urbane Wunderlichkeiten

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urbane Wunderlichkeiten



urbane Wunderlichkeiten Lisa-Devi Vollrath





Inhaltsverzeichnis Seite 10

Einleitung

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Theoretische Auseinandersetzung Die Bedeutung einer Unterbrechung des Alltäglichen im Bezug auf die ästhetische Wahrnehmung

25-26

Lageplan der urbanen Wunderlichkeiten in Stuttgart

27-32

Bestandsaufnahme mit Koordinaten

35-58 61-74 77-100 103-116 119-142

Wunderlichkeiten Bad Cannstatt Stuttgart West Stuttgart Süd Stuttgart Ost Stuttgart Mitte

145-148

Interviews

151-162

Corona-Krise als Massenproduzent für urbane Wunderlichkeiten

165-166 166-168

A different kind of beauty Gedichttext von Timo Brunke Eine Auseinandersetzung mit dem Künstler Hartmut Landauer

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Impressum



Einleitung Das hier in diesem Buch zusammengefasste Bild- und Textmaterial ist das Resultat einer einjährigen Suche nach urbanen Wunderlichkeiten, merkwürdigen Improvisationen im städtisch, öffentlichen Raum. Irritationen im Alltag die, wenn sie uns auffallen, einen Bruch oder ein kurzes Stolpern im alltäglichen Wahrnehmen hervorrufen können. Dieses Projekt führte mich zu Fuß kreuz und quer durch Stuttgart, auf der Suche nach Skurrilem, später dann um diese kreativen Arrangements fotografisch zu dokumentieren, die oft aus einer Situation des Mangels heraus als schnelle und vor allem temporäre Lösung mit vorhandenen Materialien kreiert worden sind. Oft entdeckt man sie an Orten wo kurzzeitige Verschiebungen des Normalzustandes stattfinden, wie zum Beispiel an Baustellen. Drei eng nebeneinander abgestellte Mülleimer um eine Parkbank herum oder die Markierungen eines Fahrradwegs die erst in einen Bauzaun führen um dann direkt in einer Baugrube zu enden sind nur Beispiele für solche, spontan durch Baustellen entstandene Wunderlichkeiten. Andere Arrangements sind bewusst entstanden, haben aber auch diesen improvisierten Charakter wie zum Beispiel ein mit Geschenkband festgebundenes Gurkenglas, umfunktioniert zum Aschenbecher, auf einem Bushaltestellenabfalleimer. Gemeinsamkeiten sind die Verschiebungen von Gegenständen in einen neuen, ungewöhnlichen Kontext, Irritationen die sich einem nur durch erkennen, innehalten und reflektieren erschließen. Der Charme dieser Wunderlichkeiten liegt für mich darin, dass hier durchaus Ästhetisches entsteht obwohl der Entstehungsprozess nicht durch einen gestalterischen Gedanken geprägt wurde. Die Wunderlichkeiten sind überall, man muss sie nur entdecken. Erschwert wird uns das aber natürlich durch den lauten, hektischen Stadtalltag und die ständige Reizüberflutung, die damit einhergeht. Im Laufe der zunehmenden Professionalisierung meiner Suche konnte ich gehäufte Vorkommen von urbanen Wunderlichkeiten in bestimmten Stadtteilen feststellen und kartografieren. Oft gingen diese Häufungen einher mit Umbausituationen wie beispielsweiße in Bad Cannstatt oder Stadtmitte. Auch die Mentalität der Menschen spielt eine große Rolle. So war es zum Beispiel im aufgeräumten Stuttgarter Westen sehr schwerlich skurrile Arrangements zu finden. In einer theoretischen Auseinandersetzung habe ich mich ausführlich mit ästhetischer Wahrnehmung und deren Bedeutung im Zusammenhang mit meinen Wunderlichkeiten beschäftigt. Geführte Interviews, eine Auseinandersetzung mit dem Künstler Hartmut Landauer und ein Gedichttext von Timo Brunke, ergänzen das Themenfeld aus ähnlichen und anderen Blickwinkeln .

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Theoretische Auseinandersetzung Die Bedeutung einer Unterbrechung des Alltäglichen im Bezug auf die ästhetische Wahrnehmung von Lisa-Devi Vollrath Kapitel 01 „Etwas ästhetisch wahrnehmen“ Kapitel 02 „Ein ästhetisches Objekt“ Kapitel 03 „urbane Wunderlichkeiten und ihr ästhetischer Charakter“ Literaturverzeichnis: Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Surkamp 1980. raumlaborberlin, Floating University Berlin, http://raumlabor.net/floating-university-berlin-book Aufgerufen am 25.04.2020

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Die Bedeut u ng e iner Unterb r echun g des Al lt ä gl ichen imBezug a uf äst het isch e W ah r nehmu ng 14


Ästhetisch ist in unserer Zeit ein gängiger Begriff, wobei man sich meist nicht sicher sein kann, was gerade genau damit gemeint ist. Oftmals ist dieser Wortgebrauch ein Ausdruck, eine Preisgebung der eigenen, etwas elitären Beziehung zur Umwelt und einer außerordentlichen Wahrnehmung. Die meisten Menschen haben keine genaue Definition von Ästhetik auch wenn sie das Wort nutzen, aber im normalen Sprachgebrauch ist es wohl ein Synonym für schön und geschmackvoll. Überlegt man jedoch intensiv, was alles als ästhetisch empfunden werden kann und schaut man sich diesen Begriff in der Philosophie an, so wird einem schnell bewusst, dass dieses Wort wesentlich mehr mit einbezieht als Schönheit. Ich würde beispielsweise die Fassade eines Plattenbaus nicht als etwas schönes bezeichnen. Die meist monotone beziehungsweise regelmäßige Anordnung der Fenster und Balkone und das dadurch sichtbare Rasterkann ich durchaus als etwas ästhetisches wahrnehmen. Genau so verhält es sich mit den Gegenständen eines Projektes von mir. Es beinhaltet das Erstellen einer Sammlung von urbanen Wunderlichkeiten, mit welcher ich mich in letzter Zeit intensiv beschäftige.

S.108

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Bei diesen Dingen handelt es sich um skurrile Arrangements im öffentlichen, städtischen Raum, kleine „Häähs“ und Irritationen im Alltag die, wenn sie uns auffallen, einen Bruch oder ein kurzes Stolpern in unseren täglichen Routinen darstellen. Oft entdeckt man sie an Orten an denen gerade eine temporäre Verschiebung des Normalzustands stattfindet wie zum Beispiel an Baustellen. Hier muss schnell eine alternative Lösung für die normale Situation gefunden werden weshalb lange Überlegungen und eine Beachtung des äußerlichen Erscheinens seltenst eine Rolle spielen. So kann es also passieren, dass drei Mülleimer um eine Parkbank herum stehen oder die Markierungen eines Fahrradweges in einen Zaun und dann in den Abgrund einer tiefen Baustellengrube führen. Schilder jeglicher Art werden durch ihre Neuplatzierung in einen „sinnbefreiten“ Kontext gerückt und wirken für uns dadurch skurril. Allerdings gibt es auch urbane Wunderlichkeiten die nicht zufällig entstanden sind, jedoch trotzdem diesen improvisierten Charakter haben. Mir fällt hier als Beispiel ein leeres Gurkenglas ein, welches auf einem Mülleimer einer Bushaltestelle mit einem Geschenkband angebracht wurde um als Aschenbecher zu fungieren. Wohlmöglich die Initiative eines Anwohners gegen die herumliegenden Zigarettenkippen? Was alle gemeinsam haben, ist die Verschiebung von Gegenständen in einen neuen, ungewohnten Kontext. Betrachte ich nun also diese urbanen Wunderlichkeiten, so trete ich ihnen unter anderem mit einen gewissen ästhetischen Interesse gegenüber. Für mich ist es interessant, eine Situation ästhetisch wahrzunehmen, welche ohne jeglichen Sinn für Ästhetik erzeugt wurde. Was bringt uns dazu in solchen Irritationen etwas Ansprechendes und Interessantes zu entdecken oder ist es ein Stolpern im Alltag, hervorgerufen durch eine Wunderlichkeit, welche uns eine bestimmte Art der Wahrnehmung ermöglicht? Um diese Überlegungen zu vertiefen, nehme ich mir eine schon bestehende philosophische Theorie der Ästhetik von Martin Seel zu Hilfe. Im folgenden Text untersuche ich die ästhetische Wahrnehmung und ihre Zusammenhänge mit meinem Projekt urbane Wunderlichkeiten. Hierbei beziehe ich mich auf Kapitel 1.2 „Ästhetik als Teil der Philosophie“ und Kapitel 2.1 „Ästhetik des Erscheinens“ aus Martin Seels Buch „Ästhetik des Erscheinens“ aus dem Jahre 1954. Meine Auseinandersetzung mit dem Thema lässt sich in drei Kapitel unterteilen. In dem ersten Kapitel „Etwas ästhetisch wahrnehmen“ werde ich zunächst die ästhetische von anderen Arten der Wahrnehmung differenzieren, um diese näher fassen zu können. Weiter gehe ich auf grundlegende Eigenschaften und Aspekte der ästhetischen Wahrnehmung ein. Im zweiten Kapitel „Ein ästhetisches Objekt“ gehe ich auf das Verhältnis von Objekt und Rezipienten ein. Im weiteren Verlauf werde ich dann verschiedene Einflüsse auf eine ästhetische Situation erläutern. Das dritte Kapitel „urbane Wunderlichkeiten und ihr ästhetischer Charakter“ bezieht die zuvor gewonnenen Erkenntnisse über die ästhetische Wahrnehmung auf auf mein Projekt urbane Wunderlichkeiten und versucht dadurch den ästhetischen Charakter der Objekte zu entschlüsseln. Ganz am Ende im Fazit fasse ich die für mich wichtigsten Erkenntnisse zusammen, welche ich im Hinblick auf mein Projekt gewonnen habe. Kap. 01 Wahrnehmen heißt seine Umwelt zu erfassen meist über die Sinne, sie für sich selbst einzuordnen und zu verinnerlichen. Bei einer Wahrnehmung benennen wir gewöhnlich die bekannten Dinge um sie in unser Alltagsbild einbinden und einordnen zu können. Das geschieht ganz von alleine in einem automatisierten Prozess in welchem Sinne, Unterbewusstsein und manchmal auch Bewusstsein zusammen arbeiten. Ästhetische Wahrnehmung ist eine Spezifizierung dieser alltäglichen Wahrnehmung, genauer gesagt: „Die ästhetische Wahrnehmung ist ein spezieller Modus [einer sinnlichen] Wahrnehmung.“1 Etwas sinnlich wahrnehmen meint eine Erfassung durch sehen, riechen, schmecken, hören oder fühlen. Auch die alltägliche Wahrnehmung, welche ich zuvor erwähnt habe, passiert wie schon gesagt, viel über die Sinne aber hier sind diese nur Mittel zum Zweck. Wenn wir also von einer sinnlichen Wahrnehmung sprechen, so meinen wir nicht nur die Nutzung 01 Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S.50.

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der Sinne, sondern ein Wahrnehmen, die sich vor allem auf das konzentriert, was durch die sie transportiert wird. Eine ästhetische Wahrnehmung ist also solch eine, auf die Sinne konzentrierte Wahrnehmung, allerdings bezieht dieser spezielle Modus noch weitaus mehr Faktoren mit ein. Um die ästhetische Wahrnehmung zu konkretisieren werde ich zunächst näher beschreiben, was eine ästhetische von einer alltäglichen Wahrnehmung abhebt. Hierbei verwende ich Seels Auffassung von ästhetischer Wahrnehmung. Wie ganz zu Beginn gesagt, benennt die alltägliche Wahrnehmung alles was sie aufnimmt, um es dann unter diesem einen bestimmten Aspekt zu verarbeiten. Wenn ich also auf meinem Nachhauseweg an einer Ampel stehe, an der Kreuzung an der ich in meine Straße abbiege, so nehme ich gewöhnlich alles unter einem funktionellen Aspekt wahr. Ich kann sagen diese Straße ist meine Straße, sie ist nicht lang, mein Heimweg ist also nicht mehr weit. Die Ampel ist gerade erst auf rot gesprungen, also muss ich noch länger warten. Es ist Nachmittag und ein warmer Sommertag, deshalb ist die Straße voll mit Menschen. Der Himmel ist blau und die Straße grau. Der Aufsteller aus Plastik von der Eisdiele steht mitten auf dem Bürgersteig und ich muss warten bis ich an dem Hindernis vorbei komme, weil mir so viele Menschen entgegen laufen. Wäre ich gerade nicht auf dem Heimweg sondern bei einem Spaziergang, so würde ich das Schild vielleicht nicht als Hindernis, sondern als Grund wahrnehmen, mir ein Eis zu kaufen und ich würde mich mit den Menschen auf der Straße identifizieren, die das schöne Wetter genießen. Was ich damit aufzeigen möchte ist, dass wir in solch einer Wahrnehmung alles unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit und des Nutzens betrachten und dass uns dadurch viele Begebenheiten entgehen, welche nicht notwendig oder relevant für eine praktische Wahrnehmung sind. Betrachten ist hier wie auch im folgenden Text natürlich nicht auf das Visuelle beschränkt, sondern meint das wahrnehmen mit allen Sinnen. Genau diese Dinge, die außen vor gelassen werden weil sie gar nicht, oder nur schwer zu benennen sind, sind der wesentliche Inhalt einer ästhetischen Wahrnehmung, denn „Wir müssen nicht nach der theoretisch oder praktischen Bestimmtheit und Bestimmung von etwas suchen, um ihm in ästhetischer Aufmerksamkeit zu begegnen.“2 Doch was sind die Dinge, die Qualitäten die wir in dieser besonderen Art der Wahrnehmung betrachten? Es geht um den gegenseitigen Einfluss der Dinge die sie im Hier und Jetzt aufeinander haben, Kontraste und Harmonien die nur in genau diesem Moment an diesem Ort stattfinden. Das Verhältnis von dem Ding was wahrgenommen wird, der Art der Wahrnehmung an sich und der Situation in der alles stattfindet. Es handelt sich somit um eine unmittelbare Wahrnehmung des Erscheinens von etwas, denn „Etwas um seines Erscheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen – das ist der Brennpunkt der ästhetischen Wahrnehmung (…)“3 Erscheinen meint hier das was wir etwas unmittelbar sinnlich erfassen können. Und genau hier liegt die Abhebung der ästhetischen von der alltäglichen Wahrnehmung. „Wir können einen Gegenstand unter einem bestimmten Aspekt erfassen oder ihn in seinem Erscheinen begegnen lassen.“4 Um diese Unterscheidung treffen zu können müssen wir die Fähigkeit besitzen „etwas begrifflich Bestimmtes wahrzunehmen. Denn nur wer etwas Bestimmtes vernehmen kann, kann von dieser Bestimmtheit, oder genauer: kann von der Fixierung auf dieses Bestimmen auch absehen.“5 Seel beschreibt hier drei Arten der Wahrnehmung. Eine Wahrnehmung-von etwas, eine Wahrnehmung-dass etwas und eine mit der zweiten fest verbundene Wahrnehmung-als etwas.6 Jedes Lebewesen, mit oder ohne Bewusstsein, welches wahrnehmen kann, besitzt die Fähigkeit der ersten Art der Wahrnehmung.7 Ein Tier, beispielsweise ein Reh welches Angst vor einem Spaziergänger hat, flüchtet vor diesem. Es hat eine Wahrnehmung von dem Spaziergänger, sieht, hört und riecht ihn also. Allerdings kann das Reh nicht wahrnehmen, dass der Spaziergänger auf dem Waldweg läuft, weil es weder ein Begriff für den Spaziergänger, noch für den Waldweg hat. Also braucht man für die Wahrnehmung dass etwas so oder so ist, eine eine Wahrnehmung als etwas. Das Reh müsste also die Gefahrenquelle als Spaziergänger benennen können und dessen Aufenthaltsort als Waldweg, um entscheiden zu können, dass die Situation so ist und nicht anders. Wir als Menschen können auf alle dieser Arten wahrnehmen. „Dennoch sind [wir] nicht daran gebunden, [uns] einem Gegenstand gegenüber auf diese oder jene Auffassung von diesem Gegenstand festzulegen.“8 Diese Freiheit gibt uns die Möglichkeit während der ästhetischen Wahrnehmung sämtliche Aspekte miteinbeziehen zu können, ohne uns auf einen festlegen zu müssen. Denn dass wir etwas nicht unter einem beschreibenden Aspekt wahrnehmen heißt nicht, dass wir im Augenblick einer ästhetischen Betrachtung nicht wissen was wir gerade wahrnehmen oder, dass uns der funktionale Kontext des Objekts nicht bewusst ist. „Auch diese Betrachtung ist aspekthaft, denn wir nehmen ja dieses und jenes an dem [Objekt] wahr, nehmen also [das Objekt] als diese[s] und je08 02 03 04 05 06 07

Ebd. Ebd., S. 53. Ebd., S. 49. Ebd., S. 52. Ebd., S. 51-52. Vgl. Ebd., S. 51. Vgl. Ebd.

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ne[s] wahr: aber sie ist nicht aspektverhaftet.“9 Die Benennung hat einfach keine besondere Relevanz, noch ist sie im Extremfall überhaupt nötig. Zu Beginn schrieb ich, dass die Ästhetik sich dem Teil einer Wahrnehmung widmet, der sich nicht benennen lässt. Jetzt wird klar, dass sie durchaus Dinge mit einbezieht, welche benannt werden können aber sie steht eben über dieser Benennung.Teilweise weil es für die feinen Nuancen und Qualitäten die betrachtet werden wirklich keine Begriffe gibt, aber auch weil sie solch eine Fülle an Merkmalsvielfalt mit einbezieht, dass eine Benennung dem niemals gerecht werden könnte.10 „Alles zusammen liegt hier im Focus der Betrachtung“11 und diese Vollständigkeit an sich ist eben nicht zu benennen. Dies ist eine Konsequenz daraus, dass jeder Augenblick einzigartig ist und das zuvor genannte Zusammenspiel nur in genau dieser einen unmittelbaren Gegenwart wahrgenommen werden kann. Man nimmt also auch sich selbst in einer unmittelbaren Gegenwart wahr. Diese Art der Selbstwahrnehmung bildet einen Kontrast zu unserer sonstigen Art und Weise, wie wir uns wahrnehmen. Normalerweise betrachten wir uns in einer Langfristigkeit, wobei wir uns überlegen „wer wir über längere Dauer sind und wer wir über längere Dauer sein wollen.“12 Während einer ästhetischen Betrachtung nehmen wir uns einzig und allein im Hier und Jetzt wahr, ohne ein Miteinbeziehen von Zukunft und Vergangenheit von uns selbst. Aus diesem Grund hält Seel die ästhetische Wahrnehmung für einen unabdingbaren Bestandteil unserer Selbstwahrnehmung: „[o]hne ästhetisches Bewusstsein ist kein Bewusstsein der eigenen Gegenwart möglich.“13 Nun sollte also ein Grundverständnis einer ästhetischen Wahrnehmung existieren und der Mehrwert dieser bewusst sein. Sie lässt uns intensiver und vollständiger wahrnehmen was uns umgibt. Sie löst uns von einer nüchternen und pragmatischen Weltanschauung und ermöglicht uns eine einzigartige Selbstbetrachtung in Verbindung mit unserer Umwelt. Sie macht die Welt vielfältiger durch all die Nuancen, welche wir durch sie wahrnehmen. Stellen wir uns wieder den Sommertag in meiner Straße vor. Der Himmel ist so strahlend blau, dass selbst die im Schatten liegenden Stellen auf der Straße hell wirken. Die bunten Kleider der Menschen bilden einen Kontrast zu der grauen Straße auf der sie sich bewegen. Der Plastikaufsteller der Eisdiele bekommt, durch seine glänzend glatte Oberfläche auf welcher sich die Sonne reflektiert, eine Vielschichtigkeit an Farben die weit über das Pink, Grün und Blau der abgebildeten Eiskugeln hinaus gehen. Kap. 02 Nun stellt sich natürlich die Frage ob alles, oder was ein ästhetisches Objekt sein kann. Eigentlich sollte man aber die Frage stellen „durch welches wahrgenommen werden – etwas zum ästhetischen Objekt werden kann.“14 Wenn ich nun im weiteren Verlauf des Textes von einem ästhetischen Objekt oder einem Objekt der ästhetischen Wahrnehmung spreche, so kann das ein Gegenstand sein aber auch eine Sequenz, ein Ereignis oder eine Situation. Eigentlich alles was in irgendeiner Art und Weise sinnlich erfahrbar ist.15 Um herauszufinden was alles ein ästhetisches Objekt sein kann, müssen wir also auf die Wahrnehmung schauen, denn es besteht eine Abhängigkeit zwischen der Wahrnehmung beziehungsweise uns als Betrachter und dem Objekt was wahrgenommen wird. Diese beiden Aspekte einer ästhetischen Wahrnehmung sind nicht von einander zu trennen, denn sie treten nur gemeinsam auf. Die Wahrnehmung macht ein Objekt oder eine Situation erst ästhetisch aber ohne etwas zu Betrachtendes wäre sie keine Wahrnehmung. Natürlich müssen diese beiden Aspekte bestimmte Eigenschaften aufweisen, beziehungsweise Bedingungen erfüllen, wie zum Beispiel eine Bereitschaft auf Seiten des Rezipienten Dinge nicht nur funktional wahrzunehmen und manche Dinge eignen sich mehr, manche weniger für eine ästhetische Wahrnehmung. Aber „immer stoßen wir auf eine Interdependenz der Begriffe der ästhetischen Wahrnehmung und des ästhetischen Gegenstands. Sie benennen unterschiedliche Aspekte eines Zusammenhangs – eben der ästhetischen Wahrnehmungs-Situation.“16 Wichtig ist jedoch zu unterscheiden, ob die ästhetische Wahrnehmung mehr oder weniger eigenständig ist oder ob sie gemeinsam mit der alltägliche Wahrnehmung größtenteils unterbewusst geschieht. Seel nutzt hierfür die Begriffe abgehoben und unabgehoben. Die „abgehobenen Realisierungen […] spielen sich in einem Fluss unabgehobener Zustände ab.“17 Das heißt, dass wir ständig unterbewusst ästhetisch wahrnehmen, dies läuft einfach neben der alltäglichen Wahrnehmung her und manchmal ergibt sich dann eine Wahrnehmungssituation in welcher die ästhetische Betrachtung im Mittelpunkt steht. Abgehobene Zustände ergeben sich zum Beispiel, wenn wir uns selbst in Situationen begeben, welche besonders ergiebig für eine spezielle Wahrnehmung der Sinne sind. Zum Beispiel wenn wir uns in Situationen des Genießens begeben wie bei einem Spaziergang im Park oder dem Besuch eines Museums. Situationen in denen kein funktionaler Nutzen im Vordergrund steht sondern der Genuss. Doch auch im ganz normalen Alltag, also in Situatio09 10 11 12 13 14 15 16 17

Ebd., S.54. Vgl. Ebd.,S.54. Ebd. Ebd., S.39. Ebd. Ebd., S.46. Vgl. Ebd. Ebd., S.45. Ebd., S.44.

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nen die nicht auf den Genuss ausgerichtet sind, können wir abgehoben ästhetisch wahrnehmen.18 Dies hängt mit den betrachteten Objekten zusammen. Es gibt einfach Dinge die fast „laut“ danach schreien auf diese besondere Art und Weise betrachtet zu werden und andere, die den Anschein machen nicht ästhetisch zu sein. Manche Objekte sprechen die Sinne so stark und unmittelbar an, dass die ästhetische Wahrnehmung wie von selbst einsetzt, andere sind so stark in unseren Alltag und unsere Gewohnheiten eingebunden, dass wir sie gar nicht genauer betrachten. Die Objekte können extra für diesen Zweck geschaffen sein. Die „Produkte ästhetischer Herstellung […] sind von vornherein auf Prozesse der ästhetischen Wahrnehmung bezogen“19 So sind Kunstwerke und Dekorationsartikel beispielsweise dafür geschaffen ästhetisch betrachtet zu werden.20 Gegenstände des Designs oder Architektur, welche mit einem starken Bewusstsein für ästhetische Wahrnehmung, aber auch dem Grundgedanken von Funktion entworfen wurden, köngen abheben. Auch Situationen wie ein Sonnenuntergang, welche mutmaßlich nicht explizit für eine ästhetische Betrachtung geschaffen wurden, machen es uns trotzdem leicht einen sinnlichen Zugang zu bekommen, allein durch ihre natürliche Erscheinung. Ein weiterer Aspekt der dieses Phänomen unterstützen kann, ist der Ort und der allgemeine Kontext der Wahrnehmungssituation. Für Seel ist das Museum, genau wie ein Park, ein Theater, eine Konzerthalle oder ein Atelier, ein Ort, an welchem eine ästhetische Wahrnehmung länger andauern kann, weil hier extra „ein eigener Raum für ästhetische Praxis zur Verfügung steht“21 Das könnte daran liegen, dass diese Räume dazu konstruiert oder eingerichtet sind, um einzelne sinnliche Phänomene präzise zu unterstützen. So ist ein Konzertsaal beispielsweise extra für eine optimale Akustik, oft sogar für eine spezielle Musikrichtung, ausgestaltet. In einem Museum befinden sich die Exponate vor einem passenden Hintergrund und werden mit abgestimmter Beleuchtung inszeniert. Bei diesen Orten spielt meiner Meinung nach auch ein bis jetzt nicht genannter Faktor eine große Rolle, und zwar das eigene Wissen und die eigene Einstellung. Ich denke wenn wir in ein Museum gehen, wissen wir aus früheren Lernprozessen welche Art der Wahrnehmung angebracht ist. Hier ermöglicht uns also unser Wissen einen leichten Zugang zu einer besonderen Wahrnehmung. Natürlich kann man auch durch ein Museum laufen ohne sich auf die Betrachtung einzulassen, wenn man zum Beispiel keinen Mehrwert in Kunstwerken sieht und einen Museumsbesuch damit verbringt sich über die Sinnlosigkeit zu ärgern. Wir erkennen also, dass auch unsere eigene Einstellung eine Komponente für die abgehobene, ästhetische Realisierung ist. Auch muss diese einen wie auch immer gearteten Mehrwert für einen bieten. Angenommen man besucht ein Museum aber mit der Einstellung, dass die hier ausgestellten Exponate Kunstwerke sind, welche extra für eine ästhetische Betrachtung geschaffen wurden, oder wenigstens auf diese ausgerichtet sind. Und der Besucher sieht auch einen Mehrwert darin Dinge auf eine ästhetische Art und Weise wahrzunehmen, hat also keine inneren Zwänge die ihn daran hindern können. So hat das Wissen, dass in diesem Raum die ästhetische Wahrnehmung im Vordergrund steht, eine sehr große Macht. Das beste Beispiel ist hier vielleicht ein Readymade, zum Beispiel „Fountain“ von Marcel Duchamp aus dem Jahre 1917. Ein gewöhnliches Urinal steht plötzlich im Mittelpunkt einer ästhetischen Betrachtung. Niemand der der Kunstwelt offen und interessiert gegenüber tritt, kommt auf die Idee, dass dieses Urinal jetzt noch in einer rein benennenden Art und Weise wahr zu nehmen. Der museale Kontext beziehungsweise das Wissen alleine, dass es sich um ein Kunstwerk handelt, ist der Auslöser für eine ästhetische Wahrnehmung. Durch den Kunstkontext bekommt das Urinal auch eine weitere Bedeutung. Es ist jetzt nicht mehr nur ein Urinal, sondern auch ein Kunstwerk. Es hat jetzt also einen weiteren Aspekt unter welchem man es benennend wahrnehmen kann, welcher aber auch im Hintergrund einer ästhetischen Betrachtung eine Rolle spielt. Genau so wichtig wie bei der Kunst, ist die inneren Einstellung bei Dingen im Alltag. Die zuvor genannten „lauten Dinge“ wie zum Beispiel ein Sonnenuntergang oder ein See sind leichter zugänglich für die Sinne, auch ohne eine große Bereitschaft ästhetisch wahrzunehmen. Anders verhält es sich mit gewöhnlicheren Dingen, bei denen eigentlich eine Funktion im Vordergrund steht. Man erkennt sicherlich erst einmal keinen Mehrwert darin eine Straßenkreuzung sinnlich wahrzunehmen oder einen Supermarkt. Genau so absurd scheint es uns anfangs eine Baustelle ganzheitlich wahrzunehmen, doch es ist durchaus möglich. Man muss nur bewusst begreifen, dass Ästhetik auch außerhalb eines Museums existiert und dass sich eine ästhetische Erfahrung hinter jeder Straßenecke verstecken kann. Und haben wir das einmal verinnerlicht, so haben wir also einen gewissen Filter über die Betrachtung unseres Alltags gelegt und sind allzeit bereit für eine ästheti18 Vgl. Ebd., S.44. 19 Ebd., S. 44 20 Vgl. Ebd. 21 Ebd.

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sche Betrachtung. „Ästhetische Wahrnehmung steht uns jederzeit offen, soweit nicht äußere oder innere Bedrängnis uns den für ihren Vollzug nötigen Spielraum nimmt.“22 Allgemein können wir sagen, „[d]ie Domäne des Ästhetischen ist kein abgegrenzter Bereich neben den anderen Lebensbereichen, sondern eine unter anderen Lebensmöglichkeiten, die von Zeit zu Zeit ergriffen werden kann, wie man von Zeit zu Zeit von ihr ergriffen wird.“23 Jedoch werden Menschen mit einer Sensibilisierung für ästhetische Wahrnehmung wesentlich öfter in solch eine Situation kommen. Ganz zu Beginn sprach ich von dem Sprachgebrauch des Wortes Ästhetik und seinem oft nicht ganz richtig zugewiesenen Synonym Schönheit. Ich denke trotzdem, dass gewisse Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Wörter existieren. Ich sagte, dass Ästhetik wesentlich mehr beinhalten muss als Schönheit, vor allem nachdem ich eben auch diesen urbanen Wunderlichkeiten einen ästhetischen Charakter zuschreibe. Schön finden wir Dinge die uns gefallen, die uns ansprechen, bezogen auf ihr Äußeres, meistens jedenfalls. Ästhetik beschreibt auch eine Form des Gefallens, jedoch auf eine tiefer gehende Art und Weise. Was wir ästhetisch wahrnehmen muss uns nicht äußerlich gefallen, aber wir müssen eine Qualität erkennen die uns anspricht. Diese finden wir, im Unterschied zu Schönheit auch in hässlichen Dingen, die uns nicht gefallen. Unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik lassen sich die Qualitäten nicht mehr mit den Begriffen schön und hässlich beschreiben sondern durch andere Begriffe wie Kontrast, Harmonie, Symmetrie, Überlagerung, Reihung, Ordnung, Dimensionen, also die Verhältnisse von verschiedenen Aspekten zueinander. Die Notwendigkeit der Trennung der Begriffe Schönheit und Ästhetik ist an der urbanen Wunderlichkeiten gut zu sehen. Einen Mülleimer würden die meisten Menschen schwerlich als schön beschreiben, ihn jedoch auf besondere Art sinnlich wahrzunehmen ist nach Seel für jeden möglich.24 Kap. 03 Aber warum lassen wir uns auf eine ästhetische Betrachtung der Dinge ein? Einerseits sicher weil wir nicht anders können und es einfach ein Teil unserer Wahrnehmung ist, aber oft treten wir wie schon im früheren Verlauf des Textes gesagt, mehr oder weniger bewusst in solch eine Wahrnehmungssituation. Besonders spannend finde ich warum wir das auch in Situationen tun, in denen eigentlich nicht der Genuss im Vordergrund steht. Wenn wir also bewusst versuchen Alltagssituationen ästhetisch zu betrachten wie zum Beispiel meine urbanen Wunderlichkeiten, die sicher keine naheliegenden ästhetischen Objekte sind. Ein Grund weshalb wir manche Dinge intuitiver und andere schwerfälliger ästhetisch betrachten, ist die Zugänglichkeit der Objekte, hinsichtlich ihrer sinnlichen Erscheinung, im früheren Verlauf des Textes beschrieb ich es als „laute“ und „leise“ Objekte. Wir können in solch eine Betrachtung gelangen, einfach weil uns das Objekt besonders sinnlich entgegen kommt, hier wäre der oben genannte Sonnenuntergang zu nennen. Ein anderer Zugang wäre ein angelerntes Wissen, Dinge auf diese Art und Weise wahrzunehmen wie zum Beispiel im Museum. Beim ersten Fall wäre der Einstieg sinnlich, beim zweiten erlernt. Auch Emotionen können einen Zugang zu einer ästhetischen Wahrnehmung bilden. Stellen wir uns vor, wir sind überglücklich und beginnen alles um uns herum als unglaublich schön wahrzunehmen. Die Schatten der Blätter eines Baumes welche ein Muster auf dem Gehsteig ergeben und der Wind, der die zu Boden gefallenen Blüten über den Asphalt weht. Der Einstieg in eine ästhetische Erfahrung kann also sinnlich, emotional, erlernt aber auch intellektuell sein. In unserem Fall, also bei urbanen Wunderlichkeiten ist der Einstig auf unsere Vernunft, unser Wissen und unsere Gewohnheiten aber eben auch auf den Intellekt zurückzuführen. Wenn wir solch ein Arrangement in unserem Alltag entdecken ist das vergleichbar mit einem Stolpern. Es ist eine Unterbrechung unseres Alltagsflusses durch einen äußeren Einfluss. Was wir sehen erfüllt nicht seine eigentliche Funktion, es ist in einen ganz anderen Kontext gerückt und weicht von unserer Normalität ab. Eine Straßenlaterne, welche wir freistehend an einer Straße kennen, ist plötzlich zwischen der Fassade eines Gebäudes und einem Gerüst und dessen grünem Gerüstnetz eingesperrt. Im Moment der Erkenntnis, dass die Lampe ihren eigentlichen Zweck durch die Verdunkelung nicht mehr erfüllen kann, treten wir aus dem Fluss der unterbewussten Wahrnehmung heraus und nehmen bewusst wahr was wir entdeckt haben. Natürlich kann man jetzt in seinem Alltagsstress weitergehen, sich vielleicht noch kurz über die Unsinnigkeit ärgern oder sie einfach nicht weiter beachten. Betrachtet man diesen Moment im Hinblick auf die Auffassung von einer Erfahrung, wie sie John Dewey in seinem Buch „Kunst als Erfahrung“ beschreibt, so wäre sie eine nicht zu Ende gebrachte. Man hat angefangen etwas wahrzunehmen, über etwas nachzudenken, aber geht dann S.50

22 Ebd.,S.44. 23 Ebd 24 Vgl.Ebd.,S.46.

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weiter in seinem Alltag, ohne sich wirklich für das Entdeckte zu interessieren. Die kurze Auseinandersetzung mit der Situation hat noch nicht gereicht um eine bleibende Erinnerung zu hinterlassen. Dies kommt vor allem bei den Menschen vor, die viel zu tun haben und sich ständig mit einem Ziel durch den Tag bewegen. Denn „[b]esonders in der hektischen, ungeduldigen, vom Menschen erschaffenen Umwelt in der wir leben, verbleibt gar mancher bei allem Eifer und Tatendrang ganz an der Oberfläche, in einer Erfahrung von schier unglaublicher Dürftigkeit. Weil man sich rasch mit etwas Neuem beschäftigt, findet keine einzige Erfahrung die Gelegenheit, sich zu einem vollständigen Ganzen zu entwickeln.“25 Aber vielleicht hastet man auch nicht weiter und nimmt sich einen Moment Zeit um sich näher mit der Situation zu beschäftigen und erfüllt laut Seel somit eine Voraussetzung für die ästhetische Betrachtung.26 Eventuell beginnt man zu überlegen, wie so etwas zustande kommen kann. Die Laterne stand wohl zu nah an diesem Haus und musste deshalb im Zuge der Fassadenarbeiten mit in das benötigte Gerüst eingebaut worden sein. Aber das ist auch der Moment in welchem man von der Funktionalität der Dinge absehen kann und somit in Seels Theorie ein wichtiges Merkmal der ästhetischen Wahrnehmung erfüllt. „In einer Situation, in der ästhetische Wahrnehmung wachgerufen wird, treten wir aus einer allein funktionalen Orientierung heraus.“ 27 Wir begeben uns in eine ganzheitliche Betrachtung des Erscheinens. Geht man nun weiter in seinem Alltag, so hat man nach Deweys Theorie eine ganzheitliche Erfahrung gemacht. Man hat in dem Fluße seines Alltags etwas entdeckt, sich näher damit beschäftigt darüber nachgedacht und das Entdeckte ganzheitlich in seiner sinnlichen Gegenwart wahrgenommen. Da man das nicht ständig macht und dieser Erfahrungsprozess ein Anfang mit dem Entdecken und ein Ende mit dem Weiterlaufen findet, so ist das Erlebte „eine in sich geschlossene Erfahrung, die deshalb hervorsticht, weil sie sich von dem Vorangegangenen und dem Nachfolgenden abhebt.“ 28 Dies kann natürlich ganz bewusst auf der Suche nach urbanen Wunderlichkeiten passieren, aber auch ohne den konkreten Kontext dieser urbanen Wunderlichkeiten ist die eben beschriebene Erfahrung zu machen. Das Wissen um dieses Projekt führt allerdings zu einer Sensibilisierung, welche beim Entdecken dieser „wundernswerten“ Dinge helfen kann. Urbane Wunderlichkeiten leben von der Situation in der sie sich befinden. Die einzelnen Bestandteile eines solchen Arrangements sind meist gängige Alltagsgegenstände wie zum Beispiel ein Mülleimer, ein Stuhl, eine Straßenlaterne oder ein Schaufenster. An sich also nichts außergewöhnliches, auf den ersten Blick sicher nicht interessant genug um ihnen eine ästhetisch-theoretische Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Diese gewöhnlichen Gegenstände werden also durch eine Verschiebung der Normalität wie zum Beispiel einer Baustelle aus ihrem eigentlichen Umgebungsfeld oder Kontext genommen und neu platziert. Platziert ist hier und im weiteren Verlauf des Textes nicht unbedingt ortsgebunden oder physisch gemeint. So steht der Stuhl statt im Wohnzimmer plötzlich auf der Straße, die Straßenlaterne findet sich eingesperrt hinter einem grünen Gerüstnetz wieder, der Mülleimer ist jetzt einer von drei an einer Parkbank und das Schaufenster präsentiert uns nur die Rückseiten von alten Bilderrahmen, welche dort gut sichtbar für alle abgestellt wurden. Und erst wenn man beginnt davon abzusehen die einzelnen Gegenstände an sich zu betrachten und beginnt sie im Kontext ihrer Umgebung wahrzunehmen, erst dann erkennt man die Unsinnigkeit aber eben auch den Charme und die Besonderheit dieser Arrangements. Die ästhetische Wahrnehmung solch eines skurrilen Arrangements unterscheidet sich dann im Grunde nicht von einer ästhetischen Betrachtung eines anderen gewöhnlichen Gegenstands. In ihrer sinnlichen Erscheinung unterscheiden sich zum Beispiel Mülleimer, die Teil einer urbanen Wunderlichkeit sind, nicht von anderen Mülleimern, als diese sich sonst untereinander unterscheiden. Denn während dieser Wahrnehmung ist auch der Begriff urbane Wunderlichkeit, unter welchem die betrachtete Situation jetzt einzuordnen ist und welcher eine Verschiebung des normalen Kontext des Gegenstandes bedeutet, in diesem Moment nicht sonderlich relevant, aber er ist für das Zustandekommen dieses Momentes äußerst wichtig. Denn wahrscheinlich hätte man ohne die Suche nach einer urbanen Wunderlichkeit, oder der Aufmerksamkeit skurriler Dinge gegenüber niemals inne gehalten, hätte also nie die Straßenlaterne und das Gerüstnetz als Einheit und im Zusammenhang wahrgenommen. Wie man hier sieht ist es zwar förderlich, jedoch keinesfalls notwendig das Projekt urbane Wunderlichkeiten zu kennen um skurrilen Arrangements im öffentlichen Raum aufmerksam gegenüber zutreten. Was allerdings existentiell ist, ist die ganz zu Anfang beschriebene alltägliche, benennende, einordnende Wahrnehmung. Ohne sie würden wir niemals die „Skurrilität“ und „Sinnfreiheit“ dieser Situationen erkennen. Wenn wir im Alltag einen Mülleimer sehen, 25 26 27 28

John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Surkamp 1980, S.58. Martin Seel 2003, Vgl. S.44. Ebd., S.44-45 John Dewey 1980, S.48.

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so nehmen wir ihn als Behälter für Abfälle war. Stehen an einer Parkbank nun aber drei Müllbehälter, so können diese immer noch in ihrer ursprünglichen Funktion fungieren, jedoch sollte uns als Abweichung von der Normalität auffallen, dass gewöhnlicherweise keine drei Mülleimer an einer Parkbank benötigt werden. Im Falle der Straßenlaterne ist die auffallende Abweichung des Normalzustandes noch größer, da eine Laterne hinter einem eng gewobenen Netz nicht mehr ihr eigentliche Funktion vollständig erfüllen kann. Diese Beispiele zeigen uns, dass uns die eigentliche Funktion der Gegenstände einer urbanen Wunderlichkeit bekannt sein muss, dass wir sie anfangs unter einem benennenden Aspekt wahrnehmen müssen, um sie dann am Ende, losgelöst von diesem, ästhetisch betrachten zu können. Dieser Punkt macht klar, dass jeder Mensch mit seinem spezifischen Wissen beziehungsweise seinen verschiedenen Auffassungen davon wie Dinge ihre Funktion erfüllen, teilweise verschiedene „Skurrilitäten“ in seinem Alltag entdecken kann. Alle Menschen, die Dinge unter bestimmten Aspekten betrachten können, sie also als etwas wahrnehmen können, sind auch im Stande sie ästhetisch wahrzunehmen. Diese Bedingung ist auch Teil von Seels Ausführungen: “Eine Voraussetzung der ästhetischen Wahrnehmung ist die Fähigkeit, etwas begrifflich Bestimmtes wahrzunehmen.“29 Daher kann jeder, der eine urbane Wunderlichkeit findet, sie auf diese besondere, sinnliche Art und Weise betrachten. Doch lange nicht jeder wird das tun. Wie im schon im früheren Verlauf des Textes erwähnt, kann die entdeckte Skurrilität durchaus auch nur Emotionen wie zum Beispiel Wut, Belustigung und Verwirrung hervorrufen, ohne in eine ästhetische Wahrnehmung einzutreten. Vor allem, wenn Menschen keinerlei Sensibilisierung hierfür haben. Einen Einfluss darauf kann zum Beispiel der Beruf oder die Erziehung haben. Im Berufsalltag beispielsweise eines Designers, Künstlers oder eines Architekten spielt ästhetische Wahrnehmung eine wesentlich wichtigere Rolle als für andere Berufe. Somit laufen diese vielleicht mehr mit einer Art Filter durchs Leben, welcher ihnen den Zugang zu ästhetischer Wahrnehmung erleichtert. Es gibt also persönliche Unterschiede in der Möglichkeit, urbane Wunderlichkeiten zu entdecken, sowie bei deren Betrachtung in eine ästhetische Wahrnehmung zu gelangen. Ein Faktor, welcher auch interessant für die Betrachtung und Entdeckung dieser skurrilen Arrangements ist, ist das bereits erwähnte „sich wirklich Zeit nehmen“ im Kontext des urbanen Raums. Wenn man sich normalerweise bewusst in eine Situation der ästhetischen Wahrnehmung begibt, sind das meist Orte oder Szenerien die von Ruhe und Entschleunigung geprägt sind. Ein städtischer Raum mit all seinen Baustellen, Straßen und Menschenmengen, ist ein Raum der Beschleunigung, des Lärms und der Hektik. Der Umstand, dass unsere Aufmerksamkeit vielen Dingen gleichzeitig gilt, aber auch der, dass wir hier meist mit einem Ziel oder einer Aufgabe unterwegs sind und uns dadurch möglichst schnell bewegen, macht es sehr schwierig Momente der ästhetischen Betrachtung mit der dazu benötigten Zeit zu erleben. Wie in Zusammenhang mit Deweys Erfahrungstheorie schon zuvor erläutert, ist es in dieser hektischen Welt besonders schwierig, sich länger mit etwas zu beschäftigen. Schafft man es aber trotz der erschwerten Umstände, so ist der Effekt der Abhebung, also der Kontrast zwischen der Alltagswahrnehmung und der ästhetisch wahrgenommenen besonderen Situation umso größer. Auch ein eher erschwerender Aspekt der Wunderlichkeiten ist der des Entstehungsprozesses. Dieser ist meist, anders als bei der Kunst oder der Dekoration, einer ohne Miteinbeziehung eines ästhetischen Gedankens. Die Schaffung einer urbanen Wunderlichkeit ist meist auf einen Prozess der schnellen Lösungsfindung zurückzuführen. Das Ergebnis ist am Ende oft improvisiert, soll meist nur auf beschränkte Zeit bestehen bleiben weshalb meist keine Gedanken an die äußere Erscheinung verschwendet wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die Objekte, in ihrer funktionalen Hinsicht, meist als fehl am Platze empfunden werden. Was anfangs, naheliegenderweise eher negative Emotionen hervorruft. Beschäftigt man sich jedoch weiter mit der entdeckten „Unstimmigkeit“, so ändert sich die negative Empfindung meist in Belustigung über das Arrangement. Aber genau die erwähnte Improvisation und das Wissen, dass der Entstehungsprozess kein ästhetischer war, verleiht den Wunderlichkeiten einen Charme der ihnen eine zusätzliche Qualität verleiht. Was macht es mit diesen skurrilen Arrangements, wenn man sie als urbane Wunderlichkeiten wahrnimmt? Eine skurrile Situation im Alltag wird erst dadurch besonders, dass wir sie entdecken und sie als solche erkennen. Nur die Gegenstände alleine wären einfaches Material, würden wir nicht etwas Besonderes in ihnen sehen und ihnen dadurch ein Wert geben. Das Material bekommt durch unsere Emotionen und unseren Intellekt eine neue, zweite Bezeichnung und eine weitere Bedeutung neben ihrer eigentlichen Funktion. Verstärkt wird dieses Phänomen durch mein Projekt der urbanen Wunderlichkeiten. Die Gegenstände sind dann nicht mehr zusammenhangs29 Martin Seel 2003. S.51.

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lose skurrile Arrangements, sondern Teil einer Sammlung und eines Projektes. Zwei nebeneinander stehende Mülleimer sind dann nicht mehr einfach nur zwei sinnbefreit zusammengestellte Abfallbehälter, sie gehören dann einer künstlerischen Sammlung von urbane Wunderlichkeiten an. Doch welchen Einfluss kann die Zugehörigkeit zu dieser Sammlung auf die Betrachtung der Gegenstände haben? Ähnlich wie Duchamps Werk „Fountain“ durch den Kunstkontext einen neuen Aspekt bekommt, unter dem man es wahrnehmen kann, schafft auch der Kontext der urbanen Wunderlichkeiten einen neuen Aspekt der Betrachtungsmöglichkeiten. Diese Aspekte gehören, wie im früheren Verlauf des Textes erläutert, zwar der benennenden Wahrnehmung an, spielen jedoch auch für die Ästhetische eine Rolle. In beiden Fällen bekommt der Gegenstand zusätzlich zu seinen funktionellen Aspekten eine Bedeutung, welche unsere Wahrnehmung der Gegenstände von Grund auf verändert. Und welcher es naheliegender macht, die Objekte auch ästhetisch zu betrachten. Wie früher im Text beschrieben, ist bei Duchamp das angelernte Verhalten gegenüber Kunst der Grund dafür. Auch die urbanen Wunderlichkeiten erhalten durch ihre Zugehörigkeit zu dieser Sammlung eine leichtere Zugänglichkeit zur ästhetischen Betrachtung. Allerdings spielt diese hier nicht die zentrale Rolle, wie sie es in der Kunst tut. Bei den Wunderlichkeiten nimmt die Skurrilität der Situationen diesen Platz ein, jedoch werden sie innerhalb des Projektes auch auf ihre ästhetischen Aspekte untersucht. Hierdurch wird eine Verknüpfung zwischen urbanen Wunderlichkeiten und ästhetischer Wahrnehmung hergestellt, welche den erleichterten Zugang zu letzterer begründet. An dieser Stelle ist es vielleicht wichtig zu erklären, dass die Sammlung der urbanen Wunderlichkeiten für mich nichts Abgeschlossenes ist. Sie ist ein Beispiel und ein Vorbild für eine Kategorie und die Erklärung von gewissen Bedingungen der Zugehörigkeit. Jeder ist eingeladen die Sammlung für sich selbst zu erweitern und von diesen Entdeckungen zu profitieren. Die Beobachtung dass etwas, dass nicht unter Berücksichtigung der ästhetischen Erscheinung entstanden ist, trotzdem eine Qualität, einen Charme und einen ästhetischen Charakter haben kann, kann Inspiration für eine Herangehensweise an kreative Schaffensprozesse sein. Es ist der improvisierte Stil welcher in eine bewusste Gestaltung übertragen werden kann; mit der Lässigkeit und Naivität welche ihm innewohnt. Diese Herangehensweise wird bereits in Architektur und Design, aber auch in der freien Kunst angewendet. Hier zu nennen wäre beispielsweise die „Floating University Berlin“ von raumlaborberlin aus dem Jahr 2018. Fazit Die vorangegangene Untersuchung zeigt uns, dass auch im Alltag ein besonderer ästhetischer Charakter zu finden ist. Auf der Suche nach urbanen Wunderlichkeiten werden wir sensibilisiert, solche Dinge wahrzunehmen und ihnen in ihrer eigentlicheren Erscheinung zu begegnen ohne immer nach dem Sinn und Zweck zu fragen. Und wir werden auch dazu angestoßen bewusst in eine ästhetische Wahrnehmung einzutauchen, denn wir können alles auf diese Art und Weise wahrnehmen. Ob dies dann auch geschieht, darauf haben auf der einen Seite die Objekte mit ihrer sinnlichen Präsenz, auf der anderen Seite wir als Betrachtende mit unserem Wissen, unserer Erziehung und unserer Einstellung zur Ästhetik Einfluss. Hier hilft uns die Absurdität der urbanen Wunderlichkeiten als eine Art Stolpern und Einladung zur ästhetischen Wahrnehmung. Die unmittelbare, ganzheitliche und sinnliche Betrachtung mit ihren Überlegungen und dem vorangegangenen Entdeckungsprozess, stellt eine ganzheitliche Erfahrung im bruchstückhaften Alltag dar. Durch das Wissen von meinem Projekt und der Sammlung der urbanen Wunderlichkeiten findet man vielleicht seine ganz persönlichen skurrilen Exemplare und macht seine ganz eigene Erfahrung. Am Ende zeichnen sich urbane Wunderlichkeiten sicher nicht dadurch aus, dass sie einen außergewöhnlich großen ästhetischen Charakter haben. Sie haben mich ursprünglich begeistert, weil sie den Alltag zeitweise so absurd erscheinen lassen und eine Abwechslung in unserem, doch eher stressigen Lebensfluss bilden. Aber spannenderweise sind dies auch genau die Punkte, welche die urbanen Wunderlichkeiten in einer ästhetisch-theoretischen Untersuchung spannend machen. Nur durch diese Unterbrechung des normalen Lebensflusses gelangen wir innerhalb unseres Alltags in eine Situation, in welcher es möglich ist ästhetisch wahrzunehmen. Wenn wir einmal innerhalb solch einer sinnlichen Wahrnehmung sind, so bieten die Wunderlichkeiten nicht mehr zu Betrachten als andere scheinbar uninteressante Alltagssituationen. Jedoch glaube ich das wir, wenn überhaupt, nur selten in die Situation kommen einen Mülleimer und seine Umgebung genauer zu betrachten, geschweige denn sie auf uns wirken zu lassen. Die Besonderheit ist also, dass wir beim Entdecken von „Skurrilitäten“ in eine ästhetische Wahrnehmung rutschen können, welche den gefundenen Situationen, also den urbanen Wunderlichkeiten, einen unerwarteten Mehrwert bringen.

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Urbane Wunderlichkeiten in Stuttgart Ein Ăœberblick

Stuttgart West

Stuttgart Mitte Stuttgart SĂźd


Stuttgart Bad Cannstatt

Stuttgart Ost


Bad Cannstatt S.39 40

48.80619, 9.21002 04.11.2019

S.47

48.808477, 9.212416 22.03.2020

S.41

48.800051, 9.218460 27.10.2019

S.48

48.806931, 9.215823 22.03.2020

S.42

48.799925, 9.218406 27.10.2019

S.50

48.807132, 9.210743 22.03.2020

S.44

48.800388, 9.218069 27.10.2019

S.51 52

48.806230, 9.210702 22.03.2020

S.45 46

48.805033, 9.216920 22.03.2020

S.53 54

48.807278, 9.211143 22.03.2020

27


S.56

48.804626, 9.213381 02.11.2019

S.68

48.776140, 9.165119 07.06.2020

S.57 58

48.812589, 9.214662 02.11.2019

S.69 70

48.779723, 9.157761 04.11.2019

S.71 72

48.778159, 9.155659 04.11.2019

Stuttgart West S.66

48.769261, 9.153248 04.06.2020

S.73

48.772624, 9.167498 02.06.2020

S.67

48.776140, 9.165119 07.06.2020

S.74

48.771279, 9.168473 02.06.2020

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Stuttgart Süd S.81

48.762506, 9.162212 02.06.2020

S.87 88

48.769329, 9.170943 02.06.2020

S.82

48.760132, 9.160749 02.06.2020

S.89

48.768217, 9.168875 17.11.2019

S.83 84

48.759786, 9.159127 02.06.2020

S.90

48.766635, 9.168954 06.06.2020

S.85

48.759852, 9.156795 02.06.2020

S.91 92

48.769864, 9.173498 14.06.2020

S.86

48.759952, 9.160394 02.06.2020

S.93

48.769017, 9.173985 14.06.2020

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Stuttgart Ost S.94

48.767657, 9.176643 14.06.2020

S.107

48.798169, 9.209322 27.10.2019

S.95

48.768049, 9.179282 14.06.2020

S.108

48.798169, 9.209322 27.10.2019

S.96

48.769089, 9.174651 14.06.2020

S.109 110

48.783725, 9.202174 18.06.2020

S.97 98

48.767774, 9.176584 14.06.2020

S.111 112

48.786656, 9.217403 18.06.2020

S.100

48.763662, 9.165728 02.06.2020

S.113

48.786915, 9.217765 18.06.2020

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S.114

48.796097, 9.208602 18.06.2020

S.126

48.775665, 9.184541 04.06.2020

S.116

48.797216, 9.206661 18.06.2020

S.127

48.777621, 9.188332 04.06.2020

S.128

48.781404, 9.190209 04.06.2020

Stuttgart Mitte S.123

48.777843, 9.185305 04.06.2020

S.130

48.778300, 9.168839 06.05.2020

S.124

48.776477, 9.187525 04.06.2020

S.131

48.770144, 9.173720 01.06.2020

31


S.132

48.770993, 9.173117 03.06.2020

S.138

48.774491, 9.171802 27.01.2020

S.135

48.777463, 9.178237 06.06.2020

S.139

48.768980, 9.180022 01.06.2020

S.135

48.770993, 9.173117 01.06.2020

S.140

48.782816, 9.187979 18.06.2020

S.136

48.771157, 9.176477 01.06.2020

S.141 142

48.770574, 9.176738 23.06.2020

S.137

48.785990, 9.190014 18.06.2020

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Obwohl Bad Cannstatt im Kessel sehr nah an der Innenstadt liegt, fühlt es sich immer ein Stück entfernt an. Kommt man am Bahnhof an, wird man von lautem Verkehr, vielen Menschen, Imbissen und Kneipen vor einer etwas heruntergekommenen Kulisse überrollt. Dahinter verbirgt sich die Altstadt mit kleinen Läden und engen Gässchen. Wenn man den Neckar Richtung Wilhelma überquert steht man plötzlich ein einer Wohnsiedlung.

Ba d C annstat t 1. 5 7 1,3ha 69.543Ei n wo hne r

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Mutmaßung 01: Drei Einkaufswägen stehen verteilt auf der Strecke vom Bahnhof Bad Cannstatt zum Cannstatter Wasen,es ist kurz nach dem Volksfest. Die Wägen wurden von Pfandsammlern provisorisch an Bäume neben der Straße gebunden. Jetzt ist die Zeit des großen „Vortrinkens“ vorbei und die Pfandsammelstellen sind Mülleimer geworden.

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Man läuft durch graue Straßen, machmal mehr, manchmal weniger befahren und immer wieder kommt man an wundervolle Orte an denen man sich gerne aufhält, wie beispielsweise den Feuersee. Diese grünen Punkte stehen in einem seltsamen Kontrast zu der Haus an Haus Reihung dieses Stadtteils. Auf den Straßen sieht man sowohl junge Familien als auch alte Menschen. Verteilt im ganzen Viertel findet man Bars und Restaurants, doch trotzdem wird es am Abend eher ruhig, jedenfalls abseits der großen Straßen.

Stutt g art W e st 1 .8 64, 3 ha 5 1.2 5 0Einwo hn e r

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Mutmaßung 02: An einem netten Spieleabend hat der Aschenbecher gefehlt und so wurde die Hülle des Kartenspiels als Kippenbehälter an das Fenster geklebt. Alternativ könnte auch ein Behälter für Visitenkarten gefehlt haben.


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Mutmaßung 03: Die Wohnung war zu klein für ein Trampolin und so wurde es auf der Straße gelagert. Leider wurde nicht bedacht, dass alles was auf dem Gehsteig steht als Sperrmüll und somit zu verschenken angesehen wird. Ich bezweifle, dass das Trampolin je wieder zurück gebracht wird.

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Aus der belebten Mitte heraus kommt man in ein, von den Gründerzeit-Gebäuden aus Backstein geprägtes Wohnviertel. In der Nähe zur Stadtmitte noch belebt, wird es Richtung Häslach immer ruhiger. Weite Plätze wechseln sich mit engeren Straßen ab und bilden somit ein seltsames Wechselspiel zwischen Enge und Weite. Ebenso bildet der gemütlich belebte Marienplatz mit seinen kulinarischen Angeboten einen Treffpunkt für die Stuttgarter Einwohner.

Stutt g art S üd 958 ,8 ha 4 3.561E inwo hner

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Mutmaßung 04: Da man keinen Balkon hat, dient der Gehsteig als abendlicher Raucherplatz.In weiser Voraussicht, dass alles auf der Straße stehende als Sperrmüll angesehen wird, wurden die Stühle angekettet.

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Mutmaßung 05: An dieser Wendeplattform sind wohl schon viele Autos an dem Poller hängengeblieben. Die Autoreifen dienen nun als Prävention für weitere Macken an den Autos.

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Wenn man mit der U-Bahn am Ostendplatz ankommt, bekommt man das Gefühl einer wuseligen Stadtsituation mit Kiosken, Bars und Läden. Die große Kreuzung macht den Ort etwas ungemütlich. Doch sobald man sich von diesem Platz entfernt, findet man sich in einer gemütlichen Wohnatmosphäre wieder. Einfamilienhäuser mit kleinen Vorgärten, Altbauten und ruhigen Straßen wirken, als ob man den städtischen Stress unten im Kessel gelassen hätte. Die Eckkneipe mit kleinem Biergarten vor der Türe wirkt wie ein Fremdkörper zwischen all den Wohnhäusern aber sie macht auch den Anschein eines Treffpunktes für verschiedene Altersgruppen in der Nachbarschaft.

Stutt g art O st t 903, 5 ha 47.2 24 Einwo hne r

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Mutmaßung 05: Ein Fahrradweg führte ehemals durch den Rosensteinpark.Die ursprüngliche Idylle wird nun von Baustellen unterbrochen, genau wie der Fahrradweg der jetzt durch einen Zaun in eine Baugrube führt.

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Das öffentliche Leben dominiert das Herz von Stuttgart. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier wirklich Menschen wohnen. Es ist der Ort um am Tage einkaufen zu gehen und am Abend gemütlich bei einem Bier in der Bar zu sitzen. Es passiert überall etwas.eine Gewirr von Straßen, Bussen, Baustellen und Menschen. Wenn man den Lärm und Stress des urbanen Raums in Stuttgart sucht, dann spürt man ihn hier am aller meisten. Allerdings fühlt man sich bei all dem Trubel auch nie alleine.

Stutt g art M i t te 3 8 0, 6 ha 22.548 Einw o hn er

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MutmaĂ&#x;ung 06: Falls sich Steine aus der freigelegten Mauer lĂśsen sollten, wurden präventiv Fliegengitter zur Absicherung angebracht.

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Mutmaßung 07: Die Lücke zwischen zwei Häusern war ursprünglich zugebaut. Jetzt wurde dieser Lückenfüller abgerissen und damit die Nässe nicht die Häuser beschädigt ist eine überdimensionales Dachkonstrukt entstanden.

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MutmaĂ&#x;ung 08: Dass die neue Sitzgelegenheit nicht schon vor der Installation abnutzt wird, soll das Absperrband ungewollte Nutzer ferngehalten.

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Mutmaßung 09: Man hat wohl eingesehen, dass das Schaufenster am Österreichischenplatz nicht genügend Passanten erreicht. Ob es nun leer oder voll ist fällt wohl niemandem auf.

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Mutmaßung 10: Wenn das Regenwasser durch die Decke tropft aber kein Budget für Renovierungen da ist, müssen wohl Eimer herhalten.

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Interview 01 – Leander John Was stellen Sie sich unter dem Begriff „urbane Wunderlichkeiten“ vor?

Urban, also in der Stadt würde ich meinen, wenn ich auf etwas Unerwartetes treffe, etwas sonderbares, etwas das ich dort nicht erwarte. Z.B als ich das erste Mal so eingestrickte Bäume und Laternenpfähle gesehen hab...das wäre ein Beispiel was mir dazu einfallen würde. Für mich sind urbane Wunderlichkeiten kleine HÄÄÄHs im öffentlichen Raum, Dinge die uns skurril vorkom men wie z.B. drei Mülleimer an einer Parkbank oder ein (Straßen-)Schild, dass an sich seltsam, oder seltsam platziert ist. Ist Ihnen schon mal solch eine Wunderlichkeit aufgefallen?

Jajaja!!! Eine Bushaltestelle im absoluten Halteverbot. Da wurde gebaut an der eigentlichen Bushaltestelle und dann haben sie die verlegt, eine Ecke weiter, aber da war eben ein Schild mit absolutem Halteverbot... das fand ich sehr skurril. Haben Sie eine Vorstellung wie diese Wunderlichkeit zustande gekom men sein könnte?

Ja eben durch solch eine Umbaumaßnahme, wenn etwas temporär verlegt wird. Hat diese Entdeckung bei Ihnen Emotionen ausgelöst und wenn ja welche?

Ja, ich war amüsiert. Wobei andere Dinge wie jetzt z.B Großbaustellen in Stuttgart die ja auch sehr wunderlich sind, sind auch manchmal seltsam oder ärgerlich. Ich hatte letztens die Situation, dass ich über die Straße gehen, wollte aber auf der anderen Seite war nichts. Also vom Kernerplatz über die Straße Richtung Hauptbahnhof. Da kommt man einfach nicht durch weil überall Baustelle ist. Obwohl es da eigentlich ein Zebrastreifen gibt. Nochmal zurück zu der Bushaltestelle... Haben Sie diesen Fund dokumentiert und/ oder mit anderen geteilt?

Ich habs fotografiert und später einem Kollegen davon erzählt. In was für einer Situation/bei was für einer Tätigkeit haben Sie die Entdeckung gemacht?

Das war in meiner Mittagspause, als ich auf der Suche nach Mittagessen durch die Straße gelaufen bin. Also in einer suchenden Situation.

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Interview 02 – Paul Wöllner Was stellen Sie sich unter dem Begriff „urbane Wunderlichkeiten“ vor?

Urbane Wunderlichkeiten? Mhh, also urban heißt ja im städtischen Raum oder? Und Wunderlichkeiten... sind ja irgendwie außergewöhnliche Ereignisse oder Objekte... irgendwas besonderes über das man sich dann wundert. Für Menschen gibt es ja auch den Begriff wunderlich, ich weiß jetzt aber nicht genau ob das positiv oder negativ ist. Für mich sind urbane Wunderlichkeiten kleine HÄÄÄHs im öffentlichen Raum, Dinge die uns skurril vorkom men wie z.B. drei Mülleimer an einer Parkbank oder ein (Straßen-)Schild, dass an sich seltsam, oder seltsam platziert ist. Ist Ihnen schon mal solch eine Wunderlichkeit aufgefallen?

Ah ja klar! Grade architektonisch gibt es öfter Momente wo ich mich echt wundere was denn da passiert ist. Bei Anbauten und Umnutzungen gibt es da oft echt lustige Sachen. Also zum Beispiel am Zaun vom EnBW Betriebsgelände am Neckar, also gegenüber von Cannstatt, wo auch der Gaskessel ist, da hängen super witzige „Plakatieren Verboten“-Schilder am Zaun. Ich bin mir aber sicher, dass dort noch nie irgendwelche Plakate aufgehängt wurden, Der ganze Zaun ist auch übel mit Efeu überwuchert, sodass man das Schild gar nicht mehr wirklich zu sehen ist. Und das alles liegt an einer winzigen Einbahnstraße an der nie jemand vorbeikommt. Haben Sie eine Vorstellung wie diese Wunderlichkeit zustande gekom men sein könnte?

Mhh, wahrscheinlich gibt es da irgend eine Bestimmung bei der EnBW oder so was, vielleicht werden immer wenn die neue Zäune bauen auch einfach so standardmäßig die Schilder dazu gehängt. Hat diese Entdeckung bei Ihnen Emotionen ausgelöst und wenn ja welche?

Ja, ich fand das sehr lustig. Haben Sie diesen Fund dokumentiert und/ oder mit anderen geteilt?

Ja, ich habe ein paar Fotos gemacht, aber dann glaube ich gar niemandem gezeigt. In was für einer Situation/bei was für einer Tätigkeit haben Sie die Entdeckung gemacht?

Ich war spazieren, beziehungsweise ich habe da die Gegend erkundet, weil ich die davor noch gar nicht kannte.

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Interview 03 – Lilly Wellner Was stellen Sie sich unter dem Begriff „urbane Wunderlichkeiten“ vor?

Unter urbanen Wunderlichkeiten stelle ich mir kleine Schmunzler im Alltag vor. Urban werden sie für mich, weil sie Gegenstände und Situationen sind, die ganz klar mit Urbanität assoziiert werden, wunderlich aber werden sie dann, wenn sie genau in diesem städtischen Kontext disloziert, unter- oder überdimensioniert sind. Sie machen keinen Sinn, obwohl sie städtisch und in der Stadt sind. Für mich sind sie auch kleine Geheimnisse, weil sie sich in der Stadt verstecken und so gut getarnt sind, man muss sie schon suchen. Für mich sind urbane Wunderlichkeiten kleine HÄÄÄHs im öffentlichen Raum, Dinge die uns skurril vorkom men wie z.B. drei Mülleimer an einer Parkbank oder ein (Straßen-)Schild, dass an sich seltsam, oder seltsam platziert ist. Ist Ihnen schon mal solch eine Wunderlichkeit aufgefallen?

Ja, voll, so seh ichs auch. Ich glaube sie begegnen einem häufiger als man so denkt, oder sie bleiben eben doch einfach unentdeckt. Eine die ich entdeckt habe war ein Auto am Killesberg, erstmal nicht ungewöhnliches. Das Auto war aber eingewachsen. Grünzeug hat sich langsam von unten um das Auto gewickelt. Natürlich ist der Gedanke, dass sich die Natur die Stadt zurückerobert ein spannender, aber das wirklich skurrile an dieser Wunderlichkeit war das, dass Auto für welches die Natur aus der Stadt vertrieben wurde plötzlich zum geschützten und entschleunigten Ort wurde, an dem wieder etwas sprießen konnte. Haben Sie eine Vorstellung wie diese Wunderlichkeit zustande gekom men sein könnte?

Ich glaube die Entstehung dieser urbanen Wunderlichkeit ist selbsterklärend, ich stell mir nur immer die Frage wer dieses Auto da hat stehen lassen und wie lange das wohl schon her ist! (?) Hat diese Entdeckung bei Ihnen Emotionen ausgelöst und wenn ja welche?

Ich fands lustig und hab breit gegrinst. Haben Sie diesen Fund dokumentiert und/ oder mit anderen geteilt?

Auf jeden Fall! Ich hab gleich mal ein Foto gemacht und rumgeschickt. Jetzt bekomme ich manchmal auf eins von diesem Auto und wir freuen und dann gemeinsam das es schon ein paar Zentimeter weiter eingewachsen ist. In was für einer Situation/bei was für einer Tätigkeit haben Sie die Entdeckung gemacht?

Ich habe mich zu Fuß von einem zum anderen Ort bewegt, es war kein Spaziergang sondern Streckenbewältigung.

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Interview 04 – Ralf Hinrichs Was stellen Sie sich unter dem Begriff „urbane Wunderlichkeiten“ vor?

Überraschende Situationen/ Objekte die den aufmerksamen Betrachter kurz innehalten lassen. Für mich sind urbane Wunderlichkeiten kleine HÄÄÄHs im öffentlichen Raum, Dinge die uns skurril vorkom men wie z.B. drei Mülleimer an einer Parkbank oder ein (Straßen-)Schild, dass an sich seltsam, oder seltsam platziert ist. Ist Ihnen schon mal solch eine Wunderlichkeit aufgefallen?

Vor meiner Haustür steht eine provisorische Ampel. Sie scheint mir sehr umständlich gesichert zu sein und hat einen merkwürdig plazierten Drücker. Haben Sie eine Vorstellung wie diese Wunderlichkeit zustande gekom men sein könnte?

Obwohl provisorische Fussgängerübergänge nichts unübliches sind, scheint man für die Platzierung der Lichtsignale keine durchdachte Lösung gefunden/ gesucht zu haben. Stattdessen wirkt es so, als würden vorhandene Elemente kombiniert um ans Ziel zu kommen. Hat diese Entdeckung bei Ihnen Emotionen ausgelöst und wenn ja welche?

Ich war belustigt. Der Druckknopf wirkt als würde er nach dem Passanten schnappen, es hat mich an den Alien von H. R. Giger erinnert. Haben Sie diesen Fund dokumentiert und/ oder mit anderen geteilt?

Ich habe die Szene fotografisch festgehalten und sie einigen Freunden gezeigt. In was für einer Situation/bei was für einer Tätigkeit haben Sie die Entdeckung gemacht?

Beim Vorbeilaufen.

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Das Jahr 2020 ist geprägt von dem weltweiten Ausbruch einer Pandemie.Extreme Hygenemaßnahmen werden in allen Lebensbereichen zur Normalität und man befindet sich in einer Situation, die man sich letztes Jahr nicht hätte vorstellen können. Das Leben hat etwas monotones.Die Arbeitet von Zuhause aus und das Fehlen von soziale Kontakte ist für viele eine Belastung.

Co ron a Kr ise a ls M assenprod uz ent fü r ur banen W und er lich k eit e n 152


Corona-Krise als Massenproduzent für urbane Wunderlichkeiten Wir leben gerade in einer Welt, in der wir uns mit noch nie da gewesenen Problemen konfrontiert sehen. Zur Eindämmung der Pandemie versucht die Politik Lösungen und Regelungen zu entwerfen die für eine Gesellschaft sinnvoll sind, doch umsetzen müssen es im öffentlichen Raum meist Menschen in individuellen Situationen mit ganz unterschiedlichen (auch handwerklichen) Fähigkeiten und gestalterischen Vorstellungen. In kurzer Zeit war große Improvisationskunst gefragt. Da dieser Ausnahmezustand ja nur vorübergehend ist, sind jegliche Lösungen temporär gedacht. Ladenbesitzer müssen Mindestabstände für ihre Kunden visuell umsetzen um ihre Geschäfte wieder öffnen zu dürfen. Getapete oder gesprayte Markierungen zur Abstandseinhaltung, die Plexiglasabschirmungen zum Schutz der VerkäuferInnen im Kassenbereich, die Desinfektionsstationen oder die Absperrungen für nicht zu betretene Bereiche. Läden sind nur ein Beispiel für betroffene Situationen im öffentlichen Raum, aber hier können wir jeden Tag die wunderlichsten Lösungen entdecken und bestaunen. Rot-weiß gestreiftes Absperrband, das als ein „Markierungssymbol“ für eine temporäre Veränderung des Normalzustandes angesehen werden kann, prägt das Stadtbild während des Lockdowns im Jahre 2020. Wir haben uns mittlerweile schon so daran gewöhnt Wunderliches zu sehen, dass wir uns eigentlich nicht mehr wundern. Die Massenausschüttung an „Absperrimprovisationen“ hat das Wunderliche zur Normalität gemacht, eine „Hochzeit“ für urbane Wunderlichkeiten. Zwar brauchen wir hier nicht zu rätseln was die Ursache für diese Improvisationen gewesen sein könnte, aber das schmälert die kreative Leistung der Menschen nicht. Genau so wie bei der Entdeckung und Wahrnehmung der urbanen Wunderlichkeiten als solche ist ein bestimmter reflektierender „Blickwinkel“ Voraussetzung. Dieser lässt uns innehalten und bietet die Möglichkeit solche „Installationen“ ästhetisch wertzuschätzen. Und größer weitergedacht, scheinen plötzlich selbst die ganzen individuell Maskierten im Supermarkt zu einer großen kollektiven Wunderlichkeit zu verschmelzen, wenn man es so sehen will und kann.

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„teerbrocken“ von Timo Brunke 1. Neulich morgens trat ich vor meiner erdgeschosswohnung hinaus auf die straße Baustellenlärm hatte mich geweckt der krach von dellmarkrammen und presslüfterbohrern. Direkt auf dem trottoir vor meiner haustür standen drei männer vom bau mit spaten und schippen. Sie machten sich dran erde und steine aus dem quadratischen loch zu schaufeln das im asphalt klaffte. Brocken von teer lagen verstreut übern gehweg herum und ich weiß nicht es kam so ich sah diese stücke von Asphalt und erregte mich an der schönheit ihrer kanten wie sie so zufällig hervor und herausgebrochen weggeworfen dalagen. Es war früh am morgen und mein blick hing fest an diesen ecken von asphalt hing fest wie bei einem kind das auf der straße Niederhockt weil ein ohrenzwicker seinen weg kreuzt und sie müssen sich einfach kennenlernen das kind und der zwicker So ging’s mir mit den straßenteerbrocken. ich schaute und starrte minutenlang -

2. Ging dann ins haus zurück schloß die türe trat in den flur kam ins bad und da sah ich die kachel neben dem hängeschränkchen an der wand Die kachel mit ihrem mäandernden mit mörtel verschlossenen riss. die blöde die kachel stach mir in die augen als sei sie was schönes Als sei sie was wichtigeres als zeitung kaffee telefon job termine Als sei sie ein kunstwerk mit ihrem diagonalen sprung Doch hielt ich die augen gebannt auf sie streckte die hand nach ihr aus Es war früh am morgen doch was will das erklären – Als meine finger die kachel berührten in dem moment meine finger sie wurden synaptisch hypnotisiert und als ob meine sinne Mich foppen wollten auch mein auge fing an die kachel zu makrophotieren anzuzoomen durchzudriften. und so begann mein facettenflug Mein segelndes terraplaning mein zoompoem mir widerfuhr etwas das zwar ich selbst war doch nicht mich allein meinte und nichts weniger als Die gesamte sympathische welt.

3. Und ich ging los es begann im treppenhaus ich zoomte mich ab und fort mitten hinein in die rillen der treppengeländerholmen Und in die glasbausteine-lichtbrechungen oberhalb der treppen ich zoomte mich hinters haus in den garten in die Gartenwegfliesenbruchkantenlinien mit ihrem spröden schwung und driftete vor’s haus auf den gehweg zu den in den weg gepressten Kaugummiplattentalern und in die niederdimensionierten zigaretten stummelzylinder im boden und ich kam um die kurve die nächste straße zu den Lichtschattenbruchstellen der hauswand am eck mit ihren fließeverschwimmedämmerkanten zu den musterauflösungen der Vorgartenzaun-schattengestängeschatten – überall auf der straße geflickter asphalt diese teerecken diese Flächenveränderungsteerwegvorleger!

4. Ich driftete weiter allmählich hatte ich den zoomblick raus sah hauswandaufwärts zu den verbräunten efeuphantomvorjahresschatten Diesem wandaußenkrakelzweigflechtenschmuck sah wieder abwärts zu den asphaltkreidenen kinderhüpfspielstrichsystemen Zu den ölfleckverfärbungsgründen am boden zu verschiedensten rostüberkrustungen ich driftete in garagentore mitten hinein in Rhomben und rauten aus gesplittertem lack in die kantengeriffelrisse Alter verwitternder stromschaltkästenaufkleber und ich driftete In die gärten mit ihren bäumen ihren schattenspielüberlagerungen ihren weinbergwegwegewegpfadwegen ihrem fahrreifenschlammprofilbraun zoomte steil empor zu den schwarzen kaminbalkenschattenrhythmen der dächer und per sturzzoom hinab zu den scharfen Kellerfensterschnittstanzenschattenausbrüchen in die kanaldeckelasphaltfriedgevierte im quadrat in den spanstreifenmaserbruch Der orangenspankisten beim gemüsehändler am eck

5. Und ich spürte beim driften mein blick veraltete wurde alturalt und expandierte in jederlei hinsicht mein tastsinn zoomte mäanderte Aus falten und furchen herkömmlichster formung in noch nie gespürte gruben und grate in meinen augen sinterten barsten die kategorien von Größe und bedeutung das blanke haus meiner sinne gudderte fisselte urfelte schmadderte strömte ich wurde gefügig ich stand nicht unter drogen Nein bei klarstem wetter sog sich mein blick ins innre der dinge

6. Büroaluminiumfensterrahmen und baugerüste verschränkten sich zu mattgleißenden kristallriesen auf der Bordstein brach in sich lösende schichten entdrei und spreizte in steinerne adern Die lichtbrechungen der glasbausteine zersprühten und gingen in quarzenen vermengungen auf Teermörtelkittamöben verbogen sich in dergelnde buchtende formen garageneinfahrtteerbruchasphaltbrocken schabten sich Zu mikrokosmischen gebirgsrücken klein rollten und wälzten sich samt splittern von dachkaminschatten Unaufhaltsam ins meer

Timo Brunke, geboren 1972, ist ein Konzertpoet und Spoken-Word-Künstler.

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Eine Auseinandersetzung mit dem freischaffender Künstler Hartmut Landauer, geboren 1966. Er arbeitet im Bereich Objektkunst, Malerei und Fotografie.

„a different kind of beau ty“

7. So ging es hinüber ins artland zu scholle und brink ins geestgefilde, zu den marschen und triften Braachen und blaachen der morgellößmatten, an terassenküsten geduckter schichten Wo die grindschorfschnauze den walldeich aufbortet wo die schmirgelküste in die lahnungen rieselt Ich zoomte und schwemmte auf sandbänke und buhnen plantschte in den altwasserbodden Überm schelfriff vorm sandbankdamm durchschwamm meinen archipel Die bracklaachen im quebbtidenhaff und an der portwarft der tafellandbai Betrat ich mein eiland mein atoll meine hallig denn hinter jähen planken und dünensäumen An der deichkajennehrung stieg die stadt auf vor meinen augen Hinterm sockelranft der garagenasphaltecken Stieg sie auf die stadt ein bordsteinkastell Hinterm lichtschachttobel am kap der gehwegplattenbrüche Da ging ich hinüber wie es eben ging

8. Übern golffisselobertidengrabenaußennehrungssund übern bortenschrifthofenwiekelachenauerwegbusen Übern portwinkelkoogefliesenstraßenschaummetrogrund über bornschichthonigstriemenpfadeaußenkeilweg Über die hornwittergodetiefefaserntauwegeschuppen über die kochkribbesohlenriegelgrabenkauergeestfurchen Über die morgelstrichzonenrieselflaachenauenweitenebene

9. Zur heldenschanze von abruzzengmünd ins department von wyoschwang Acheronweiler sandwich hall und abu-alm zu den moränen von plötzenxiung iztetown und banglagarten Zu den martertreppen von zaberamsk und tatraska saint timbuktu agora-playa und long gaza Zu den menhiren von kaltentino und bumerangasaki ins areal von bogo-chang an den laubsägefjord Zu den grundfesten von broadnitz und dietzenundo ins küchenfachgeschäft von ninive thule und athen Auf die homepage von ostia und knossos zu den flözen von valle di mount monte bornopel washing-rode Auf der farbtardanbahn ins trilobitenheim

10. Und dann in der mörtelöde von plateaupolis in den ruinen der zukunft im städtewatt Ein kommen gehen bleiben in der scherbenharmonie Am mikro rio geostadion oase zero nur stille frieden disharmonie Vollkommene glückseligkeit wo die seegurkenkarawansereien grüßen Im immerland bei den asphaltbrocken Die meine finger streicheln.

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Modern societies have created a world in which mankind vanishes and becomes untraceable. It seems that man is erasing himself just because he is being made replaceable. Everything looks the same, everything we consume, everything that is given to us. Like an archaelogist of the future I have been searching for those last silent human tracks and traces in deserted places, in industrial landscapes or seemingly abandoned houses. In my photographs I somehow try to fight against the disappearance, discovering traces of human actions and creation, manipulations and improvisations of functional and innocent, almost playful and childlike creativity. Suddenly I find real beauty in the functional side of something. And I find a function in beauty! It‘s the unintentional and non-designed design, the things we never take notice of. We complement our surroundings with our own design, this is how we extend our limits – even the imaginative. For that man needs to set his own creation against his environment. And he sometimes does it unconsciously – simply because he does it. I believe that the things we make are extensions of ourselves. This is how we create a space for what is not fitting inside us anymore. The things are being made for their own purpose, thus they communicate in a universal language. To me these unseen things are a manifesto of creation and life and of course of purest beauty: they are a tribute to the power of imagination and remind me of what I am.

In seiner offenen Fotografieserie „transition“ dokumentiert Hartmut Landauer besondere, von Menschen erzeugte, alltägliche Situationen und Gegenstände. Er selbst beschreibt sie als „open series of photographs depicting human creativeness in improvisation due to architectural and environmental transitory circumstances“.1 Die Motive reichen von Fassaden über Ordnungssysteme für Werkzeuge am Arbeitsplatz bis hin zu provisorischen Aufenthaltsplätzen. Gemein haben all diese Motive die besonderen Kompositionen, die allein der Alltag entstehen ließ. Die Serie trägt den Titel „transition“, weil sich die abgebildeten Arrangements immer in einem Wandel, einer Übergangsphase befinden. Manche befinden sich im Aufbau, im Entstehen, andere im Umbau oder im Abbau. 2008 wurden die Arbeiten in der Galería Esther Montoriol in Barcelona ausgestellt. Im Rahmen meines Projektes „Urbane Wunderlichkeiten“ habe ich mich mit Hartmut Landauer getroffen, ihm meine Arbeiten gezeigt und mich über seine Serie und die Ästhetik der Improvisation unterhalten. Das Gespräch ist die Grundlage dieses Textes. 1999 begann Hartmut mit einer Polaroidkamera seine Sammlung. Eine neue Dimension erlangte das langjährige Projekt während seines Aufenthalts in Tokio im Jahre 2015. Mit dem Fahrrad erkundete er die fremde Stadt und die andersartige Kultur. In der Fremde wirkten alltägliche Dinge, Abläufe, Gewohnheiten und deren Resultate interessant und neuartig. Beispielsweise sind Baustellen, die zu den prominentesten Orten des „Wandels“ gehören, von ganz anderen Handwerkskünsten und Techniken geprägt. Im Alltagsfluss sind sie oft lästige Störungen gewohnter Abläufe, hier werden sie zu spannenden, sich ständig verändernden Gebilden. Der Mangel an Wissen über den Alltag an einem anderen Ort eröffnet eine neue Wahrnehmung und lässt uns die Dinge viel abstrakter betrachten. Wir wissen nicht was hier „normal“ und was sonderbar ist, wir sind unvoreingenommen und betrachten vieles viel stärker unter ihren ästhetischen Gesichtspunkten. Würden wir unsere Begeisterung gegenüber diesen Schönheiten mit den Menschen teilen, die dort ihren Alltag leben, so würden wir wahrscheinlich größtenteils auf Verwunderung stoßen. So entdeckte Hartmut beispielsweise ein aus vielen verschiedenen Materialien zusammengesetztes, gespanntes Segel auf vier Pfosten. Als er sich mit dem Besitzer dieses „Kunstwerkes“ darüber unterhielt, war dieser über das Interesse hoch verwundert und sagte, er brauchte eben ein Carport für sein Auto. Wäre er vermögender gewesen, hätte er sich eventuell einen, in unseren Augen, hässlichen Anbau vor die Tür gesetzt. Durch den Mangel aber, ist etwas wundervolles entstanden, ganz ohne jegliche Absicht, oder die Möglichkeit in Betracht ziehend, etwas ästhetisches zu schaffen. Die Einschränkung macht uns kreativ und bringt eine eigene Ästhetik und Dynamik mit sich. Solche Improvisationen haben etwas Ur-menschliches an sich. Man sieht und spürt den Menschen auf eine ganz ehrliche Art und Weise, denn in einer Situation der Improvisation denkt man nicht daran etwas schönes und dauerhaftes zu schaffen oder seine Fähigkeiten darzulegen. Man versucht schnell ein Problem zu lösen; aus einem Mangel von Zeit und Geld oder Material wird der Mensch kreativ und bedient sich der vorhandenen Mittel. Der Gedanke an die nur temporäre Existenz dieser Lösung befreit uns von der uns nahegelegenen Perfektion, die vor allem in unserem Kulturkreis stark ausgeprägt ist. Die Ästhetik des Mangels wird geprägt von einem sich einlassen auf bereits zur Verfügung stehende Materialien. Der Beginn ist keine fixe Idee des Endergebnisses, wofür extra Werkstoffe angeschafft werden, sondern eine Problematik, die irgendwie gelöst werden muss, mit in die-

01 hartmutlandauer.com

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sem Augenblick vorhandenen Mitteln. Oft sind es beispielsweise Reparaturen und Flickungen die aus einem Mangel heraus ein wundervolles Ergebnis entstehen lassen, obwohl im Vordergrund nicht die Gestaltung, sondern eine reine Funktionalität steht. Auch wenn die Lösungen nur temporär gedacht waren, so können sie trotzdem über Jahre hinweg bestehen bleiben. Sie werden Teil des Raumes, bilden eine neue Schicht, die dann Teil des Alltags wird. Andere verschwinden nach kurzer Zeit wieder und hinterlassen nur eine kaum sichtbare Spur ihrer Anwesenheit, oder verändern sich jeden Tag, wie eine Art Variable. Zusammen bilden sie die Unplanbarkeit und Vielfalt ab, die automatisch mit jeder menschlichen Interaktion einhergeht. Solange der Mangel besteht und keine optimierte Lösung für das zugrunde liegende Problem gefunden wurde, können sie existieren, befinden sich aber immer in einer Abhängigkeit von der vermeintlich besseren, optimalen Lösung. Hartmut äußert eine Sehnsucht nach einer „Nichtgestaltung“. In unserer heutigen Zeit, vor allem im urbanen Raum, wo fast alles gestaltet und vorgegeben ist, findet sich nur wenig Platz für Improvisation. In seiner Arbeit lässt er sich trotzdem vom städtischen Raum inspirieren. Die einzelnen Dinge, wie zum Beispiel die Gebäude, sind alle mehr oder weniger gestaltet, nicht aber die Komposition, die sie am Ende gemeinsam bilden.Jeder Bewohner, jeder Nutzer bringt seine persönlichen Gegenstände und Gewohnheiten mit, die nie Teil einer Planung wahren. Äußere Umstände ändern sich, Anpassungen und Umbauten werden vorgenommen. Jede Veränderung und jede Gewohnheit beeinflusst das Gesamtbild und auch die Materialien selbst verändern sich, altern und verwittern. Alles ist in einer gewissen Art und Weise zufällig zusammengestellt und doch Teil eines großen Ganzen. Hartmut versucht in seinen Arbeiten jedoch nicht diese Ästhetik gezielt zu reproduzieren. Er empfindet den Entstehungsprozess nach, welcher durch viele unvorhersehbare Faktoren beeinflusst wird. Er benutzt bereits existierende, ihm zu Verfügung stehende Materialen und arbeitet mit deren spezifischen Eigenschaften und Qualitäten. Zu Beginn besteht also keine fixe Idee des ästhetischen Endprodukts. So entstehen beispielsweise Collagen aus alten Schallplattencovern, jedoch spielen hier nicht die Motive sondern die wundervollen Farblichkeiten, die man selbst niemals so erzeugen könnte, die Hauptrolle. Das alte Material bekommt eine zweite Chance. Der improvisierte Stil gehört allgegenwärtig zu Hartmuts Leben.Jedoch muss er feststellen, dass dieser nicht ewig anhalten kann. So entwickelt sich beispielsweise seine Wohnung, die Anfangs voller improvisierter Gegenstände und Arrangements war, immer mehr zu einem Wohnraum voller Optimierungen. Das Ur-menschliche können wir ohne einen bestehenden Mangel einfach nicht ehrlich beibehalten, denn es liegt uns im Blut ständig alles und überall zu optimieren und zu verbessern. Ich denke am Ende sind einige Aspekte dieser Ästhetik des Mangels, die Hartmut in seinen Arbeiten zeigt, auch in den „urbanen Wunderlichkeiten“ wiederzufinden. In unserem Gespräch ist mir bewusst geworden, welche enorme Rolle das Temporäre bei meiner Sammlung einnimmt. Nahezu alle „Wunderlichkeiten“ würden ihren Charme verlieren, wären sie langfristig geplant, oder auf Dauerhaftigkeit ausgelegt. Der improvisierte Eingriff in den Raum macht ihn lebendig, zeigt das Menschliche und die damit verbundene ständige Veränderung.

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Impressum Urbane Wunderlichkeiten Dieses Buch ist im Rahmen eines Projektes der Klasse Gerwin Schmidt entstanden; Studiengang Kommunikationsdesign an der Staatlichen Akademie der Bildenden KĂźnste Stuttgart Konzept und Gestaltung: Lisa-Devi Vollrath Schriften: Usual, Source Code Pro, Monolisa Mein groĂ&#x;er Dank geht an: Gerwin Schmidt Paul Stefan Sophie Ralf Hartmut und Menja Elia Timo Brunke Leander Lilly

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