmerte sich um Haus und Hof. „Ich war ein zurückhaltendes Kind“, blickt er zurück. Sein polnischer Akzent sticht immer wieder heraus. „Doch ich war schon immer größer und kräftiger als meine Klassenkameraden. Deshalb gab es in der Schule nie Probleme.“ Er lächelt und öffnet die blaue Kunststofftür des Lagerbüros. An der Magnetwand im Inneren, hängen die Schichtpläne 04 der Mitarbeiter. „Heute also Bantan-Lager“, seufzt Wiśniewskis nach einem flüchtigen Blick auf seinen Zettel. Er wendet sich der Filterkaffee-Maschine zu und gießt das wässrige, schwarze Gebräu in eine Tasse. „I love Stuggi“ steht auf dem Becher, seine dicken Finger passen nur schwer durch den Henkel. ―— Es war Wiśniewskis Sportlehrer, der das Talent in ihm entdeckte. „Ich erinnere mich daran. In der achten Klasse, da war ich vielleicht 13 03 oder 14 Jahre alt, hatten wir zum ersten Mal Kugelstoßen im Unterricht. Es gab nur die schweren Kugeln für Männer. Siebeneinhalb Kilo wiegen die. Eine dieser Kugeln habe ich elf Meter weit geworfen.“ Die anderen Jungen aus seiner Schule, sofern sie das Sportgerät Halle 04 über­haupt heben konnten, warfen fünf, der beste nach ihm, sieben Meter weit. Aber elf? M. Preymesser „Das war der Beginn meiner sportlichen Karriere“, sagt der Hüne. Wiśniewski trat in den örtli02 chen Sportverein ein und gewann bei lokalen Sportfesten eine Medaille nach der anderen. WROCŁAW 1982 Der Wunsch, sein Heimatland Polen zu verlassen, kam Jahre später. Er wechselte in den 30 Kilometer entfernten Leichtathletik-Club von Breslau, wo die Elite trainierte. „Die Entscheidung nach Breslau zu gehen, kam nicht von mir“, sagt der Staplerfahrer und nimmt auf einem herumstehenden Aluminiumstuhl Platz. Der Sitzt ächzt unter den drei Pfund Mensch, die nun auf ihm ruhen. Bis jetzt sei noch kein LKW mit Ware eingetroffen, rechtfertigt er seine Untätigkeit. „Nein, eigentlich wollte ich nicht weg“, fährt Wiśniewski fort. „Ich hatte mich in dem Verein von Oława wohl gefühlt, meine Freunde trainierten dort. Alles, was sich mein Coach wünschte, war, mich zum polnischen Meistertitel zu führen.“ Doch der Breslauer Club meldete Interesse an – und das kam einem Befehl gleich. ―— Polen war ein kommunistischer Staat. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Entscheidungsfreiheit – Be­griffe, die in dem Land keinen Wert hatten. Und so wussten alle genau, was zu tun war, als der Brief vom nationalen Sportverband kam. Vor allem sein Vater, ein treuer Staatsdiener, duldete keine Widerworte. Es ging für ihn nach Wrocław, wie Breslau auf Polnisch heißt. Im neuen Verein war schnell klar, dass vor Wiśniewski eine große Zukunft liegen würde. Er 027



Name

Adam Wiśniewski (55) Herkunft

Oława, Polen Verbindung zum Neckar

Staplerfahrer bei M. Preymesser im Hafen Stuttgart


war 16 Jahre alt, warf jedoch weiter als viele seiner älteren Vereinskameraden. „Da kam schnell Neid auf, bei den anderen“, erinnert sich der Staplerfahrer. „Das war wie ein Internat. Wir teilten uns zu viert ein Zimmer.“ ―— Es geschah eines nachts; der junge Kugelstoßer schlief tief und fest. Fünf Vereinskameraden schlichen sich in sein Zimmer und warfen eine Wolldecke über ihn. „Ich bin aufgewacht, aber es ging alles so schnell. Das war alles vorbereitet, eine geplante Tat.“ Einer der Angreifer setzte sich auf seinen Brustkorb, ein Weiterer auf seine Beine. Wiśniewski versuchte sich zu bewegen – vergeblich. Und was dann geschah, könne er nie wieder vergessen. „Die anderen drei steckten Seifenblöcke in Socken.“ Der Hüne erinnert sich genau an die Gesichter der „Jungs“. „Dann droschen sie damit auf mich ein. Bei jedem Schlag habe ich gedacht, gleich sterbe ich. Ich hatte Todesangst, denn ich wusste nicht, was die mit mir machen.“ ―— Wiśniewski tastet seinen Brustkorb ab, bedeckt durch Blaumann und dunkelblauem Poloshirt. Zwei gebrochene Rippen, Blutergüsse und Prellungen. Er habe Glück gehabt, dass nicht mehr passiert war. „Als Erklärung für die Betreuer habe ich mir natürlich eine Geschichte einfallen lassen. Ich hatte nicht den Mut, die Angreifer zu verraten. Wer weiß, was beim nächsten Mal passiert wäre.“ Durch eine große Fensterscheibe des Büros, die ins Innere der Lagerhalle blickt, beobachtet der 55-jährige das Treiben der anderen Mitarbeiter. Eines der Rollo-Tore fährt nach oben. Piepend rangiert ein Fahrer seinen Laster durch das enge Annahmetor. „Sieht so aus, als gäbe es gleich etwas zu tun“, sagt Wiśniewski und erhebt sich. Sein safrangelber Gabelstapler steht nur wenige Meter weit entfernt. ―— Fünf harte Jahre verbrachte der Staplerfahrer in dem Breslauer Leichtathletik-Club. Hart war zum einen das Training, das früh morgens im Kraftraum begann und abends auf der Kugelstoßanlage endete. Hart war auch sein neuer Trainer Lech Kaminski, der ihm tagein tagaus alles abverlangte. Und hart, nein steinhart, war das Verhältnis zu den anderen Athleten, die es nicht ertragen konnten, dass er so viel besser war als sie. Wiśniewski fuhr auf Wettkämpfe: Meisterschaften der Woiwodschaft, zu nationalen und irgendwann auch zu internationalen Meetings in ganz Europa. Birmingham, Lyon, München, Stuttgart und Bratislava. Der junge Kugelstoßer kam herum, sah andere Städte und Länder und lernte das Leben außerhalb Polens kennen. Dort gab es Freiheit, Wohlstand „und sehr hübsche Frauen.“ Es war sein Jahr 1987, als er auf dem Höhepunkt seiner Sportkarriere ankam. Und es war sein Jahr, als er feststellte, dass ihm Polen zu klein geworden war. Dass er dieses Regime nicht mehr ertragen konnte. Also fasste er den Entschluss zu fliehen. Doch er wusste, dass das alles andere als leicht werden würde.

oben: Mit der speziellen Lenkung

seines Gabelstaplers, hat Adam die Möglichkeit seinen Stapler auf der

Stelle einmal um sich selbst rotieren zu lassen. Das hilft im in engen Hochregallagern.

mitte: Mit dem rechten Fußpedal

wird der Antrieb gesteuert und mit dem linken gebremst. Ob sich der

Stapler vor- oder rückwärst bewegt muss manuel über den Joystick ausgewählt werden.

unten: Über diesen Stick kann er

auch millimetergenau die Gabel und den Hubmasten und damit Lasten bis zu zehn Metern hoch heben.

LÜBECK 1987 Seine Chance kam sehr plötzlich. Viel Zeit zum Handeln blieb ihm nicht. „Ich habe niemandem von meinen Plänen erzählt“, erinnert sich Wiśniewski. „Nur mein Cousin Janusz wusste bescheid. Eines morgens rief er im Internat an und erzählte mir, dass er einen Weg gefunden hätte, wie ich ausreisen könne.“ Bei sportlichen Veranstaltungen im Ausland wurde sein Reisepass einbehalten. Als Athlet hatte er also nie die Chance gehabt, abzuhauen. Das zweite Problem: Er hatte nicht viel Geld. Der Zloty war quasi nichts wert und nur reiche Polen konnten es sich leisten, in andere Länder zu reisen. ―— „Mein Cousin hatte ein Händchen dafür, Dinge zu organisieren“, sagt Wiśniewski mit einem spitzbübischen Lächeln. „Einer seiner Bekannten arbeitete in einem Reisebüro. Janusz sagte zu mir, für 28.000 Zloty, damals ein bisschen mehr als 150 Mark, könnte ich mit dem Bus nach Lübeck fahren – und zwar am nächsten Morgen.“ 28.000 Zloty, der durchschnittliche Monatslohn eines polnischen Arbeiters. „Das war extrem viel Geld.“ Doch zugleich vielleicht die einzige Chance. Denn die Busverbindungen waren knapp, Sitzplätze extrem teuer und schwer zu bekommen. „Ich hatte genau 29.723 Zloty auf der hohen Kante, daran erinnere ich mich noch heute. Also beschloss ich, die Chance zu ergreifen.“ ―— Pünktlich um 5.30 saß der damals 22-jährige Wiśniewski in dem rostroten Reisebus. Es war November, der Morgen dunkel und kühl. „Ich fror, hatte nur eine kleine Trainingstasche mit Kleidung und den 1.723 übrigen Zloty dabei. Mir war übel, immerhin wusste ich nicht, wann ich meine Heimatstadt, meine Eltern und Familie wiedersehen würde. Während der Fahrt schaute ich aus dem Fenster, bei jedem Halt habe ich mit dem Gedanken gespielt, aus dem Bus zu springen.“ Doch er blieb sitzen. Der Bus passierte irgendwann die Grenze zur DDR und verließ sie wenige Stunden später wieder. Dann, kurz hinter der Grenze zur BRD, kam der junge Kugelstoßer an. In der großen Hansestadt Lübeck. In Deutschland. ―— Der Adam Adam Wiśniewski

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von Dominic Berner


Wiśniewski der Gegenwart braust auf seinem Gabelstapler durch die Halle. Paletten wer- oben: Seit 2001 arbeitet Adam mit den aufgegabelt und in den Hochregalen des Bantan-Lagers abgestellt. Der ehemaliger einem Elektro-Dreirad-GabelstapKugelstoßer und sein Gefährt – ein Herz und ein Transportgerät der Extraklasse. Er nimmt ler der Marke OM Carelli aus Italien. die Waren mit einer Leichtigkeit auf, die nur durch Routine kommen kann; durch die tausendfachen Wiederholungen der Handgriffe und Bewegungsabläufe. Und das alles mit einer Präzision, bei der es schwer fällt, an Augenmaß zu glauben. Mittlerweile ist Wiśniewski ein absoluter Vorzeige-Staplerfahrer, von Vorgesetzten und Kollegen hoch geschätzt. Doch als er damals in Lübeck auf der versifften Matratze des Obdachlosenheimes lag, hatte er noch eine andere Laufbahn einschlagen wollen. ―— „Ich war jung, hatte nur 1.732 Zloty und keine Unterkunft“, sagt der Hüne. In einer Wechselstube bekam er neun Mark. Das reichte für eine Nacht in der Jugendherberge – oder für etwas Essen. Es war Samstag, kein Amt hatte geöffnet. Er musste also noch das Wochenende überstehen. „Ich kaufte mir in einem Supermarkt Lebensmittel und übernachtete zwei Nächte lang auf einer Parkbank am Stadtrand. Ich schämte mich, kam mir vor wie Abschaum.“ Montags im Amt wurde er nur vertröstet. Sein Asylgesuch müsse bearbeitet werden, das konnte zwei Wochen dauern. „Die Frau im Rathaus schickte mich zur Bahnhofsmission. Das hat natürlich lange gedauert, bis ich das verstanden habe. Ich konnte ja kein Deutsch. Dort schlief ich am Ende circa eineinhalb Monate lang“, sagt er. Wiśniewski ist den Tränen nahe, die Gedanken an diese Zeit scheinen ihn zu zerfressen. KIEL 1987 Dann, nach eineinhalb Monaten, sollte er sich bei einer Behörde in Kiel melden. Dafür bekam er im Lübecker Amt eine Fahrkarte und einen ganzen Stoß Dokumente. „Im Zug habe ich versucht, zu verstehen, was die von mir wollen. Aber natürlich war alles auf Deutsch, teilweise auch auf Englisch. Aber das konnte ich auch nicht“, erinnert sich Wiśniewski. Ein erzwungenes Lächeln huscht über seine Lippen. Man spürt jedoch deutlich, dass diese Situation damals alles andere als lustig war. ―— Auch in Kiel wurde er vertröstet, lebte mehrere Monate in einem maroden Asylantenheim und verlor langsam die Hoffnung. „Zum ersten Mal seit ich aufgebrochen bin, wollte ich wieder zurück nach Hause. In meinem jugendlichen Leichtsinn hatte ich mir das so einfach vorgestellt.“ Doch das war es beim besten Willen nicht. Das einzige, das ihm in dieser Zeit Kraft gab, war der Sport. Der 22-jährige Wiśniewski hatte kein Geld, um in einen Verein einzutreten. Deshalb schlich er sich früh morgens oder spät abends in ein nahegelegenes Leichtathletikstadion, wo er mit Backsteinen trainierte. „Ich wollte mich fit halten. Denn ich dachte mir: Wenn der ganze Papierkrieg mit der Aufenthaltsgenehmigung überstanden ist, dann starte ich als Sportler durch.

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STUTTGART 1988 Der Winter 89 war hart. Nicht nur weil die Temperaturen in Nord- und Ostdeutschland die Minus-30-Grad-Marke kratzten, nein, für Wiśniewski sah es sehr finster aus. Die Ausländerbehörde wollte den jungen Polen ausweisen. „In dem Schreiben stand, dass ich nicht die nötigen Bedingungen für politisches Asyl erfülle“, sagt der Staplerfahrer. Sollte es das gewesen sein? Der ganze Ärger, die Strapazen, die er auf sich genommen hatte – alles umsonst? Doch es kam anders. ―— „In der Asylunterkunft war ein anderer Pole, Jusek. Er kam aus Schlesien und hatte das Gleiche Problem wie ich.“ Und Wiśniewskis Landsmann hatte eine Idee. Es war die Zeit, in der Osteuropäer mit deutschen Wurzeln, ihre Staatsangehörigkeit gegen eine Deutsche eintauschen konnten. Ein Überbleibsel der Zwangsumsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg. „Jusek sagte, dass wir nur auf diese Weise hier bleiben durften. Bloß hatte ich keine deutschen Vorfahren.“ Zumindest dachte das junge Pole. ―— Schweren Herzens rief er seine Eltern an, nachdem er ihnen zuvor nur Briefe geschickt hatte. „Das war günstiger“, sagt er. „Meine Mutter ging ans Telefon. Sie war erschüttert und überglücklich zugleich meine Stimme zu hören. Ich bat sie, im Familienstammbaum nachzuschauen, ob einer unserer Vorfahren Deutscher war.“ Tatsächlich – Wiśniewskis Ururgroßeltern mütterlicherseits waren Preußen. Sie hatten in Danzig gelebt. „Sie schickte mir eine Kopie des Stammbaums zu.“ Wiśniewski legte die beglaubigte Kopie der Ausländerbehörde vor, die ihn daraufhin nach Stuttgart schickte. Der Grund: In der Landeshauptstadt war zu dieser Zeit das einzige Büro in Deutschland, das sich um diese Belange kümmerte. ―— Wiśniewski erinnert sich noch genau an den Tag, an dem er in Stuttgart ankam. Am alten ZOB am Hauptbahnhof. „Irgendetwas an der Stadt gefiel mir. Vielleicht war es eine göttliche Fügung, aber ich hatte nach wenigen Tagen das Gefühl, in dieser Stadt ein neues Zuhause gefunden zu haben. Es war für mich die Stadt der Chancen.“ ―— Wie sollte es auch anders sein? Stuttgart gilt als Nabel der Welt, das ehemalige Königreich Württemberg als Mittelpunkt der Erde. Die Stadt der Bengel, der Tüftler, Erfinder und Abenteurer. Das New York Süddeutschlands, das Chicago Zentraleuropas – das einzig wahre Stuttgart. Noch heute muss Wiśniewski an die ersten Stunden denken, die der damals 22-Jährige in der Innenstadt verbracht hatte. Einen dicker Chegg-Burger bei Udo-Snack, ein Spaziergang durch die Markthalle, um sich danach in den maßlosen Weiten, den endlosen Regalreihen des Spielwaren Kurz zu verlieren. Er setzte sich auf eine Parkbank am Schlossplatz, genoß die Aura, die besonders mineralreiche Luft, die diese Stadt umgibt. Belebt. Durchdringt. Und er tat das, was ein jeder Stuttgarter in seinem Leben tun muss: „Mini-Lokomotive fahren im Höhenpark Killesberg“, sagt der Hüne. ―— Die Registrierungstelle für Deutsche aus dem ehemaligen Ostpreußen lag in Bad Cannstatt. Noch am selben Tag schlug er dort auf und reichte sein Stammbaum ein. Und als er das Gebäude auf der Rückseite verließ, sah er ihn: Den Neckar in all seiner Pracht. Der Fluss hatte nichts mit dem Oława zu tun, der Flusses, der durch seine gleichnamige Heimatstadt, aber auch durch Breslau fließt. Einen Fluss wie diesen hatte er weder in London, noch in Paris oder einer anderen europäischen Metropole gesehen. Der junge Stuttgarter – Wiśniewski würde wenige Tage später den deutschen Pass bekommen und beschließen in Stuttgart zu bleiben – sah in dem güldenen Strom den Huang He, den gelben Fluss, der China doch so viel Reichtum und Macht gebracht hatte, nein, der Neckar war mehr. Der Neckar ist einzigartig, kein Fluss auf dieser Erde konnte es mit ihm aufnehmen, das wusste er im ersten Augenblick. ―— Der junge Pole merkte, dass ihm diese Stadt alles bieten konnte. Nur der Sport, das konnte sich der junge Mann damals abschminken. Erstens hatte er kein Geld, um in einen Verein einzutreten und zweitens gab es hier nur die Leichtathletik-Abteilung des MTV Stuttgart. Und ob die ihn nehmen würden? „Ich wagte nicht, dort aufzukreuzen.“ Deshalb suchte er sich einen Job und wurde

DER STAPLERFAHRER. Alles ist ausgeladen, der LKW wieder abgefahren. Zwei Stunden seiner Schicht sind bereits um. Wiśniewski stellt seinen Stapler ab und setzt sich wieder auf den Aluminiumstuhl im Büro. Eine Viertelstunde hat er nun Pause, dann kommt der nächste Laster. Und sein lavaroter Stapler tanzt wieder durch die Hallen. Anmerkung des Autors: Alle Namen im Text wurden abgeändert. Während des Interviews demolierte Adam W. drei Hochregale

und durchstieß mit der Gabel seines Stapler neun Fertigbauwände aus Gips. Nach ersten Polizei-Schätzungen beläuft sich der Schaden auf 29.723 Euro. Ein Schnelltest ergab bei dem 55-jährigen W. einen Atemalkoholwert von etwa 3,2 Promille. Gegen

den Staplerfahrer, der seit 31Jahren in der Spedition beschäftigt ist, wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Er muss damit rechnen, seine Anstellung zu verlieren.

rechts: Sein Haupteinsatzgebiet ist die Halle 04

auf dem M. Preymesser Hafenareal über die der Warenein- und -ausgang abgewicklet wird.

Adam Wiśniewski

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von Dominic Berner


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ROW, ROW, ROW YOUR BOAT. GENTLY DOWN THE STREAM. MERRILY MERRILY, MERRILY, MERRILY. LIFE IS BUT A DREAM. Ein Perspektivwechsel zur Wahrnehmung des Neckars und eine Reportage über die Sportart Rudern und das

Vereinsleben in der Stuttgarter Rudergesellschaft. Stuttgart ist so nah am Wasser gebaut, wie Hamburg an den Bergen. Das mag

vielleicht auch dieser Tage, ab und an noch eine Anmerkung sein, die manch ein Stuttgarter zum Ausdruck bringt, um Anzuregen, dass man mehr aus dem

Stuttgarter Flussabschnitt machen kann. Na klar, wenn man an Stuttgart denkt, dann fällt einem sicher viel ein, aber wohl als Letztes das Sinnbild von

Stuttgart als „Stadt am Fluss“. —— Nun was gilt es zu sagen. Der Neckarabschnitt in Stuttgart ist tatsächlich keine Pracht: Am Stuttgarter Hafen an Kilo-

meter 190 drängt sich das große Containerterminal an diverse Logistikfirmen

und Recyclingbetriebe. Der Industriecharme zeigt sich hier voll und ganz. Und

ist man doch mal ehrlich: So richtig viele Stuttgarterinnen und Stuttgarter ken-

nen diese Ecke wohl kaum und dennoch ist es irgendwie ein Ort, der Einen zum

Anregen und Nachdenken bringt und ein Fleckchen, das man sicher mal Entdecken kann.

—— Aber nun gut: Wir blicken flussabwärts Richtung Unter-

türkheim. An einem kleinen Seitenarm des Inselbades gelegen, gibt es seit rund 120 Jahren das Bootshaus der Stuttgarter Rudergesellschaft. Hier kann

man den Wasser- und Freiluftsport „Rudern“ erlernen. Das heimische Revier Philip Sporer

032

von Philip Sporer


erstreckt sich von Neckar-Kilometer 186 bis 182, vom Inselbad in Untertürkheim bis zum Mineralbad Leuze in Cannstatt. Auch eher einmal ein Neckarabschnitt aus der Rubrik: Schöner geht’s (n)immer. —— Etwas idyllischer und

belebter wird der Neckar dann tatsächlich ab Bad Cannstatt und je weiter man

Richtung Stuttgart-Münster, Hofen und dem Max-Eyth-See blickt, desto ru-

higer und entspannter kommt einem der Neckar hier tatsächlich vor. Am Ran-

de der Weinberge schlängelt er sich schließlich aus dem Kessel hinaus. ——

Aber nun wieder zurück, zum Stückchen Fluss zwischen dem Untertürkheimer Mercedeswerk und Bad Cannstatt. Hier ist der Neckar industriell begradigt

worden. Kerzengerade zeigt er sich und ziemlich breit scheint er auch zu sein

und stets von großen Containerschiffen und einigen Tankern befahren. ——

Aber einmal davon abgesehen, dass es sich um eine Bundesschifffahrtsstra-

ße handelt, gelten diese fast 4 Flusskilometer als Heimat einiger Wassersportler, wie den Ruderern, Kanuten und seit der Initiative „Neckarwelle“ auch

vereinzelt, den Surfern oder Standup-Paddlern. Ohne den Neckar an dieser Stelle, wären all diese Wassersportarten für Stuttgart wohl undenkbar. Nun

lasst uns also diese Perspektive genauer betrachten: Was bringt der Sport

„Rudern“ eigentlich genau alles mit sich? Was macht ihn so Einzigartig und wie

kommt man überhaupt dazu? Ein exemplarischer Perspektivwechsel über die

Faszination zum Rudersport. Teil 1: Zweier Ohne

Es ist 5:40 Uhr. Max Wecker klingelt. Er drückt nochmal die Snooze-Funktion, bevor er noch weitere drei Minuten liegen bleibt. Nun, voller Tatendrang startet

er in den Tag. —— Es dröhnt die Kaffeemaschine, eine kurze Pause bleibt, be-

vor er den letzten Rest des Milchschaums aus der Tasse löffelt, seine Tasche schnappt, schnurstracks das Haus verlässt und sich auf sein rotes Rennrad schwingt. —— Es ist noch kühl draußen. Max warmer Atem legt sich durch

den grauen Morgen. Er radelt mit Vollgas durch die leeren Straßen um noch 033


pünktlich am Bootshaus anzukommen. —— Um Punkt 6:10 Uhr ist er schließ-

lich an der Halle. Etwas müde aber routiniert begrüßt er Ben, der bereits umge-

zogen auf Max wartet. —— Ben und Max rudern seit sie 12 Jahre alt sind. Sie

verbindet neben einer langen Freundschaft, die Faszination zum Rudersport. Im Zweier-Ohne geht es heute raus aufs Wasser. Fix die Skulls (Ruderblätter)

an den Steg getragen und das Boot geschnappt – dann kann die Tour starten.

Sie rudern hier inzwischen seit fast 13 Jahren in unterschiedlichen Teams. Zusammen, oder auch mal alleine. Bei jedem Wetter und jeder Jahreszeit. Egal

ob im Hochsommer oder bei Minusgraden im Winter. Getreu dem Motto es

gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung, lässt es sich nahezu fast immer rudern. —— Ben und Max starten an diesem Dienstagmorgen um 6:30

mit einem gemeinsamen Training in den Tag, bevor jeder seiner Arbeit nach-

geht. Die Sonne geht langsam auf. Stuttgart-Ost und die B10 Erwachen allmählich zum Leben. Der Gaskessel glänzt im Licht, das Wasser ist spiegelglatt

und die Vögel zwitschern. Nur ein Surren des Ruderblatts ist im Wasser zu hö-

ren und das Klicken der Dolle gibt den Takt vor. Ansonsten zeigt sich der Ne-

ckar an diesem Morgen von seiner frühlingshaften Art. —— Nach gut zwei

Stunden treffen wir Max und Ben zufrieden und glücklich nach dem morgendlichen Training am Bootshaus an und dürfen den beiden drei kurze Fragen stellen, bevor sie schließlich weiterziehen:

—— Was hat Euch zum Rudern gebracht?

Rudern stand nie auf unserem Plan. Irgendwie war das Alles zufällig. Damals

gab es an unserer Schule die Möglichkeit auch andere Sportarten auszuprobieren, fernab vom klassischen Ding wie Fußball oder Handball. Und irgend-

wie haben wir das dann einfach mal ausprobiert. Und aus einer anfänglichen Schul-AG, wurde schließlich ein Hobby. Und aus dem Hobby schließlich ein

Fulltime-Sport, den wir nun schon lange machen um auch regelmäßig an Wettkämpfen und Regatten teilzunehmen. Es gehört irgendwie zum Leben dazu. Philip Sporer

034

von Philip Sporer


—— Was ist das Besondere an diesem Sport?

„Es ist ein unglaublich vielfältiger Sport, auch wenn man vielleicht beim Olympiaschauen nur denkt, da sitzen ja völlig monoton Leute zusammen in einem

Boot und geben einfach Vollgas und ab geht das Ding. Irgendwie ist es das

aber nicht. Egal ob alleine aufs Wasser gehen, im Zweier oder im Groß-Boot

zu Viert oder gar zu Acht – diese Abwechslung ist schon cool. Und dazu vereint es zudem die Ausdauer und Kraft. Da gehört schon viel Training und Disziplin

dazu aber man trainiert einfach den ganzen Körper, von Kopf bis Fuß. Das gibt es in nahezu keinen anderen Sportarten und ist ein tolles Ding.“

—— Wodurch zeichnet sich der Sport aus?

„Der Sport ist 365 Tage im Jahr möglich, selbst wenn einem das Wetter mal

einen Strich durch die Rechnung macht, steigen wir auf das Indoor-Ergome-

ter um und trainieren auch so. Neben der Ausdauer die man sich antrainiert, gilt es auch die Kraft zu steigern. Dazu kommt dann noch die Rudertechnik, die sich tatsächlich nicht von heute auf Morgen aneignen lässt, da braucht man

schon etwas Zeit und Geduld. Aber hat man mal den Dreh raus, ist es ein un-

glaubliches Gefühl, fast schwerelos über das Wasser zu gleiten.“ Teil 2: Die Ruder-Opas: Heinz Herrmann & seine Jungs.

Heinz, Wolfgang und Hans-Dieter, die drei Alt-Herren aus Stuttgart-Ost, Esslingen und Waiblingen genießen den Ruhestand, das Leben und die Freiheit

durch und durch. Die Drei kennen sich seit über einem halben Jahrhundert und

es verbindet sie eine tiefe Bier- und Sport-Freundschaft, die bis heute anhält.

—— Neben gemeinsamen Skatabenden, Wanderausflügen und diversen Aktivitäten, steigen die drei Mitsiebziger mindestens zweimal die Woche ins Ruderboot und ab und an schippern sie auch heute noch über die Seen und

Flüsse des Landes. Wanderfahrten, Tagestouren oder doch nur etwas über 035


den Stuttgarter Neckar. Die drei machen so viel, wie gesundheitlich noch möglich und sind stolz auf das, was sie noch fit und jung hält. —— Das Dogma der

Drei: die Lebensfreude und den Spaß an Allem niemals verlieren und alles tun, um einer Langweile im Alter entgegen zu wirken. Der Sport ist dabei sicher nur

eine Säule der Ruheständler. Auch in diversen Ehrenämtern unterstützen die

Drei auf vielfältige Weise und stets gebraucht zu werden, ist ihr Bestreben.

—— Als wir an diesem sommerlichen Sonntagmorgen, um die Ecke biegen und endlich am Bootshaus der Stuttgarter Rudergesellschaft ankommen, warten

die Drei bereits sehnsüchtig auf uns. Die Sonne scheint, ein lautes Lachen ist

von Weitem über den Bootsplatz zu hören und wir lauschen den wunderbarentspannten Gesprächen. Wir blicken auf dem hiesigen Platz und für einen

Sonntag herrscht hier schon reger Sportbetrieb. Von Jung bis Alt, von den

Leistungssportlern bis zu den Freizeitruderern, sind gut 30 Leute hier an diesem warmen Sonntagmorgen sportlich zu Gange. —— Heinz, Wolfgang und

Hans-Dieter begrüßen uns freundlich und kaum sind wir im Gespräch, star-

ten auch schon die unzähligen Geschichten und Anekdoten- anbei nur zwei

beispielhafte Auszüge, die wir auswählten. (Ansonsten hätten wir sicher gan-

ze Bücher mit diesen Biergeschichten füllen können.)

—— Alt geworden seid ihr hier im Sportverein. Wie trägt denn in Euren Augen ein solcher Sportverein dazu bei, die Gemeinschaft zu stärken und

voneinander zu lernen?

Heinz: Ich hätte nie gedacht, dass sich jemand für uns interessiert, denn wir

sind drei relativ bescheidene Typen und schon lange hier im Verein dabei. Al-

lerdings ist es toll, den Wandel der Zeit zu sehen und zu unterstützen wo es

nur geht und zu merken, dass man gebraucht wird.

Wolfgang: Seht euch das bunte Treiben hier an: Jung und Alt, Anfänger und

Profisportler treffen auf einander, machen Sport, plaudern, trinken ein BierPhilip Sporer

036

von Philip Sporer


chen oder helfen sich sonst in allen Belangen des Lebens gegenseitig. Das

macht das Vereinsleben aus. Irgendwie einfach schön und unbedarft, entsteht

hier ein Gemeinschaftsgefühl, das so über viele Generationen und Jahre hin-

weg nur in den Strukturen eines Vereines funktionieren kann. Egal ob es ein

Musikverein, die Rudertruppe oder sonst eine Gemeinschaft ist. Jeder unterstützt jeden, man wird wachsam, und ist Füreinander da. Solche Strukturen

sollte es viel öfters im Leben geben und toll, dass wir hier im Verein mehr als

nur die alten Hasen sind.

Hans-Dieter: Ja! Wir freuen uns Teil des großen Ganzen zu sein. Und ist man

mal ehrlich. Hier entstehen Freundschaften fürs Leben und der gemeinsame

Sport verbindet: Egal ob es der Vorstandsbanker ist, der in Schlips und Anzug

nach einem hektischen Arbeitstag hierherkommt um abzuschalten, die Familien, die Kids oder wir alten Säcke – im Alltag würden wir uns sicher, so nicht begegnen und mitbekommen was passiert. Das ist doch das schönste.

—— Viele Fragen sich nun vielleicht, was sich im Laufe der Zeit wohl am meisten verändert hat. Ihr seid ja mit die Ältesten hier im Club. Gibt es in

Euren Augen Veränderungen die nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch den Sport anbelangen?

Hans-Dieter: Uff – da gibt’s allerhand. Irgendwie dreht sich die Welt ja ständig

weiter und nicht nur wir werden älter und verändern uns, sondern auch Alles

andere. Das ist ja gerade das Spannendste. Aber was ich dazu sagen kann, ist

das tatsächlich alles etwas hektischer und trubeliger wirkt. Oder zumindest

kommt es mir nur so vor, da wir uns entspannt zurücklehnen können. Aber tatsächlich wird alles viel schnelllebiger und oft zählen nur die Momente, als das

große Ganze. Das merken wir oft, wenn wir die Kinder trainieren, da herrscht so

viel Druck auf Leistung und Erfolg und man darf bloß nicht unsicher wirken und sich auch mal auf Dinge entspannt einlassen, dass ist zumindest der jungen 037


Generation und unserer Leistungsgesellschaft oft nachgesagt. —— Höher, schneller, besser – zählt nicht nur in der Karriere, sondern auch im Sport. Das spüren wir schon oft bei den Kleinsten, wenn wir sie im Training begleiten.

Wolfgang: Das stimmt Hans-Dieter, aber natürlich versuchen wir hier durch

Lockerheit zu punkten und wenigstens hier im Verein den Druck rauszunehmen. Das merken wir oft daran, dass das Training und die Sporteinheiten dann

auch genießen werden können und man hier im Verein einfach Spaß haben darf und aus dem Alltag ausbrechen kann. Diese Dankbarkeit spüren wir ganz oft.

Heinz: Klar, der Spaß ist doch das was zählt und auch der Sport entwickelt sich weiter und ist das beste Mittel um abzuschalten. Und was die generelle

Veränderung im Sport anbelangt: Naja das ist ja noch der generelle zeitliche Wandel. Vor gut 40 Jahren saßen wir noch in alten Nussschalen und ruderten

in halben Baumstämmen umher, heute ist das ja wie viel besseretwas mehr

Hightech.

Philip Sporer

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von Philip Sporer


039


03

Siegfried Köhler kennt den Stuttgarter Hafen wie seine Westentasche. Der 59-Jährige ist Leiter des Wasserschutzpolizei-Postens 4 in Obertürkheim. Er ermittelte in den schwersten Verbrechen und leitete jahrelang die Sondereinsatzgruppe RuOiStHA (Recht und Ordnung im Stuttgarter Hafen). Ein Mann der ersten Stunde und ein Haudegen vor dem Herrn. Im Interview mit unserem Blatt erzählt er von seinen schwersten Fällen.

02

Wasserschutzpolizei Stuttgart



Name

Siegfried Köhler (59) Herkunft

Stuttgart, Deutschland Verbindung zum Neckar Wasserschutzpolizist

db |

Herr Köhler, seit fast 35 Jahren arbeiten Sie als Wasserschutzpolizist im Stuttgarter Hafen. Welcher Fall hat Sie am stärksten beschäftigt in der Zeit?

sk |

Verschwinden Sie schleunigst vom Gelände hier, sonst rufe ich die Polizei.

db |

Ich dachte Sie sind bei der Polizei?

sk |

Ich bin bei der WASSERschutzpolizei, was glaube Sie denn? An Land sind meine Kollegen von der LANDespolizei zuständig. Also machen Sie die Flatter, das hier ist Privatgelände.

db |

Herr Köhler, beruhigen Sie sich bitte. Ich suche gleich das Weite. Bitte beantworten Sie mir doch die Frage, die ich Ihnen anfangs gestellt habe.

sk |

Ich glaube, Sie hören schlecht! Ich hätte jetzt gerne Ihren Personalausweis gesehen.

db |

Nun kommen Sie schon – ich bin extra wegen Ihnen hier hergefahren.

sk |

Das macht die Sache nicht unbedingt besser. Wissen Sie eigentlich wie gruselig es ist, wenn ein Wildfremder auf Sie zugelaufen kommt und anfängt, private Fragen zu stellen? Noch dazu in einem menschenleeren Hafengebiet? Also Personalausweis bitte, sonst muss ich Gewalt anwenden.

db |

Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie gelten am Stuttgarter Hafen als Kultfigur, haben bereits verschiedenste, große Razzien gegen das organisierte Verbrechen geleitet. Bitte beantworten Sie mir doch die Frage, die ich Ihnen gestellt habe.

sk |

Hauen Sie dann ab?

db |

Ja!

sk |

Versprochen?

db |

Ja, ich verspreche es.

sk |

Nun gut. Ich habe in den fünfunddreißigEINHALB Arbeitsjahren – da haben Sie etwas schlecht recherchiert – so manche Gaunereien aufgedeckt. 1991 beispielsweise, da hat ein niederländischer Tanker elf Flaschen unversteuerten Bourbon Whiskey eingeschmuggelt. Da wären dem Fiskus beinahe 36 Mark durch die Lappen gegangen. Aber nicht mit mir.

db |

Finden Sie das nicht etwas kleinlich? Ich hatte gehofft, Sie haben eine haarsträubendere Geschichte für mich?

sk |

Warten Sie doch mal ab, es kommt noch viel doller. 1987 haben wir ein privates Flussboot hops genommen. An Bord waren zwölf Bulgaren. Frauen, Kinder, junge Männer.

db |

Illegale Migranten? Haben Sie einem Schleuserring das Handwerk gelegt?

Siegfried Köhler

040

von Dominic Berner


sk |

Ach Quatsch. Die hatten alle einen deutschen Pass, waren Freunde des Besitzers. Nur haben die an eine Sache nicht gedacht: Es gab nur elf Rettungswesten an Bord. Absolut gesetzwidrig. Stellen Sie sich mal vor, was da hätte alles passieren können.

db |

Das ist ja allerhand. Die haben Sie sich hoffentlich zur Brust genommen.

sk |

Aber Hallo! Ordentlich die Leviten gelesen habe ich denen. Aber eine Geschichte habe ich noch parat: die vom schrecklichen Holger. Ein Freibeuter, der hier auf dem Neckar sein Unwesen getrieben hat. Einer von der übelsten Sorte.

db |

Ist das Ihr ernst? Es gab Piraten auf dem Neckar?

sk |

Was heißt GAB? Es GIBT sie immer noch. Käpt’n Holger hat 97 – es war ein heißer Juli-Tag – zwei Mädchen überfallen uns sie übel zugerichtet. Die damals 17- und 18-Jährigen waren gerade auf dem Heimweg und fuhren auf ihren Fahrrädern den Neckarradweg entlang. Eine von beiden kam auf die Idee, die Füße ins kalte Flusswasser zu hängen. Sie schlossen ihre Räder an einen Baum an und stiegen den kurzen Hang zum Ufer nach unten. Plötzlich sahen sie ein motorisiertes Schlauchboot immer näher kommen. Es machte einen Höllenlärm. Sie dachten sich nichts dabei und setzten sich auf die Betonstufen, die Füße im Wasser.

db |

Und dann?

sk |

Erst dann sahen Sie, dass der Fahrer des Schlauchbootes geradewegs auf Sie zusteuerte. Er war blau wie ein Schlumpf und schien nichts mehr unter Kontrolle zu haben.

db |

Der Fahrer – war das der schreckliche Holger?

sk |

Ja, das war er. Er rauschte in die beiden Mädchen und verletzte sie schwer. Doch anstatt Hilfe zu holen, stahl er eines der beiden Räder und floh. Auf Höhe des Cannstatter Wasens stürzte er und schlug sich das Kinn auf. Ich habe ihn dort mit einer dreiköpfigen Einheit festgenommen.

db |

Herr Köhler, das klingt nach eine unglaublichen Geschichte. Zugegebenermaßen bin ich aber etwas enttäuscht. Ich hatte mir Mafia-Geschichten oder. Wieso ziehen Sie Ihre Pistole? Hey, ruhig bleiben. Ich, ich hau ja schon. (BAM!)

db |

Haben Sie im ernst auf mich geschossen? Sie hätten fast meine Wade erwischt.

sk |

Das war ein Warnschuss. VERPISSEN SIE SICH JETZT!

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Lasse Langner – Sonntag, 21. Juni 16:11 Uhr Schon im Winter hatte sich Mia sehr über das Geschenk ihrer Freunde gefreut. Heute, also fast ein halbes Jahr später, war es nun endlich soweit und sie platzte fast vor Aufregung, denn sie hatte einen Tag mit ihren Freunden geschenkt bekommen. Wie aufregend dieser Tag am Neckar aber für Mia werden würde, wusste sie zu Beginn ihres Ausfluges noch nicht. Jan Kirchherr – Sonntag, 21. Juni 16:15 Uhr Ursprünglich war ein Picknick mit ihrem Yoga-Lehrer am Ufer geplant. Sie mochte ihn schon länger, daher hatte sie extra Red-Velvet-Cupcakes gebacken. Doch auf dem Weg zum Picknick sah sie etwas, dass sie stutzig machte. Maria Hiegelsberger – Sonntag, 21. Juni 17:55 Uhr Eine Gruppe an Kleinkünstlern stellte ein Toastbrot dar, dass aus einem Toaster entspringt. Ein paar Schaulustige hatten sich bereits interessiert versammelt. Neben diesem Klamauk breitete sie ihre Picknickdecke aus, als einer der Schauspieler erwartungsvoll auf sie zu kam. Katja Schröpfer – Sonntag, 21. Juni 18:42 Uhr „Hey, wir kennen uns doch!“ sagte der Unbekannte, als er Mia entgegen lief. „Letzte Woche im Club, weißt du noch?“„Fuck“ dachte sich Mia – sie wusste, dass die fünf Tequila Shots keine gute Idee waren, da sie sich kaum an den Abend erinnern konnte. „Ich habe versucht dich zu erreichen - zum Glück treffe ich dich hier. Ich wollte mich noch bei dir bedanken.“ Leon Bauer – Sonntag, 21. Juni 19:59 Uhr Und da kommt ihr blitzartig wieder die Erinnerung. „Bedanken“, klar, für die Hilfe beim Zwischenfall kurz nach Mitternacht. Wie konnte sie das nur vergessen, war es doch der Aufreger des Abends gewesen. Xenia Wahl – Sonntag, 21. Juni 20:54 Uhr Einzelne Erinnerungen flimmerten wieder auf. Na klar! Wie konnte sie nur vergessen, dass er es war, als sie kurz vor Mitternacht frische Luft schnappen wollte. Einfach weg von den vielen Gedanken, die schon so lange auf ihr lasteten und sie zu erdrücken schienen – jetzt prallte alles aufeinander. Sie wollte dem Ganzen ein Ende setzen und sah in das strömende Wasser tief unter ihr, wollte sich doch einfach fallen lassen...da riss sie ein Unbekannter plötzlich unsanft zurück und beide stießen auf dem harten Beton auf. Jana Klein – Sonntag, 21. Juni 21:07 Uhr Das Licht war so hell, dass es einige Sekunden dauerte, bis sie irgend etwas erkennen konnte. Ihr Schädel brummte und tat am Hinterkopf höllisch weh. Sie erkannte einen unbekannten Mann neben sich, der sie mit weit aufgerissenen Augen ansah und fragte, wie es ihr ging. Lasse Langner – Sonntag, 21. Juni 21:07 Uhr Bevor sie antworten konnte wurde sie von zwei ihrer Freundinnen am Arm gepackt und wieder zurück in den Club gezogen. Etwas peinlich war es ihr nun, dass gerade ihr Retter sie beim Picknicken am Neckar erkannt hatte. Verlegen presste sie ein: „Hi, klar weiß ich das noch!“ hervor. Heike Lauer – Sonntag, 21. Juni 21:35 Uhr Kaum hatte sie ihren Satz beendet, wurde sie auch schon rot und ärgerte sich, dass ihr nichts Kreativeres eingefallen war. Er lächelte und sie war sich nicht ganz sicher, ob er bemerkte, dass sie ihn nicht auf Anhieb erkannt hatte. Nun stand Mia da... allein mit ihrem Retter. Dominic Berner – Sonntag, 21. Juni 21:43 Uhr Konnte sie ihn überhaupt Retter nennen? Immerhin hatte er ihr beim ersten Treffen so dreist ins Gesicht gelogen. Mia zögerte nicht lange und donnerte ihm mittig mit der Faust auf den Nasenrücken.

Mia Engelhard

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von zwanzig Autoren


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Jan Kirchherr – Sonntag, 21. Juni 22:06 Uhr Doch noch während sie den Knorpel in seinem Gesicht brechen hörte, überkam sie überraschend Reue. Mia hatte noch nie jemanden geschlagen. Sie schaute sich um, immerhin keine Zeugen, nur ein paar Enten auf den Wellen. Louisa Hoppe – Sonntag, 21. Juni 22:26 Uhr Sie überlegte einen Moment, ob sie nochmal zuschlagen sollte, nahm dann aber sein Gesicht nah zu sich ran und küsste ihn. Er schaute sie völlig entgeistert und erleichtert an und sagte „Du bist halt doch gar nicht so hart wie du denkst.“ Emely Ennenmoser – Montag, 22. Juni 08:34 Uhr Als der nächste Morgen anbrach und Mia wieder zu sich kam, musste sie erst mal schlucken. Vor ihrem inneren Auge ließ sie den Abend nochmals Revue passieren. Nie im Traum hätte sie gedacht, dass sie sich selber so verlieren könnte – dass so etwas passieren kann, obwohl sie ihn doch eigentlich liebte. Jule Fuhrmann – Montag, 22. Juni 11:33 Uhr Doch was heißt eigentlich sich selbst verlieren? Hatte sie nicht jede Veränderung in ihrem Leben – jeder neue Mensch, jedes neue Buch, jede Nacht, so wie die letzte, zu einer Neuen gemacht. Das war doch das Schöne an ihm, ihrer Liebe – sie kam, sie ging, sie lebte, erlebte, sie veränderte sich, doch er war da, egal wer sie war, so wie ihre Liebe zu ihm. Xenia Wahl – Montag, 22. Juni 11:45 Uhr Niemand der beiden blieb immer genau die gleiche Person. Lebensumstände änderten sich und so änderten auch sie sich. Wahrscheinlich fanden sie gerade deshalb immer wieder zueinander – das einander wiederfinden in gegenseitiger Veränderung. Lasse Langner – Montag, 22. Juni 12:15 Uhr Der Tag an dem er sich von ihr trennte, war erst wenige Wochen her und Mia hatte sich noch nicht so richtig von ihm lösen können. Mehrmals am Tag verfiel sie noch in Tagträume die von ihrem Retter handelten, der sie vor einigen Monaten beim Feiern vor einem schwerwiegenden Fehler bewahrt hatte. Jetzt aber saß sie hier am Neckar, verputzte ihren zweiten Cupcake und wartete auf ihre Freunde, die schließlich heute mit ihr hier ihren Geburtstag feiern wollten. In der Ferne sah sie schon Björn und Matcha mit einem Bierkasten auf sie zulaufen. Lotti Frey – Montag, 22. Juni 12:48 Uhr Als Björn seine linke Hand hob, um ihr zuzuwinken, wurde alles gleich ein wenig leichter und sie freute sich auf einen warmen Sommerabend mit ihren Freunden. Matcha kam auf sie zu und umarmte sie als erstes. „Alles Gute, Mia“ sagte sie mit einem Grinsen im Gesicht. Alicia Godel – Montag, 22. Juni 13:19 Uhr Während Mia in Matchas Umarmung verweilte, beobachtete sie Björn. Er nahm sich ein Stück Kuchen und verschlang es innerhalb von Sekunden, als hätte er tagelang nichts mehr gegessen. Mia löste sich aus der Umarmung und lief mit verstohlenem Blick auf ihn zu, in der Hoffnung, dass sie auch von ihm eine Geburtstagsumarmung bekam, in welcher sie ein paar Sekunden verweilen konnte, um an ihm zu riechen. Dominic Berner – Montag, 22. Juni 14:11 Uhr Doch dabei hatte sie ihre Rechnung ohne Björn gemacht. Er ignorierte sie und stocherte weiter in dem Kuchen herum. Mia sah rot – wie konnte er ihr das nur antun? Maria Hiegelsberger – Montag, 22. Juni 14:28 Uhr Sie stürmte davon und fing an Bäume zu umarmen, um etwas Geborgenheit zu erfahren. Björn, dieses egoistische Arschloch, hatte ja wohl glasklar Signale gezeigt, dass er für eine Umarmung offen gewesen wäre. Mit Tränen in den Augen zück-

Mia Engelhard

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te sie ihr Handy und scrollte zur Ablenkung durch ihren Insta-Feed, wie es jeder normale Mensch heutzutage tat um seinen Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Matthias Geister – Montag, 22. Juni 14:59 Uhr Mia hatte sich schon fast wieder beruhigt, als sie es fand. Dieses heuchlerische Bild zusammen mit dem unpassendsten Zitat, das sie seit langem gelesen hatte. Sollte man sich davon seinen besonderen Tag vermiesen lassen? Dimi Minoudis – Montag, 22. Juni 16:52 Uhr Oder es einfach ignorieren? Weil man ist doch jetzt schließlich darüber hinweg. Es war eine schöne Zeit, aber man muss mit der Vergangenheit abschließen und offen sein für neues. Anja Rieker – Montag, 22. Juni 17:07 Uhr Mia fasst sich ein Herz und atmet tief durch – ihr Geburtstag steht schließlich an und den will sie sich nicht vermiesen lassen! Sie geht ins Bad und spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht und lässt es über ihre Handgelenke laufen. Dann holt sie ihr Smartphone aus der Hosentasche und wählt die Nummer ihrer besten Freundin. Tatjana Bessner – Montag, 22. Juni 17:22 Uhr Es ist nicht die Stimme ihrer besten Freundin am anderen Ende der Leitung – nur die Bandansage der Mailbox, die ertönt. Mia sackt am Rand der Badewanne in sich zusammen. Dann entsperrt sie ihr Handy und scrollt durch ihre Kontakte. Tina Becirovic – Montag, 22. Juni 17:46 Uhr So viele Namen, aber niemand, der ihr jetzt wirklich weiter helfen kann. Was soll denn noch aus ihrer Geburtstagsfeier werden? Moment, Oma Gisela – sie hat doch immer einen guten Rat! Jule Fuhrmann – Montag, 22. Juni 18:34 Uhr Wie beim letzten Mal als sie ihr klar gemacht hat, dass sie weiter kämpfen soll, auch wenn vielen nicht gefällt, wie sie sich in der Familie gegen rassistische und sexistische Aussagen stellt. Sie hat ihr damals von den starken Frauen in ihrer Familie vor ihr erzählt – das war Motivation genug! Also ran ans Telefon – wenn Oma nicht gerade „Fest & Flauschig“ hört, kann sie ihr sicher mit dem Geburtstagsdrama helfen. Jan Kirchherr – Montag, 22. Juni 19:51 Uhr Es klingelt... Es klingelt... Es klingelt... Und sie geht nicht ran. Scheiße, und nun? IMMER kommen ihr Jan & Olli dazwischen, damit muss Schluss sein... In Mias Kopf nimmt ein abstruser Plan Gestalt an... Ami Ewald – Montag, 22. Juni 20:19 Uhr „Ich werde es einfach alleine durchziehen.“ Sie nimmt ihre Regenjacke, packt Schlüssel, Handy und die Spraydosen in ihren alten Lieblings-Rucksack, der verwahrlost in der Dielenecke liegt und will los. An der Tür stoppt sie kurz, zieht sie dann aber entschlossen zu und macht sich auf den Weg. Heike Lauer – Montag, 22. Juni 20:32 Uhr Mia spürt die nassen Regentropfen auf ihr Gesicht prasseln und zieht sich die Kapuze über. Sie schaut rasch rechts und links, bevor sie die Bahngleise überquert und einen nur mäßig beleuchteten Tunnel ansteuert. Ein paar Sekunden später hat sie das Schwarz des Tunnels komplett verschluckt. Dominic Berner – Montag, 22. Juni 22:07 Uhr Sie öffnet die Augen. Es ist Samstagmorgen, sie spürt die warme Junisonne auf der Haut und erkennt, wo sie die ganze Zeit gewesen war – sie liegt im Gras, am Ufer des Neckars. Mia richtet sich auf. Was für ein wirrer Traum, denkt sie. Dann springt sie ins Wasser und fängt mit bloßen Händen einen Döbel. Mia Engelhard

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B ― KANAL 06 ― Conny Camper Touristin von Susanne Langner

07 ― Holger Schönbuch Angler von Lasse Langner

08 ― Lotte Frey Studentin von Xenia Wahl

09 ― Franziska Herzog Physiotherapeutin von Tatjana Bessner

10 ― Tamara Groß Handballerin von Jana Klein


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CAMPING AM FLUSS

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EIN REISEBERICHT

 Campingplatz und Wasser! Das ist für mich der ideale Urlaub. Dieses Mal hat es uns nicht auf einen wunderschön grünen, sehr gepflegten Campingplatz mit sagenhafter Poolanlage und atemberaubendem Strand in der Toskana verschlagen. Nein, auch nicht auf einen etwas staubigen, mit viel französischem Flair ausgestatten Platz mit eigenem See in der Provence. ―― Dieses Jahr wollten wir mal ganz in der Nähe bleiben, nicht so viel Zeit auf der Straße verbringen.Da unsere Sommer in Deutschland in den letzten Jahren immer wunderschön und sehr warm waren, hatten wir uns entschlossen, Urlaub vor der Haustüre zu machen. ―― „Citynah und doch im Grünen. Der Campingplatz Stuttgart liegt am Rand der Stuttgarter City. Bäume und Sträucher umrahmen den Campingplatz. Die grüne Oase wurde von Landschaftsgärtnern neu konzipiert und angelegt. Nur ein kurzer Fußweg trennt den Platz vom Neckar, der wichtigsten Stuttgarter Wasserstraße.“ Mit dieser Beschreibung schaffte es die Stuttgarter Marketing GmbH, uns auf diesen Campingplatz zu locken. Für mich 09 war letztendlich die unmittelbare Nähe zum Neckar ausschlaggebend. Ich war sehr gespannt, was uns erwarten würde. ―― Mit einem gemieteten Campingmobil ging die Reise los. Nachdem Kleider, Geschirr, Lebensmittel etc. verstaut waren, durften natürlich die Fahrräder nicht fehlen. Dies war die letzte Aktion, bevor es dann endlich losging. ―― Nach 30-minütiger Fahrt über die B29 kamen wir sehr erholt an. Das Wetter zeigte sich von seiner schönsten Seite. Wir hatten einen 08 halbschattigen Stellplatz mit Blick auf den Neckar reserviert und waren restlos begeistert als wir ihn nun tatsächlich sahen: Große Parzelle mit saftig grünem Gras bedeckt und wirklich direkt am Fluss gelegen. Wir packten unsere Campingstühle aus und genossen bei einem kühlen Getränk den lauen Sommerabend. Langweilig wurde es uns dabei keineswegs. ―― Zuerst für die „Berta Epple“, ein Ausflugsschiff, an uns vorbei. Sie war mit bunten Lichterketten geschmückt und gedämpfte Tanzmusik erreichte uns. Am liebsten hätte ich ein 07 schönes Sommerkleid angezogen und wäre aufgesprungen, um mitzutanzen. Es sah alles so zauberhaft aus. ―― Wenig später fuhr ein Frachtschiff in Richtung Norden an uns vorbei. Sicherlich suchte dieses seinen Weg über Mannheim in den Rhein, um dann seine Reise nach Rotterdam fortzusetzen. Am Überseehafen angekommen, wird die Fracht vielleicht auf einen Ozeanreisen umgeladen und die Ware gelangt schließlich zu ihren Bestimmungs06 orten, die über den ganzen Erdball verteilt sein könnten. ―― Als meine Gedanken wieder Campingplatz in Cannstatt an unserem Campingplatz angekommen sind, kamen noch einige Ruderboote vorbeigefahren, deren Besatzung eventuell für den nächsten Wettkampf trainierte. ―― So langsam versank die Sonne hinter dem Horizont und wir klappten unsere Campingstühle 05 zusammen. Unseren ersten Urlaubstag rundeten wir mit einem Besuch im Campingplatzrestaurant, in dem uns verschiedene schwäbische Spezialitäten angeboten wurden, ab. Dazu genossen wir einen hervorragenden Riesling von den Talhängen oberhalb des Neckars. Satt und sehr zufrieden, beendeten wir unseren ersten, wunderschönen Urlaubstag mit einem letzten Blick auf den Neckar. Was wird der nächste Tag bringen? – Alles im Fluss.

Name

Conny Camper (52) Herkunft

Schwäbisch Gmünd, Deutschland Verbindung zum Neckar

Besucherin des Campingplatzes am Cannstatter Wasen

Conny Camper

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von Susanne Langner

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Holger Schรถnbuch

052

von Lasse Langner


HERRLICH DENKE ICH, ENDLICH URLAUB

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 

Meine Beine baumeln im Wasser und ich habe meine Augen geschlossen. Die Hitze der Mittagssonne strahlt auf meinen Körper und ich konzentriere mich auf das leise Plätschern des Wassers an der Kaimauer. Ich genieße es, wie mein ganzer  Körper nach den vielen stressigen Tagen anfängt zu schwitzen. Ich habe den Frühling verpasst und merke, wie die jetzt schon sehr starke Sonne meine noch nicht an das Sonnenlicht gewöhnten Körper verbrennt. Ich hätte mich mit Sonnencreme einschmieren können, doch dafür ist es jetzt zu spät. Egal denke ich, so schlimm wird es schon nicht werden. Die Kühle aus dem Wasser und die Hitze der Sonne erzeugen in mir genau die richtige Temperatur. Herrlich denke ich, endlich  Urlaub. ―— Ich merke wie mein Körper ins Ungleichgewicht gerät und langsam nach hinten kippt. Ich kämpfe nicht dagegen an, sondern lasse meine Muskeln locker. Langsam falle ich nach hinten. Kurz bevor ich den Boden erreiche, spüre ich das hohe Gras an meinem Rücken, das meine Rückwärtsbewegung abfedert. Lange kann ich es soauf dem Rücken nicht aushalten, irgendwie fühlt es sich an wie eine etwas zu harte Matratze, aber für den Moment reicht es. Das leise, monotone Motorenrauschen einer nahegelegenen Schnellstraße mischt sich mit unverständlichen Gesprächen und dem Gelächter einer Gruppe Jugendlicher. Herrlich denke ich, endlich Urlaub. ―— Der Geruch des erhitzten Wassers vor mir steigt mir in die Nase und erinnert mich an das Mittelmeer und Fisch. Ich schließe die Augen und befinde mich mitten in einem turbulenten Treiben aus hunderten von Menschen. Menschen, die sich nach einem heißen Sommertag an einer Uferprome09 nade von Restaurant zu Restaurant schieben. Ich spüre, dass auch ich den ganzen Tag in der Sonne verbracht haben muss, denn mein Körper hat diesen einzigartigen Zustand, den man nur nach reichlich sonnen hat. Eine Mischung aus Sonnenbrand, Salzwasser und Erschöpfung. In der Ferne sehe ich, wie die Sonne schon tief am Himmel steht und im Begriff ist, die Meeresoberfläche zu berühren. Fasziniert von dem Anblick der fallenden Sonne, laufe ich wie hypnotisiert ein paar 08 Schritte weiter, bis mich ein dumpfer Schlag zurückholt. Ich bin gegen den Holzstuhl eines Restaurants gelaufen. Wild gestikulierend versucht mich einer der Kellner von seinem fangfrischen Fisch und seinem Tagesangebot, gegrillte Dorade mit Kartoffeln, zu überzeugen. Obwohl ich tatsächlich etwas Hunger habe gehe ich weiter. Besser gesagt ist das Weitergehen nicht meine Entscheidung, sondern die meiner Begleitung. Zärtlich, aber bestimmt wird meine Hand weg von dem Kellner hin zum Wasser gezogen. Die Hand, die meine hält gehört zu einer jungen, mir unbekannten Frau mit bis zu den Schultern fallenden, braunen Haaren. Sie dreht ihr Gesicht zu mir um und wirft mir ein07Lächeln zu, das meinen sowieso schon berauschten Zustand noch weiter verstärkt. Ohne Kontrolle lasse ich mich von ihr weiter durch die Menschen ziehen. Mir fällt ihr leichtes, orangenes Sommerkleid auf und ich beginne darüber nachzudenken, woher ich die Person kennen könnte und warum nicht meine Frau meine Hand hält. Irgendwie erinnert sie mich etwas an eine Kollegin, die erst seit kurzem in meiner Firma arbeitet. Mein 06 Gedanke wird unterbrochen, als sich die Frau umdreht, mir einen Kuss gibt und beginnt mit mir zu reden. Meine Augen bleiben an ihren Lippen hängen und ich versuche mich daran zu erinnern, ob ich in meinem Leben schon einmal von so schönen Lippen geküsst wurde. Lange bleibe ich bei diesem Gedanken nicht, denn eine Bewegung an meinem Körper lenkt 05 mich ab. Ein starkes Wackeln und Drücken zieht mich wieder in die Realität und ich richte mich in einer schnellen Bewegung auf. ―— Zwei Mädchen, die nicht weit entfernt von mir Angelstelle sitzen, fangen an zu kichern und ich schäme mich ein bisschen kurz eingenickt zu sein. Noch etwas verwirrt greife ich zu meiner Angel, die ich mir unter meinen linken Oberschen04 kel geschoben habe und von der aus die Bewegung hervorgeht. Ich merke, dass sich an der Angel ein Fisch befinden muss, der mit gesammelter Kraft gegen den Haken und die daran befindliche Schnur ankämpft. In Gedanken noch bei der jungen Frau und der Uferpromenade beginne ich Stück für Stück den Fisch etwas näher an mich heran zu ziehen. Etwas peinlich ist es mir währendessen, in meinem Traum von Lena, meiner neuen Auszubildenden, geträumt zu haben. Name

Holger Schönbuch (45) Herkunft

Sindelfingen, Stuttgart Verbindung zum Neckar Angler am Wasenufer

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WENN FISCHE ZUM LETZTEN MAL DAS WASSER SEHEN Fünf Minuten später ziehe ich einen ellenbogenlangen Döbel aus dem Wasser. Eigentlich hatte ich nicht vor heute meinen Fang mit nach Hause zu nehmen, doch bei diesem Exemplar kann ich der Versuchung nicht wiederstehen. Mit einem fachmännischen Schlag auf die Schädeldecke und dem folgenden Stich ins Herz beende ich das Leben des Fisches. Auch wenn ich normalerweise meinen Fang wieder ins Wasser entlasse, fühlt es sich immer wieder gut an, Herr über Leben und Tod zu sein. Wie komisch das Leben eines Fisches aber auch sein muss, der nach seiner Geburt hier in diesem kurzen, durch Staumauern begrenzten Teil des Neckars lebt und groß wird. Alles trüb und dreimal am Tag fährt einem ein Transportschiff über den Kopf. Ohne natürliche Feinde bin ich die einzige Erlösung, die er heraus aus dieser Tristesse des Neckars finden wird. Ich verstaue den Fisch in meiner Anglertasche und setze mich wieder an meinen Platz an der Kaimauer. Ohne die beiden Mädchen neben mir anzuschauen, spüre ich wie sie mich mit verächtlichen Blicken mustern. Sie müssen das Töten des Fisches mitbekommen haben und es war wohl das erste Tier, das sie haben sterben sehen. Irgendwann werden die beiden auch noch aus ihrer Traumwelt erwachen. Jetzt aber gut mit diesen Gedanken. Heute lass ich mich von nichts ablenken und verunsichern. Ich konzentriere mich wieder auf das Wasser vor mir und bin in Gedanken wieder bei Lena. Herrlich denke ich, endlich Urlaub. ―— Eine ganze Weile sitze ich nun schon am Neckar und mache nichts, einfach nichts. Naja – einmal davon abgesehen ein Leben beendet und in Gedanken mit Lena ein Neues geschaffen zu haben. Irgendwie langweilt mich das nichts tun ein bisschen und bringt mich in meiner Traumwelt auf irreführende Gedanken. In der Zeit, in der ich jetzt hier sitze, hätte ich entweder Geld verdienen oder Geld ausgeben können, aber so habe ich einfach nichts gewonnen und nichts verloren. Sehr unbefriedigender Zustand. Noch unbefriedigender ist aber der Gedanke daran, jetzt zwei Wochen jeden Tag am Neckar sitzen zu können und mich in einem Vakuum des Nichtstuns zu befinden. Wieso habe ich denn auch gleich zwei Wochen Urlaub nehmen müssen. Klar, irgendwann musste ich ihn ja nehmen, aber dann gleich zwei Wochen? Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe, meiner Familie nichts von meiner freien Zeit zu erzählen. Heute Morgen bin ich wie üblich aus dem Haus gegangen, nur eben nicht auf den Fischmarkt, sondern hierher an den Neckar. Urlaub war in den letzten Jahren immer mit dem Mittelmeer verbunden. Das wollte ich dieses Mal auf keinen Fall. Denn das Mittelmeer ist Arbeit für mich. Die Kooperationen mit kleinen Fischereiverbänden, die ich über Jahre in mühsamer Arbeit aufgebaut habe, müssen schließlich gepflegt werden. Erst vor einem viertel Jahr habe ich einen Fischer in Italien besucht, der mir Tuna in Spitzenqualität liefert. Herrlicher Tuna, wirklich herrlich. Satte rote Färbung und am besten, wenn er roh verzehrt wird. Der Kilopreis liegt bei 124,50 Euro. Pah, da läuft mir das Wasser im Mund zusammen, doch ich schweife mit meinen Gedanken viel zu sehr ab von meinem Urlaubsvibe. Mein Kopf ist schon wieder komplett bei „Mare Nostrum“, meinem Fischhandel auf dem Großmarkt und viel zu wenig bei mir. Genau deswegen wollte ich wahrscheinlich zwei Wochen Urlaub nehmen. Zwei Wochen einfach mal nicht nachdenken. Zwei Wochen einfach mal keinen Alltag. Herrlich denke ich, endlich zwei Wochen Ich-Urlaub. oben: Durch seine sehr lichtempfindlichen Augen kann der Döbel

auch in trübem Wasser sehen und hat daher im Neckar einen optimalen Lebensraum gefunden.

EINMAL ALLES, ABER BITTE OHNE FISCH Die beiden Mädchen neben mir haben Essen und ich habe Hunger. Natürlich habe ich mal wieder nicht daran gedacht mir von Zuhause etwas mitzubringen. Wie kann es sein, dass die beiden ihr Leben besser im Griff haben, obwohl sie zusammen höchstens so alt sind wie ich? Neben einer Salatmischung und Brot packen sie jetzt auch noch vorgeschnittenes Gemüse und Hummus-Dip aus. Alles jetzt gerade nichts, was mich wirklich glücklich machen würde, aber wenigstens besser als ein leerer Magen. Verdammt, einmal bisschen weiter denken wäre echt hilfreich. Je länger ich mit einem eisigen Blick die Gemüseschnitze fokussiere, desto unzufriedener fühle ich mich. Ich spüre wie zu diesem Gefühl noch Wut in mir aufsteigt. Wut gegen mich. Wut gegen Gemüse. Wut gegen Fisch. ―— Verlockend liegt meine Angel neben mir und eigentlich wollte ich vor einigen Minuten noch einmal einen Anlauf starten. Jetzt sehe ich keinen Sinn mehr darin und beginne mein Equipment auseinander zu bauen und in der Tasche zu verstauen. Währenddessen wird mir klar, dass ich etwas ändern muss. So geht es nicht weiter. Ich-Urlaub daheim ist abgebrochen. Abgesagt wegen nicht durchführbar und blöd. In meinem Kopf lege ich mir einen Plan für die nächsten Wochen zurecht. Der Döbel ist die erste Aufgabe darin. Mit glasigen Augen starrt mich der Fisch an, bevor ich den leblosen Körper zurück in den Neckar schmeiße. Ich sage zu mir, dass mein Leben, welches sich 24 Stunden um Fisch dreht, jetzt eine Pause hat. Als ich dem Holger Schönbuch

054

von Lasse Langner


Kadaver kurz hinterherschaue, während dieser im Neckar treibt, wird es mir kurz schwindelig und ich muss meine Augen schließen. ―— Auf dem Weg zu meinem Auto rufe ich bei mir im Geschäft an. Mit meiner Sekretärin kläre ich einige Fragen und verlängere meinen Urlaub um weitere zwei Wochen. Morgen werde ich in ein Flugzeug steigen. Das Reiseziel ist mir auf die Schnelle noch nicht eingefallen. Auf jeden Fall wird es weit weg vom Mittelmeer sein und ich werde alleine reisen. Egal was meine Familie denkt. Jetzt geht es erstmal nur um mich. Ich muss hier weg. Außerdem kündige ich Lena, denn ich kann mir eine gute Zusammenarbeit nicht mehr vorstellen. Gut, dass sie sich noch in der Probezeit befindet und daher das Beschäftigungsverhältnis problemlos beendet werden kann. Schade um die hübschen Lippen, aber was sein muss, muss sein. Jetzt legt sich meine Wut wieder etwas und ich habe das Gefühl mehr Kontrolle erlangt zu haben. Den Hunger spüre ich nach wie vor und ich entscheide mich, erstmal in die nahe gelegene Metzgerei zu fahren und mir dort etwas aus dem warmen Buffet schmecken zu lassen. Hauptsache ist, dass es nichts aus dem Wasser ist. Bevor ich in mein Auto steige habe ich noch einen abschließenden Gedanken an diesem ersten Urlaubstag. Die starke Sonne hat mir heute richtig gut getan!

oben: Im Durchschnitt werden ausgewachsene Döbel zwischen 30 und 40 Zentimeter groß und ein Kilogramm schwer.

055


Freitag

16:45 Uhr Ich streife mir meine Strumpfhose über die Beine und schlüpfe in

mein recht kurzes aber vor allem viel zu enges Kleid. Ich kann gerade noch so

tief Luft holen, dass es von Schnappatmungen zu unterscheiden wäre und

freue mich jetzt schon, wenn ich heute Nacht den Reißverschluss wieder öffnen kann. Naja, wer schön sein will, muss leiden, denke ich schließlich. Was für

ein dummes Sprichwort, denke ich. Aber ein Fest alter Tradition scheint wohl

eine konservative Seite in mir zu entfachen. Die Haare gelockt, die Brüste gepuscht, das Make-up sitzt. Alles nur, um sich kurz danach in eine Menge dicht

gedrängter Betrunkener zu stellen und sich in Bier zu baden. Alle Jahre wie-

der – Das Cannstatter Volksfest

17:00 Uhr Ich mache mich auf den Weg zu meiner S-Bahnstation. Die Sonne scheint und in meiner Hand halte ich zwei Flaschen Bier.

17:15 Uhr Mit der S-Bahn fahre ich Richtung Cannstatt und beobachte, wie schön das Wasser des Neckars in der Sonne glitzert.

17:22 Uhr Ich höre den vertrauten Ton der S-Bahnen, sobald sich die Türen öffnen und steige aus. Am Bahnsteig sehe ich meine Freunde. Wir umarmen uns zur Begrüßung.

17:24 Uhr Wir öffnen unser erstes Bier und kurz darauf unser Zweites. 17:56 Uhr Clever umgehen wir die meterlange Schlange am Haupteingang, in-

dem wir ein wenig mit der Security am Nebeneingang quatschen. Wenige Minuten später stehen wir auch schon inmitten der Menschenmasse, Rauch und

Bierkrügen. Wir holen uns unsere erste Maß. 11,20 € – sehr teuer für halb Bier halb Schaum. Einschenken kann ich besser, denke ich. Lotte Frey

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von Xenia Wahl


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Lotte Frey

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von Xenia Wahl


18:00 Uhr Meine erste Maß ist leer. Ich spüre nichts von dem Alkohol. 18:04 Uhr Die zweite Maß steht vor mir auf dem Tisch. 18:53 Uhr Wir begeben uns an die Bar, an der uns ein Getränk ausgegeben

wird. Es schmeckt mir nicht. Ich trinke kurz darauf noch mehr davon. Das mys-

teriöse Mischgetränk, das gerade noch wie die letzten Reste mehrerer Flaschen des billigsten Wodkas mit Zucker verfeinert geschmeckt hat, schmeckt plötzlich, wie das beste Getränk seit langem.

19:40 Uhr Ich stehe auf der Bank mit meinen neuen besten Freunden, die ich

noch vor zehn Minuten nicht kannte. Gemeinsam schreien und singen wir zu

den Top Ten Schlagerhits.

20:00 Uhr Standhaft halte ich daran fest, dass ich quasi immun gegen sämtlichen Alkohol an diesem Abend bin.

20:12 Uhr Mein Gleichgewicht scheint begrenzt und ich falle mehrere Male

fast von der Bank.

21:32 Uhr Die dritte Maß steht vor mir auf dem Tisch. 22:38 Uhr Mich überkommt ein plötzliches Hungergefühl. Ich hüpfe von der

Bank und torkle Richtung Ausgang. Ich stehe vor dem Zelt und ich halte es für

das Richtige jetzt einen Maiskolben mit Butter und Salz zu essen. Danach einen Schoko-Fruchtspieß.

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Lotte Frey

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von Xenia Wahl


23:00 Uhr Mir fällt auf, dass ich meine Freunde wohl im Zelt verloren haben

muss, deshalb versuche ich sie anzurufen. Keiner nimmt ab. Ich erinnere mich,

dass ich jedes Jahr erneut merke im Zelt keinen Empfang zu haben.

23:10 Uhr Ich versuche ein zweites Mal an diesem Abend in das Zelt zu gelangen, doch ich werde nicht mehr hineingelassen. Mist. So stehe ich allein vor

dem Zelt und fange an nachzudenken, was ich nun am besten machen könn-

te. Nach Hause will ich noch nicht, denke ich und muss zurück an das schön glitzernde Wasser des Neckars von heute Nachmittag denken.

23:35 Uhr Irgendwo am Wasenufer muss ich mich übergeben. 23:41Uhr Ich streife entlang des Ufers am Neckar und bin gebannt von den

vielen bunten Lichtreflexionen von Straßenlaternen und Achterbahnen im

Wasser. In der Ferne sehe ich die vielen Menschen, zu denen ich eben noch gehört hatte und höre deren entferntes Gelächter. Ich laufe noch etwas weiter,

weil mir der Weg gerade so gut gefällt. Außerdem ist es noch ungewöhnlich lau

für Ende September und die frische Luft scheint mir gut zu tun.

23:54 Uhr Ich setze mich auf eine Bank, welche sich ungewöhnlich bequem

anfühlt. Ich schaue noch eine ganze Weile auf das Wasser, und höre dem mo-

notonen Rauschen der Strömung zu. Das sanfte wiederkehrende Schwappen

der kleinen Wellen, die auf das Ufer brechen, wirkt unwahrscheinlich beruhigend auf mich.

23:59 Uhr Ich merke, dass ich müde bin, lege mich hin und schlafe ein.

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05. Mai 2020 —— Heute jährt es sich zum zehnten Mal.

Eigentlich sollte dieser einer der schönsten und lustigsten Tage in meinem Leben werden. Ein Tag an den ich gerne mit einem Grinsen im Gesicht zurück

denke. Es sollte mein letztes Mal feiern in „Freiheit“sein bevor ich ins EheleFranziska Herzog

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von Tatjana Bessner


ben starte. Und dabei hat auch alles so wundervoll begonnen. Ich sehe euch alle noch, wie ihr mit Luftballons, Sektflaschen und selbst bedruckten Shirts in

meinem Büro steht. Wie wir gemeinsam anstoßen, die Kollegen ganz große Augen bekommen und wie wir alle zusammen losziehen. Erst frühstücken, 063


dann das Fotoshooting. Ich sehe uns im Club abends feiern und tanzen und lachen. Morgens um 3 Uhr DĂśner essen. Ich weiĂ&#x; noch immer nicht wer und wie

wir auf die Idee kamen am Neckarufer nach Hause zu spazieren und uns den

Sonnenaufgang gemeinsam an zu sehen. Hätte ich auch nur eine Sekunde Franziska Herzog

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von Tatjana Bessner


geahnt wie das Ganze endet, hätte ich wohl das Taxi genommen und wäre mit

vollem Bauch schlafen gegangen. —— Es vergeht kein Tag an dem ich nicht

an dich denke. An dem ich nicht dein Gesicht sehe, wie du an jenem Abend mit vollem Mund und lachend „mampf“sagst. Es ist das letzte Bild, das ich von dir 065


in meinem Kopf behalten habe. Neben einer Million weiterer. Woran ich mich noch immer nicht erinnere ist wie es dazu kommen konnte, dass du in den Fluss gestßrzt bist. Ich erinnere mich erst wieder an das Blaulicht, die Rettungskräfte und die Polizei. Wie sie mich mit Fragen lÜchern, die ich nicht beFranziska Herzog

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von Tatjana Bessner


antworten kann. Alles lief ab wie in einem Film im Schnelldurchlauf. Da ist heu-

te noch ein schwarzer Fleck in meinem Kopf. Die Bilder rasen noch immer. Blättern voran. Ich kann sie nicht anhalten um nach Antworten zu suchen. Es hat einen Monat gedauert bis ich das erste Mal an den Ort zurßckkehren 067


konnte. Und egal wie oft ich den Weg ablaufe – inzwischen waren es genau 458 Mal – ich erinnere mich nicht daran was passiert ist. —— Oft sind wir alle

gemeinsam hier: Lisa, Laura, Sandra, Luisa, Lena. An deinem Geburtstag sa-

ßen wir dieses Jahr zum ersten Mal am Ufer mit Wein und haben auf dich geFranziska Herzog

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von Tatjana Bessner


trunken. Wir haben uns alte Geschichten erzählt. Bilder angesehen. Die Zeit

rast, aber es fßhlt sich an als wärst du gestern noch bei uns gewesen. Das Neckarufer sehe ich seitdem mit anderen Augen sehen. Ich werde hier wohl nie

wieder gedankenverloren entlang schlendern. Meine Jogging Route am 069


Sonntagmorgen habe ich geändert. Diesen Fluss oder vielleicht auch jeden andern werde ich immer mit dir verbinden. —— Du und dein ansteckendes Lachen fehlen mir jeden Tag!

Franziska Herzog

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von Tatjana Bessner


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NECKAR-KÄPT‘N PARTYFLOSS  An einem wunderschönen Samstagnachmittag war endlich der Tag gekommen, auf den ich mich schon so lange gefreut habe. Ich habe so darauf hin gefiebert, mal wieder gemeinsam mit meinen Mädels feiern zu können. Wir haben diese Tour auf dem Neckar-Käpt‘n Partyfloß als Abschluss der diesjährigen Handballsaison gebucht, bei der ich ja aber leider nicht mitspielen konnte. ―― Um 18 Uhr legte das Floß an der Anlegestelle an der Wilhelma in Richtung Marbach ab. Die Vorfreunde war bereits am Ufer zu spüren und als das Floß anlegte, war ich auch ein bisschen aufgeregt, wie der Abend wohl werden würde. Noch bevor die Tour startete, wurden alle Partygäste an ihre Tische verteilt  und wir hatten das große Glück, zwei Tische direkt nebeneinander an der Reling zugeteilt bekommen zu haben. Den circa 60 Gästen wurde kurz der Ablauf erklärt und dann legte das Floß auch schon ab. Zu Beginn war die Stimmung noch verhalten und alle bekamen zunächst einmal die großen Vorspeiseplatten serviert. Nachdem auch jeder ein kühles Getränk am Tisch hatte konnte bei Leckereien  wie Oliven, Schinken, Gemüse und Brot das Menü starten. Zum Hauptgang wurden verschiedene schwäbischen Gerichte angeboten und als Nachtisch gab es wieder verschiedene Köstlichkeiten wie Tiramisu, Obstsalat, Kuchen und Panna Cotta. Alles schmeckte ausgezeichnet. ―― Kaum waren alle gut gesättigt, setzte langsam die Dämmerung ein. Die Mu sik wurde etwas lauter gedreht, die Lichterketten entlang des gesamten Floßes gingen an und die Bar eröffnete. Einige Gäste und auch ein paar Mädels aus meiner Mannschaft holten sich Getränke an der Bar, ich stürmte mit den anderen zusammen die Tanzfläche. Das war, seit über 8 Monaten das erste Mal, dass ich wieder tanzen und feiern konnte. Diesen Moment gemeinsam mit meiner Mannschaft genießen zu können, war einfach unbeschreiblich. ―― Die Stimmung wurde immer besser und auch die anderen Gäste machten gemeinsam mit uns dem Neckar-Käpt‘n Partyfloß seinem Namen 09 anzuschauen, alle Ehre. Am Rand des Ufers fuhren wir an einigen Restaurants und Strandbars vorbei und es war toll mit wie überrascht und teilweise skeptisch die Besucher unsere Party beobachteten. Wir jubelten allen immer freundlich zu und hatten unseren Spaß. ―― Nach einer kurzen Ansage, dass wir jetzt noch knapp 30 Minuten unterwegs sein würden und die Bar die letzte Runde einläute, machte ich mich gemeinsam mit drei Mädels nochmal auf den Weg ein paar Getränke zu holen. Wir waren alle schon gut angeheitert und wollten nochmal bei einer letzten Cocktailrunde auf den genialen 08 Abend anstoßen. An der Bar angekommen traute ich meinen Augen kaum. Einer der zwei Barkeeper war meine erste - ich nenne es jetzt mal – Kindergartenliebe. Wir waren zusammen im Kindergarten und dann auf der Grundschule und haben uns dann aber im Teenie-Alter aus den Augen verloren. Er ist damals weggezogen und somit auch auf ein anderes Gymnasium gekommen. Wir haben uns zwar noch ein paar Mal getroffen, aber dann ist der Kontakt abgebrochen. Ich war selbst total verblüfft, dass ich ihn sofort erkannte. Schließ- 07 lich habe ich ihn das letzte Mal im Alter von 11 Jahren gesehen. Als wir dann mit der Bestellung dran waren und er mir in die Augen sah, hat man ihm an seinem Blick und seinem breiten Grinsen sofort angesehen, dass auch er sofort wusste, wer ich bin. Aus seinem Mund kamen nur die Worte: „Oh mein Gott. Ich kann‘s nicht glauben!“. Ich erwiderte nur: „Hi, ja ich auch nicht!“, und dann war erst mal Stille. Meine Freundinnen waren etwas über06 rascht und warfen mir fragende Blicke zu, orderten aber die Getränke für alle. Ich war in diesem Moment total überfordert und konnte gar nichts sagen. Da wir die Letzten an der Angelstelle Bar waren, hatten die zwei Barkeeper nun Feierabend und er meinte nur: „Wie geht es dir? 05 Komm lass uns reden, wir haben 15 Jahre aufzuholen!“. Noch bevor ich irgendetwas antworten konnte drückten mir meine Mädels meinen Cocktail in die Hand, machten kehrt und meinten nur: „Wir stoßen dann für dich mit an. Bis später“. Sie konnten ihr Grinsen nicht verbergen und ich wusste schon jetzt das ich später mit Fragen bombardiert werden würde. ―― Wir gingen zusammen zum hinteren Teil des Floßes, wo wir ein paar Stufen hinunter gingen und er eine Tür ins Innere öffnete. Er erklärte mir, dass er sich hier immer umzieht und der Job als Barkeeper neben seiner Master Abschlussarbeit ganz gut ist. Ich hatte die ganze Zeit über immer noch nichts gesagt und er fragte mich, ob es mir gut geht. „Ja natür- Name lich, alles wunderbar. Ich bin gerade nur etwas überfordert!“, antwortete ich. Er musste to- Tamara Groß (28) tal lachen und verschwand erst mal hinter einer Ecke mit den Worten: „Ich zieh mich kurz um, mach‘s dir gemütlich. Bin sofort wieder bei dir!“. Ich setzte mich auf einen Stuhl und Herkunft nahm erst mal drei kräftige Schlücke aus meinem Getränk. War war denn bloß los mit mir. Stuttgart, Deutschland Meine Güte, sonst bin ich doch auch nicht so schüchtern. Nachdem ich drei Mal tief ein und aus geatmet hatte ging es mir schon besser und er war auch schon wieder da und setzte Verbindung zum Neckar sich zu mir. „Jetzt sind wir seit über 4 Stunden gemeinsam auf diesem nicht wirklich großen Besucherin des Sierra Partyfloss Boot und sehen uns kurz bevor wir wieder anlegen. Das ist doch kein Zufall!“ sagte er. Ich nickte nur und grinste ihn an. Er hatte immer noch die strahlend blauen Augen, die schönen braunen Haare, aber mittlerweile auch einen Bart. „Ich habe dich sofort erkannt, du hast dich kaum verändert. Also ja doch, natürlich siehst du nicht mehr aus wie 11. Im Gegenteil, du bist wunderschön, aber immer noch so schüchtern und eher ruhig wie damals.“, sagte

Tamara Groß

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von Jana Klein



04


er. Das war mein Stichwort, ich habe mich nämlich geändert und bin total aufgeblüht. „Da liegst du falsch. Ich bin überhaupt nicht mehr schüchtern! Im Gegenteil: Ich bin diejenige, die gerne Ansagen macht, eine Gruppe führt und leitet und eher zu viel als zu wenig redet! Ich habe mich wirklich verändert und bin viel selbstbewusster, aber du hast mir gerade schon ein bisschen die Sprache verschlagen, das geb ich zu!“, erwiderte ich. Ich merkte ihm an, dass er sehr überrascht war und er wirkte nachdenklich. Wir starrten uns bestimmt 10 Sekunden an bis er meinte: „Das hätte ich jetzt nicht erwartet, aber klingt ja total spannend. Ich bin ja sowieso schon neugierig, was du die letzten Jahre so gemacht und erlebt hast und vor allem ob du einen Freund hast. Lass uns unbedingt morgen treffen. Hier meine Nummer, melde dich!“. Er er holte einen Stift und einen Zettel raus und schrieb mir seine Handynummer auf. „Da ich bei deinen Mädels einen guten Eindruck hinterlassen möchte und wir sowieso gleich anlegen und ich hier noch ein bisschen aufräumen und helfen muss, sollten wir wieder hoch gehen. Glaub mir, ich würde gerade nichts lieber tun als die nächsten Stunden mit dir hier zu quatschen, aber die Pflicht ruft, gelle?“. ―― Ich musste innerlich total grinsen, weil meine Freundinnen mich immer damit aufziehen, dass ich „gelle“ sage. Ich nickte nur und wir gingen wieder nach oben. Er umarmte mich und sagte: „Ich warte jetzt schon auf deine Nachricht, wann wir uns morgen sehen. Du hast doch hoffentlich Zeit, oder?“. Ich nickte wieder und er meinte nur „Also das mit dem Selbstbewusstsein und dem vielen Reden musst du mir aber noch beweisen. So richtig glauben kann ich das ja im Moment noch nicht!“. Er schenkte mir noch ein letztes Lächeln, da war er auch schon ums Eck und das Floß auch am Steg angelegt. Meine Mädels kamen auf mich zu und wir gingen von Bord. Wie erwartet wurde ich von allen mit hunderten von Fragen durchlöchert und ich konnte mein Grinsen kaum verbergen. Wir fuhren gemeinsam mit der Bahn wieder zurück Richtung Heimat und nachdem ich gefühlt die 158 Frage beantwortet habe, war ich froh als ich endlich alleine an meiner Haltestelle ausgestiegen war. ―― Zu Hause angekommen ging ich dann auch rasch ins Bett und erinnerte mich an die Worte meiner Mama vom Morgen. Sie freute sich für mich mit, dass ich nach den langen und schwierigen Monaten in Folge meiner Kreuzbandriss-OP und der Reha endlich wieder mit meinen Mädels feiern gehen konnte. Sie sprach davon, dass das Leben wie eine Achterbahn sei und es nach einer Abfahrt mit einem Tiefpunkt es auch immer wieder hoch gehe, bis ein Höhepunkt erreicht wird. Ich habe heute ganz deutlich gespürt, dass ich endlich wieder auf dem Weg nach oben bin und hoffentlich bald wieder einen Höhepunkt erlebe. ―― Ich war total euphorisch, schnappte mir mein Handy und schrieb folgende Nachricht: „Hey, dachte ich melde mich heute noch bei dir. Ich bin gut zu Hause angekommen und werde jetzt gleich mit einem breiten Grinsen einschlafen. Ich würde mich total freuen, wenn wir uns morgen sehen. Wir können ja um 13 Uhr vielleicht zusammen etwas beim Italiener in Weilimdorf am Löwen-Markt essen, würde das bei dir passen? Ich hoffe du hast nicht mehr all zu viel aufräumen müssen und bist auch bald daheim. Ich freu mich auf morgen und achja. Ich schulde dir ja noch eine Antwort. Nein ich habe keinen Freund! Gute Nacht.“. Ich hatte die Nachricht gefühlt noch keine Minute abgeschickt gehabt da kam auch schon seine Antwort: „Liebe Tamara, beziehungsweise ich nehme jetzt mal an, dass du du bist (du hast mir deine Nummer ja nicht gegeben und hast deinen Namen nicht dazu geschrieben). Ich habe deine Nachricht schon sehnlichst erwartet und freue mich total auf morgen. Das klingt perfekt, also das mit dem Italiener aber vor allem, dass du keinen Freund hast. So viel wie in deiner Textnachricht steht, hast du den ganzen Abend nicht mit mir gesprochen, da ist die Vorfreude umso größer, morgen noch mehr von dir zu erfahren. Schlaf gut, ich werde es auf jeden Fall tun. Ich freu mich sehr. Und übrigens, auch wenn du nicht gefragt hast, ich bin auch Single“.

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C ― BAD CANNSTATT 11 ― Herr Frack Fischsommelier von Jan Kirchherr

12 ― Ivi Gutjahr Heimkehrerin von Liina Ott

13 ― Sydney McKutney Trend und Szene Managerin von Maria Hiegelsberger

14 ― Jonas Seifert Unternehmensberater von Katja Schröpfer

15 ― Dr. Donald Geiger

Naturschützer von Dominic Berner und Lasse Langner


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Pinguingehege Wilhelma

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Name

06

Herr Frack (7) Herkunft

Stuttgart, Deutschland Verbindung zum Neckar

Bewohner des Brillenpinguin

Geheges der Wilhema Stuttgart

Sonntag, 10.05.2020 Lieber Leser, heute ist der zweite Sonntag im dritten Achteljahr des julianisch-orthodoxen 09 Mondkalenders, und Ihr wisst was das bedeutet! Es ist Zeit für eine neue Ausgabe unserer beliebten Reihe: „Neckarportraits – Flussnachbarn unter sich“ Heute haben wir ein ganz besonderes Schmankerl für Sie herausgesucht. Herr Frack ist ein Anwohner des Neckars, er wohnt seit mittlerweile 7 Jahren in einer Mietshöhle der Wilhelma. Nur einen Steinwurf vom Ufer entfernt. Gesehen hat er den gemächlich dahinfließenden Stadtfluss noch nie, denn Herr Frack ist ein Brillenpinguin. Eigenständige Ausflüge sind ihm nicht erlaubt, als Publikumsmagnet und eine der Haupteinnahmequellen der Wilhelma hat er laut seinem Vertrag eine stete Anwesenheitspflicht.

jk |

Herr Frack, wie schön, dass sie Zeit für mich gefunden haben.

hf |

Quak Quak

jk |

Sie wohnen seit mittlerweile 7 Jahren in dieser traumhaften Höhle, sozusagen direkt am Neckar. Und sie waren noch nie dort?

hf |

Quak Quak. Quaaaak Quak Quaki Quak.

jk |

Oh Moment, ich habe wohl vergessen meinen Pingusetzer zu aktivieren. So nun bin ich bereit.

hf |

Oh, das hat mich etwas aus dem Quak gebracht. Wie war die Frage noch gleich? 04 Ahja, ich weiß wieder. Nein, ich habe es bisher leider nie bis an den Necquak geschafft. Einmal war ich kurz davor, im Rucksack eines Kindes versuchte ich einst mich hier herauszuschmuggeln. Das hat nicht ganz geklappt, an den Neckar bin ich nicht gekommen. Nur in ein Kinderzimmer. Und danach in Teufels Küche. Das 03 gab vielleicht einen Aufruhr. Nach meiner Rückkehr standen für zwei Wochen nur Makrelen auf dem Speiseplan. Ich hasse Makrelen. Quak Quak.

jk |

Was zieht Sie denn am Neckar so an? Man sagt doch, was man nicht kennt, kann man nicht vermissen?

hf |

Von meiner Höhle höre ich jeden Tag das Neckarrauschen, das weckt in mir irgendeinen Ur-Instinkt denke ich. Außerdem, unter uns Männern. Andere Gewässer haben auch hübsche Fische. Ich will mich ja nicht beschweren, aber nach all den Jahren hier, kenne ich die Fische der sieben Weltmeere sehr gut. Ein frischer Flussfisch, das wäre dann doch einenette Quakwechslung.

jk |

Haben Sie sich denn schon mal überlegt, ihren Job aufzugeben und eine Backquaking. Ähm, ich meine Backpackingtour über die gesamte Länge des Neckars zu tätigen?

hf |

In der Quak, das habe ich mir schon oft überlegt. Aber wenn ich die Wilhelma verlasse, wen hat sie denn dann noch? (flüstern) Haben Sie die Löwen oder Elefanten mal gesehen? Da kräht doch heute kein Hahn mehr danach. Wenn ich hier gehe, dann bricht doch das Publikum weg. Aber eines Tages, da packe ich meine Fracks und verschwinde.

jk |

Vielen Dank für das Interview! Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Frack.

05

02

Herr Frack

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von Jan Kirchherr


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DAHEIMFÜHLEN Sie saß im Auto auf der Rückbank und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien

noch immer hell, doch man konnte spüren, dass ihre Strahlkraft schwand –

es wurde Abend.

Die meiste Zeit des Tages hatte sie auf der Strecke verbracht, trotzdem war es ein erfüllter Tag gewesen. Sie mochte es, unterwegs zu sein, vor allem an einem Tag wie diesem.

Schon früh am Morgen hatte sie begonnen, das Haus auf ihre Abreise vorzubereiten, hatte Staub gesaugt, die Bäder gewischt und den Teppich gelüftet.

Dann hatte sie sich, eine Tasse Kaffee in der Hand, auf die Türschwelle gesetzt

und – ihren Kopf an den sonnengewärmten Türrahmen gelehnt – von den Ber-

gen Abschied genommen. In diesem Moment war sie in einem Anflug erwar-

tungsvoller Vorfreude mit sich im Reinen gewesen und dieses Gefühl der glückseligen Ruhe hatte, tief in ihr wurzelnd, bis jetzt angehalten. Es war auch

der Grund für das Lächeln, das ihr nun unbemerkt über das Gesicht huschte.

An ihrem Fenster flogen Bäume vorbei und holten sie aus ihren Gedanken. Eine Weile beobachtete sie nur die Landschaft, wie sie vorbeizog und sich

veränderte. Es war noch recht früh im Jahr – Anfang April, um genau zu sein – und die Pflanzen standen in voller Blüte. Sie mochte den Frühling sehr, das war

schon immer so gewesen. Die Energie, die die Natur in dieser Zeit aufzubrin-

gen schien, erregte ihren Geist und inspirierte sie. Die Pause weit weg hatte ihr gut getan, doch es war Zeit, aktiv zu werden – Zeit heimzukommen.

Ivi Gutjahr

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von Liina Ott


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Sie spürte es mit jedem Meter, mit jedem Busch, den sie hinter sich ließen,

wie sie der Heimat näher kam – noch war sie nur ein schwammiger Fleck in wei-

ter Entfernung – und sie beobachtete, wie der Mond wanderte, bei jeder Biegung, die sie weiter zu jenem Heimatflecken trug.

Es war Abend geworden und sie war angekommen, wo Heimat begann. Eine

Autobahnausfahrt, ein Bahnhof, ein beleuchteter Schornstein. Sie schloss ihre Augen und sah ein Bild vor sich.

Er lächelte sie an, er zwinkerte ihr zu, dann öffnete sie ihre Augen wieder. Es überraschte sie, wie schnell sich Heimat ausgedehnt hatte. Früher hatte

diese begonnen, wo die Lichter des Cannstatter Wasens sich auf dem Wasser

spiegelten, und heute war sie vielerorts zu finden. Heimat war irgendwo zwischen hier und dort und meist an vielen Plätzen gleichzeitig. Dass das so war,

viel ihr erst jetzt, da sie von weit entfernt heimkehrte auf.

Das Auto war weitergefahren, ihr Herz jedoch war über den Neckar geflogen, in den Bus gestiegen und stand nun vor seiner Haustüre. Zur Freude hatte sich

Sehnsucht gemischt, Sehnsucht und Heimweh. Sie schob den Gedanken bei-

seite, schließlich war sie gerade auf dem Weg nach Hause; ihrem ersten Zu-

hause. Morgen konnte sie wo anders daheim sein.

Ivi Gutjahr

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von Liina Ott


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To: imker@neckar.de

From: sydney@bestagency.com Betreff: #welovebees

Sehr geehrter Herr Grünwald, wir sind eine erfahrene Influenceragentur mit Sitz in Mitte, Berlin (sollte Ihnen die hippe Hauptstadt nicht so geläufig sein: damit ist ein trendiges Szenevier-

tel im Herzen Berlin gemeint, nicht die geografische Mitte). Mit einem Ohr am

Puls der Jugend und dem anderen stets Bausa und Loredana hörend, wissen wir bestens wie man mit der Gen Z richtig Reichweite erzielt.

Im allgemeinen Bienenhype des letzten Jahres, möchten wir vorreitermäßig nun auch auf den Zug mit aufspringen. Die Berufe des kleinen Mannes gainen mehr und mehr Klicks, weshalb wir einen dedicated Imker suchen, der bereit

wäre sein Gesicht nicht nur in einen Bienenstock sondern auch vor eine Kamera zu halten. Kürzliche Google Analytics Auswertungen zeigen, dass Wortspiele der neueste Shit sind. Daher sind Sie, Herr Imker, ein perfekter Kandidat für unser neues Tiktok-Format: „Nektar vom Nekar“.

Ziel des Kanals soll es sein, den Großstadtkids auch mal ein Stück Hinterwäl-

dertum näher zu bringen, sodass sie nicht ständig nur „Ich häng‘ auf mei‘m Kiez unter Palmen aus Plastik“ in ihren Storys spitten.

Wir sind ganz ehrlich: bisher haben wir uns noch nicht wirklich weit in die Untie-

fen des Neckars vorgewagt, weshalb wir auf ihr Insider-Knowhow angewiesen sind: Wo fließt der beste Nektar? Welche Bienen sehen besonders flauschig aus?

Sydney McKutney

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von Maria Hiegelsberger


Wenn grundsätzliches Interesse besteht, würde ich uns gerne einen FollowUp-Termin einstellen. Wir können über ein passendes Videokonferenztool Ih-

rer Wahl sprechen, Hauptsache es ist eines, welches all unsere Daten an den großen Bruder U.S.A. weitervermittelt. Beste Grüße aus der Zivilisation XX Sydney McKutney

Trend und Szene Managerin Best Agency

Wir waren schon auf Tiktok als es noch Musical.ly hieß.

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DER ZWEITE JULI

An dem Tag war ich geschäftlich in Stuttgart. Ich musste regelmäßig in den Sü-

den und konnte dadurch einige Freundschaften aus Schulzeiten aufrecht erhalten. Das war mir wirklich wichtig, weil ich eben viel unterwegs war. Somit hatte ich in einigen Städten Bekannte und Freunde und war nie allein, wenn ich

geschäftlich weg musste. Also an dem Tag bin ich in Stuttgart angekommen

und ich rief meinen Kollegen Sam an. Er war damals 30 und hatte es seit Kur-

zem geschafft aus seinem Elternhaus auszuziehen. Ich vermute, seine Eltern

haben ihn rausgeschmissen, aber er meint immer noch, dass seine eigene

Entscheidung war. Ich rief ihn also an und fragte ob er Lust hätte mit mir Abends

in eine Bar zu gehen. Darauf antwortete er, dass es nicht ginge, weil eine Freun-

din zu besuch kam, die wohl schwanger war und er schon andere zu einem gemütlichen Abend eingeladen hatte. Ich erinnere mich noch, wie ich mich

ein wenig aufgeregt habe, weil Ich unbedingt mal wieder bei den alten Stammkneipen vorbei schauen wollte durch die ich in meinen Studienzeiten gezogen

bin. Zum Glück konnte mich Sam überzeugen nicht in die Stadt zu gehen. Darin war er schon immer sehr gut. Selbst in als wir zusammen an der Uni Stutt-

gart studiert haben war er ein Sparfuchs und ging selten in der Stadt feiern.

Das erklärt vermutlich auch, warum er so lange daheim gelebt hat. ―― Ich

machte mich am frühen Abend, ich glaube es war so 5 Uhr, auf den Weg zu Sam

nach Bad Cannstatt. Die Wohngegend lag direkt am Neckar und ich setzte

mich noch ein wenig auf eine Bank In der Nähe vom Wasser. Der Tag war ziem-

Jonas Seifert

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von Katja Schröpfer


lich stressig. Ich brauchte ein wenig Ruhe vor dem Treffen. Irgendwann klin-

gelte dann mein Handy, und Sam meinte ich soll nicht länger wie ein Penner auf der Bank sitzen und rein kommen. Daraufhin drehte ich mich um und sah

Sam mit einem breiten Grinsen am Fenster seiner Wohnung stehen. ―― Ich

kannte die meisten Gesichter der Anwesenden an dem Abend bis auf Sams

Schwangere Freundin Kim. Ich unterhielt mich sehr lange mit ihr und erfuhr,

dass sie aus Mannheim kam und ihr Freund sie sitzen gelassen hatte. Sie besuchte ihre Eltern für zwei Tage, da sie es wohl alleine nicht mehr ausgehal-

ten habe. Wir hatten uns schon ein Weilchen unterhalten, als sie in die Runde fragte, ob sie jemand nach draußen begleiten könne, weil sie ein wenig frische Luft brauche. ―― Es war so gegen 8 als Kim, Sam und ich den Neckar entlang spazierten. Sam und ich alberten ein wenig umher. Dann passierte es. „Oh

nein“ rief Kim als sie stehen blieb und sich an ihren runden Bauch fasste.

Fuck, dachte ich mir. Bekommt sie jetzt etwa ihr Kind? Und keine Sekunde spä-

ter sah man es. Ihr Fruchtblase war geplatzt. ―― Wir riefen den Notarzt und begleiteten sie in Krankenhaus, wo sie untersucht wurde. Sie war wohl schon

so weit, dass man sie da behalten wollte. Zum Glück war Sam bei ihr. Er konn-

te schon immer besser mit Krisensituationen umgehen. Ich selbst hatte von den ganzen Untersuchungen nichts mitbekommen. Die meiste Zeit saß ich in

einem Wartebereich mit schlechten Magazinen. Hin und wieder lief eine

Krankenschwester oder ein Arzt vorbei. So wie die Leute mich angeschaut

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haben, dachten wohl alle sei ein werdender Vater. Dabei war ich das absolute

Gegenteil davon. Ich selbst bin ohne Vater groß geworden und hatte nie sowas wie eine Vaterfigur in meinem Leben. Vielleicht ist das einer der Gründe

gewesen, weshalb ich mir selbst nie wirklich vorstellen konnte Vater zu wer-

den. ―― Viel Zeit drüber nachzudenken hatte ich nicht. Sam kam mit schnellen Schritten auf mich zu. Er erklärte mir, dass ich zu Kim gehen soll, während

er den Eltern bescheid gibt und einige Dinge für Kim aus dem Elternhaus holt. Ich solle die Stellung halten, bis er wieder da ist, da er nicht wollte, dass Kim

allein ist. Bevor ich irgendetwas erwidern konnte war er weg. Also stand ich da.

Auf einer Geburtsstation. Um einer Frau beizustehen, die ich erst seit 4 Stunden kannte. Es war ein bisschen wie in einem schlechten Film. Als ich Kim fand,

war eine Krankenschwester bei ihr, die sofort dachte, dass ich der werdende

Vater bin. Da sind sie ja endlich rief sie mir zu und schob mich zum Bett. Ich

bin sofort wieder da. Ich nahm Kims Hand die mich dankend ansah. Die Stille

verblieb nicht lang. ―― Die Abstände der Wehen wurden immer Kürzer und

ich versuchte mein Bestes um es Kim so angenehm wie möglich zu machen.

Gleichzeitig hoffte ich, dass Sam bald wieder auftauchte, weil ich definitiv der

Falsche für diesen Job war. Und dann war es soweit, Kim wurde in den Kreissaal gebracht und sie bat mich bei ihr zu bleiben. ―― Die Details der Geburt

erspare ich euch. Was ich euch aber sagen kann ist, dass es das intimste Erlebnis war, das ich mit einer Person bis zu dem Zeitpunkt hatte. Ich war kein

besonders guter Geburtshelfer, wie mir eine Schwester im Nachhinein sagte,

Jonas Seifert

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von Katja Schröpfer


aber was soll ich sagen. Mein Wissen über Geburten hatte ich größtenteils aus

Hollywood Filmen. ―― Nach der Geburt und als Kim in ihrem Zimmer eingeschlafen war nahm ich ein Taxi nach Hause. Ich war mir sicher, dass sie erst-

mal allein bzw. Im Kreis ihrer Familie sein wollte. Dennoch lies mich der Gedanke an sie nicht los. Ich hatte das Gefühl durch dieses Erlebnis eine Bindung zu

dem Kind aufgebaut zu haben, aber wollte mich auch nicht aufdrängen. Es

war nach wie vor nicht mein Kind und Kim kannte ich auch noch nicht sehr lange. Am nächsten Morgen rief mich Sam an und ich fuhr zur Klinik. Ich hatte so

viele Fragen. Wie reagiert sie wohl und was werden ihr Eltern sagen? Bei einer

Sache war ich mir jedoch sicher. Ich war froh, dass ich mit ihr am Neckar spa-

zieren war und sie an dem Tag begleitet habe und wer weiß, vielleicht war es ja nicht das letzte Mal.

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Dr. Donald Geiger

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von Dominic Berner und Lasse Langner


DER NATÜRLICHE FLUSS IST FÜR JEDERMANN ERSTREBENSWERT Dr. Donald Geiger kämpft seit Jahrzehnten um die Renaturierung des Neckars. Die Pläne der Landeshauptstadt gehen ihm dabei nicht weit genug. Er will ein klares Bekenntnis zum Naturerlebnis-Neckar seitens der Politik. Herr Geiger, Sie sind seit vielen Jahren Vorsitzender der NABU Gruppe Stuttgart e.V. und überzeugter Stuttgarter. In welchem Zustand befindet sich der Neckar zur Zeit? Also der Neckar hat sich in den letzten Monaten doch schon stark verändert. Dieser ist immer noch sehr dreckig und die Industrie pumpt nach wie vor stark verschmutztes Wasser in den Fluss. Das passiert natürlich nicht nur in Stuttgart, sondern auch an anderen Orten, jedoch im Stadtgebiet Stuttgarts doch schon sehr einschneidend. Gerade der Hafen ist hierbei ein sehr großes Verschmutzungsproblem. Dieser bietet eine große Angriffsfläche für unsere Aktionen gegen die Neckarverschmutzung. Egal, woher der Schmutz stammt, der Neckar ist in keinem guten Zustand und könnte deutlich sauberer sein. Wenn wir die Natur betrachten ist natürlich auch die Kanalisierung des Flusslaufes ein gravierender Eingriff und so nicht mehr tragbar. Was könnte den Neckar im Großraum Stuttgart denn wieder in seine natürliche Form bringen? Meiner Meinung nach müsste man darüber nachdenken, den Neckar komplett zu renaturieren. Dafür haben wir in den letz ten Monaten und Jahren einige Ansätze ausgearbeitet. Hierbei ist ein wichtiger und entscheidender Teil der Hafen Stuttgart. In den Ortschaften Stuttgart-Obertürkheim/-Hedelfingen und -Wangen muss das Hafengelände komplett abgebro chen und die damit verbundene Binnenschifffahrt eingestellt werden. Wenn man sich vorstellt, dass es für Unternehmen zum Teil überhaupt nicht mehr wirtschaftlich ist, die Ware über den Wasserweg nach Stuttgart zu befördern, ist dieser Schritt glasklar. Über andere Transportmittel wie die Lastkraftwagen oder den Schienenverkehr gibt es inzwischen deutlich  effektivere und umweltschonendere Alternativen. Ist es dann aber in ihrem Sinne, dass die Lasten von den Flüssen auf die Straße oder die Schienen verlagert werden? Sind diese Wege nicht schon viel zu sehr überlastet und ist es für die Industrie denn überhaupt denkbar so etwas  umzusetzen? Dazu muss ich Ihnen sagen, dass ich in erster Linie Doktor der Philosophie bin und mein Steckenpferd in der Biologie gefunden habe. Daher bin ich vom Wissensstand in erster Linie für den Schutz des Neckars vorbereitet. Wie meine Bestrebungen nun aus wirtschaftlicher Sicht zu betrachten sind, da müssen sich andere Experten bemühen und die Lösung dafür ist mir persönlich auch egal. Fakt ist es, dass der Hafen entlastet werden muss und das Schiffsaufkommen deutlich zu reduzieren ist. Klare Reglementierungen müssen vorgeben, wieviel Schiffe einlaufen dürfen. Dieser Schritt wird noch klarer, wenn man sich einmal vorstellt, dass die ganzen Schiffe mit Schweröl fahren. Die durch ein vom Straßenverkehr sowieso schon stark beeinflusste Luft am Neckar entlang, steht kurz vor dem Kollaps. Wie scheiße das Wasser und die Luft deswegen eigentlich wirklich sind kann man sich kaum vorstellen. Ein kurzer Besuch mit offenen Augen kann dort zum Teil traumatisierende Erfahrungen zur Folge haben. Ist für Sie persönlich denn die Natur im Vordergrund oder spielt auch der Mensch in ihren Überlegungen eine wichtige Rolle? Denken sie doch einmal kurz darüber nach, was ich gerade gesagt habe und dann überlegen Sie sich noch einmal was sie mich hier Fragen. Für mich ist der Mensch ein Teil der Natur und hat auch eine Verantwortung dieser gegenüber. Natürlich ist beim Neckar zunächst die Natur, bei der man angreifen muss, im Fokus. Dadurch wird es aber den Menschen im Folgenden auch besser gehen. Die angestrebte Renaturierung wirkt sich dann nach erfolgreicher Umsetzung auch auf den Habitat des Menschen positiv aus. Macht es aber nicht mehr Sinn die Renaturierung im Umfeld von Stuttgart vorzunehmen und hier im Stadtgebiet die Ufer mehr nach den Bürgern auszurichten? Gerade in den Ballungsgebieten und den doch begrenzten Möglichkeiten am Wasser, sollte da nicht der Bürger und sein individuelles Neckarerlebnis im Mittelpunkt stehen? 089



09

Neckarschutz Montagsdemo 08

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Name

Dr. Donald Geiger (72) Herkunft

06 Stuttgart, Deutschland

Verbindung zum Neckar Neckaraktivist

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Ich glaube, Sie verstehen meinen Punkt nicht. Mir geht es darum, dass der Binnenschiffverkehr reguliert wird und der Neckar nicht mehr als Warentransportweg wahrgenommen wird. Der Mensch soll natürlich Teil der Renaturierung sein und die Möglichkeit haben, den Fluss zu erleben. Gehen wir beispielsweise nach Bad Cannstatt, da könnte man die ganzen Uferpromenaden einmal einreißen und einen Strand dort aufschütten. Es gibt schon einige Möglichkeiten um natürliche Naherholungsgebiete zu schaffen. Solch ein Vorgehen wäre natürlich gut und wichtig. Man darf aber auch nicht vergessen, dass auch der Mensch den Neckar belastet. Speziell im Sommer, wenn mit eingecremten Körpern ins Wasser gegangen wird, führt das ja auch zu einer Verunreinigung des Wassers. Auch Kinder, die sich im Neckar erleichtern gehören da dazu. Das sind aber ja nur Kleinigkeiten und von einem intakten Gewässer durchaus tragbar. Das hat nichts mit der Verschmutzung die durch die Schifffahrt entsteht zu tun. Kommen wir noch einmal kurz auf das Naturerlebnis-Neckar zurück. Was zeichnet dieses denn aus, auch speziell wenn wir einen Blick in die Zukunft werfen?

oben: Auch am Neckar gibt es ein erhebliches Müllproblem. Laut Dr.

Geiger sind vorallem Jugendliche

für die Verschmutzung der Neckarufer mit 0,5 Liter Eistee Packungen verantwortlich.

Im Moment ist dieses Erlebnis nicht spürbar. Wenn sie aber einmal mit den alten Bewohnern von Stuttgart sprechen, dann haben diese den Fluss noch in einem ganz anderen Lauf gesehen. Ohne mich jetzt auf eine Jahreszahl festlegen zu wollen, kann ich sagen, dass dieser in den 60er Jahren neu kanalisiert und umgeleitet wurde. Die Betonrinne in dem der Neckar läuft kann heute nicht aufgelöst werden und ist wie eine Narbe in der Natur. Vor dem Eingriff ist er noch durch die oberen Neckarvororte im natürlichen Lauf wie Mettingen, Obertürkheim und Untertürkheim gelaufen. Das war natürlich ein ganz anderes Erlebnis für die Menschen am Fluss. Er war damals noch um einiges seichter und breiter. Außerdem konnte er nicht durch Transportschiffe befahren werden. Natürlich war das ein Segen für die Bewohner, die an dem frischen Wasser neue Energie sammeln konnten. Baden und Tollen war usus an den Liegewiesen vor dem Neckar. Damals war das noch ein spürbares Naturerlebnis. Um auf Ihre Frage aber zurückzukommen, dann kann ich Ihnen keinen Ausblick in die Zukunft geben. Ich weiß aber, dass wenn wir so weiter machen, wir erhebliche Problem bekommen werden. Wir müssen zurück zu unserem Neckar, den wir einst hatten. Mit dem wir uns identifizieren können und der ein Fluss ist, der in seiner Natürlichkeit für jedermann erstrebenswert ist.

Spiegelt ihre Meinung aber auch die Meinung der Bürger wieder? Natürlich setzen sie sich seit Jahren für den Naturschutz ein, aber meist steht ihnen ja dann doch die Natur näher als der Bürger. Was ist denn der Wunsch des Bürgers? Sie kennen die ganzen Demonstrationen von Fridays for Future jeden Freitag auf den großen Plätzen in Stuttgart? Wir leben auf einem Planeten, der nicht uns gehört und der auch noch für kommende Generationen erlebbar sein soll. Natürlich hängt da die Natur direkt mit dem Bürger zusammen und muss auch in deren Interesse sein. Die Natur ist unser aller Ursprung. Gehen sie doch einmal an den Neckar und schauen sich an, was dort getrieben wird. Finden sie das schön? Die Hafenanlagen sind vielleicht nachts schön, wenn man nichts sieht, aber ansonsten bin ich absolut der Meinung, dass der gemeine Bürger nichts aber auch gar nichts von der Binnenschifffahrt hat. Ganz im Gegenteil, es sieht einfach nur schlecht aus und man kann nicht darin baden. Ich will gar nicht wissen, was da für Scheiße drin rum schwimmt! Von dem her bin ich mir sicher, dass wenn wir eine Petition starten würden und der Bevölkerung genau diese Frage stellen, dass wir auf eine breite Zustimmung stoßen. Wir hatten solche Abstimmungen auch schon in der Vergangenheit in kleinerem Rahmen in anderen Orten. Da hatten wir großen Erfolg in der Bevölkerung mit der Frage, was denn wäre, wenn wir den Neckar wieder zugänglich gestalten würden. Das ist aber auch einfacher Stimmenfang. Der Gedanke ist ja sehr einfach und kurz gedacht, dass man mit solchen Versprechen einige Stimmen auf sich versammeln kann. Wie soll denn mit dem Industriestandort Stuttgart umgegangen werden? Man muss sich doch nur einmal anschauen, was auf dem Neckar transportiert wird. In erster Linie sind die Schiffe voll beladen mit Schweröl und Kohle. Beides für die Energiegewinnung aus fossilen, nicht nachwachsenden Rohstoffen. Im Falle des Schweröles für die Autoindustrie, beziehungsweise als Treibstoff für das Automobil oder in Form der Kohle für veraltete Kohlekraftwerke. In Stuttgart-Wangen und -Münster sieht man solche Schandflecke direkt am Neckar stehen. Das ist Irrsinn! Die Kohle ist nach wie vor ein sehr umstrittener Energielieferant und auf dem absteigenden Ast. Ich bin für Energiegewinnung aus Biomasse oder dem Wind. Meiner Meinung nach könnte man durch die Schließung des Neckars Dr. Donald Geiger

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von Dominic Berner und Lasse Langner


sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ist die Binnenschifffahrt verboten, dann ist auch der Nachschub für die Kohlekraftwerke versiegt und man müsste diese abschalten. So können wir im Großraum Stuttgart die Energiewende schaffen. Den fehlenden Strom könnte man durch – sagen wir – zweitausend Windräder auf der Alb kompensieren. Was kann denn der normale Bürger für den Neckar machen, damit die Renaturierung erfolgreich durchgezogen werden kann? Gibt es kurzfristige Maßnahmen für die Bevölkerung um den Prozess zu beschleunigen? Also meiner Meinung nach ist das kein Prozess, der von einem Individuum vollzogen werden kann. Natürlich ist politisches Engagement ein Weg in die richtige Richtung und hierfür gibt es wöchentliche Demonstrationen, die unter anderem von uns organisiert werden. Mit Fahrrädern und Klingeln in der Lautenschlager Straße. Da geht es nebenbei auch noch um das nicht ganz abgeschriebene Projekt K21. Meiner Meinung nach ist der Neckar in erster Linie eine Aufgabe für die Politik. Der gemeine Bürger kann aber auch etwas tun. Er kann mehr Müll aufheben oder einfach einmal den Neckar auch nutzen um dadurch ein klares Zeichen pro Neckar zu setzen. Die wundervollen Radwege am Neckar sind ein guter Ausgangspunkt um seine Meinung gegenüber dem Neckar zu verändern. Dadurch entsteht in jedem persönlich die Bereitschaft sich für den Neckar einzusetzen. Betrachten wir noch einmal die Politik im Speziellen. Hier in Stuttgart haben wir ja seit einigen Jahren einen Grünen Oberbürgermeister. Was hat sich unter seiner Regierung denn im Vergleich zur vorherigen CDU Regierung verändert, speziell wenn wir den Neckar betrachten? Ach, weg gehört der, einfach weg. Ich muss sagen, unter seiner Herrschaft hat sich wenig getan. Ich bin nach wie vor etwas enttäuscht von ihm und seinen Konzepten für Stuttgart. Als er gewählt wurde habe ich mir und viele andere Stuttgarter sehr viel für die Stadt erhofft. Im Endeffekt war da schon sehr viel leeres Gerede dabei. In Bezug auf den Neckar kam da sehr wenig bis überhaupt gar nichts dabei rum. Wir haben mehrere Briefe, darunter auch eilige Anliegen, direkt an den Oberbürgermeister geschrieben. Auch haben wir uns an das Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg direkt gewandt oder an den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Alles leider aber mit sehr wenig Resonanz. Jetzt auch während der Corona-Krise scheint die ganze Welt nur auf das Virus zu schauen und gar nicht mehr auf die wirklich wichtigen Dinge direkt vor unserer Haustüre. Das interessiert mal wieder die wenigsten. Der Daimler hat zwar die Produktion am Neckar eingestellt, doch nach wie vor wird da irgendeine flüssige Scheiße in den Neckar gepumpt. Diese Rohre in Wangen, die da das Zeug in den Fluss blasen. Abscheulich! Seit 2018 gibt es ja den Projektplan Neckar, den sogenannten Masterplan für Stuttgart als Stadt am Fluss, der vom Rathaus veröffentlicht wurde und ja als direkte Maßnahme wahrgenommen werden kann. Das spielt ja dann genau in die Bereiche rein, die Sie auch angesprochen haben. Was halten Sie von diesen Plänen? Das was das Rathaus da veröffentlicht hat, ist reine Beschwichtigung. Im Grund eine Beschäftigungstherapie für uns. Was bringt es uns, ein Konzept zu erarbeiten und Architekten zu beauftragen, wenn diese dann nichts umsetzen. Wenn die öffentlichen Gelder und die Zeitpläne fehlen. Aber der Plan ist doch mit einem konkreten Zeithorizont und einem großen Budget versehen. Was genau ist denn ihre Forderung, wenn diese Maßnahmen ihrer Meinung nach nicht ausreichen? Ja, was soll ich dazu sagen. Das ist einfach nur dumm. Okay, welche Forderungen stellen Sie denn dann direkt an die Politik und können Sie diese Forderungen kurz und kompakt zusammenfassen? Also wir haben dafür einen Drei-Stufenplan ins Leben gerufen. Die erste Stufe ist hierbei Konzeption und Planung. Es geht in erster Linie darum etwas zu konzipieren. Die zweite Stufe ist dann die Umsetzung in diesem mysteriösen Plan, den Sie mir hier gerade vorgelegt haben. Dabei handelt es sich um die Meinungsbildung in der Bevölkerung. Beeinflussung des Meinungsklimas und Gewinnung der Bevölkerung speziell zu diesem Thema. Wir müssen sagen: „Hallo, hier gibt es einen Plan, der ist nicht nur gut für euch, sondern auch noch gut für die Umwelt. Gut für Körper und Geist und natürlich auch gut als Naherholungsmöglichkeit.“ Der dritte und letzte wichtige Schritt ist dann die Aktion, die Umsetzung. Dabei muss die Politik ganz klar sagen, das sind die Baumaterialien und damit wird das Projekt dann auch realisiert. Vielen Dank Herr Geiger für dieses aufschlussreiche Interview.

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D ― WEIN 16 ― Annelie C. Scheuermann Ministry of floating Arts von Christine Hartmann

17 ― Neckar

Fluss von Tanita Geiger

18 ― Elsa Ellerbrock Rentnerin von Louisa Hoppe

19 ― Callum Autmnfields Engländer von Jonas Favorite

20 ― Lisa Lutz

Standesbeamtin von Heike Lauer


ALLES IM FLUSS Ich bin Künstlerin. Ich liebe meine Arbeit. Wenn ich im Neckar schwimme und alte verrostete Dosen heraushole – mit den Füßen, dann ist das Kunst. Da lasse ich mir nicht reinreden. Kunst ist auch, wenn ich diese zu einer riesengroßen Schneckennudel zusammenklebe. Als Glasur nehme ich, sagen wir mal Enten- und Gänsekot. Den muss ich natürlich erst mal aufbereiten. Auch das ist eine Kunst. Wenn Liebespaare oder beste Freundinnen am Neckar entlang schlendern, dann verstecke ich mich im hohen Gras und belausche diese meist heimlich – im Namen der Kunst. Die Gesprächsfetzen schreibe ich auf kleine pinkfarbene Esspapierstreifen und verteile diese an vorbeikommende, mir sympathische Kinder. Die Eltern sind oft etwas skeptisch, aber es ist ja immer so, dass Kunst meist nicht auf Anhieb verstanden wird. Einmal habe ich belauscht, wie Jugendliche über meine Schneckennudel gelästert haben, die ich an einer lauschigen Stelle in einer kleinen Bucht wirk- lich grandios in Szene gesetzt hatte. Einer trat sogar gegen mein Kunstwerk, ein anderer benutze sie als Klobrille. Ich sprang aus meiner Deckung hinter dem hohen Gras hervor und schubste die Kunstschänder gekonnt in den Neckar, während die  Grillen gleichmütig zirpten. Das Geräusch der hineinplatschenden Körper und die Hilfeschreie inspirierten mich, sodass ich mich ärgerte kein Tonmemo aufgenommen zu haben. Obwohl ich ein bisschen gekränkt war und noch darüber nach dachte, konnte ich dennoch verhindern, dass der Dritte im Bunde den anderen beiden heraushalf. Darauf war ich stolz. Nicht immer reagiere ich so entschlossen und beherzt. Die beiden Täuflinge trieben flussabwärts und ich überlegte, ob ihr wildes Schlagen mit den Armen in den malerischen Wellen der „Wilhelma“ nicht ein bisschen übertrieben war und zweifelte, ob es so ein wirklich harmonisches Bild ergab. Ich stieg auf mein Rad und fuhr gemütlich  nebenher, wie die beiden so Richtung Schleuse Poppenweiler trieben. Etwas verwundert war ich über einen Kombi, der mich auf dem kleinen romantischen Weg am Flussufer entlang des Neckars bedrängte. Das Dekor der Karosserie war etwas aufwändiger – das fiel meinem geschulten Auge auf. Blau und Silber – naja, habe schon  Spannenderes gesehen. Sie boten mir eine Mitfahrgelegenheit an. Ich lehnte ihre Hilfsbereitschaft ab, aber sie ließen nicht locker. Auf der Polizeiwache fand ich mich überraschenderweise wieder. Ich zeigte meinen Künstlerausweis – sie nickten verständig. Irgendwie  kannte ich die Jungs. Eigentlich werde ich immer heimgefahren. Die Pfleger freuen sich wenn ich wieder da bin, denn ich kann stets die abendliche Tischrunde mit anspruchsvollen Beiträgen bereichern. Und das ist eine Kunst für sich. Schneckennudel

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Name

Annelie Crystal Scheuermann (46) 07

Herkunft

Ludwigsburg, Deutschland Verbindung zum Neckar Neckar-Künstlerin

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Annelie C. Scheuermann

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von Christine Hartmann


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Die Leute kommen und gehen. Mal bleiben sie lange, mal ganz kurz. Jeder einzelne von ihnen hat seine eigene Geschichte. Manche Geschichten beginnen erst, manche enden. Sie sind so verschieden und doch so gleich. ―― ManNeckar

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von Tanita Geiger


che starren mich Stunden lang an. Es scheint, als wĂźrden sie nichts anderes

tun. Wieder andere schauen direkt ßber mich hinweg. Fast so als wäre ich gar nicht da. Ich frage mich, ob sie mich wirklich nicht wahrnehmen, oder sich le097


diglich in meinen Weiten verlieren. Ich sehe die Menschen lachen, nachden-

ken oder auch weinen. Manche sind ganz alleine, manche in Gesellschaft. Sie lassen ihre Emotionen frei, teilen diese mit sich selbst und mit mir. Ich habe das Neckar

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von Tanita Geiger


Gefühl, dass ich beruhigend auf sie wirke, obwohl ich nicht immer ruhig bin.

Ich kann sehr aufbrausend werden, doch dann ist meist niemand mehr da. Sie mögen, dass ich zuhören kann. Die Ruhe. Das gegenseitige Anschweigen. Ich 099


glaube, dass ich beruhigend auf sie wirke. Eigentlich hab ich das Gefühl, dass sie mich mögen. Sie wären sonst wohl nicht so oft da. Ich glaube sie genießen

meine Gegenwart. Die meisten kehren auch immer wieder zu mir zurück. Und Neckar

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von Tanita Geiger


dennoch – die Menschen machen es mir immer wieder schwer zu atmen. Es wird immer schwerer zu atmen.

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DIE SEHNSUCHT.



Jeden Tag das gleiche Spiel. Um 8 Uhr klingelt der Wecker. Eine halbe Stunde später, wenn Elsa sich dann angezogen hat, kommt ihre Pflegerin Margaritha. Elsa wird gewaschen, ihre Haare gekämmt und dann bekommt sie ein Brötchen mit Marmelade. Eigentlich mag Elsa saftiges Vollkornbrot mit einer guten Scheibe würzigem Käse. Es ist alles genormt, ob Essen oder auch „Frischluft-Zeit“ und Sonderwünsche werden leider nur viel zu selten ermöglicht. An manchen Tagen empfindet sie es, als ob sie in einem Gefängnis ist mit dem Unterschied, dass die Bewohner für dafür zahlen. Hier im Heim fühlt sie sich wie eine Nummer. Zumindest hat ihr Zimmer eine Nummer. Die 42. Die 42. Bewohnerin in der dritten Etage. Ganz alleine, in diesen hellen Wänden und den immer gleich geschnittenen 15 Quadratmeter großen Wohnungen. Ein kleines Bad, ein Schrank für ihre schönen Kleider, die sie früher so gerne getragen hat, wenn sie zusammen mit ihrem Mann Rad fahren war und ein Tisch mit einer Lampe. ―― Als ihr Mann Heinrich vor 2 Jahren mit 91 starb, brach für Elsa eine Welt zusammen. Die beiden waren schon immer ein Herz und eine Seele und vor allem beste Freunde. Sie waren für einander bestimmt, sagten sie sich immer wieder. Heinrich war Dirigent an der Oper in Stuttgart. Er liebte die klassische Musik und hatte einen tollen Sinn für Humor. Sie unternahmen viel zusammen. Mal waren es die Geschäftsreisen ihres Mannes, dann flogen sie nach Russland oder sie fuhren mit dem Zug nach Italien. Ein andermal machten sie zusammen Kochkurse in Marokko. Für ihre Generation sahen sie viel von der Welt und vor allem gemeinsam. Elsa und Heinrich bekamen nie Kinder. Nicht weil sie es nicht wollten, sondern weil sie es nicht konnten. Und doch machten sie das Beste daraus und genossen fernab der Arbeit und des Alltags diese Momente der Freiheit und der Ungebundenheit. Sie mussten sich niemandem unterord nen und folgten schlichtweg ihren Träumen. Ein Traum, den sie sich in ihren Mittvierzigern erfüllten, war ihr heißgeliebtes und gehegtes Haus am Comer See. Dieser unbeschreibliche Frühlingsduft, wenn die Kälte der Berge und die Wärme der Sonne aufeinandertreffen und die Sonne und Wolken ein unwahrscheinlich wohltuendes Licht und Schattenspiel vorführen; wenn die Vögel anfangen freudig zu zwitschern und die Bienen im Kanon summen und im Hintergrund das leise rau schen des Sees, dann ist das die Melodie und das Gefühl von vollkommener Zufriedenheit und Glück. ―― „Elsa, bist du fer tig mit deinem Frühstück?“, ruft ihre Freundin Käthe in ihre Wohnung. „Tut mir leid. Erstmal einen wunderschönen Guten Morgen dir. War Josef schon da?“ Käthe und Elsa spielen jeden Morgen um 9 Uhr mit Josef zusammen Scrabble. „Um die grauen Gehirnzellen bei Laune zu halten“, pflegt Josef zu sagen. Die drei sind ein eingespieltes Team und jeden Tag gewinnt ein anderer. Da heute Mitte Juni ist und die Sonne scheint, entscheiden sich die Drei auf dem sonnengeschützten Balkon zu spielen. „Mensch Elsa, was mir gerade einfällt.“, meint Käthe. „Hast du denn nicht in zwei Wochen Geburtstag? Was wirst du machen?“ „Ja  wohl sicher nicht zum VfB Stuttgart Spiel gehen“, witzelt Josef. „Ich mein ja nur. Hätte ich an einem Sonntag Geburtstag, würde ich mir das Spiel anschauen. Man hat ja nicht oft die Altenheim Gelegenheit, nach draußen zu kommen.“ Im Heim gilt die Regel, dass man alle zwei Wochen  an einem Tag die Anlage für zwölf Stunden verlassen darf. Die Bedingung ist die vorherige Genehmigung der Heimleitung und eine Begleitperson, die einen die ganze Zeit betreut. Elsa hatte sich darüber bereits Gedanken gemacht. „Eigentlich möchte ich hier auch mal raus. Ich hatte an einen Besuch in die Wilhelma gedacht, aber bei mir scheitert es immer an einer Begleitperson. Das wird wohl leider nichts.“ Josef und Käthe schauen Elsa schräg an, dann erwidert Käthe: „Mensch, du sollst doch nicht so Trübsal blasen. Wir finden da 09 schon jemanden für dich.“ Josef stimmt Käthe zu: „Ja eben, da muss man doch einen Weg Name finden. Meine Enkeltochter würde das sonst sicherlich auch machen, da bin ich mir siElsa Ellerbrock (88) cher.“ „Ja genau, oder was ist mit dem netten Jungen, der immer morgens die Zeitungen ans Heim bringt?“, meint Käthe. „Der hat doch auch mal ein Runde Scrabble mit uns ge08 Herkunft spielt. Hatte er nicht sogar mal erzählt, dass seine Mutter im Kiosk in der Wilhelma arbeiStuttgart, Deutschland tet? Das wäre doch die Idee.“ Elsa überlegt und lässt ihren Blick über die gegenüberliegenden Wohnhäuser schweifen. Eine Frau schüttelt Handtücher aus und hängt sie über Verbindung zum Neckar den Balkon zum Trocknen. Eine Wespe fliegt vorbei, setzt sich kurz auf ihr „C“ Steinchen Bewohnerin Altenheim in des Spiels, bewegt sich sanft auf und ab und fliegt davon. „Ich glaube, ich hab‘ da jeman07 Stuttgart Münster den, den ich anrufen und fragen könnte“, meint Elsa. „Wäre es in Ordnung für euch, wenn ich das jetzt kurz erledige und einen Anruf tätige?“ Elsa steht langsam auf und geht. 06

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Elsa hatte schon lange darüber nachgedacht, wen sie bitten könnte, mit ihr zusammen ihren Geburtstag zu verbringen. Doch sie hat sich nicht getraut, ihren alten besten Klassenkameraden zu fragen, da sie es so furchtbar unangenehm und erniedrigend findet, dass sie eine „Begleitperson“ braucht, um das Heim verlassen zu können. Da kommt man sich vor wie ein kleines Kind – völlig unabhängig. Sie hat es nicht gern abhängig und unselbstbestimmt zu sein. Auch das ist etwas, was Elsa im Heim erstmal wieder lernen musste. Doch Elsa Ellerbrock 04

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von Louisa Hoppe


sie wünscht sich so sehr, ihren Geburtstag in einer schöneren Umgebung, als im Heim zu verbringen. Die vorbeifliegende Wespe erinnerte sie einen Moment lang an ihr schönes Haus am Comer See, dieses Gefühl von Freiheit könne sie nur haben, wenn sie jetzt also allen Mut zusammennimmt und ihren alten Klassenkameraden um Unterstützung bittet. Klaus und Elsa waren sich schon immer nahe und schrieben sich auch ab und an Postkarten. An ihrem Geburtstag war Klaus immer der Erste, der ihr anrief. Elsa wählte seine Nummer und setzte sich aufgeregt auf ihren Stuhl neben dem Bett. Würde er können? Es ist mal wieder acht Uhr und der Wecker klingelt. Doch an diesem Tag, war Elsas Geburtstag und sie wacht sofort auf, freut sich und ist gespannt auf das was kommt. Klaus will sie um 9 Uhr abholen kommen. War das Telefonat doch schön mit ihm. Er hatte sich so gefreut von ihr zu hören. Er hatte ihr sofort zugesagt, zusammen mit ihr den Geburtstag zu verbringen. Klaus ist eben noch super fit und abenteuerlustig. Das war genau der Typ Mensch, den Elsa jetzt brauchte. Er sagte zwar, dass er die Wilhelma nicht so gerne mochte, weil er es nicht für richtig hält, dass Tiere in Käfigen gefangen halten werden, aber er versprach ihr, sich etwas zu überlegen und sie mit einer anderen Aktivität zu überraschen. Überraschungen hatte Elsa schon lange nicht mehr bekommen und sie war sofort einverstanden. Als Klaus eine Stunde später mit einem schönen, tiefgrünen Porsche Cabrio vorfährt, ist Elsa schon ganz aus dem Häuschen. Käthe und Josef staunen auch nicht schlecht, als sie das Geschoss von Elsas früheren Klassenkameraden sehen. „Einen wunderschönen Tag und Geburtstag wünschen wir dir“, sagt Josef. „Genieß den Tag und bis heute Abend.“ Elsa begrüßt Klaus mit einer Umarmung, steigt ins Auto und die Fahrt ins Ungewisse beginnt. „Jetzt, wo es endlich losgeht, kann ich dir auch endlich von meiner Idee berichten. Ich hoffe du wirst dich freuen“, meint Klaus. „Wir fahren nach Ludwigsburg ins Blühende Barock. Dort gibt es gerade eine Ausstellung über Pflanzen aus Südeuropa. Ich bin mir sicher, dass dir das gefallen wird, nachdem was du und Heinrich immer für tolle Fotos aus dem Urlaub aus eurem Garten am Comer See gemacht habt.“ Elsa ist ganz im Glück. „Das klingt toll Klaus“, meint Elsa. „Was für eine feine Idee. Ich war tatsächlich noch nie im Blühenden Barock. Es soll dort so schön sein.“ „Das freut mich.“ lächelt er sie an. „Aber davor, werden wir erstmal noch durch die schöne Landschaft des Remstals fahren, entlang des Rems und dann habe ich uns einen Tisch in einem Biergarten, unterhalb des Ludwigsburger Schlosses am Neckar reserviert.“ Nachdem die beiden zwei Stunden lang durch die grüne hügelige Landschaft des Remstals gefahren sind. Vorbei an Erdbeer-Ständen, an denen sie Halt machten, um von den süßen Früchten zu probieren. Weiter zu Fachwerkhäusern, an denen Rosensträucher emporranken, bis sie schließlich am Biergarten „Neckarblick“ in Ludwigsburg ankommen. Unter den großen Linden mit behangenen bunten Lichterketten, war ein Tisch mit einer rot gepunkteten Tischdecke und einem kleinen Feldblumen-Sträußchen bereits eingedeckt und die beiden nehmen Platz. Besser konnte es jetzt doch nicht mehr werden. Elsa ist ganz verzaubert von der Fahrt und ihr Blick schweift auf die nächste vor ihr liegende Wasserlandschaft. Das klare Wasser des Neckars, der an dieser Stelle von Steinen umgeben ist und der warme sommerliche Duft unter den Linden – alles ist malerisch schön und wundervoll. Elsa schließt für einen Moment ihre Augen und genießt die Stille. Auch wenn sie nun am Neckar sitzt, das Gefühl ist das gleiche wie es damals war, als sie mit Heinrich am Comer See in ihrem liebsten Restaurant essen waren. Das leise Dahinströmen des Wassers, die Gerüche und die warme Luft. Schöner kann es jetzt nicht mehr werden. So glücklich war Elsa seit dem Tot ihres Mannes nicht mehr gewesen. Wasser ist eben ihr Element und gibt ihr das Gefühl von Heimat.

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DIE LETZTE REISE

Sommer 1972 ―― 27 Jahre nach Kriegsende betritt der junge Engländer Callum Autmnfields zum ersten Mal in seinem Leben deutschen Boden. Nach

Zwischenstationen in München, Frankfurt und der Architektur-Metropole Essen, ist der letzte Stopp seiner Reise durch die Bunderepublik eine Kunstausstellung des aufstrebenden Künstlers Ole Thingnes in der Burg Hirschhorn

am Neckar. ―― Neben den Ölgemälden, in denen der Norweger vorrangig die

Natur thematisiert, präsentiert er nur zu gerne seine immer wieder wechselnden Partnerinnen. Die jüngste Eroberung ist Signoria Malvagio. eine Mittvier-

zigerin, der man bereits auf den ersten Blick ansieht, dass sie den Großteil ihres Lebens in Spielunken, Kneipen und Nachtclubs verbracht hat. Das einzige,

das Signora Malvagio noch lieber einatmet als den Qualm französischer Zigaretten, ist die frische Luft am Rande des Neckars. So ist sie auch maßgeblich an der Entscheidung ihres Gatten beteiligt, seine Ausstellung genau an

diesem von ihr so geliebten Ort zu eröffnen, dessen Idylle jedoch ein trügeri-

scher Vorhang ist. ―― Um die Geschichte der Burg und damit den Geist ver-

gangener Zeiten aufzugreifen, ist der Tag der Ausstellungseröffnung genau

auf jenes Datum gelegt, an dem der Erbauer der Burg, Johann von Hirsch-

Callum Autmnfields

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von Jonas Favorite


horn, im Jahre 1275 auf wundersame Weise verschwand. Die Legende, dass

sein Geist rund um die Burg herum sein Unwesen treibt, hält sich bis heute.

Immer wieder erzählen Spaziergänger von mysteriösen Erlebnissen am Fuße

der Burg. ―― Trotz dieser Erzählungen und der bereits eintretenden Dunkelheit entscheidet sich das ungleiche Paar zu einem Spaziergang am Neckar,

dem sich auch der junge Brite Callum anschließt. Noch keine 10 Minuten gelaufen, bemerken die drei Kunstliebhaber ein leises, aber doch deutlich hör-

bares Kratzen am Wegesrand. Zögerlich begibt sich Signora Malvagio gefolgt

von ihren beiden Begleitungen in Richtung des Kratzens, das von einer alten

Eiche auszugehen scheint. In der Rinde des Baumes entdecken sie nach kur-

zer Zeit Einkerbungen, die einer Strichliste ähneln. Neben neun bereits ausgeblichenen Kratzern erstreckt sich ein zehnter, deutlich frischerer Strich quer über die Baumrinde. Hatte das Kratzen etwa hier seinen Ursprung? Und wenn

ja, woher kam der zehnte Strich? ―― Noch bevor Callum sich dieser Fragen

wirklich bewusstwerden kann, bemerkt er, dass seine beiden Begleitungen

nicht mehr neben ihm stehen. Stattdessen entdeckt er inmitten des Flusses

ein flackerndes Licht.

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RAKCEN Ein kleiner Junge steht dort am Ufer. Er ist klein und männlich, aber das besagt ja schon der erste Satz. Er scheint in Gedanken woanders zu sein. Er starrt auf das wellenschlagende Wasser vor seinen nackten Füßen. Würde der Wind nur ein klein wenig stärker pusten, würde zumindest sein großer Zeh, der doch sehr klein ist, das kalte Nass berühren. Doch das Wasser ist ruhig. Keine großen Wellen sind zu erkennen. Ich frage mich, wie er heißt. Ich frage mich, was er sieht. Er sieht etwas, das ich NICHT sehe. Ich gebe ihm einen Namen. Rakcen. Warum? Wenn ich das nur wüsste… Aber ich finde den Namen irgendwie passend. Sehr passend sogar. Jetzt hebt er seinen rechten Fuß und tastet sich langsam weiter vor zur Wasseroberfläche. Eins, zwei, drei Sekunden später spürt er, wie er das Wasser mit seinem kleinen Fuß verdrängt. Da huscht ein fröhliches Lächeln über sein Gesicht. Ich lächle auch. Plötzlich steht er knöcheltief im glasklaren Wasser. Ich stehe am anderen Ufer. Rakcen hat mich nicht entdeckt. Glaube ich. Zumindest scheine ich ihn nicht zu stören… Wer ich eigentlich bin? Das ist in dieser Geschichte nebensächlich, weil ich nur der Beobachter bzw. die Beobachterin bin. Heutzutage muss man ja gendern. Aber für die, die es wissen möchten: Ich bin Lisa Lutz. 39, Standesbeamtin und stehe hier auf der anderen Seite des Flusses. Schlagartig verspüre ich das Verlangen meine weißen Sneakers auszuziehen und sein Spiegelbild zu werden. Ich öffne den ersten und dann den zweiten Schnürsenkel, ziehe beide Schuhe aus, lege sie in den Sand und nähere mich dem Wasser. Mit meinem rechten Fuß ertaste ich das kalte Nass. ―― Ich habe mich gefragt, was der kleine Junge sieht und plötzlich sehe ich es auch. Es ist nicht nur Wasser, nicht nur ein Fluss. Es ist eine Art der Freiheit. Die Verdrängung des Wassers bildet einen wiederkehrenden Prozess. Eine Welle. Jeder Tropfen nimmt einen Gedanken mit. Der Gedankenfluss fließt und mündet… Ja, wo eigentlich? Eigentlich spielt das gar keine Rolle. Warum? Weil Gedanken, die kommen, es Wert sind gedacht zu werden und nach gutem Durchdenken davon fließen dürfen. Sie werden zu Wellen, gar zu einem Strudel und dann wieder zu seichtem Wasser. Darf ich vorstellen, das ist der Gedankenfluss.





PLATSCH. NASS. PLATSCHNASS.



Standort

Ich tauche wieder auf. Wo ist der kleine Junge? Wo ist Rakcen? Rakcen ist der NECKAR und du kannst an jedem Ufer eines jeden Flusses einen, zwei, drei klare Gedanken fassen, sie loslassen und wieder einfangen. Gedanken sind es Wert gedacht zu werden. Ob du sie aussprichst, liegt an dir. Rakcen, ich meine natürlich der Neckar bietet nicht nur jedem Stuttgarter einen Platz zum Nachdenken.

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Name

Lisa Lutz (39)

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Herkunft

Esslingen, Deutschland Verbindung zum Neckar

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Beobachterin am Neckar

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Lisa Lutz

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von Heike Lauer


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E ― NORD 21 ― Julius Siewert Sportler von Dominic Berner

22 ― Simon

Anwohner von Leon Bauer

23 ― Ich

Arbeitslos von Lynn Hartmann

24 ― Toni Weinecken Studentin von Anja Rieker

25 ― Maja Charlotte Taub

Autorin von Tina Becirovic und Lasse Langner


KEEP RUNNING Seit Daimler-Produktmanager Julius Siewert, 41, seine Beförderung bekommen hat, dreht er völlig durch. Er steht um 5.30 Uhr auf und arbeitet bis spät in die Nacht. Abschalten? Freizeit? Sein Optimierungswahn hat ihm diese Begriffe schon längst ausgetrieben. Stattdessen pusht er seinen Körper zu Höchstleistungen. Ruhephasen gibt es für Julius Siewert nur zwischen Trainingsintervallen. Die „Faces of Neckar“-Redaktion hat ihn auf einen seiner morgendlichen „Runs“ begleitet. Kilometer eins – Puls: 78 Beats per Minute. Siewert wirft einen Blick auf seinen Polar Vantage Titan Handgelenkscomputer. Dann läuft er los, seine Jogging-Route beginnt am Max-Eyth-See. „Hey, das nennt man nicht joggen – ich laufe. Joggen ist was für Lappen, vor sich hintraben bedeutet das“, sagt Siewert. Die ersten drei Kilometer: Warmlaufen. „Ab und zu allerhöchstens einen kurzen Steigerungslauf. Aber die aerobe Schwelle darf ich hier noch nicht überschreiten.“ Kilometer drei – Puls: 84 Beats per Minute. Siewert läuft die Wege des Parks entlang, ganz locker. Außer ihm sind nur ein paar Rentner mit ihren Hunden unterwegs. Sie schauen dem in neongrün und schwarz gekleideten Sportfanatiker nach. „Alles feinste Kompressionsware, das holt im richtigen Rennen locker zehn Sekunden heraus“, stellt der ambitionierte Manager fest. Auf die Frage, ob der ganze Hightech-Scheiß denn notwendig sei, reagiert er gereizt: „Sie haben doch keine Ahnung“, sagt Siewert. „Auf einen Halbmarathon machen zehn Sekunden eine Menge aus. So, jetzt habe ich mich aber genug warm gelaufen.“ Der Daimler-Manager legt deutlich Tempo zu. Kilometer sieben – Puls: Im Wechsel 137 und 105 Beats per Minute. Der 41-Jährige nimmt sein Fahrtspiel sehr ernst. Was ein Fahrtspiel ist? Ein klassisches Intervall-Training. Schnelles Intervall, dann ein langsames, ruhiges Intervall. „Das“ Hust „bringt’s mega,“ Hust „wenn man Ausdauer-Schelligkeit verbessern“ Hust „möchte“. Er klingt, als sei die Anaerobe Schwelle schon längst überschritten. „Lactaaaaaat“, schreit er plötzlich und bleibt stehen. „Mein Bein zieht zu!“

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

Kilometer elfkommaneun – Puls: 97 Beats per Minute. „So, jetzt bin ich gleich daheim“, sagt Siewert. Nach den Wadenkrämpfen musste er zwei Kilometer gehen, dann lief er locker weiter. Nun joggt er – dieses Mal wirklich. „Ja, ist ja schon gut. Ich muss mich gerade ein bisschen schonen. Heute Nachmittag muss ich noch auf das Ergometer. Am Wochenende will ich eine Radtour über die Dolomiten machen. 190 Kilometer und von den Höhenmetern will ich erst gar nicht anfangen.“ Julius Siewert, ein überbezahlter Daimler-Mitarbeiter, der sich mit dem Geld das Beste vom Besten kauft, hört mit seinem Training da auf, wo kenianische Langstreckenläufer erst anfangen. Er ist die ultimative Hightech-Luftpumpe.

Laufstrecke 

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Name

Julius Siewert (41)

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Herkunft

Stuttgart, Deutschland Verbindung zum Neckar

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Sportler am Neckar

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Julius Siewert

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von Dominic Berner


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DER UFERSPAZIERGANG

„Na das ist ja eine schöne Überraschung” ruft Simon mit ironischem Unterton.

Marcel muss lachen, obwohl er diesen Spruch jeden Morgen hört, wenn er seinen alten Freund wieder zum gemeinsamen Spaziergang am Ufer trifft. Ist es

doch mittlerweile eine schöne Tradition geworden, sich im Morgengrauen zu

treffen und gemeinsam in den Tag zu starten. „Wie hast du geschlafen?” fragt Simon. „Nicht gut! Ich hatte einen solchen Hunger.”, knurrt Marcel. Prompt ist seine schlechte Laune zurück. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie hat

sich einiges geändert. Die Menschen fürchten sich um ihre Jobs, sie verdie-

nen weniger Geld, gehen weniger raus und treffen sich nicht mehr in Gruppen.

Und eben auch Simon und Marcel sind betroffen. Sie drehen zwar weiterhin

ihre Runden, doch haben sie große Probleme, sich und ihre Familien zu versor-

gen. „Das tut mir so leid, ich habe ja zum Glück nicht so viele hungrige Mäuler

zu stopfen wie du, kann mir nur schwer vorstellen wie dich die ungewisse Lage mitnimmt.”, pflichtet Simon seinem alten Freund bei. „Das stimmt”, Marcel

nickt nachdenklich, „aber ich will mich auch nicht nur beschweren, schließlich

Simon

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von Leon Bauer


hat die Situation ja auch viele Vorteile. Kein Fluglärm, weniger Abgase und

Stau und der Weg über die Straße zur Wilhelma ist zum ersten Mal seit Jahren

nicht mehr lebensgefährlich für uns”, schmunzelt er. Erst gestern war er wie-

der dort gewesen, einer seiner Lieblingsorte im Sommer. „Es ist so schön zu sehen, wie die Tiere dort drinnen nichts mitkriegen von den großen Sorgen

hier draußen.” Simon horcht auf: „Jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du plötzlich

eifersüchtig auf die Zootiere bist! Erinnere dich bitte daran, wie wir vor wenigen Wochen noch glücklich darüber waren, nicht eingesperrt in einem Käfig

zu sitzen und auf Fütterungen zu warten”. „Du hast recht, tut mir leid. So aufwühlend die Situation gerade auch ist, unsere Freiheit hier draußen kann uns

niemand nehmen.” Mittlerweile ist die Sonne wieder aufgegangen und es ist

warm geworden am Neckarufer. „Lass uns heimgehen” meint Simon, „wir sehen uns ja morgen früh wieder.” Marcel nickt nachdenklich, breitet seine Flügel

aus und fliegt zu seinem Nest zurück, wo ihn seine muntere Entenfamilie schon

zum Frühstück erwartet.

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ICH HABE MEIN ICH UMGEBRACHT, JETZT GIBT ES NUR NOCH MICH. Laufe mal wieder so draußen rum. Gibt drinnen nicht so viel zu sehen. Da starren mich die toten Pflanzen so sehr an. Sind wie alle anderen da draußen, wollen immer was. Bin aber stark geblieben. Sollen sie gucken, wo sie bleiben mit ihrer Undankbarkeit. Auch egal. Sind jetzt tot. Ich bin also wieder so am rumlaufen. Denke gerade darüber nach mich selbst zu klonen, dann könnte ich mir beim Nichtstun zusehen. Zu meiner Linken ist die große weiße Villa, die steht da einfach und guckt blöd. Genau wie die Frau, die mir entgegen kommt. Typisch für diese Sorte Mensch ist ihre Haut verschrumpelt. So alt und hat immer noch nicht verstanden, dass zu langes Baden nicht gut tut. Läuft mit erhobenem Kinn an mir vorbei. Kann mich wahrscheinlich sonst nicht sehen. Vom vielen Hautstraffen ist die Haut nur mehr geworden und nicht jugendlich. Pech gehabt. Der Weg geht weiter und wird steiler. Beim bergab laufen sehen alle immer dämlich aus. Inklusive mir, deshalb renne ich das Stück bis zu den Apfelbäumen. Der Schwung trägt mich noch weiter bis zur Neckarbrücke. Die klebt an dem Fluss wie ein Parasit. Mittig bleibe ich stehen und hüpfe kräftig auf und ab bis die vorüberziehenden Profiradfahrer absteigen müssen. Die unfruchtbaren Manager mit ihren Manager-Gattinnen verrenken dann ihren Nacken und rümpfen die Nase. Schreiten dann mit breitem Schritt davon in ihren komischen Kostümen, die sie wie giftige Frösche aussehen lassen. So schauen sie auch immer. Passt eigentlich alles ganz schön zusammen. Wird aber dann öde und ich biege nach rechts ab, um dem Flussverlauf zu folgen. Ist garnicht lange her, da war Jens noch neben mir. Wir liefen immer zusammen diesen Weg. Jetzt schaue ich nur geradeaus und vergesse, dass er nicht bei mir ist, weil ich nicht neben mich blicke, um ihn nicht zu vermissen. Meine Augen fixieren einen Punkt auf dem Wasser, wo dunkle Krallen aus dem Wasser greifen. Sie sind ein Teil eines treibenden Astes aber ich weiß, dass das Jens ist. Er liegt da unten am Grund und kichert, wenn Liebespaare am Ufer rumknutschen und dabei denken die Welt würde die Luft anhalten, wenn sie das tun. Wissen dabei nicht, dass sie langweilig sind und eh bald sterben. Wenn ich ins Wasser starre sehe ich die ganze Welt nur umgekehrt. Eine Welt in der Jens noch lebt. Ich knie mich im hohen Gras nieder, esse gedankenverloren Halme und starre mir selbst in die Augen. Ich  schaue tief in seine Augen, vielleicht weil wir die selben haben. Ich strecke meine Hand aus. Ich Das Mädchen aus der anderen Welt streckt auch ihre aus. Sie will mir helfen, mir die Hand reichen, mich zu Jens bringen. Jetzt weinen wir zusammen. Eine Träne läuft meine Wange  runter und unsere Tränen treffen sich an der Wasseroberfläche, wo sich nun auch unsere Fingerspitzen treffen. Sie weiß, dass ich ihn vermisse und wie unfair es ist, dass sie ihn hat und ich hier einsam bin. Wir verharren so, schluchzen zusammen und wissen nichts. Um unsere Finger ziehen sich enge Kreise. Der Strom lässt ihren Blick verschwimmen, bis sie  verschwindet. Jetzt ist da drüben niemand mehr, der Jens Hand hält, wenn er sich weit über das Geländer einer Brücke beugt, um sich selber zuzuwinken. Er wird sterben. Er braucht mich. Der Fluss trägt einen vor Nässe glänzenden Ast zu mir. Ich rieche den modrigen Ge- Name ruch seiner Haut. Meine Hände ergreifen die sich nach mir streckenden Finger. Mein Körper Ich (-) folgt. Meine Knie spüren nicht länger das feuchte Gras. Nie wieder lass ich dich mehr los. Herkunft Nie wieder lass ich dich mehr gehen.

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Verbindung zum Neckar Lebewesen am Neckar

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Ich

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von Lynn Hartmann

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„Die aus dem Jahre 1788 stammende „Alte Brücke“ in Heidelberg wurde in ihrer Bausubstanz durch die immer häufiger werdenden Hochwasser des Ne-

ckars angegriffen. Nach eingehender Prüfung konnte festgestellt werden, dass die Pfeiler die Tragelast nicht mehr halten können. Die Stadt Heidelberg

möchte ihr Wahrzeichen allerdings nicht aufgeben und beauftragt zu prüfen,

ob die Brücke ausgebessert werden kann. Fertigen Sie eine Entwurfsplanung

inkl. Kostenvoranschlag an. Bedenken Sie dabei, dass das Material der Brücke

„Neckartaler Sandstein“ ist. Da die Brücke für den Verkehr von Fußgängern

und Radfahrern genutzt wird und deren Aufkommen aufgrund der Mobilitäts-

wende immer stärker ansteigt, soll die Brücke direkt von 7 auf 10 Meter Breite erweitert werden.“ – Na klar, was denn sonst, denke ich mir und überfliege die

weitere Aufgabenstellung der Probeklausur: Biegezugfestigkeit, Wasserauf-

nahme unter Atmosphärendruck, Lastannahme, Abdichtung, Allein herauszu-

finden, was ich alles berechnen muss wird ewig dauern. Ich studiere doch

keine Literaturwissenschaften, sondern Bauingenieurswesen – Scheiß drauf, bei der Hitze kann doch kein Mensch lernen! Warum sind Prüfungen eigentlich

immer im Hochsommer? Ich klappe meinen Laptop ein kleines bisschen zu schwung-voll zu und öffne ihn direkt wieder, um nachzusehen, ob er noch

funktioniert. Puh, Glück gehabt! ―― Ich rufe meine Freunde an und wir verabreden uns, um am Necker zu chillen und ein bisschen zu baden. Ich ziehe

mich schnell um, schwinge mich auf mein Fahrrad und radle über besagte Brü-

cke. Dumme Aufgabe und ich schaffe es nicht einmal sie zu vergessen. Am

Ende der Brücke kaufe ich frische Erdbeeren vom Bauernstand und radle wei-

Toni Weinecken

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von Anja Rieker


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ter flussaufwärts. Als ich an unserer üblichen Stelle ankomme, sind die anderen noch nicht da. Ich breite meine Decke in der Sonne aus, lege mich im Bikini

hin, stecke mir eine große rote Erdbeere in den Mund und schließe die Augen.

―― „Toni komm ins Wasser! Wie hältst du es immer noch in der Sonne aus?“

höre ich Kim sagen. Meine Freunde müssen in der Zwischenzeit wohl gekom-

men sein. Ich öffne meine Augen und sehe eine dunkle Wolkenfront. „Ich glau-

be da zieht ein Gewitter auf, wir sollten lieber wieder nach Hause!“ rufe ich meinen Freunden entgegen. „Stimmt, aber ein paar Minuten haben wir noch, komm doch kurz mit ins Wasser!“ gibt Henno zurück. Ich springe auf und laufe

über das Flussbett hinein in den angenehm kühlen gelben Neckar. Auf meiner

aufgeheizten Haut spüre ich ein paar Re-gentropfen, aber noch bevor ich et-

was zu meinen Freunden sagen kann, schüttet es wie aus Kübeln und ein

Sturm zieht auf. Der Neckar bekommt plötzlich eine starke Strömung, ich

verliere den Boden unter den Füßen und muss nun schwimmen. Als ich das Ufer nicht erreichen kann und von unserer Stelle wegtreibe, gerate ich fast in

Panik. Doch dann sehe ich, wie sich meine Freunde auf eine kleine Insel zutrei-

ben lassen. Ich versuche gegen die plötzlich aufkeimende Panik anzukämp-

fen und schwimme mit der Strömung in Richtung der Insel. Rings um die Insel

hat sich weißer Schaum angesammelt. „Das sieht mir nach einem Unwetter

aus! Wir sollten schauen, dass wir von hier wegkommen, bevor die Insel überschwemmt wird!“ sagt Kim. „Toni schnell, lass uns verschwinden!“ höre ich

Henno noch aus der Ferne rufen und springe wieder in die gelbe Suppe. Um

mich herum tobt der Sturm – ein grellheller Blitz und direkt darauf ein lautes

Toni Weinecken

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von Anja Rieker


Donnern! Oh Schreck, das Gewitter ist genau hier. Der Fluss wird immer reißender. Fuck! Ich habe einen Krampf im Bein! Ich verliere die Beherrschung

und gerate in Panik – rings um mich herum sehe ich nur noch weißen Schaum.

Ich verschlucke etwas von dem Wasser und merke, dass es Bier ist! Die Strömung wird immer stärker und ich treibe auf die alte Brücke zu, doch diese

steht soweit unter Wasser, dass die Pfeiler nicht mehr zu sehen sind. Ich wer-

de direkt dagegen knallen, es sei denn ich schaffe es unten durch zu tauchen.

Ich setze zum Tauchen an und werde nun von der Strömung hin und her geschleudert – heilige Scheiße, ich weiß nicht einmal mehr wo oben und unten ist.

Ich schlucke immer mehr vom Bier und werde in seine Tiefen gezogen. ――

BUMM! Ein kühler nasser Gegenstand trifft mich am Kopf. Ich schrecke auf. Die helle Sonne blendet mich zuerst, doch dann stellen meine Augen scharf und ich sehe was da vor mir liegt – ein Wasserball! „Na du Schlafmütze, hast

du was Schönes geträumt?“ fragt Henno. Ich lecke mir über die Lippen und außer einer salzigen Note einer Schweißperle schmecke ich noch immer den

süßen Geschmack der Erdbeeren, die ich vorhin gegessen hatte, aber kein Geschmack von Bier. „Ihr glaubt nicht, was ich gerade geträumt habe! Hat jemand

von euch Bier mitgebracht? Das könnte ich gerade gut gebrauchen!“. Meine Freunde kommen aus dem Wasser und Kim gibt mir ein kühles Bier „Na dann

hau mal raus!“. Ich stoße mit meinen Freunden an, trinke einen Schluck und beginne zu erzählen: „In meinem Traum war der Neckar komplett aus Bier…“

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Maja Charlotte Taub

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von Tina Becirovic und Lasse Langner


INTERVIEW MIT AUTORIN MAJA CHARLOTTE TAUB Nutze die Kraft! Die Biologin, Astronomin und Autorin Maja Charlotte Taub ruft auf zum kollektiven Vertrauen in die Kraft der Steine. Mit ihrem neuen Buch „Mein Stein, dein Stein“ ist ihr erneut ein Bestseller gelungen, der nun schon hunderte Gleichgesinnte an die Kraft der Steine Glauben lässt. Diesen Sommer veranstaltet sie zum ersten Mal ein „Kraftcamp“ in Stuttgart, bei dem sie bei Workshops und Lesungen ihre Gedanken einer noch breiteren Masse präsentieren will. Guten Morgen, Frau Taub! Ich freue mich heute mit Ihnen über die Kraft der Steine sprechen zu können. Was hat denn der Blick in die Kristallkugel heute Morgen geboten? Guten Morgen, danke für die Einladung für das Interview! Das ist jetzt natürlich ein Klischee über uns Heilsteinkundigen, dass wir alle Esoteriker*innen seien, was natürlich nicht stimmt. Aber ich denke, heute ist ein guter Tag, es scheint die Sonne und ich freue mich auf das Interview. Eine Kristallkugel, um die Zukunft vorauszusagen, habe ich jedoch nicht. Sehr gut! Können Sie zum Einstieg kurz allen Unwissenden erklären, worum es bei der Kraft der Steine geht? Das Wissen um die Kraft der Steine beruht auf der Geotransdynamik, das ist eine Wissenschaft, die sich mit den Energien und Kräften in Gesteinen beschäftigt, mit ihrer Herkunft und im translationalen Bereich dann auch mit der Nutzung dieser Kraft. Das hat man erst kürzlich als Wissenschaft definiert, das Wissen dazu gibt es jedoch de facto schon seit tausenden von Jahren. In der Physik spricht man ja vom sogenannten Energieerhaltungssatz, das heißt, keine Energie verschwindet einfach oder entsteht plötzlich, sondern sie geht in andere Formen über. Und das gilt für alles, das existiert, für Tiere, die Pflanzen fressen, die wiederum über Photosynthese Energie aus der Sonne beziehen. Genau so gilt es auch bei Steinen: Wenn sie in der Sonne liegen, wenn sie diversen Witterungen ausgesetzt sind, überträgt sich diese Energie, sie transmoviert, wie man es im Fachjargon nennt, und die kann man im Umkehrschluss dann auch nutzen, also detransmovieren. Die Geotransdynamik ist Inhalt Ihres ersten Buches. Worum geht es in Ihrem neuen Buch „Mein Stein, dein Stein“? Nach meinem ersten Buch habe ich unglaublich viele Anfragen von Leser*innen bekommen, wie man die Kraft der Steine denn konkret anwenden kann. Wissenschaft schön und gut, aber wie kann ich die Energie denn de facto für mich selbst nutzen. Und da war es für mich ganz klar, dass ich mit „Mein Stein, dein Stein“ einen Alltagsratgeber formulieren möchte, der auch Laien Techniken der Detransmovation näher bringt. Da sind praktische Tipps für die Geodeszenz, der sogenannten Steinmeditation, oder auch Rezepte für geodermales Wasser und eine steinschonende Ernährung – alles ganz praxisorientierte Alltagstipps. 

Sie schreiben in ihrem Buch auch speziell über die Seele eines Steines. Was versteht man denn genau darunter? 

Die Seele eines Steines beschreibt zunächst einmal, woher er die Energie ursprünglich erhalten hat. Das wirkt sich im Umkehrschluss natürlich auch darauf aus, welche Art von Energie man überhaupt detransmovieren kann. Ich vergleiche das immer mit der Aura, die ein Mensch hat. Die kann groß sein, klein sein, wenn man seinen Orgonakkumulator zum Beispiel nicht ausgiebig nutzt, aber auch verschiedene Farben haben, blau und taupe sind sehr gute Aurenfarben, sie sprechen für eine ruhige Seele, lachsfarben ist ganz schlecht, das spricht für einen verwirrten Geist. Moment – Orgonakkumulator, Aurenfarben? Jetzt haben sie mich etwas verloren. Für mich klingt das jetzt alles sehr esoterisch… Nein, nein, ganz und gar nicht. Auch das beruht auf evidenzbasierten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Auren lassen sich mit Wünschelruten messen, das ist in mehreren Studien bereits gezeigt worden. Orgonakkumulatoren verhindern den Einfluss elektromagnetischer Wellen aus dem All, sogenannten Sonnenwinden, die Sammeln sich in Barcodes und können bei Berührung auf unsere Körper übergehen. Die Interferenz dieser Wellen mit unseren eigenen Energiewellen, kann destruktiv wirken, also die resultierende Energie geringer sein. Aber das gehört alles nicht direkt zu meinem Fachgebiet, es gibt jedoch ein paar gute Bücher von Kolleg*innen, die ich Ihnen zu diesen Themen gerne empfehlen kann.

Naturcamp

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Name

Maja Charlotte Taub (34) Herkunft

Stuttgart, Deutschland 08

Verbindung zum Neckar

Veranstalterin Naturcamp

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Natürlich, sehr gerne… Dann wollen wir mal auf ihr „Kraftcamp“ eingehen. Aus welchem Grund findet es dieses Jahr denn gerade am Neckarufer in Mühlhausen statt? Da gibt es verschiedene Gründe. Zum einen, wollte ich als gebürtige Stuttgarterin das Camp auch gerne in meiner Heimatstadt veranstalten. Mir war dabei wichtig, dass wir dabei am Neckar sind, in Mühlhausen hat man da natürlich einen wunderschönen Zugang zu. Die Steine, mit denen wir arbeiten, sind nämlich vor allem Flusssteine. Deswegen hat sich das gut angeboten. Was für konkrete Ziele haben Sie denn mit Ihrem Camp und mit Ihren Teilnehmern? Was soll dort erreicht werden? Im Prinzip lernt man viele der Techniken, auf die ich in meinem Buch eingehe, ganz praktisch kennen. Mir ist damit wichtig, Unwissenden nicht nur von dieser neuen Wissenschaft zu erzählen, sondern sie darüber hinaus in Workshops mit den zahlreichen Detransmovationstechniken zu familiarisieren. Man soll de facto ganz physisch lernen, wie man diese im Alltag nutzen kann. Was sind Voraussetzungen, die die einzelnen Teilnehmer mitbringen müssen? Ich würde sagen, vor allem Offenheit für dieses relativ neue Thema. Das sind komplexe Inhalte, in die man sich reindenken muss, die man verinnerlichen muss. Und auch nicht jeder versteht Einsteins Relativitätstheorie von heute auf morgen, man muss sich damit einfach beschäftigen und die Möglichkeit möchte ich Interessierten mit diesem Camp auch bieten. Ansonsten müssen alle Teilnehmer volljährig und Rechtshänder sein und dürfen keine orangene Kleidung tragen, das ist einfach nur um einheitliche Energieströme zu gewährleisten. Ein Linkshändercamp wird es dann vermutlich Ende des Jahres geben. oben: Um ein umfassendes, pures Erlebnis zu garantieren, setzt man

auf Schlaf- und Sitzplätze am Fluss.

Das können sich alle Linkshänder ja schon mal vormerken. Gibt es denn ein Mineral, das für die Stadt Stuttgart steht und das vielleicht auch besonders in Ihrem Workshop platziert wird? Sie haben vorhin Flusssteine erwähnt.

Ja genau, mit Flusssteinen möchte ich in den Workshops vor allem arbeiten. Die beziehen ihre Kraft aus dem strömenden Wasser, das ist eine sehr ruhige, besänftigende Energie, die man detransmovieren kann – also gut geeignet für Anfänger. Das ergibt sich einfach aus der generell günstigen Lage und hat nichts direkt mit der Stadt zu tun. Aber das hat im Umgekehrten natürlich einen Einfluss auf die Menschen in der Stadt. Wir beziehen Kräfte aus der Umwelt oft ja auch ganz unbewusst, das ist ein natürlicher Prozess. Dadurch haben Menschen, die von einer bestimmten Region kommen und/oder in ihr aufgewachsen sind auch oft gemeinsame Eigenschaften, sowohl charakterlich als auch äußerlich. Das verstärkt sich auch zusätzlich durch gegenseitige Beeinflussung. Man kennt die Stadt Stuttgart ja als eine Stadt der Erfinder, mit ideenreichen, kreativen, aber auch pragmatischen Menschen. Das hat seine Ursachen ganz sicher in der Zusammensetzung der Umwelt, was das aber genau ist, lässt sich schwer auf ein Gestein festmachen, das ist alles andere als trivial und erfordert noch definitiv tiefgehender Forschung. Wenn sie aber nach meiner persönlichen Meinung fragen, assoziiere ich mit Stuttgart ganz klar dem Amethysten. Das ist ein Edelstein, der für Inspiration und Gedanken steht, zwei fast gegensätzliche Aspekte des Kopfchakras. Aber den würden Sie hier eher selten im Flussbett finden. Können Sie noch etwas konkreter erklären, wie man die Kraft der Steine aufnehmen kann? Muss sie irgendwie aktiviert werden, reicht es, wenn man sich mit den Steinen umgibt oder gibt es gar bestimmte Rituale, die man durchlaufen muss? Es kommt ganz darauf an, welche Energie oder Kraft man von Steinen beziehen möchte und auch von welchem Stein. Die dazugehörige Technik kann dann ganz unterschiedlich sein. Die Geodeszenz, zum Beispiel, ist vergleichbar mit klassischen Meditationstechniken. Man möchte seinen Kopf frei machen und Raum für frische Gedanken schaffen. Nur dass wir in dem Fall, Platz für Energien aus den uns umgebenden Steinen schaffen, das funktioniert besonders gut mit Fluss- und Wiesensteinen. Am einfachsten geht das am Anfang, wenn man eine entspannte Position einnimmt, den Stein in seinen Händen hält und sich ganz klar auf ihn fokussiert. Die Energie kann in unseren freigewordenen Geist überströmen. Dabei geschieht ein Ausgleich unterschiedlicher Energiezustände - ein fundamentales Prinzip der Thermodynamik. Hat man damit zu Beginn noch Schwierigkeiten, kann man sich auch vorsichtig mit den Steinen einreiben. Die dabei entstehende Reibungsenergie kann eventuell vorhandene Blockaden öffnen. Maja Charlotte Taub

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von Tina Becirovic und Lasse Langner


Das klingt äußerst interessant. In ihrem Buch widmen sie den Steinen aus dem Weltraum ein ganz eigenes Kapitel. Sie sind ja auch Astronomin, was ist denn das Besondere an Steinen, die aus dem Universum auf die Erde kommen? Die Steine aus dem Weltraum beziehen einfach eine ganz andere Energie, eine Energie, die es so auf unserer Erde nicht gibt. Sie kommen klassischerweise in Form von Asteroiden auf unsere Erde und da sie wenig verwandt sind, mit denen auf unserer Erde, ist ihre Energie und deren Übertragung anders. Es gibt viele, die sich davor fürchten, da sie schlechte Erfahrungen gemacht haben und es Berichte von Menschen gibt, die langfristige psychische Schäden erlitten haben. Aber das liegt nur daran, dass diese Personen nicht damit umzugehen wussten. Da ich diesen Steinen besondere Aufmerksamkeit in meiner Forschung gewidmet habe, fand ich es also sehr wichtig, über Asteroidensteine aufzuklären. Das ist eben wie mit dem Feuer, daran kann man sich verbrennen, wenn man nicht weiß, wie man es beherrscht – und genauso ist es mit diesen Steinen. Und wenn man lernt, ihre Energie zu nutzen, gewinnt man ganz neue Kraft, Inspirationen und kann vorher ungelöste Konflikte in sich lösen. Das ist äußerst wertvoll für die Psychotherapie und daher laufen dazu bereits erste Studien an. Sehr spannend. Nun beobachten sie auch große Steine – die Sterne. Welchen Einfluss haben die denn auf unser tägliches Leben? Und kollidiert das mit der Kraft der Steine? Einen ganz, ganz wesentlichen Einfluss! Letztlich hängt das alles miteinander zusammen. Die Sterne, wie beispielsweise unsere geliebte Sonne, sind Energiekraftwerke, sie strömen Energie in Form von Wärme und UV-Strahlung aus. Die weiter entfernteren Sterne, die wir auf dem Nachthimmel bewundern können, strahlen ebenfalls diese Energie aus, etwas abgeschwächt natürlich. Aber auch das ist eine Energie, die auf uns und die Steine übergeht. Die Kombinationen der diversen Sterne, die Sternenkonstellationen, bewirken dann auch spezifische Energiewellen, die schon vor langer Zeit in der Astrologie beschrieben wurde, und sich damit wissenschaftlich erklären lässt. Unter welchem Stern steht denn Stuttgart? Viele Erfinder kommen ja aus dem Großraum Stuttgart. Erfinder, Steine und Stuttgart, und vielleicht Sterne? Ist das alles Zufall? Nein, Zufall gibt es in meinen Augen de facto nicht, es hat alles eine Ursache und eine Wirkung. Und die Ursache wird sicher an der Konstellation der Sterne, der Zusammensetzung der Gesteine im Boden von Stuttgart liegen. Davon bin ich fest überzeugt. Und das ist überall so auf der Welt. Nur ist es so komplex, dass wir momentan nicht dazu in der Lage sind, das zu begreifen. Die Geotransdynamik steht ja noch ganz am Anfang. Zum Abschluss des Interviews, wollte ich fragen, wie Sie mit dem Gegenwind, der Ihnen entgegenströmt, umgehen. Die Kraft der Steine ist nun mal nicht für jedermann was. Wie gehen sie denn mit dieser Kritik an den Schwachstellen Ihrer Wissenschaft um? Natürlich gibt es immer Menschen, die kritisieren und hinterfragen, und ich, als Naturwissenschaftlerin, sehe das als ausgesprochen wichtig. Erst mit einem lebendigen wissenschaftlichen Diskurs, kann man neue Erkenntnisse vorantreiben. Und Schwachstellen meiner Wissenschaft würde ich das nicht nennen, natürlich gibt es noch viele offene Fragen zu klären, für die es noch an Erklärungen und Beweisen bedarf, aber das ist ganz normal, und macht dieses Feld ja auch so spannend. Um Menschen außerhalb des wissenschaftlichen Kontexts die Geotransdynamik näherzubringen, habe ich vor allem auch mein neuestes Buch geschrieben. Die komplexen Prinzipien sind für jeden verständlich runtergebrochen. Und wenn man sich damit beschäftigt und einige der Techniken ausprobiert, wird man ihre Wirkung auch selbst spüren können. Manchmal braucht es auch in der so rationalen Wissenschaft etwas Glauben und Vertrauen auf die eigenen Intuitionen, auch wenn das für die meisten widersprüchlich klingen mag. Das klingt nach einem würdigen Abschlussstatement! Ich bedanke mich an dieser Stelle schon mal für das Interview, Frau Taub, und gebe Ihnen noch kurz Raum, Ihr Buch neues Buch „Mein Stein, dein Stein“ für die breite Leserschaft anzupreisen. Vielen Dank! Ich lade Sie herzlich ein, sich mein neues Buch „Mein Stein, dein Stein“ anzuschauen. Man lernt nicht nur über die Grundlagen der Geotransdynamik, sondern vor allem auch über praktische Anwendungsmöglichkeiten für den Alltag. Da kann man sehr viel Lernen und ich bin mir sicher, dass sich jeder in seinem Alltag damit bereichert fühlen wird, der sich mit diesem Buch beschäftigt. Lieben Dank!

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FACES BEHIND THE FACES


AUTOREN Leon Bauer

Maria Hiegelsberger

Katja Schrรถpfer

Tina Becirovic

Louisa Hoppe

Philip Sporer

Dominic Berner

Jan Kirchherr

Katharina Traub

Tatjana Bessner

Jana Klein

Xenia Wahl

Jonas Favorite

Susanne Langner

Tanita Geiger

Heike Lauer

Christine Hartmann

Liina Ott

Lynn Hartmann

Anja Rieker

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IMPRESSUM Titel —— Faces of Neckar

Autoren —— Leon Bauer, Tina Becirovic, Dominic Berner, Tatjana Bessner, Tanita Geiger, Jonas Favorite, Christine Hartmann, Lynn Hartmann, Maria Hiegelsberger, Louisa Hoppe, Jan Kirchherr, Jana Klein, Susanne Langner, Heike Lauer, Lina Ott, Anja Rieker, Katja Schröpfer, Philip Sporer, Katharina Traub, Xenia Wahl Redaktion und Projektleitung —— Lasse Langner Lektorat —— Christine Hartmann

Konzept und Gestaltung —— Lasse Langner

Dieses Buch ist im Rahmen eines Semesterprojektes 3. und 4. Semester Kommunikationsdesign an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart unter der Betreuung von Prof. Gerwin Schmidt entstanden.

Für die Betreuung während der Erstellung dieses Buches bedanke ich mich bei Gerwin Schmidt. Für die Unterstürzung bei der Weiterverarbeitung bedanke ich mich bei Katja Liebig. Außerdem bedanke ich mich bei den oben aufgeführten Autoren für ihre Unterstützung. Schrift —— Aktiv Grotesk, NN Rekja

Fotografie und Illustration —— Lasse Langner (S. 001-055; 062-128), Blanca Will (S. 056-061)

Die Bildrechte der Autoren-Portraits (S. 126) liegen bei den einzelnen Personen. Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ist ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung, Mikroverfilmung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Papier —— Druck ——

Weiterverarbeitung —— Werkstatt für Buchbinde- und Verpackungstechniken

© 2020, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Klasse Gerwin Schmidt

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