Urban Utopia-Alternative Mobilität in Stuttgart

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URBAN UTO        IA P

Alternative Mobilität in Stuttgart



„Ist etwas auf Erden schief und krumm, dann riecht es bestimmt nach Petroleum.“ Kurt Tucholsky, 1931



URBAN UTO        IA P


Inhaltsverzeichnis


7 Vorwort KAPITEL EINS 8

Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart Lage und Verkehrsnetze Verkehrsaufkommen und Verkehrsleistung Besitzanteile von Auto und Fahrrad Verteilung der Nutzersegmente Zweck der zurückgelegten Wege Zufriedenheit mit Verkehrsangeboten Berufspendler in Baden-Württemberg

28

KAPITEL ZWEI

Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Baden-Württemberg und Stuttgart Entstehung und Arten von Luftverunreinigungen Bestand an Kraftfahrzeugen in Baden-Württemberg und Stuttgart Übersicht der Emissionen durch den Verkehr Kohlenstoffdioxid Kohlenmonoxid NMVOC Schwefeldioxid Feinstaub Stickoxide Messstellen für die Luftqualität in Stuttgart Verursacher der NO2-Immissionsbelastung an den Messpunkten Lage der Messstationen in Stuttgart

42

KAPITEL DREI

Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates Richtlinie(EU) 2016/2284 des europäischen Parlaments und des Rates Nachhaltig mobil in Stuttgart Das Verkehrsentwicklungskonzept der Landeshauptstadt Stuttgart Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart

100 114

KAPITEL VIER

Maßnahmen in Kopenhagen zur ­Verbesserung der ­Verkehrssituation Ökonomische Effekte des Radverkehrs Velorouten in Hamburg Die Gestaltung von Fahrradstraßen

KAPITEL FÜNF

Entwürfe für eine Welt mit Zukunft Gewebe der Zivilisation Zukunftstrends der Mobilität Von Ikarus lernen Urbane Mobilität Kollaboration Mobilität Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte?

148 Anhang Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis Impressum

10 10 12 14 16 19 21 23

30 30 31 32 32 34 35 36 36 37 38 39 40

44 44 62 74 80 88

102 105 108 109

116 116 118 123 127 134 139

148 150 151



Vorwort Der Haupttitel dieses Buchs – „Urban Utopia“ – diente zunächst nur als Arbeitstitel oder Überbegriff für die vier Projekte, die während der beiden zurückliegenden Semester entstanden sind. Diese Arbeiten sollten explizit ein bestimmtes Thema behandeln, welches ein Problem in Stuttgart darstellt. Da ich erst seit meinem Studienbeginn im Oktober 2018 ein genaues Bild von dieser Stadt habe, fiel meine Wahl auf eines der in meinen Augen am größten und offensichtlichsten Probleme: die durch den Straßenverkehr entstehenden Folgen und Herausforderungen für die gesamte Umwelt. Der Titel war zunächst nur ein spontaner Einfall, in erster Linie um für anfängliche Plakat- und Filmentwürfe einen Startpunkt und Aufhänger zu haben. Im Laufe der Arbeit ist dieser ehemalige Arbeitstitel nie wirklich verworfen worden und bildet, vor allem mit dem Zusatz „Alternative Mobilität in Stuttgart“, einen gleichermaßen aussagekräftigen, wie modernen Namen für dieses Buch. Diese Arbeit ist ohne eigenes, detailliertes Vorwissen in den Bereichen Umwelt, Verkehr und Mobilität entstanden – es ist also naheliegend, dass nicht ich für die wissenschaftlichen Inhalte dieses Buchs verantwortlich bin, sondern Fachleute und Experten verantwortlich, die sich in diesen Bereichen spezialisiert haben. Der Antrieb bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema war also auf eine Sammlung von Inhalten ausgerichtet, die diese Themen behandeln und versuchen, die genannte Problematik zu lösen. Die Wahl des Themas ist durch meine täglichen Aufenthalte im Stadtgebiet entschieden beeinflusst worden: Vor allem während der Hauptverkehrszeiten – also morgens und am späten Nachmittag / frühen Abend – hatte ich mich regelmäßig gefragt, wieso sich so viele PendlerInnen Tag für Tag dem zähfließenden und stressigen Berufsverkehr in Stuttgart aussetzen. Dadurch, dass Stuttgart aufgrund des, für mich anfänglich sehr mysteriös klingendem, „Feinstaubalarms“ sowieso bereits ein großes Problem mit Emissionen durch den Straßenverkehr hat, bekam diese Frage für mich ein noch größeres Gewicht. Selbstverständlich war mir klar, dass nicht jeder der PKW-FahrerInnen täglich nur eine so kurze Distanz zurücklegen musste wie ich. Auch das möglicherweise eher schlechter als in der Landeshauptstadt ausgebaute, öffentliche Verkehrsnetz der umliegenden Städte und ­Gemeinden war für mich ein nachvollziehbares Argument, den täglichen Weg mit dem Auto zurückzulegen. Doch ab einer gewissen Nähe zum Stadtzentrum kann nicht mehr von einer schlechten Anbindung durch öffentliche Verkehrsmittel die Rede sein. Warum also nicht zumindest den letzten Teil des Weges per Bus oder Bahn zurücklegen? Natürlich gibt es auf diese Frage keine eindeutige und vor allem keine einfache Antwort, da viele unterschiedliche Faktoren das Mobilitätsverhalten jedes Einzelnen beeinflussen. Es macht also wenig Sinn, die Schuld ausschließlich bei den Personen in der Gesellschaft zu suchen, die ihren täglichen Weg zu ihrer Arbeitsstätte mit dem Auto bestreiten. Vielmehr soll diese Frage zu einem Umdenken anregen, gleichermaßen in der Bevölkerung, wie auch bei den ArbeitgeberInnen, der Regierung und den Verkehrsgesellschaften. Das Ziel muss sein, gemeinsam an alternativen Mobilitätskonzepten zu arbeiten, um früher oder später nachhaltigere und ökonomischere Transportmethoden zu etablieren. Niemand kann aktuell voraussagen, wie so eine Umstellung aussehen wird, doch schon allein die Tatsache, dass sich der Antrieb eines Großteils der Fahrzeuge im Straßenverkehr aus fossilen Brennstoffen speist, lässt erkennen, dass diese Form der Mobilität ewig Bestand haben werden kann. Doch nicht nur allein deshalb, auch unter den Aspekten Umweltschutz und Lebensqualität ist das Ziel der alternativen Mobilität wichtiger denn je.

Vorwort

7


KAPITEL 1


Aktuelle Situation in Stuttgart


Ausgangslage und aktuelle ­Situation in Stuttgart Lage und Verkehrsnetze Die Landeshauptstadt Stuttgart erstreckt sich über eine Fläche von 207 km² und bildet mit ca. 590 000 Einwohnern das Oberzentrum einer Region mit insgesamt 2,7 Millionen Einwohnern,1 die etwa ein Viertel der Bevölkerung Baden-Württembergs bilden. Mit 733 Einwohnern pro km² ist das Gebiet dichter besiedelt als die Regionen München und Frankfurt am Main. Auch im europäischen Vergleich haben nur wenige Regionen, beispielsweise Zuid Holland mit Den Haag oder Île-de-France mit Paris, eine ­höhere Bevölkerungsdichte als die Region Stuttgart.2 Sie enthält den Stadtkreis Stuttgart und die umliegenden Landkreise Böblingen, Esslingen, Göppingen, Ludwigsburg sowie den Rems-Murr-Kreis. Zusammen gehören 179 Städte und Gemeinden zur Region Stuttgart.3 Die Einwohnerdichte Stuttgarts beträgt ca. 2 850 Einwohner pro km² und liegt damit höher als in den meisten anderen deutschen Großstädten.4 Der Einzugsbereich Stuttgarts in der Metropolregion geht jedoch weit über die Verwaltungsgrenzen des Regionalverbandes hinaus: die europäische Metropolregion Stuttgart erstreckt sich über ein Gebiet von 15 400 km². 43 % der Landesfläche von Baden-Württemberg sind der Metropolregion Stuttgart zugeordnet. Gemäß der RegioStaR 7 Raumtypologie sind 31,6 % der Fläche der Metropolregion Stuttgart als Stadtregion und 68,4 % als ländliche Region zu klassifizieren. Gleichzeitig leben in der Metropolregion Stuttgart 63,5 % der Bevölkerung in Stadtregionen und 36,5 % in ländlichen Regionen. Ingesamt leben 5,4 Millionen Menschen in der Metropolregion Stuttgart. Das sind fast die Hälfte (49 %) der Einwohner in Baden-Württemberg und entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Kroatien, Irland, Slowakei oder Dänemark. Sie ist nach der Einwohnerzahl die fünftgrößte der mittlerweile insgesamt elf Europäischen Metropolregionen in Deutschland. Die Region Stuttgart ist nicht nur geografisch gesehen das Kerngebiet der Metropolregion Stuttgart. Ihre dominierende Stellung innerhalb der Metropolregion ergibt sich aus den demografischen und ökonomischen Kerndaten. Auf nur 24 % der Metropolregionsfläche leben 51 % der Einwohner und arbeiten 54 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Die Landeshauptstadt Stuttgart liegt gleichfalls im geografischen Mittelpunkt ihrer Region. Hier leben auf gerade einmal einem Prozent der Metropolregionsfläche 12 % der Einwohner.5 Die Innenstadt Stuttgarts liegt in einem Talkessel und ist von einem Höhenkranz umgeben, der sich zum Neckartal hin öffnet. Die maximal zu überwindende Höhendifferenz beträgt 350 m. Das Stadtgebiet ist in 23 Stadtbezirke unterteilt, die sich durch die topografischen Gegebenheiten und ihre Verkehrslage unterschiedlich entwickelt haben. So sind z. B. die Bezirke im Norden überwiegend industriell geprägt. In den Bezirken im Neckartal wird traditionell Wein- und Obstbau betrieben, gleichzeitig formt der Neckarhafen mit seinen Gewerbegebieten das Stadtbild. Die eher landwirtschaftlich orientierten Bereiche auf den Fildern sind einem dynamischen Wachstums- und Urbanisierungsprozess unterworfen. Das zeigen insbesondere die Entwicklungen am Flughafen und der Neuen Messe. Hier befindet sich der verkehrliche Schnittpunkt zwischen Luftverkehr, Autobahn, Bundesstraßen und zukünftig auch der Bahn. Stuttgart ist überregional an die Autobahnen A8 und A81 angebunden. Die von Norden nach Süden verlaufenden Hauptverkehrswege (Frankfurt / Würzburg in Richtung Bodenseeraum) sowie die Achsen von Westen nach Osten (vom Rheintal über München und Nürnberg nach Osteuropa) kreuzen sich in der Region Stuttgart. Verschiedene Bundesstraßen führen zudem von der Region in die Landeshauptstadt. Aufgrund der hohen Siedlungsdichte, aber auch wegen der besonderen topografischen Situation, konnte eine – wie in anderen Städten mit konzentrischem Siedlungswachstum – außen liegende Ringerschließung nicht realisiert werden. Innerstädtisch wurden in den 60er Jahren nach der Planungsphilosophie der autogerechten Stadt Verkehrsachsen mit hoher Trennwirkung wie der Hauptstätter Straße / Konrad Adenauer Straße (B14) und der Theodor Heuss S ­ traße / Friedrichstraße (B27) geschaffen. Ab den 70er Jahren folgten dann der Ausbau der Stadtbahn und die Realisierung flächenhafter Fußgängerzonen. Auch durch den zwischenzeitlichen Bau von verschiedenen Tunneln (Heslacher Tunnel, Feuerbacher Tunnel usw.) für den motorisierten Individualverkehr (MIV) wurde das in seiner Grundstruktur auf

10

KAPITEL EINS Ausgangslage und Aktuelle Situation in Stuttgart

Abbildung 1 Die Lage der Landeshauptstadt Stuttgart, des Verbands Region Stuttgart und der Europäischen Metropolregion Stuttgart im Bundesland Baden-Württemberg in der Bundesrepublik Deutschland.

Europäische Metropolregion Stuttgart Verband Region Stuttgart

Landeshauptstadt Stuttgart Baden-Württemberg

1 2 3 4 5 6

Landeshauptstadt Stuttgart, VEK 2030 Das Verkehrsentwicklungskonzept der Landeshauptstadt Stuttgart, Stuttgart 2013, S. 13. Verband Region Stuttgart, Region in Zahlen, Einwohner und Fläche, URL: https://t1p.de/b1bt (zuletzt abgerufen am 1.4.2020). Verband Region Stuttgart, Region in Zahlen, URL: https://t1p.de/qs1m (zuletzt abgerufen am 1.4.2020). Landeshauptstadt Stuttgart, VEK 2030 Das Verkehrsentwicklungskonzept der Landeshauptstadt Stuttgart, Stuttgart 2013, S. 13. infas, DLR, IVT und infas 360, Mobilität in Deutschland Kurzreport Europäische Metropolregion Stuttgart (im Auftrag des BMVI), S.8. infas, DLR, IVT und infas 360, Mobilität in Deutschland Kurzreport Europäische Metropolregion Stuttgart (im Auftrag des BMVI), S.8.

Lage und Verkehrsnetze


Die europäische Metropolregion Stuttgart 1995 führte die Ministerkonferenz für Raumordnung die Kategorie der „Europäischen Metropolregionen“ ein. Gemeinsam mit sechs weiteren Regionen in Deutschland wurde die Region um Stuttgart dieser Kategorie zugeordnet. Zu ihr gehören ohne scharfe Abgrenzung die Regionen Heilbronn-Franken, NeckarAlb, ­Nordschwarzwald, Ostwürttemberg, Stuttgart und die Landeshauptstadt Stuttgart. 2002 nahm der Landesentwicklungsplan Baden-Württemberg den Begriff der Europäischen Metropolregion Stuttgart auf. Demnach soll die Europäische Metropolregion Stuttgart wegen ihrer herausragenden Funktionen im internationalen Maßstab und ihrer besonderen Bedeutung für die gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Landes in ihrer Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit weiterentwickelt und gestärkt werden.6

Abbildung 2 Das Bundesland Baden-Württemberg mit der Europäischen ­Metropolregion Stuttgart, dem Verband Region Stuttgart und der Landeshauptstadt Stuttgart.

Die europäische Metropolregion Stuttgart

KAPITEL EINS Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart Lage und Verkehrsnetze

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die Innenstadt ausgerichtete Verkehrsnetz nicht wesentlich verändert. Aufgrund der Topografie werden Verkehrsstraßen und Schienenwege oft in den Tallagen gebündelt geführt. Die Verkehrsbauwerke haben gerade im Neckartal eine große Trennwirkung zwischen Innenstadt und Flusslandschaft, wie die B10 / 14 entlang der Bezirke im Neckartal und die parallel verlaufenden Bahngleise. So haben die Neckarvororte durch Verkehrsbauwerke und Gewerbeansiedlung kaum direkten Zugang zum Neckar. Der ÖPNV in Stuttgart ist mit 16 Stadtbahnlinien, 56 Buslinien und 6 SBahnlinien gut ausgebaut und sichert mit insgesamt 1 162 km Streckenlänge und 897 Haltestellen ein gutes Nahverkehrsangebot in der Landeshauptstadt. Seit Anfang der 90er Jahre wird in Stuttgart am Ausbau eines flächendeckenden Radverkehrsnetzes gearbeitet. Das Radwegenetz wurde in den letzten 20 Jahren von 54 km auf 180 km ausgebaut. Wesentliche Bestandteile des Radverkehrsnetzes sind neben den Radwegen das gesamte Tempo-30-Zonen-Netz, die land- und forstwirtschaftlichen Wege, in Gegenrichtung geöffnete Einbahnstraßen und Fahrradstreifen, sowie Schutzstreifen auf Hauptverkehrsstraßen. Stuttgart ist eine Stadt der kurzen Wege, vieles kann zu Fuß erreicht werden, die gesamte City ist den Fußgängern vorbehalten. Allerdings existiert ein gesamtstädtisches Fußwegekonzept bislang nicht, soll aber in den nächsten Jahren erarbeitet werden. Bei den Planungen werden aber quartiersbezogene Fußwegenetze berücksichtigt. Auch in den Außenbezirken sollen die Einrichtungen des täglichen Bedarfs fußläufig erreichbar sein.7 Im Durchschnitt eines Jahresverlaufs sind 87 % der Bewohner in der Metropolregion Stuttgart an einem zufällig ausgewählten Tag außer Haus unterwegs. Dieser Wert ist leicht höher als der Bundesschnitt mit 85 %. In Baden-Württemberg liegt er bei 86 %. Zwischen den Raumtypen im Gebiet der Metropolregion schwankt der Wert zwischen 84 und 88 %. Ein Wert von 87 % findet sich auch in der Metropolregion Hamburg und dem RMV-Gebiet. Diese Aktivitätsquoten führen zu einer durchschnittlichen Zahl von 3,1 Wegen, die jede Person in der Metropolregion zurücklegt. Für die Stadt Stuttgart zeigen sich leicht erhöhte Zahlen mit 3,2 Wegen und einer Unterwegszeit von 1 Stunde 32 Minuten pro Tag. Dabei werden 39 Kilometer zurückgelegt. In der Region Stuttgart werden täglich 3,1 Wege zurückgelegt. Hierbei werden innerhalb von 1 Stunde 19 Minuten 39 Kilometer zurückgelegt. Dies ist identisch mit dem Mittelwert für die Bundesrepublik. Betrachtet man die Regionstypen für die Metropolregion so zeigt sich, dass Bewohner ländlicher Gebiete weitere Strecken in kürzerer Zeit zurücklegen. Auch dieser Sachverhalt spiegelt sich in den Bundesergebnissen wider. So finden sich für die Metropolregion Hamburg und das RMV-Gebiet auch eine ähnliche tägliche Wegezahl und für die Städte Hamburg und Frankfurt eine leicht höhere Wegezahl als im Umland. Auch ist in den Städten Hamburg und Frankfurt die Wegezeit und die täglich zurückgelegte Wegestrecke von vergleichbarer Länge. Auch das Verhältnis zum Umland ist ähnlich. Personen, die im ländlichen Umland der Städte Hamburg und Frankfurt wohnen, sind pro Tag auch ungefähr 10 Minuten weniger unterwegs und legen dabei etwas mehr Strecke zurück. Einer der wichtigsten Kennwerte der MiD 2017 ist der sogenannte Modal Split für das Verkehrsaufkommen. Er drückt die prozentualen Anteile der Verkehrsmittel an dem gesamten Verkehrsaufkommen und damit allen zurückgelegten Wegen aus. Die Auswertung bezieht sich nur auf die Bewohner der Metropolregion und nicht auf Einpendler; es wird nur die Verkehrsnachfrage der Wohnbevölkerung dargestellt. Ungefähr 10 % der Wege in der Metropolregion werden mit dem ÖV zurückgelegt, über 60 % als Fahrer oder Mitfahrer, knapp 7 % mit dem Fahrrad und 22 % zu Fuß. Diese Werte unterscheiden sich deutlich innerhalb der Metropolregion. In der LH Stuttgart werden mehr als 20 % der Wege mit dem ÖV zurückgelegt, in den anderen Gebieten der Metropolregion deutlich weniger als 10 %. Der MiV ist außerhalb der LH Stuttgart das maßgebliche Verkehrsmittel. Zu Fuß werden in der Metropolregion 22 % der Wege zurückgelegt. Dieser Anteil liegt für die LH Stuttgart bei 29 %, in den anderen Gebietstypen bei um die 20 %. Das Gewicht des Autoverkehrs ist auch an der Verkehrsleistung ersichtlich. Bei der Verkehrsleistung wird noch die zurückgelegte Strecke in Kilometern berücksichtigt. So werden in der Metropolregion 20 % aller Kilometer mit dem ÖV und über 70 % als Fahrer oder Mitfahrer zurückgelegt. Für die LH Stuttgart selbst trägt der ÖV stark zur Verkehrsleistung bei. In ländlicheren Gebieten der Metropolregion sinkt dieser Anteil auf bis zu 12 %. In diesen Gebieten produziert der MIV über 80 % der Verkehrsleistung. Zu Fuß und das Fahrrad tragen übergreifend nur wenig zur Verkehrsleistung bei. Im Vergleich zu anderen urbanen Regionen, für die ebenfalls Ergebnisse der MiD-Studie vorliegen, zeigt sich für die Metropolregion Stuttgart, dass hier der MiV eine größere Rolle und das Fahrrad eine kleinere Rolle spielen. So liegt für die Metropolregion Hamburg der Modal Split für das Fahrrad bei 13 % und für die MIVFahrer bei 39 %. Auch im RMV-Gebiet wird häufiger das Fahrrad genutzt. Durch das große Gewicht von MiV und ÖV an der Verkehrsleistung sind beim Vergleich des Modal Splits für die Verkehrsleistung im Gegensatz zum Verkehrsaufkommen keine Unterschiede erkennbar.

12

KAPITEL EINS Ausgangslage und Aktuelle Situation in Stuttgart Lage und Verkehrsnetze

7

Landeshauptstadt Stuttgart, VEK 2030 Das Verkehrsentwicklungskonzept der Landeshauptstadt Stuttgart, Stuttgart 2013, S. 13.

Auszüge aus: infas, DLR, IVT und infas 360, Mobilität in Deutschland Kurzreport Europäische Metropolregion Stuttgart (im Auftrag des BMVI), S. 10 – 30. Erläuterung wichtiger Begriffe Hauptverkehrsmittel Werden auf einem Weg mehrere Verkehrsmittel genutzt, werden diese im Hauptverkehrsmittel nach einer Hierarchie zusammengefasst und das höchstrangige Verkehrsmittel wird gesetzt. Die Rangfolge lautet dabei ÖV, MIV, Fahrrad, zu Fuß. MIV Steht für „motorisierten Individualverkehr“, darunter werden das Auto, motorisierte Zweiräder (allerdings keine Elektrofahrräder), Lkw und weitere motorisierte Fahrzeuge verstanden. Öffentlicher Verkehr (ÖV) Umfasst alle öffentlichen Verkehrsmittel auch auf längeren Strecken (Nahverkehrsbusse, alle Bahnen, Fern- und Reisebusse, Flugzeug und Taxi). Modal Split Bildet die Aufteilung des Hauptverkehrsmittels nach Wegen oder nach Personenkilometern in prozentualen Anteilen oder auch in absoluten Angaben ab. Personenkilometer Ist eine Maßeinheit der Beförderungsleistung und umfasst die von einer oder allen Personen auf einem Weg oder in einer Zeiteinheit zurückgelegten Kilometer. Verkehrsaufkommen Stellt die absolute Anzahl oder die prozentuale Aufteilung aller in einem bestimmten Zeitraum von der Bevölkerung zurückgelegten Wege dar (z. B. pro Tag oder pro Jahr). Verkehrsleistung Stellt die absolute Anzahl oder die prozentuale Aufteilung aller in einem bestimmten Zeitraum von der Bevölkerung zurückgelegten Personenkilometer dar (z. B. pro Tag oder Jahr). Weg Die Befragten wurden gebeten, alle Wege anzugeben, die sie an einem bestimmten Tag unternommen haben. Unter einem Weg wird dabei die Strecke vom Ausgangspunkt zum Ziel für einen bestimmten Zweck verstanden. Bei Umstiegen oder Verkehrsmittelwechseln bleibt es ein Weg. Bei Unterbrechungen oder längeren Zwischenstopps werden es zwei Wege (etwa von der Arbeit nach Hause mit einem Einkaufszwischenstopp).

Außer-Haus-Anteile, Verkehrsaufkommen und Verkehrsleistung


Allgemeine Kennwerte und Verkehrsaufkommen nach regionalstatistischem Raumtyp (RegioStaR7) Anteil mobiler Personen pro Tag

Wege pro Person und Tag

Tagesstrecke pro Person und Tag

Unterwegszeit pro Person2

Deutschland

85 %

3,1

39 km

1 h 20 min

Baden-Württemberg

86 %

3,1

41 km

1 h 21 min

Metropolregion Stuttgart

87 %

3,1

39 km

1 h 21 min

Metropolregion ohne Region Stuttgart

86 %

3,1

40 km

1 h 20 min

Region Stuttgart

87 %

3,1

39 km

1 h 22 min

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

87 %

3,1

38 km

1 h 19 min

LH Stuttgart

87 %

3,2

39 km

1 h 32 min

Metropole (LH Stuttgart)

87 %

3,2

39 km

1 h 32 min

Regiopole und Großstadt

84 %

3,1

35 km

1 h 21 min

Mittelstadt, städtischer Raum

86 %

3,1

39 km

1 h 20 min

Stadtregionen

Kleinstadt, dörflicher Raum9 ländliche Regionen zentrale Stadt9

Mittelstadt, städtischer Raum

88 %

3,3

42 km

1 h 21 min

Kleinstädtischer, dörflicher Raum

87 %

3,1

46 km

1 h 17 min

Kennwerte zum Modal-Split im Jahr 2017 10 Verkehrsaufkommen

Verkehrsleistung

Deutschland Baden-Württemberg Metropolregion Stuttgart Metropolregion ohne Region Stuttgart Region Stuttgart Region Stuttgart ohne LH Stuttgart Stadtregion Metropole (LH Stuttgart) Regiopole und Großstadt Mittelstadt, städtischer Raum ländliche Region zentrale Stadt Mittelstadt, städtischer Raum Kleinstädtischer, dörflicher Raum Vergleichsregionen Frankfurt RMV-Gebiet Hamburg Metropolregion Hamburg

Zu Fuß

0

Fahrrad

Angaben in Prozent

25

50

75

100

0

25

50

75

100

ÖV MIV-Mitfahrer MIV-Fahrer

8 9 10

Ohne Wirtschaftsverkehr. Geringe Fallzahl. Eine Übersicht der prozentualen Anteile ist auf der folgenden Seite aufgeführt.

Kennwerte und Verkehrsaufkommen nach regionalstatistischem Raumtyp, Kennwerte Modal Split 2017

KAPITEL EINS Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart Lage und Verkehrsnetze

13


Kennwerte zum Modal-Split im Jahr 2017 11

Verkehrsaufkommen (Angaben in Prozent)

Zu Fuß

Fahrrad

ÖV

MIV-Mitfahrer

MIV-Fahrer

Deutschland

22

11

10

14

43

Baden-Württemberg

21

10

10

15

44

Metropolregion Stuttgart

21

7

10

16

46

Metropolregion ohne Region Stuttgart

22

7

7

16

48

Region Stuttgart

23

7

12

15

43

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

20

7

9

17

47

Metropole (LH Stuttgart)

29

8

23

9

31

Regiopole und Großstadt

25

9

8

14

44

Mittelstadt, städtischer Raum

22

8

9

16

45

Stadtregion

ländliche Region zentrale Stadt

23

5

7

20

45

Mittelstadt, städtischer Raum

18

7

7

17

51

Kleinstädtischer, dörflicher Raum

18

4

5

18

55

Vergleichsregionen Frankfurt

32

15

24

8

21

RMV-Gebiet

25

9

11

14

41

Hamburg

27

15

22

11

25

Metropolregion Hamburg

23

13

13

12

39

Verkehrsleistung (Angaben in Prozent)

Deutschland

3

3

19

20

55

Baden-Württemberg

3

3

20

21

53

Metropolregion Stuttgart

3

2

20

22

53

Metropolregion ohne Region Stuttgart

3

3

15

23

56

Region Stuttgart

3

2

25

21

49

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

3

2

21

22

52

Metropole (LH Stuttgart)

4

2

37

18

39

Regiopole und Großstadt

4

2

18

21

55

Mittelstadt, städtischer Raum

2

3

21

23

51

Stadtregion

ländliche Region zentrale Stadt

6

3

14

23

54

Mittelstadt, städtischer Raum

2

3

15

22

58

Kleinstädtischer, dörflicher Raum

2

2

12

22

62

Vergleichsregionen

11

Übersicht der genauen prozentualen Anteile der Abbildung von Seite 13.

14

Frankfurt

6

3

33

14

44

RMV-Gebiet

3

3

20

20

54

Hamburg

3

5

37

18

37

Metropolregion Hamburg

3

3

21

20

53

In den privaten Haushalten in Deutschland sind 2017 gut 43 Millionen Pkw verfügbar, bei einem verzeichneten Gesamtbestand von etwa 46 Millionen solcher Fahrzeuge, die jedoch nicht alle in Privathaushalten zur Verfügung stehen. Diese Bestandszahlen haben in den letzten Jahren weiterhin zugenommen. 2002 und 2008 lag der privat verfügbare Bestand noch knapp unter der Zahl der verzeichneten Haushalte. 2017 liegt er darüber und im Schnitt entfällt mehr als ein privat verfügbarer Pkw auf jeden Haushalt. Trotzdem besitzt, ähnlich wie 2008, etwa jeder fünfte Haushalt kein Auto. Auch in der Metropolregion Stuttgart besitzt jeder Haushalt mehr als ein Auto. Im Schnitt besitzt jeder Haushalt 1,2 Pkws. Dabei besitzen in der Metropolregion 16 % keinen eigenen Pkw, knapp 5 % der Haushalte aber drei und mehr. Die Ausstattung mit Pkws unterscheidet sich zwischen der LH Stuttgart und der übrigen Metropolregion. In der LH Stuttgart besitzen knapp 36 % der Haushalte keinen Pkw. In den größeren Städten der Metropolregion sinkt dieser Anteil auf 18 % und abseits der Großstädte haben weniger als 10 % der Haushalte keinen eigenen Pkw. Auffällig ist hier auch der große Anteil der Haushalte mit Mehrfach-Pkw-Besitz außerhalb der LH Stuttgart. Hier haben flächendeckend eine große Zahl der Haushalte zwei und mehr Pkws zur Verfügung. Einen starken Zusammenhang sieht man auch zwischen dem ökonomischen Status und dem Autobesitz. Statusschwache Haushalte besitzen deutlich seltener einen Pkw als Haushalte mit einem höheren ökonomischen Status. Bei den Haushalten mit höherem Status ist auch der hohe Anteil mit Mehrfachbesitz augenscheinlich. 73 % der Haushalte nennen in der Metropolregion Stuttgart zumindest ein fahrbereites Rad oder Elektrofahrrad ihr Eigen. Diese Zahlen liegen etwas unter den Werten für Deutschland und für Baden-Württem-

KAPITEL EINS Ausgangslage und Aktuelle Situation in Stuttgart Lage und Verkehrsnetze

Kennwerte Modal Split 2017


Auto- und Fahrradbesitz pro Haushalt nach Region und Status Autobesitz Deutschland

Fahrradbesitz12 22 %

Baden-Württemberg

18 %

53 %

21 %

54 %

24 %

26 %

Metropolregion Stuttgart

16 %

54 %

Metropolregion ohne Region Stuttgart

15 %

51 %

Region Stuttgart

16 %

56 %

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

10 %

3 %

4 %

77 %

5 %

29 %

73 %

5 %

23 %

58 %

78 %

72 %

4 %

74 %

27 %

5 %

75 %

Stadtregion Metropole (LH Stuttgart)

36 %

Regiopole und Großstadt

52 %

18 %

Mittelstadt, städtischer Raum

11 %

1 %

60 %

11 %

20 %

57 %

Kleinstadt, dörflicher Raum

2 %

45 %

70 %

2 %

28 %

68 %

4 %

74 %

47 %

7 %

74 %

ländliche Region zentrale Stadt

17 %

Mittelstadt, städtischer Raum

14 %

Kleinstädtischer, dörflicher Raum

12 %

51 %

28 %

50 %

29 %

48 %

4 %

67 %

6 %

32 %

78 %

8 %

73 %

Ökonomischer Status des Haushalts sehr niedrig niedrig mittel hoch sehr hoch

12

drei Autos und mehr

ein Auto

zwei Autos

kein Auto

35 %

50 %

13 %

47 %

37 %

15 %

13 %

67 %

9 %

4 %

2 %

3 %

17 %

41 %

42 %

40 %

45 %

67 %

62 %

2 %

64 %

9 %

11 %

89 %

85 %

Inklusive Elektrofahrräder und Pedelecs

berg. Es zeigen sich kleinere Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionstypen. In der LH Stuttgart ist die Fahrradbesitzquote deutlich niedriger als im Umland. Haushalte mit niedrigerem Einkommen besitzen deutlich seltener ein Fahrrad als Haushalte mit höherem Einkommen. Zwischen den niedrigen und hohen Klassen beträgt die Differenz fast 20 Prozentpunkte. Für ganz Deutschland ergibt sich hochgereicht eine Flotte von über 72 Millionen Fahrrädern, davon mehr als 4 Millionen mit Stromunterstützung. Im Vergleich zu den Städten Frankfurt und Hamburg findet sich für die Stadt Stuttgart eine deutlich höhere Autobesitzquote. So haben in der Stadt Frankfurt 47 % und in der Stadt Hamburg 43 % der Haushalte keinen Pkw. Auch für die Metropolregion Stuttgart liegen die Autobesitzanteile über den Vergleichsgebieten. Im gesamten RMV-Gebiet sind 20 % und in der Metropolregion Hamburg 27 % der Haushalte ohne Pkw. Der Fahrradbesitz für die LH Stuttgart liegt unterhalb der Besitzquoten für Frankfurt und Hamburg. In Frankfurt haben 80 % und in Hamburg 76 % der Haushalte mindestens ein Fahrrad oder Elektrofahrrad. Der Fahrradbesitz in der Metropolregion Stuttgart ist etwas geringer als im RMV-Gebiet. Hier haben 75 % der Haushalte ein Fahrrad oder Elektrofahrrad. In der Metropolregion Hamburg sind es 81 % der Haushalte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auch im Vergleich zu weiteren Metropolen und Metropolräumen der Autobesitz in der Metropolregion Stuttgart und der LH Stuttgart höher ist. Der Fahrradbesitz ist dagegen geringer. Auffällig ist jedoch, dass in der LH Stuttgart mehr Personen ein Elektrofahrrad besitzen, als in den übrigen deutschen Metropolen.

Besitz von Auto und Fahrrad

KAPITEL EINS Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart Lage und Verkehrsnetz

15


Verteilung der Nutzersegmente Das Auto ist in der Metropolregion das meistbenutzte übliche Verkehrsmittel. Über 50 % der Personen über 14 Jahren geben an, das Auto täglich zu nutzen. Weitere knapp 30 % geben an, das Auto an mindestens einem bis drei Tage in der Woche zu nutzen. Zusammen ergibt das ungefähr 80 % für die mindestens wöchentliche Nutzung. Für das Fahrrad ergeben sich für die mindestens wöchentliche Nutzung nur Werte von 11 und 15 %, für den ÖPNV von 15 und 9 %. Das Auto ist also für einen Großteil der Bevölkerung das meistbenutzte übliche Verkehrsmittel. Im Fernverkehr mit der Eisenbahn bei einer Entfernung ab 100 Kilometern ergibt sich ein Nicht-Nutzer-Anteil von etwas mehr als sechs von zehn Befragten. Auch bei längeren Reisen wird in der Metropolregion nicht auf die Möglichkeiten des öffentlichen Verkehrs zurückgegriffen. Eine keineswegs neue, aber doch immer wieder unterschätzte Option ist die des Zufußgehens. Hier zeigen die Ergebnisse, dass in der Metropolregion vier von zehn Personen täglich oder fast täglich zumindest einzelne ihrer Wege komplett zu Fuß zurücklegen. Weitere 28 % tun dies an mindestens einem Tag in der Woche. Verfügbarkeit Auto Metropolregion Stuttgart

Fahrradbesitz

80 %

Metropolregion ohne Region Stuttgart

81 %

Region Stuttgart

79 %

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

82 %

LH Stuttgart

66 %

Über die Ergebnisse zum Verkehrsaufkommen und der Verkehrsleistung hinaus ermöglicht die MiD bereits seit 2002 eine Betrachtung der üblichen Verkehrsmittelnutzung. Hierzu werden alle Personen im Alter ab 14 Jahren nach der üblichen Inanspruchnahme verschiedener Verkehrsangebote befragt. Dazu gehören seit 2017 auch der Fernbus sowie das reine Zufußgehen. Ebenso wird auf diese Weise nach der Carsharing-Nutzung sowie dem Fahren mit einem Leihrad gefragt. Die Antworten gestatten, anders als die Angaben zu den an einem zufällig ausgewählten Stichtag genutzten Verkehrsmitteln, Rückschlüsse auf generelle Nutzungsmuster. Kombiniert ermöglichen sie darüber hinaus eine aufschlussreiche Segmentierung.

13 %

7 %

12 %

7 %

14 %

73 % 72 %

7 %

12 %

75 %

6 %

20 %

76 %

14 %

69 %

jederzeit gelegentlich gar nicht

Die Angaben zu den einzelnen Verkehrsmitteln können miteinander verknüpft betrachtet werden. Orientiert an der täglichen und gelegentlichen Nutzung wurden neun Gruppen gebildet. Sie reichen von Wenig-Mobilen, die im Wochenverlauf kaum unterwegs sind, bis zu denjenigen die täglich fast ausschließlich mit dem Auto fahren und andere Angebote so gut wie gar nicht in Anspruch nehmen. Ebenso möglich wird eine Betrachtung der ­„regelmäßigen Vielfach-Nutzer“, hier mit der Definition, dass sie im Wochenverlauf in der Regel zumindest einmal das Auto, den ÖPNV und auch das Fahrrad wählen. In allen Gebieten außerhalb der LH Stuttgart stellen die täglichen ausschließlichen Autonutzer die Mehrheit. Hier gibt es nur sehr wenige Personen, die nur sehr selten das Auto nutzen oder häufiger andere Verkehrsmittel nutzen. In der LH Stuttgart selbst hingegen ist der Anteil der fast ausschließlich ÖPNV-Nutzenden geringfügig höher, als der Anteil der Autonutzenden. Flächendeckend niedrig ist der Anteil der Personen, die das Fahrrad häufiger als alle anderen Verkehrsmittel benutzen. Vergleicht man die Zahlen der Metropolregion Stuttgart mit dem RMV-Gebiet und der Metropolregion Hamburg, so zeigt sich der hohe Nutzungsgrad des Autos und der deutlich geringere Nutzungsgrad des Fahrrads und der öffentlichen Verkehrsmittel. Im RMV-Gebiet liegt der Anteil der ausschließlichen Autofahrer bei 46 %, in der Metropolregion Hamburg bei 37 %. Der Anteil der ÖV-Nutzer liegt im RMV-Gebiet bei 9 % und in der Metropolregion Hamburg bei 10 %. In beiden Vergleichsregionen liegen auch die Anteile der Fahrradfahrer bei 4 und 7 % und somit über dem Wert für die Metropolregion Stuttgart. Im Vergleich mit der LH Stuttgart liegen die Werte für Autofahrer in den Städten Frankfurt und Hamburg mit 17 % und 21 % darunter. Der Anteil der ÖV-Nutzer ist in der LH Stuttgart 2 bis 4 % höher als in den Vergleichsstädten. Der Anteil der multimodalen regelmäßigen ÖV und Autonutzern ist in der LH Stuttgart 5 bzw. 7 Prozentpunkte höher als in den Städten Frankfurt und Hamburg. Deutlich niedriger ist der Anteil in der LH Stuttgart derer, die regelmäßig nur das Fahrrad oder das Fahrrad in Kombination mit anderen Verkehrsmitteln nutzen. Häufigkeit der üblichen Verkehrsmittelnutzung13 in der Metropolregion Stuttgart zu Fuß

9 %

Fahrrad

34 %

12 %

Auto

26 %

ÖPNV

49 %

nie bzw. fast nie

13 14

9 %

10 %

Fernzüge14

39 %

seltener als monatlich

5 %

15 %

12 %

28 %

13 %

17 %

13 %

24 %

21 %

46 %

24 %

27 %

21 %

33 %

9 %

an 1 – 3 Tagen pro Monat

an 1 – 3 Tagen pro Woche

täglich bzw. fast täglich

Verkehrsmittelnutzung der Personen ab 14 Jahren. Züge ab 100 km einfache Entfernung.

16

KAPITEL EINS Ausgangslage und Aktuelle Situation in Stuttgart Verteilung der Nutzersegmente


Mobilitätssegmente nach üblicher Verkehrsmittelnutzung Monomodal

Multimodal

Monomodal

Multimodal

Metropolregion Stuttgart Metropolregion ohne Region Stuttgart Region Stuttgart Region Stuttgart ohne LH Stuttgart Stadtregion Metropole (LH Stuttgart) Regiopole und Großstadt Mittelstadt, städtischer Raum Kleinstadt, dörflicher Raum ländliche Region zentrale Stadt Mittelstadt, städtischer Raum Kleinstädtischer, dörflicher Raum

Autofahrer

Auto, Rad

ÖV-Nutzer

Auto, ÖV

Fahrradfahrer

Rad, ÖV Auto, Rad, ÖV keine Nutzung von Rad, Auto und ÖV

Multimodal

Monomodal Autofahrer

ÖV-Nutzer

Fahrradfahrer

Auto, Rad

Auto, ÖV

Rad, ÖV

Auto, Rad, ÖV

keine Nutzung von Rad, Auto und ÖV

Metropolregion Stuttgart

53

8

2

17

9

2

4

5

Metropolregion ohne Region Stuttgart

58

5

2

19

6

2

2

6

Region Stuttgart

47

11

2

16

12

3

5

4

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

54

6

2

19

11

2

4

2

Metropole (LH Stuttgart)

25

26

4

6

18

8

7

6

Regiopole und Großstadt

52

6

3

15

10

3

3

8

Mittelstadt, städtischer Raum

53

8

3

17

10

2

3

4

Kleinstadt, dörflicher Raum

71

3

5

10

3

1

6

1

zentrale Stadt

56

5

4

18

6

2

5

4

Mittelstadt, städtischer Raum

59

3

1

22

5

1

3

6

Kleinstädtischer, dörflicher Raum

65

3

1

21

4

1

1

4

Stadtregion

ländliche Region

Angaben in Prozent

Mobilitätssegmente nach üblicher Verkehrsmittelnutzung

KAPITEL EINS Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart Verteilung der Nutzersegmente

17


2017 sind bereits 4 % aller Haushalte der Metropolregion Stuttgart bei einem oder mehreren CarsharingAnbietern registriert. Dies bedeutet, dass mindestens ein Haushaltsmitglied über ein Kundenkonto verfügt. Dieser Anteil verteilt sich in einem Verhältnis von 3:1 auf Haushalte mit nur einer und solche mit mehreren Mitgliedschaften. Immerhin ein Viertel der Carsharing-Haushalte greift also bereits heute auf mehrere Anbieter zu. Die Carsharing-Reichweite unterscheidet sich deutlich nach Stadtgröße. In der Stadt Stuttgart haben knapp 15 % der Haushalte eine Mitgliedschaft bei mindestens einem Anbieter. Weitere 6 % haben sich bei mehreren Anbietern angemeldet. In der Region Stuttgart ohne die LH Stuttgart sinkt dieser Anteil kombiniert bereits auf 3 %. In der Metropolregion Stuttgart ohne die Region Stuttgart sinkt der Anteil der Haushalte mit Carsharing-Mitgliedschaft auf unter 2 %. Außerhalb der Großstädte verzeichnen diese Angebote also fast keine Kunden. Dies kann auf mangelnde Nachfrage aber natürlich auch auf das mangelnde Angebot zurückgeführt werden. Die Kundenzahlen für die Metropolregion Stuttgart sind vergleichbar mit den Zahlen für die Metropolregion Hamburg. In der LH Stuttgart sind im Vergleich zur Stadt Frankfurt und im Mittel über alle Deutschen Metropolen mehr Haushalte Carsharing-Kunden. Aufgrund der geringen Fallzahl ist für die Metropolregion Stuttgart eine Differenzierung der Carsharing-Nutzung nicht möglich. Carsharing-Mitgliedschaft

Elektrofahrrad im Haushalt

Metropolen Deutschland

86 %

4 %

Metropolregion Stuttgart

95 %

1 %

Metropolregion ohne Region Stuttgart

97 %

1 %

Region Stuttgart

93 %

2 %

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

97 %

1 %

LH Stuttgart

80 % bei einem Anbieter

Der Aspekt Carsharing wird in den letzten Jahren viel diskutiert. In dieser Auseinandersetzung wird ihm oft ein hohes Lösungspotenzial für eine umweltgerechtere Alltagsmobilität unterstellt. Bei der Auseinandersetzung mit den empirisch gemessenen Eckwerten zur Carsharing-Nutzung genügt die vordergründige ­Betrachtung der tatsächlichen Nutzung nicht. Bedingt durch die vielfältige Angebotslandschaft und die damit einhergehenden unterschiedlichen Konditionen der Anbieter muss zunächst differenziert werden zwischen der Mitgliedschaft in einer­CarsharingOrganisation bzw. dem Besitz einer Kundenkarte einerseits und der tatsächlichen Inanspruchnahme von Carsharing-Fahrzeugen andererseits. Hinzu kommt die Frage nach Einzel- oder Mehrfachmitgliedschaften bei verschiedenen Anbietern. Derartige Differenzierungen können mit den MiD-Ergebnissen vorgenommen werden. In der MiD nicht gefragt wurde dagegen nach verschiedenen Anbietermodellen wie etwa stationsgebundenen oder FreeFloating-Varianten.

10 %

3 %

4 %

10 %

1 %

10 %

5 %

9 %

2 %

6 %

10 % 15 %

bei mehreren Anbietern

6 % bei keinem Anbieter

Nutzung Carsharing an 1 – 3 Tagen in der Woche

6 %

an 1 – 3 Tagen im Monat

29 %

seltener

44 %

nie bzw. fast nie

20 %

Ein weiteres neues Mobilitätswerkzeug ist das Elektrofahrrad. Etwa 10 % der Haushalte in der Metropolregion besitzen mindestens ein Elektrofahrrad. Dieser Anteil liegt in der LH Stuttgart bei knapp 6 %. Das Elektrofahrrad ist also eine Entwicklung, die sich im Gegensatz zum Carsharing auch außerhalb der großen Metropolen abspielt. In der LH Stuttgart besitzen dennoch mehr Personen ein Elektrofahrrad als in den übrigen deutschen Metropolen. Auch wird das Elektrofahrrad häufig von älteren Personen genutzt. Auffällig ist der deutlich höhere Anteil von Elektrofahrrädern in Haushalten mit hohem Einkommen. Hinsichtlich des Zugangs zum ÖPNV wird in der MiD nach der üblichen Fahrkartenart gefragt. Die Mehrzahl mit 47 % benutzt die Einzelfahrkarte zu Fahrten mit dem ÖPNV. 15 % benutzen ein Monatsticket oder ein Jobticket. 21 % geben an, nie den ÖPNV zu nutzen. Dies unterscheidet sich allerdings deutlich zwischen der LH Stuttgart und dem Rest der Metropolregion. In der LH Stuttgart liegt der Anteil derer, die nie den ÖPNV benutzen bei 2 %. Im Rest der Metropolregion liegt dieser Anteil bei über 20 %. Auch besitzen in der LH Stuttgart deutlich mehr Personen eine Zeitkarte für den ÖPNV als im Rest der Metropolregion. Vergleicht man den Anteil derer, die angeben nie den ÖPNV zu nutzen, so ist dieser in der Metropolregion Hamburg deutlich niedriger und liegt bei 10 %. Im RMV-Gebiet sind die Anteile der Ticketnutzung vergleichbar mit der Metropolregion Stuttgart.

Üblicherweise in Anspruch genommene Fahrkartenarten im ÖPNV (Personenebene) Metropolregion Stuttgart

47 %

Metropolregion ohne Region Stuttgart

51 %

Region Stuttgart

44 %

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

49 %

LH Stuttgart

28 %

Angaben in Prozent

10 %

4 %

26 %

25

9 %

5 %

7 %

4 %

3 %

5 %

21 %

28 %

7 %

5 %

4 %

4 %

22 %

50 Monatskarte, im Abonnement, Jahreskarte (Umweltabo etc.) Wochenkarte, Monatskarte, ohne Abonnement

4 %

4 %

12 %

2 % 9 %

13 %

0

KAPITEL EINS Ausgangslage und Aktuelle Situation in Stuttgart Verteilung der Nutzersegmente

3 %

16 %

Einzelfahrschein, Tageskarte, Kurzstrecke Mehrfachkarte, Streifenkarte

18

3 %

15 %

19 %

13 %

75 Jobticket, Semesterticket, etc. (Firmenabo, Studententicket anderes

3 %

2 %

100

fahre nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln in meiner Region

Carsharing und ÖPNV


Zweck der zurückgelegten Wege Mobilität und Unterwegssein stehen nur selten als Selbstzweck für sich genommen. Zumeist werden Wege aus bestimmten Anlässen zurückgelegt. Die MiD erfasst diese Wegzwecke und stellt sie für die Auswertung zur Verfügung. Dazu gehören auch Startund Ankunftszeiten der berichteten Wege, mit deren Hilfe das Aufkommen über den Tagesverlauf abgebildet werden kann.

Wie bereits in den vorangegangenen Erhebungen werden bei der MiD sieben verschiedene Wegzwecke unterschieden. Dabei steht ein Block aus im weiteren Sinn beruflich bedingten Wegen Anlässen im Versorgungsund Freizeitbereich gegenüber. In dieser Aufteilung ist die Summe aller in irgendeiner Form beruflich bedingten Wegen kleiner als die der zusammengefassten übrigen Anlässe. In der Metropolregion lassen sich 31 % des Verkehrsaufkommens auf berufliche, dienstliche oder Ausbildungswege zurückführen. Der größte Einzelblock mit 31 % wird von den Freizeitwegen gestellt. In der LH Stuttgart werden sogar mehr als ein Drittel der Wege aufgrund eines Freizeitzwecks zurückgelegt. Dabei ist der Freizeitweg durchschnittlich 15,4 km weit und benötigt etwas mehr als eine halbe Stunde. Er ist damit ungefähr genauso lang wie ein Arbeitsweg, welche im Schnitt 15,9 km lang sind. Innerhalb der Metropolregion zeigen sich Unterschiede bei den nach Wegzwecken zurückgelegten Distanzen. So sind Arbeits-, Ausbildungs- und Einkaufswege außerhalb Stuttgarts deutlich länger als in Stuttgart. Personen, die in Stuttgart leben, legen dafür etwas längere Freizeitwege zurück. Dies führt in Kombination mit dem Verkehrsaufkommen zu einem relativ hohen Anteil an der Verkehrsleistung, der in Stuttgart auf den Freizeitverkehr entfällt. 47 % aller Kilometer in Stuttgart entfallen auf den Freizeitverkehr. Die meiste Zeit entfällt in der Metropolregion Stuttgart auf Arbeits-, Dienst- und Freizeitwege. Freizeitwege sind im Schnitt ­sogar länger als eine halbe Stunde. Arbeits- und Dienstwege dauern in der Metropolregion im Schnitt etwas weniger als eine halbe Stunde. Aber auch hier zeigen sich Unterschiede in der Metropolregion. So sind Arbeits-, Dienst-, und Freizeitwege von Personen in der LH Stuttgart länger als von Personen, die außerhalb der Metropole wohnen. Dafür müssen diese mehr Zeit auf Ausbildungs- und Einkaufswege verwenden

Wegzwecke nach Verkehrsaufkommen und -leistung und nach Startzeit des Weges Verkehrsaufkommen

Verkehrsleistung

Metropolregion Stuttgart Metropolregion ohne Region Stuttgart Region Stuttgart Region Stuttgart ohne LH Stuttgart LH Stuttgart Angaben in Prozent 0

25

50

75

100

0

Begleitung

Erledigung

Ausbildung

Freizeit

Einkauf

dienstlich / ­geschäftlich

25

50

75

100

zur Arbeit

Verkehrsaufkommen Begleitung

Freizeit

Erledigung

Einkauf

Ausbildung

dienstlich / geschäftlich

zur Arbeit

Metropolregion Stuttgart

8

31

14

16

6

10

15

Metropolregion ohne Region Stuttgart

8

31

14

16

6

11

15

Region Stuttgart

8

31

15

16

6

10

15

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

8

30

15

16

6

9

15

LH Stuttgart

7

34

13

15

5

11

15

Verkehrsleistung Begleitung

Freizeit

Erledigung

Einkauf

Ausbildung

dienstlich / geschäftlich

zur Arbeit

Metropolregion Stuttgart

5

38

11

6

4

16

19

Metropolregion ohne Region Stuttgart

6

37

12

7

3

16

19

Region Stuttgart

5

40

11

6

5

15

20

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

5

38

11

6

6

14

21

LH Stuttgart

5

47

10

5

2

17

15

KAPITEL EINS Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart Zweck der zurückgelegten Wege

19


Vergleicht man die Verteilungen der Wegzwecke mit den Verteilungen des RMV-Gebiets und der Metropolregion Hamburg, so zeigt sich ein ähnliches Muster. Allerdings sieht man, dass in der Metropolregion Stuttgart und auch für deren Teilgebiete der Anteil der Freizeitwege einige Prozentpunkte über dem Durchschnitt liegt. Dafür liegt der Anteil der Berufswege an allen Wegen für die Metropolregion etwas unterhalb der Werte der Vergleichsregionen. Betrachtet man die Verkehrsleistung, so sticht auch hier der hohe Anteil der Freizeitwege für die Metropolregion heraus. In der LH Stuttgart ist der Anteil der Freizeitwege deutlich über dem erwartbaren Wert. Wie in der LH Stuttgart sind die Arbeitswege in Hamburg knapp 13 km lang. In Frankfurt sind es 15 km, Ausbildungswege sind in der LH Stuttgart 2 km kürzer als in den beiden anderen Städten. Einkaufswege liegen auch bei den anderen Städten bei knapp 4 km. Für das Umland sind der Metropolregion Hamburg die Arbeitswege im Durchschnitt drei Kilometer länger. Das RMV-Gebiet unterscheidet sich hier nicht von der Metropolregion Stuttgart. Bei den Wegdauern zeigt sich, dass in der Metropolregion Hamburg etwas mehr Zeit für jeden Weg benötigt wird. Im RMV-Gebiet sind die Dauern ähnlich. Da in der MiD Start- und Ankunftszeiten der berichteten Wege erhoben werden, kann die zeitliche Aufteilung des Aufkommens betrachtet werden. Die nebenstehende Abbildung verteilt die Wege auf die verschiedenen Tageszeiten und differenziert gleichzeitig nach den vorgestellten Wegzwecken. Für den Berufsverkehr zeigt sich dabei weiterhin die bekannte Morgenspitze. Insgesamt gesehen ergeben sich jedoch für den Nachmittag und frühen Abend die höchsten Aufkommenswerte, wenn beruflich bedingte (Rück-)Wege mit anderen zu dieser Zeit erledigten Anlässen zusammenfallen. Bereits die Analysen, die zu den MiD Erhebungen 2002 und 2008 vorgelegt wurden, zeigen Unterschiede in der Verkehrsmittelnutzung zwischen verschiedenen Altersgruppen. Dabei haben sich vor allem Strukturvariablen im Hintergrund als erklärungskräftig erwiesen. Dies sind vor allem der Gebietstyp, in dem gelebt wird, die Lebensphase und die ökonomische Situation. Weniger ausschlaggebend sind einzelne Variablen wie etwa das Geschlecht oder die Altersgruppe. Zwar bestehen auch hinsichtlich dieser Merkmale ganz offensichtliche Unterschiede, aber nur als Ausdruck eines solchen Merkmals etwa für eine Lebensphase oder in Kombination mit der Lebensumgebung. So unterscheidet sich das Mobilitätsverhalten einer Vollzeit berufstätigen Frau wenig von dem eines ebenso tätigen männlichen Kollegen und eher von dem einer Geschlechtsgenossin gleichen Alters, die nicht im Berufsleben steht. Ebenso fallen die Unterschiede zwischen einem 25-jährigen Vater von Grundschulkindern und einem 35-Jährigen in ähnlicher Situation möglicherweise weniger deutlich aus als zwischen diesen beiden Altersgruppen generell. Die aktuelle MiD-Erhebung zeigt jedoch, dass sich vor allem zwei Effekte fortsetzen und gegenüber der von 2002 auf 2008 beobachteten Entwicklung verstärken. Dies sind die bereits länger zu konstatierende wachsende Auto-Orientierung der Seniorinnen und Senioren einerseits, sowie eine gegenläufige Entwicklung bei jungen Erwachsenen andererseits. Beides hat sich seit 2008 fortgesetzt. Insbesondere ältere Bürgerinnen und Bürger ab einem Alter von Mitte 70 sind aktiver und nutzen das Auto häufiger als entsprechende Altersgruppen vor 10 oder 20 Jahren. Dafür verantwortlich sind die weiterhin steigenden Führerscheinbesitzquoten, vor allem bei älteren Frauen, aber vielfach auch gute Lebensbedingungen bis in das hohe Alter sowie die Zugehörigkeit zur „Generation Auto“, prägend aufgewachsen seit den 50er Jahren. Übergreifend besitzen 90 % aller Personen über 18 einen PKW-Führerschein in der Metropolregion Stuttgart. Anders die Vorzeichen bei den jungen Erwachsenen. Sie sind weniger auto-orientiert als ihre Altersgenossen vor einem oder zwei Jahrzehnten in der gleichen Lebensphase. Diese Feststellung konzentriert sich jedoch auf ein städtisches Umfeld, das Alternativen bereithält und es ist nicht ausgemacht, ob sie diese etwas größere Autoabstinenz auch in den weiteren Lebensphase beibehalten. Während sich die meisten der hier beschriebenen Entwicklungen auch im Rest der Republik und allen anderen Ballungsräumen wiederfinden, ist jedoch der niedrige Fahrradanteil des Modal Splits bei den Jüngeren erstaunlich. Dieser liegt für die Metropolregion Stuttgart nur bei 11 %. Das ist nur halb so hoch im Vergleich zum RMV-Gebiet oder zur Metropolregion Hamburg. Stattdessen wird diese Altersgruppe deutlich häufiger mit dem Auto gefahren. Wenn der Anteil des MIVs am Verkehrsaufkommen gesenkt werden soll, wäre eine Möglichkeit, den Fahrradanteil in dieser Altersgruppe zu erhöhen. Ähnlich wie im gesamten Bundesgebiet zeigt sich für die Metropolregion Stuttgart, dass Personen in Haushalten mit niedrigerem Einkommen seltener unterwegs sind, dabei weniger Wege zurücklegen und dabei seltener auf den PKW als Fahrer zurückgreifen. Dafür spielt das zu Fuß gehen als Verkehrsmittel eine größere Rolle als in Haushalten mit größerem Einkommen. Hier wirkt sich die geringere Autobesitzquote in dieser Einkommensgruppe aus. Generell weisen diese Unterschiede auf eine Lücke zwischen Haushalten mit unterschiedlichen Einkommen hin. Diese können die Angebote des öffentlichen Lebens weniger wahrnehmen, was sich auf das Mobilitätsverhalten auswirkt. Haushalte mit weniger Ressourcen nehmen nur die Wege in Kauf, die sie müssen; Haushalte mit mehr Ressourcen können alle Wege zurücklegen, die sie wollen.

20

KAPITEL EINS Ausgangslage und Aktuelle Situation in Stuttgart Zweck der zurückgelegten Wege


Zufriedenheit mit Verkehrsangeboten Eine neue Perspektive eröffnet die MiD 2017 durch die Fragen nach der subjektiven Beurteilung verschiedener Verkehrsangebote sowie die individuelle Nutzungsaffinität. Beides liegt für eine Teilstichprobe aller Befragten vor und soll den Abschluss des Kurzreports bilden. Berücksichtigt wurden hierbei jeweils das Auto, der ÖPNV, das Radfahren sowie das Zufußgehen.

Unter den „richtigen“ Verkehrsmitteln schneidet das Auto am besten ab. Knapp über 60 % bewerten die Verkehrssituation mit gut oder sehr gut. Dieser Wert fällt in der LH Stuttgart angesichts der dort oft angespannteren Verkehrssituation deutlich niedriger aus und erreicht Werte von knapp über 30 %. In den kleinstädtischen und dörflichen Kommunen wird die 70-Prozent-Schwelle erreicht oder deutlich überschritten. Das Fahrrad liegt mit im Schnitt gut 50 % sehr guten und guten Bewertungen dahinter. Hier entfallen die etwas besseren Bewertungen erneut eher auf die Kommunen abseits der größeren Gemeinden. Für die LH Stuttgart wird die Situation auch hier kritischer gesehen. Mit kritischen Bewertungen muss sich der öffentliche Nahverkehr abfinden. Insgesamt wird er von den Befragten nur in vier von zehn Fällen mit sehr gut oder gut eingestuft. Circa 60 % greift hier dagegen zu einer Bewertungsstufe von „befriedigend“ oder schlechter. Nur in der LH Stuttgart überschreitet sein (sehr) guter Bewertungsanteil die 50-Prozent-Marke. Je kleiner die Gemeinde ist, desto schlechter wird der ÖPNV bewertet. Nicht vergessen werden soll auch hier die Bewertung des „Fußverkehrs.“ Immerhin wird etwa jeder fünfte

Zufriedenheit mit der Verkehrssituation in der Metropolregion Stuttgart am Wohnort Fahrradfahren Metropolregion Stuttgart Metropolregion ohne Region S ­ tuttgart Region Stuttgart Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

11 %

51 %

7 %

30 %

63 %

10 %

10 %

54 %

5 %

36 %

68 %

47 %

9 %

51 %

6 %

31 %

21 %

46 %

5 %

59 %

3 %

13 %

9 %

LH Stuttgart

26 %

Stadtregion

13 %

ländliche Region

Autofahren

11 %

8 %

13 %

9 %

26 %

13 %

8 %

ÖPNV Metropolregion Stuttgart Metropolregion ohne Region ­ tuttgart Stuttgart S

57 %

63 %

31 %

46 %

31 %

21 %

33 %

64 %

76 %

zu Fuß

16 %

43 %

41 %

3 %

17 %

41 %

17 %

44 %

38 %

4 %

15 %

38 %

43 %

3 %

19 %

43 %

39 %

3 %

18 %

39 %

57 %

3 %

24 %

57 %

55 %

3 %

15 %

55 %

31 %

5 %

Region Stuttgart

14 %

Region Stuttgart ohne LH Stuttgart

16 %

LH Stuttgart

9 %

Stadtregion

11 %

ländliche Region

26 %

sehr gut / gut

34 %

43 %

45 %

34 %

35 %

43 %

befriedigend / ausreichend

18 %

31 %

mangelhaft / ungenügend

Einstellung zur Verkehrsmittelnutzung in der Metropolregion Stuttgart im Alltag nach Altersgruppen fahre gerne mit dem Fahrrad

fahre gerne mit dem Auto

14 – 29 Jahre

50 %

50 %

26 %

74 %

30 – 64 Jahre

46 %

54 %

19 %

81 %

65 Jahre und älter

60 %

40 %

20 %

80 %

14 – 29 Jahre

62 %

38 %

20 %

80 %

30 – 64 Jahre

68 %

32 %

15 %

85 %

65 Jahre und älter

54 %

46 %

16 %

84 %

fahre gerne mit dem ÖPNV

stimme voll und ganz zu / stimme zu

gehe gerne zu Fuß

stimme nicht zu / stimme überhaupt nicht zu

KAPITEL EINS Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart Zufriedenheit mit Verkehrsangeboten

21


Weg weiterhin ausschließlich zu Fuß zurückgelegt. Probleme sieht nur eine Minderheit der Befragten und vier von fünf greifen zu einer Bewertung mit sehr gut oder gut. Sie fällt bis auf Regionen in dörflicher Umgebung mit etwas schlechteren Beurteilungen relativ einhellig gut aus. Ob Verbesserungen trotzdem möglich sind und vielleicht zum Zuzugehen ermutigen können, bleibt hier dahingestellt. Ein ganz ähnliches Bild zeichnet sich bei der Frage danach ab, wie gerne man die verschiedenen Angebote grundsätzlich nutzt – also zumindest teilweise unabhängig von der aktuellen Bewertung. Auch hier erweist sich das Auto unter den eigentlichen Verkehrsmitteln mit Abstand als der Favorit. Fast 80 % der Bevölkerung in der Metropolregion stimmt in diesem Fall voll und ganz bzw. Grundsätzlich zu. Diese Zustimmungsraten ziehen sich durch alle Altersgruppen, mit einem kleinen Plus bei den mittleren und höheren Jahrgängen, deren Alltag das Auto am meisten prägt. Der alltäglich vielerorts mühsame Autoverkehr kann diese grundsätzliche Orientierung also eher nicht beeinträchtigen. Das Fahrrad findet sich mit im Schnitt gut 50 % Zustimmung auf dem zweiten Platz wieder – mit den höchsten Werten bei der mittleren Altersgruppe und der größten Zurückhaltung bei den Seniorinnen und Senioren. Dies gilt altersbedingt ebenso für das Gehen zu Fuß. Die Werte zum Fahrradverkehr sind deutlich niedriger als in vergleichbaren urbanen Ballungsräumen in Deutschland. Vor allem bei den Jüngeren steht in der Metropolregion Stuttgart der Fahrradverkehr nicht so hoch in der Beliebtheit. Gleichfalls einig – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen – sind sich alle Altersgruppen in Sachen Nicht-ÖPNV-Vorliebe. Insgesamt gibt nur etwas mehr als ein Drittel an, gerne Bus oder Bahn zu fahren. Diese Zustimmung erreicht bei den Seniorinnen und Senioren die höchste Ausprägung mit knapp unter 50 %. Bei den Jüngeren sind es knapp unter 40 %, die dem ÖPNV wohlgesonnen sind. Gefragt nach Bus und Bahn urteilen jedoch vor allem die mittleren Altersgruppen sehr zurückhaltend. Nur etwa 30 % zählen hier zu den ÖPNV-Überzeugten – erneut ein Signal für ein gewisses Unbehagen und die Notwendigkeit besserer Angebote im öffentlichen Verkehr, wenn dieser mit einem steigenden Anteil zu einer Verkehrswende beitragen soll. Auch im Vergleich zum RMV-Gebiet und zu der Metropolregion Hamburg erhält der ÖPNV in der Metropolregion Stuttgart eine schlechte Bewertung.

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KAPITEL EINS Ausgangslage und Aktuelle Situation in Stuttgart Zweck der zurückgelegten Wege


Berufspendler in ­B aden-Württemberg aus: Baden-Württemberg erlebt derzeit einen Beschäftigungsboom. Das bedeutet auch, dass tagtäglich mehr Men- Auszüge Ursula Bauer-Hailer, Dr. Ulrike Winkelmann, „Über 3 Millionen Berufspendler täglich unterwegs“, in „Statistisches Monatsheft schen von ihrer Wohnung zur Arbeit pendeln. Die aktuelle Berufspendlerrechnung Baden-Württemberg weist Baden-Württemberg 10/2015“, S. 3 – 7. für 2013 rund 5,4 Millionen Erwerbstätige am Wohnort nach. Davon pendelten 3,1 Millionen täglich zur Arbeit © Statistisches Landesamt Baden‑Württemberg in andere Gemeinden und 2,3 Millionen arbeiteten in ihrer Wohngemeinde. Wie bereits in den Vorjahren nahm die Zahl der Pendler über Gemeindegrenzen stärker zu als die Zahl der Erwerbstätigen, die in ihrer Wohngemeinde arbeiten. Der seit Jahren zu beobachtende Trend der langsam aber stetig steigenden Mobilität hat sich weiter fortgesetzt. Um der Verkehrs- und Regionalplanung in Baden-Württemberg Daten zum Berufsverkehr und der Verflechtung Die Zahl der Berufspendler über Gemeindegrenzen hat in der regionalen Arbeitsmärkte bereitzustellen, ermittelt das Statistische Landesamt alle 2 Jahre im Rahmen der Berufspendlerrechnung die Tagespendlerströme zwischen Wohn- und Arbeitsortgemeinde der Erwerbstätigen. den letzten 25 Jahren immer mehr zugenommen. So pendelten im Jahr Auch diejenigen Erwerbstätigen, die in ihrer Wohngemeinde arbeiten, werden berechnet. Zum Kreis der berücksichtigten Erwerbstätigen zählen: 1987 laut Volkszählung 42 von 100 Erwerbstätigen in Baden-Württemberg – sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (73 %), – ausschließlich geringfügig entlohnte Beschäftigte (13 %), aus ihrer Wohngemeinde aus. Im Jahr 2013 waren es nach der aktuellen – Beamte, Richter, Beamtenanwärter, Dienstordnungs­angestellte sowie Berufs und Zeitsoldaten (5 %) Berufspendlerrechnung fast 58 von 100 Erwerbstätigen, die auf ihrem – Selbstständige (10 %). Datengrundlage der Berufspendlerrechnung sind die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit, die PersonalstandWeg zur Arbeit mindestens eine Gemeindegrenze überschritten. Die Mostatistik, der Mikrozensus und die Volkszählung 1987. Die beiden letztgenannten Datenquellen dienen der Schätzung der Pendelverflechtung der Selbstständigen. Im Unterschied zu den übrigen Erwerbstätigengruppen gibt es bilität der Erwerbstätigen im Südwesten ist auch deshalb so hoch, weil für die Selbstständigen keine aktuelle Statistik, die Arbeits- und Wohngemeinde ausweist. Die Berufspendlerrechnung erfasst Erwerbstätige, die in Baden-Württemberg wohnen die Arbeitsplätze räumlich deutlich konzentrierter als die Wohnorte der und arbeiten oder zur Arbeit über die Landesgrenze ein- oder auspendeln. Damit werden auch Arbeitsmarktverflechtungen mit den umliegenden Bundesländern und teilweise auch dem benachbarten Ausland nachgewiesen. Erwerbstätigen sind. So waren im Jahr 2013 gut 900 der 1 101 GemeinAllerdings sind Berufspendler, die in Baden-Württemberg wohnen und im benachbarten Ausland arbeiten, mangels verfügbarer Daten nicht erfasst. Alle Datensätze der Erwerbstätigen wurden daraufhin überprüft, ob die Entden im Land per Saldo reine Auspendlergemeinden. […] fernung zwischen Wohn- und Arbeitsort ein tägliches Pendeln realistisch erscheinen lässt. Die aufgrund der Prüfkriterien unplausiblen Datensätze wurden nicht in die Pendlerrechnung aufgenommen. 3,1 Millionen Erwerbstätige pendeln täglich von ihrem Wohnort zur Arbeit in andere Gemeinden. Dabei verteilen sich die Pendler auf 132 000 verschiedene Pendlerströme bzw. Wohnort-Arbeitsort-Kombinationen. Fast zwei Drittel (86 500) dieser Pendlerströme sind dabei mit weniger als fünf Pendlern besetzt. Diese Vielzahl der kleinen Pendlerströme umfasst daher nur knapp 5 % des gesamten Pendlervolumens. Gut 41 % des Pendlervolumens konzentrieren sich dagegen auf die 1 100 größten Pendlerströme mit jeweils 500 und mehr Pendlern. Über die Hälfte des Pendlervolumens entfallen auf jene 44 000 Pendlerströme im Land, die von 5 bis 499 Erwerbstätigen besetzt sind. Wie viele Erwerbstätige ein Pendlerstrom zählt, hängt wesentlich von der Größe und Attraktivität des Arbeitsortes ab. Aber auch die Größe des Wohnorts und seine Entfernung vom Arbeitsort spielen eine Rolle. Sehr anschaulich wird dies an den beiden größten Pendlerströmen, die gleichzeitig auch Einpendlerströme über die Landesgrenze Baden-Württembergs sind. Rund 15 000 Erwerbstätige pendelten 2013 von Ludwigshafen zur Arbeit nach Mannheim, knapp 12 000 Erwerbstätige von Neu-Ulm nach Ulm. Ballungsräume mit einem großen Angebot hoch qualifizierter Arbeitsplätze und einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur ziehen Berufspendler aus einem weiteren Umkreis an als ländlich-periphere Räume abseits der großen Metropolen. Dies spiegelt sich in der durchschnittlichen Länge der Arbeitswege der Berufspendler nach Größe des Arbeitsortes wider. Danach haben die Großstädte in Baden-Württemberg deutlich größere Pendlereinzugsgebiete als die übrigen Städte und Gemeinden im Land. Während die durchschnittliche Entfernung des Wohnorts von Einpendlern in Großstädte im Jahr 2013 gut 22 km Luftlinie betrug, waren es bei Einpendlern in Gemeinden unter 10 000 Einwohnern gerade einmal 13 km. Im Landesdurchschnitt war für fast zwei Drittel aller Berufspendler der Wohnort weniger als 15 km vom Arbeitsort entfernt, während nur bei jedem 20. der Arbeitsweg länger als 50 km war und dies obwohl Baden-Württemberg ein großes Flächenland ist. Abbildung 1 Allerdings sind hier im Südwesten die Arbeitsplätze nicht allein auf einen Länge der Arbeitswege (Luftlinie) der Berufspendler in Baden-Württemberg 2013 nach Gemeindegröße des Arbeitsortes Standort konzentriert, sondern auf mehrere Arbeitsmarktzentren ver100 000 und mehr (Großstädte) 22,1 km teilt (Abbildung 1). 50 000 – 100 000 16,6 km Je höher der Pendlersaldo, also die Differenz zwischen Ein25 000 – 50 000 15,4 km pendlern und Auspendlern, desto größer ist die Bedeutung einer Stadt 10 000 – 25 000 14,3 km als Arbeitsmarktzentrum für ihr Umland. Von den 1 101 Gemeinden Baunter 10 000 12,7 km den-Württembergs wiesen im Jahr 2013 nur 197 Gemeinden einen positiven Pendlersaldo auf. Die Städte mit den höchsten Pendlersalden und damit die wichtigsten Arbeitsmarktzentren Baden-Württembergs liegen 1 Als Schätzgröße für die Länge des Arbeitsweges dient bei Pendlern über Gemeindein den Ballungsräumen. Zusammen vereinten diese 15 Städte knapp ein grenzen die Luftlinienentfernung zwischen den Mittelpunkten der Wohn- und der Arbeitsgemeinde. Drittel der Einpendler und der Arbeitsplätze des Landes auf sich. Spitzenreiter beim Einpendlerüberschuss waren wie schon in den Vorjahren Abbildung 2 nach der Landeshauptstadt Stuttgart die Städte Karlsruhe und MannEinpendler, Auspendler und Erwerbstätige , die in ihrer Wohngemeinde arbeiten, der 3 größten Arbeitsmarktzentren in Baden-Württemberg 2013 heim (Abbildung 2). Der Berufsverkehr ist nach dem Freizeitverkehr der Stuttgart, Stadtkreis zweitwichtigste Verkehrszweck im Personenverkehr. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) errechnete, dass fast ein Fünftel der Mannheim, Stadtkreis rund 1 200 Milliarden Personenkilometern, die in Deutschland 2011 mit dem Auto, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Fahrrad Karlsruhe, Stadtkreis zurückgelegt wurden, auf das Konto der täglichen Wege von und zur Arbeit gingen. Es ist davon auszugehen, dass der Berufsverkehr in Baden-­ Einpendler Auspendler Erwerbstätige, die in ihrer Württemberg einen vergleichbaren Anteil am Personenverkehr hat. Wohngemeinde arbeiten Berufsverkehr ist auch in Baden-Württemberg immer noch überwiegend motorisierter Individualverkehr. Bei der Verkehrsmittelwahl 2 Erwerbstätige, soweit in der Berufspendlerrechnung als Tagespendler oder innergekam es in den vergangenen Jahren nur zu marginalen Veränderungen. meindliche Pendler nachgewiesen. 1

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KAPITEL EINS Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart Berufspendler in Baden-Württemberg

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Ein Trend weg vom motorisierten Individualverkehr und hin zu umweltfreundlicheren Alternativen lässt sich nicht beobachten. Laut Mikrozensus 20123 legten fast 70 % der Erwerbstätigen die Wegstrecke zur Arbeit überwiegend als Fahrer bzw. Mitfahrer im Auto oder mit dem motorisierten Zweirad zurück. Dabei bestehen deutliche Unterschiede zwischen Erwerbstätigen, die in ihrer Wohngemeinde arbeiten und Pendlern über Gemeindegrenzen. Die Hälfte der Erwerbstätigen, die in derselben Gemeinde wohnen und arbeiten, aber 84 der Pendler zwischen den Gemeinden des Landes legen die Wegstrecke zur Arbeit überwiegend mit dem eigenen motorisierten Fahrzeug zurück. Ein wesentlicher Grund für die Unterschiede in der Verkehrsmittelwahl von Pendlern und Erwerbstätigen, die am Wohnort arbeiten, ist darin zu sehen, dass letztere wesentlich häufiger Abbildung 3 kurze Wege haben, die sich auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewältiVerkehrsmittelwahl im Berufsverkehr 2012 gen lassen (Abbildung 3). Neben der Qualität des Arbeitsplatzangebots beeinflusst 3 12 14 auch die Größe einer Gemeinde die Wahrscheinlichkeit, dort neben einer 38 Wohnung einen passenden Arbeitsplatz zu finden. Wegen der hohen Einwohner-Arbeitsplatzdichte liegt der Anteil der Erwerbstätigen, die in derselben Gemeinde wohnen und arbeiten, in den Großstädten mit 69 % deutlich über dem Landesdurchschnitt von 42 %. Es gibt aber auch Ge50 meinden im Ländlichen Raum, in denen besonders viele Erwerbstätige 84 ihren Arbeitsplatz am Wohnort selbst haben. Erwerbstätigte , die in ihrer WohngemeinPendler zwischen den Gemeinden des Den höchsten Anteil von Erwerbstätigen, die in der gleichen de arbeiten Landes Gemeinde wohnen und arbeiten, weist Konstanz mit 80 % auf. Allerdings öffentliche Pkw (inkl. Mitfahzu Fuß oder mit ist die Aussagekraft dieses Wertes eingeschränkt. Erwerbstätige, die in ­Verkehrsmittel rer, motorisiertes dem Fahrrad Zweirad, sonstige) Konstanz wohnen und in der Schweiz arbeiten, sind in der Pendlerrechnung mangels Datengrundlage nicht erfasst. Auch am rückläufigen Anteil der Erwerbstätigen, die in der4 Erwerbstätige mit Angaben zum für die längste Strecke benutzten Verkehrsmittel selben Gemeinde wohnen und arbeiten, wird der seit Jahren zu beobachund der Lage der Arbeitsstätte; nur Personen, die von der hiesigen Wohnung zur ­Arbeitsstätte pendeln; ohne Erwerbstätige, die auf dem gleichen Grundstück wohnen tende Trend der langsam aber stetig steigenden Mobilität deutlich. Laut und arbeiten. Datenquelle: Mikrozensus 2012, Hochrechnung auf Basis der VZ 1987. Berufspendlerrechnung 2007 wohnten und arbeiteten im Jahr 2005 durchschnittlich noch rund 45 % der Erwerbstätigen in ein und derselben Gemeinde. Zudem war die Zahl der Gemeinden, in denen über zwei Drittel der Erwerbstätigen ihren Arbeitsplatz am Wohnort selbst hatten, deutlich höher (25 Gemeinden). Ob für den Mobilitätsanstieg Standortverlagerungen von Betrieben verantwortlich sind oder für neue besser bezahlte Arbeitsplätze längere Arbeitswege in Kauf genommen werden, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Auch eine Verbesserung der Infrastruktur oder der Verkehrsanbindung kommt zumindest regional als Ursache der gestiegenen Mobilität in Betracht. 3

Im Rahmen des Mikrozensus wird alle 4 Jahre, zuletzt im Jahr 2012, das Pendlerverhalten der Erwerbstätigen erhoben.

4

4

Ein großer Teil der Erwerbstätigen, die in den großen Arbeitsplatzzentren des Landes leben, arbeitet in der Wohngemeinde. Erwerbstätige, die in kleineren Gemeinden ohne oder mit geringer Arbeitsplatzzentralität wohnen, pendeln dagegen deutlich häufiger zur Arbeit aus ihrer Wohngemeinde aus. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie dabei besonders weite Arbeitswege in Kauf nehmen müssen. Tatsächlich wird die durchschnittFolgt man aktuellen Untersuchungen1 zum Thema Mobilität und Berufspendler, so lassen sich die wesentlichen liche Länge der Arbeitswege der Erwerbstätigen in Baden-Württemberg Einflussfaktoren auf die Länge der täglichen Arbeitswege mit den folgenden Aussagen umreißen. – Männer legen auf dem Weg zur Arbeit im Durchschnitt größere Entfernungen zurück von der Zentralität und Lage der Wohngemeinde kaum beeinflusst. Daund sind entsprechend länger unterwegs als Frauen. – Teilzeitstellen befinden sich aufgrund der kürzeren Arbeitszeit in der Regel in größerer gegen gibt es Hinweise darauf, dass die Qualität der Verkehrsanbindung Nähe zum Wohnort als die Vollzeitstellen. – Je höher das Haushaltseinkommen ist, desto höher ist der Zeitaufwand für das tägliche des Wohnortes Einfluss auf die als Luftlinienentfernung gemessene Pendeln zur Arbeit. Pendelentfernung hat. Demnach wird das Pendlerverhalten und damit auch die zurückgelegte Pendelentfernung der Erwerbstätigen in erster Linie von persönlichen Merkmalen beeinflusst. Die Gegebenheiten am Wohnstandort spielen dagegen eine geringere Rolle. Datengrundlage der zitierten Untersuchungen sind in der Regel die Pendlerverflechtung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland auf Kreisebene oder die Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes. Die Berufspendlerrechnung Baden-Württemberg erfasst Wohn- und Arbeitsort der erwerbstätigen Tagespendler im Land auf Gemeindeebene. Als ungefähre Anhaltsgröße für die Länge der Arbeitswege wurden der Pendlerrechnung die jeweiligen Luftlinienentfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsort zugespielt. Auf dieser Grundlage wurde für Baden-Württemberg untersucht, ob sich zusätzlich zu den individuellen Einflussgrößen auf die Pendelentfernung räumliche Unterschiede innerhalb des Landes identifizieren lassen. Von 100 Erwerbstätigen in Baden-Württemberg pendelten im Jahr 2005 im Durchschnitt rund 55 zur Arbeit aus ihrer Wohngemeinde aus, etwa 45 arbeiteten in ihrer Wohngemeinde. Wie hoch diese Anteile für eine einzelne Gemeinde ausfallen, hängt wesentlich davon ab, wie hoch ihre Bedeutung als ArbeitsplatzzentZentrale Orte sind Gemeinden (gelegentlich auch mehrere Gemeinden zusammen), denen – laut Landesplanung – rum ist. Ihre Lage in einer eher ländlichen oder eher verdichteten Region die Aufgabe der überörtlichen Versorgung der Gemeinden in ihrem Einzugsbereich zukommt. Für die Untersuchung der Pendlerverflechtung sind in erster Linie die beiden oberen Stufen des Zentrale-Orte-Systems – Ober- und ist dagegen von geringerer Bedeutung (vgl. Tabelle 1). Die räumlichen Mittelzentren – interessant. – Oberzentren sollen als Standorte großstädtischer Prägung die Versorgung einer Region Ausprägungen des Pendlerverhaltens werden im Folgenden anhand dreimit hoch qualifizierten und spezialisierten Einrichtungen und Arbeitsplätzen gewährleisten. er Gemeindetypen mit unterschiedlicher Arbeitsplatzzentralität darge– Mittelzentren sollen als Standorte eines vielfältigen Angebots höherwertiger Einrichtungen und Arbeitsplätze den gehobenen spezialisierten Bedarf decken (LEP 2002, stellt. Diese Gemeindetypen lehnen sich an das Zentrale-Orte-System S.20f). – Unter- und Kleinzentren haben als Arbeitsplatzzentrum eine geringere Bedeutung. Es des Landesentwicklungsplans Baden-Württemberg 2002 an, teilweise handelt sich in der Regel um kleinere Städte im Land, die in ihrem Einzugsgebiet vor allem die Grundversorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglich wiederkehrenauch an die Raumkategorien: den Bedarfs gewährleisten sollen. Die vier Raumkategorien unterteilen die Fläche des Landes dagegen nach ihrer Siedlungsstruktur : – „Kernstädte“ sind die 9 Großstädte im Land: Freiburg im Breisgau, – Verdichtungsräume sind großflächige Gebiete mit stark überdurchschnittlicher Siedlungsverdichtung und intensiver innerer Verflechtung („Ballungsräume“). Heidelberg, Heilbronn, Karlsruhe, Mannheim, Pforzheim, Reutlingen, – Randzonen der Verdichtungsräume bilden das Umland der Verdichtungsräume mit erheblicher Siedlungsverdichtung. Stuttgart, Ulm. Diese Oberzentren gehören zu den wichtigsten ArAls Ländlicher Raum wird die übrige Fläche des Landes bezeichnet, untergliedert in die – Verdichtungsbereiche im Ländlichen Raum als Stadt-Umland-Bereiche mit erheblicher beitsmarktzentren des Landes. Gleichzeitig gelten sie als Kerne der Siedlungsdichtung und den – Ländlichen Raum im engeren Sinne. Dieser umfasst die großflächigeren Gebiete mit Verdichtungsräume. meist deutlich unterdurchschnittlicher Siedlungsdichte und hohem Freiraumanteil – „Ober- und Mittelzentren (OZ / MZ)“ sind die übrigen Städte im Land, 5 Vgl. Landesentwicklungsplan Baden-Württemberg 2002, denen laut Landesentwicklungsplan die Funktion eines Schwerpunktes hoch qualifizierter bzw. höherS.15f. wertiger Arbeitsplätze innerhalb ihres Einzugsbereiches zukommt. Hierzu gehören beispielsweise die

Dr. Ulrike Winkelmann, „Berufspendler in Baden-Württemberg – Wo sind die Arbeitswege am längsten?“, in „Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 8/2008“, S. 35 – 40. © Statistisches Landesamt Baden‑Württemberg

5

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KAPITEL EINS Ausgangslage und Aktuelle Situation in Stuttgart Berufspendler in Baden-Württemberg


Tabelle 1

Berufspendler in Baden-Württemberg 2005 nach Gemeindetypen

Raumkategorie / Gemeindetyp (Anzahl Gemeinden)

Erwerbstätige, die in ihrer ­ ohngemeinde arbeiten, je 100 W Erwerbstätige am Wohnort7

Auspendler je 100 Einwohner

Einpendler je 100 Erwerbstätige am Arbeitsort6

Arbeitsplatzdichte: Erwerbstätige am Arbeitsort7 je 100 Einwohner

Kernstädte (> 100 000 Einwohner) in den V ­ erdichtungsräumen (9)

72

12

54

66

Ober- und Mittelzentren ­insgesamt davon in den Verdichtungsräumen (39) Randzonen um die Verdichtungsräume (16) Verdichtungsbereichen der Ländlichen Räume (14) Ländlichen Räumen i. e. S. (35)

54 49 52 67 58

20 22 21 15 19

57 62 55 51 52

56 58 51 59 53

Klein- und Unterzentren ­insgesamt davon in den Verdichtungsräumen (63) Randzonen um die Verdichtungsräume (67) Verdichtungsbereichen der Ländlichen Räume (16) Ländlichen Räumen i. e. S. (190)

35 28 32 36 41

30 34 31 29 27

54 63 55 58 47

35 36 32 39 36

Nicht zentrale Orte insgesamt davon in den Verdichtungsräumen (119) Randzonen um die Verdichtungsräume (133) Verdichtungsbereichen der Ländlichen Räume (27) Ländlichen Räumen i. e. S. (383)

25 22 23 24 28

36 37 36 36 33

60 65 62 61 53

29 29 29 30 28

Baden-Württemberg

45

25

56

46

6

Pendler über Gemeindegrenzen und Erwerbstätige soweit in der Pendlerrechnung erfasst.

Städte Baden-Baden (OZ), Freudenstadt (MZ), Leonberg (MZ), Konstanz (OZ), Schwäbisch Hall (MZ) oder Sigmaringen (MZ). 1 zeigt, dass bezüglich der Pendlerindikatoren nur – „Sonstige Gemeinden“ umfasst als Restkategorie die Unter- und Kleinzentren im Land sowie alle Gemein- 7 Tabelle geringe Unterschiede zwischen Unter- und Kleinzentren und den Gemeinden ohne Zentralität bestehen. 7 den ohne überörtliche Versorgungsfunktion. 8 Als Schätzgröße für die Länge des Arbeitsweges dient bei Pendlern über Gemeindegrenzen die Luftlinienentfernung Je höher die Zentralität und damit die Bedeutung einer Wohngemeinde als Arbeitsplatzzentrum ist, desto größer zwischen den Mittelpunkten der Wohn- und der Arbeitsgemeinde, bei Erwerbstätigen, die in der Wohngemeinde arist der Anteil der Erwerbstätigen, die dort sowohl wohnen als auch arbeiten und desto niedriger ist die Ausbeiten, der Radius der als Kreis gedachten Gemeindefläche. Die tatsächlich zurückzulegende Weglänge schwankt je pendlerquote. In den Kernstädten der Verdichtungsräume arbeiten fast drei Viertel der Erwerbstätigen am nach Verkehrsmittel und topografischen Gegebenheiten. Die Luftlinienentfernung sollte als Schätzgröße daher nur Wohnort, in den übrigen Oberzentren und den Mittelzentren sind es im Schnitt mehr als die Hälfte (vgl. Tabelle 1). für großräumige Vergleiche herangezogen werden. Ober- und Mittelzentren in den eher ländlichen Regionen des Landes weisen dabei sogar höhere Anteile von Erwerbstätigen auf, die in der Wohngemeinde arbeiten, als vergleichbare Zentren in den verdichteten Räumen. Bei Letzteren wirkt sich die Sogkraft anderer nahe gelegener Arbeitsplatzzentren, vor allem der Kernstädte, offenbar stärker aus (Abbildung 4). […] Abbildung 4 Erwerbstätige, die in ihrer Wohngemeinde arbeiten, haben – Erwerbstätige (in Tausend) in Baden- Württemberg 2005 nach Wohnort und Pendlerverhalten im Landesdurchschnitt – einen kürzeren Arbeitsweg als Berufspendler, Wohnort in Kernstädten 241 die zur Arbeit aus ihrer Wohngemeinde auspendeln.8 Insofern drängt 615 sich zunächst die Vermutung auf, dass Erwerbstätige mit Wohnsitz in Wohnort in Ober- und 665 „sonstigen Gemeinden“ im Durchschnitt längere Arbeitswege haben als Mittelzentren 792 Erwerbstätige in Arbeitsplatzzentren. Die durchschnittlichen LuftlinienWohnort in sonstigen 1 765 entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsort nach Zentralität des Gemeinden 763 Wohnortes widersprechen dieser Vermutung allerdings. Sie zeigen für alle Gemeindetypen nur geringe Abweichungen vom LandesdurchAuspendler über GemeindeErwerbstätige, die in ihrer schnitt, der bei 10,3 km liegt. Für die Erwerbstätigen in sonstigen Gemeingrenzen Wohngemeinde arbeiten den fallen hohe Auspendlerquote und leicht unterdurchschnittliche ­Pendelentfernung von 9,9 km zusammen. 9 Erwerbstätige am Arbeitsort, soweit in der Berufspendlerrechnung nachgewiesen. Die geringen Unterschiede in der Länge der Arbeitswege stehen im Einklang mit den eingangs zitierten Untersuchungen, die den die durchschnittliche Luftlinienpendelentfernung Gegebenheiten am Wohnort einen geringen Einfluss auf die zurückgelegten Pendelentfernungen zusprechen.10 10 Auch nach Raumkategorien zeigt nur geringe Abweichungen vom Landesdurchschnitt. Für Baden-Württemberg könnte dieses Ergebnis in dem Sinne interpretiert werden, dass es keine systematiVgl. Winkelmann, U.: Berufspendler, S. 33. hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Berufspendschen wohnortbedingten Ungleichheiten in der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen gibt. Dies gilt allerdings nur 11 Darüber lerrechnung nur Tagespendler erfasst. Wochenendpendler sind nicht enthalten. unter der Voraussetzung, dass Entfernungen überall gleich schnell überwunden werden können und die Attraktivität der erreichbaren Arbeitsplätze gleich ist. Beides kann hier mangels verfügbarer Daten nicht überprüft werden.11 […] ist der angenommene Arbeitsweg der ErwerbsIn der durchschnittlichen Pendelentfernung der Erwerbstätigen wirkt sich zum einen die Pendler- 12 Zusätzlich tätigen, die am Wohnort arbeiten, umso länger je größer der Wohnort ist. struktur – wie viele Erwerbstätige pendeln aus bzw. arbeiten in der Wohngemeinde – zum anderen die Entfernung aus, die die Auspendler zwischen Wohn- und Arbeitsgemeinde zu überwinden haben.12 Um Unterschiede zwischen den Gemeindetypen genauer erkennen zu können, werden im Folgenden nur diejenigen Erwerbstäti9

KAPITEL EINS Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart Berufspendler in Baden-Württemberg

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13

Erwerbstätige soweit in der Berufspendlerrechnung erfasst.

Tabelle 2

Durchschnittliche Pendelentfernung in Baden-Württemberg 2005 nach Wohnort Erwerbstätige13 insgesamt

Abbildung 5 Berufsauspendler in Baden-Württemberg 2005 nach Wohnort und Pendelentfernung Wohnort in Kernstädten Wohnort in Ober- und Mittelzentren Wohnort in sonstigen Gemeinden

Abbildung 6 Berufseinpendler in Baden-Württemberg 2005 nach Arbeitsort und Pendelentfernung Wohnort in Kernstädten Wohnort in Ober- und Mittelzentren Wohnort in sonstigen Gemeinden

Luftlinienentfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort in Kilometern unter 15

25 bis unter 50

14

Einpendler aus anderen Gemeinden des Landes, aus den benachbarten Bundesländern, aus Frankreich oder aus der Schweiz.

15

Datenquelle: Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder.“ Für die 35 Landkreise ließ sich kein entsprechender Zusammenhang feststellen. Dies widerspricht jedoch nicht zwangsläufig dem für die Stadtkreise beobachteten Ergebnis. Die verwendeten Indikatoren sind in diesem Fall Durchschnittswerte über alle kreisangehörigen Gemeinden – Arbeitsplatzzentren ebenso wie „Wohngemeinden“ –, sodass die Nivellierungseffekte innerhalb des Kreises einen eventuell bestehenden Zusammenhang zwischen dem Pendlereinzugsgebiet einer Gemeinde und der Höhe des dort zu erzielenden Einkommens überdecken Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Eckey / Kosfeld / Türck a. a. O.

16

17

18

Auswertung für Erwerbstätige mit Wohn- und Arbeitsort in Baden-Württemberg.

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Darunter Auspendler über Gemeindegrenzen

Wohnort in Kernstädten (> 100 000 Einwohner) Ober- und Mittelzentren sonstigen Gemeinden

11,6 10,1   9,9

23,3 16,3 12,8

Baden-Württemberg insgesamt

10,3

14,6

km (Luftlinie)

gen betrachtet, die zur Arbeit aus ihrer Wohngemeinde auspendeln. Für die Auspendler zeigen sich sehr viel deutlichere Unterschiede in der durchschnittlichen Pendelentfernung als bei den Erwerbstätigen insgesamt. Auspendler aus Kernstädten pendeln im Durchschnitt annähernd doppelt so weit wie Berufspendler mit Wohnort in sonstigen Gemeinden (vgl. Tabelle 2). Die im Durchschnitt geringere Pendelentfernung der Auspendler aus sonstigen Gemeinden ergibt sich erstens aus einem sehr hohen Anteil von Pendlern über niedrige Distanzen: Für rund 72 % liegen zwischen Wohn- und Arbeitsgemeinde weniger als 15 km Luftlinie. Zweitens ist der Anteil derer, die über mindestens 50 km Luftlinienentfernung pendeln, mit 2 % sehr niedrig. Ein umgekehrtes Bild zeigt sich bei Auspendlern aus den großen Kernstädten der Verdichtungsräume. Dort ist der Anteil der Auspendler über große Entfernungen mit knapp 12 % relativ hoch, der Anteil der Auspendler über geringe Entfernungen mit 54 % vergleichsweise niedrig. […] Die Gemeindetypen, aus denen besonders weit ausgependelt wird – Kernstädte, Ober- und Mittelzentren – sind gleichzeitig durch eine hohe Arbeitsplatzdichte geprägt. Weite Pendelentfernungen in BadenWürttemberg werden demnach nicht durch ein mangelndes Arbeitsplatzangebot verursacht. Eher könnten die Qualität und Schnelligkeit der Verkehrsanbindung eine Rolle spielen. Diese Städte verfügen als Arbeitsmarktzentren meist über eine gute Verkehrsanbindung an das Straßen- und Schienenverkehrsnetz. Hinzu kommt, dass Auspendler aus Kernstädten, Ober- und Mittelzentren, zumindest zu Beginn ihres Arbeitsweges, gegen den Hauptverkehrsstrom pendeln. Wenn die Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort von diesen Städten aus besonders komfortabel und schnell überwunden werden kann, so wird diese Zeitersparnis möglicherweise in längere Pendelstrecken umgesetzt. […] Die bisherigen Betrachtungen konzentrierten sich auf die Pendelentfernungen in Abhängigkeit vom Wohnort der Erwerbstätigen. Um mehr über die Einflussgrößen des Pendlerverhaltens zu erfahren, wird nun der Blick ausgehend von den Arbeitsorten auf deren Einzugsgebiete gerichtet. Mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze in Baden-Württemberg wird durch Einpendler besetzt.14 Dies gilt gleichermaßen für fast alle Gemeindetypen. Für ein gutes Viertel der Pendler in Baden-Württemberg sind die Kernstädte der Verdichtungsräume das Ziel ihres täglichen Wegs zur Arbeit. Mit gut 20 km überwindet diese Pendlergruppe eine fast 15 bis unter 25 50 und mehr doppelt so große Luftlinienentfernung wie die Einpendler in „sonstige Gemeinden.“ Insgesamt wiederholen sich bei den Einpendlerentfernungen nach Arbeitsort die Muster, die bereits bei den Auspendlerentfernungen nach Wohnort zu beobachten waren. Dies macht die Gegenüberstellung der Abbildungen 5 und 6 deutlich: Kernstädte weisen die höchsten Anteile von Aus- und Einpendlern über Luftlinienentfernungen von 50 km und mehr auf, sonstige Gemeinden dagegen die höchsten Anteile von Aus- und Einpendlern in der niedrigsten Entfernungsklasse bis 15 km. Damit stellt sich erneut die Frage nach Einflussgrößen der Pendelentfernung. […] Ein möglicher Zusammenhang zwischen der Qualität der Verkehrsanbindung und der Pendelentfernung lässt sich hier mangels verfügbarer Daten nicht überprüfen. Eingeschränkt möglich ist eine Überprüfung der Beziehung zwischen der Attraktivität eines Arbeitsmarktes und der Größe seines Einzugsgebietes bzw. der durchschnittlichen Einpendelentfernung anhand des Indikators „Arbeitnehmerentgelt je Erwerbstätigen.“15 Dieser Indikator ist nur auf Kreisebene verfügbar, sodass eine Analyse nach Gemeindetypen nicht möglich ist. Für die neun Stadtkreise in Baden-Württemberg dagegen lässt sich ein signifikanter positiver statistischer Zusammenhang zwischen der Höhe der dort zu erzielenden Einkommen und der Länge der Einpendlerentfernung feststellen.16 Damit könnte die Höhe des Einkommens in Baden-Württemberg ein Faktor sein, der Pendler über längere Entfernungen in Arbeitsplatzzentren zieht.17 […] Die Verlagerung von Arbeitsplätzen aus den großen Zentren ins Umland hat in den letzten Jahrzehnten zu einer teilweisen Auflösung des klassischen Pendelmusters – Wohnen in einer Umlandgemeinde und Arbeiten in dem jeweiligen Arbeitsmarktzentrum der Region – geführt. Bisher wurde gezeigt, dass sowohl Ein- als auch Auspendler in bzw. aus Gemeinden niedriger oder ohne Zentralität im Durchschnitt kürzere Pendelentfernungen zurücklegen als andere Pendler. Vor dem Hintergrund, dass die Stadt-Umland-Wanderung in der ­Regel mit einer Zunahme von Verkehrsproblemen in Verbindung gebracht wird, erscheint dies widersprüchlich. Daher werden abschließend die Pendlerströme im Land18 nach ihrer Ausrichtung im Zentrale-Orte-System, ihrer Länge und der durchschnittlichen Zahl der Pendler je Pendlerstrom untersucht (Tabelle 3). Nach den Ergebnissen der Pendlerrechnung pendelt in Baden-Württemberg gut die Hälfte aller übergemeindlichen Pendler im Zentrale-Orte-System „aufwärts.“ Das bedeutet: Wohnen in einer Gemeinde mit niedriger bzw. ohne Zentralität und Arbeiten in einem Mittelzentrum, Oberzentrum oder der Kernstadt eines Verdichtungsraumes. Zu einem kleineren Teil auch: Wohnen im Mittel- oder Oberzentrum und Arbeiten in einer Kernstadt. Ein knappes Drittel der übergemeindlichen Pendler in Baden- Württemberg pendelt horizontal, das heißt Wohn- und Arbeitsort sind in ihrer Bedeutung als Arbeitsmarktzentrum in etwa gleichrangig. Meist sind Wohn-

KAPITEL EINS Ausgangslage und Aktuelle Situation in Stuttgart

Berufspendler in Baden-Württemberg


und Arbeitsort eine Gemeinde ohne oder mit geringer Zentralität (22 %), seltener sind beide Orte Mittel- bzw. Oberzentren (8 %) oder Kernstädte (1,2 %). Die übrigen Berufspendler pendeln in der Zentrenhierarchie abwärts, das heißt aus einer Kernstadt bzw. einem Ober- oder Mittelzentrum in eine Gemeinde niedrigerer Zentralität. In der groben Unterscheidung nach aufwärts gerichteten, horizontalen und abwärts gerichteten Pendlerströmen zeigen sich nur geringe Unterschiede in der Pendelentfernung (Tabelle 3). Bei weiterer Differenzierung nach Zentralität des Wohn- bzw. Arbeitsortes bestätigt sich zum einen, dass die durchschnittliche Pendelentfernung besonders groß ist, wenn der Arbeits- oder der Wohnort eine Kernstadt ist. Zweitens zeigt sich, dass horizontale Pendlerströme zwischen „sonstigen Gemeinden“ tatsächlich die geringste durchschnittliche Pendelentfernung aufweisen. Die Siedlungsentwicklung der letzten Jahre ist, insoweit sie zu einer Verlagerung von aufwärts gerichteten zu horizontalen Pendlerströmen geführt hat, noch nicht als das Verkehrsaufkommen steigernd einzustufen. Eine größere Rolle hat dabei vermutlich die Zunahme der Zahl der übergemeindlichen Pendler gespielt.19 […] Tabelle 3

19

Vgl. Winkelmann, U.: Berufspendler, S. 31.

Berufspendler in Baden-Württemberg 2005 nach Pendlerstromarten

Richtung des ­Pendlerstroms im ­Zentrale-Orte-System

Berufspendler20 über Gemeindegrenzen Verteilung auf die Pendlerstromarten

durchschnittliche Pendelentfernung

Prozent   50,7

km (Luftlinie) 14,8

durchschnittliche Pendlerzahl je WohnortArbeitsort-Kombination Anzahl   68

22,5   28,2

18,4 12,0

174   46

Horizontale22 Pendlerströme davon mit Wohn- und Arbeitsort in Kernstädten > 100 000 Einwohner Ober- und Mittelzentren sonstigen Gemeinden

31,8

13,2

17

1,2     8,2   22,4

44,8 17,3 10,0

602   71   12

Abwärts23 gerichtete Pendlerströme davon mit Wohnort in Kernstädten >100 000 Einwohner Ober- und Mittelzentren

17,5

13,6

34

6,8   10,8

16,7 11,6

73   25

Alle Pendlerströme

100,0

14,1

32

Aufwärts21 gerichtete Pendlerströme davon mit Arbeitsort in Kernstädten > 100 000 Einwohner Ober- und Mittelzentren

20 21 22 23

Berufspendler mit Wohn- und Arbeitsort in Baden-Württemberg. Pendeln in eine Gemeinde höherer Zentralität. Pendeln in eine Gemeinde gleicher Zentralität. Pendeln in eine Gemeinde niedrigerer Zentralität.

Im Zusammenhang mit der umweltschonenden Organisation des Berufsverkehrs sind Pendlerströme zwischen sonstigen, also meist kleineren, ­ emeinden allerdings kritisch zu sehen. Attraktive und wirtschaftliche ÖPNV-Angebote können nur auf Strecken gemacht werden, die von sehr vielen G Berufspendlern genutzt werden. Diese Voraussetzung ist bei Pendlerströmen zwischen kleineren Gemeinden seltener gegeben. Folgende Zahlen mögen dies veranschaulichen: Zwischen den Gemeinden Baden-Württembergs waren 2005 rund 2,6 Millionen Berufspendler auf fast 82 000 verschiedenen Wohnort-Arbeitsort-Kombinationen, hier als Pendlerströme bezeichnet, unterwegs. Dies sind im Schnitt 32 Berufspendler je Pendlerstrom (Tabelle 2). Auf den aufwärts gerichteten Pendlerströmen in Baden-Württemberg sind mit durchschnittlich 68 Pendlern deutlich mehr Erwerbstätige unterwegs. Pendlerströme zwischen sonstigen Gemeinden sind dagegen im Durchschnitt mit nur 12 Pendlern besetzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier der Weg zum Arbeitsort mit dem Privatauto zurückgelegt wird, ist hoch.

Verkehrsmittelwahl im Berufsverkehr 201624 Statistisches Landesamt Baden‑Württemberg, Verkehrsmittelwahl im Berufsverkehr 2016, Datenquelle: Mikrozensus 2016, Hochrechnung auf Basis Zensus 2011. URL: https://t1p.de/rt0q (zuletzt abgerufen am 17.06.2020). © Statistisches Landesamt Baden‑Württemberg, 2019

24

25

Erwerbstätige mit Angaben zum für die längste Strecke benutzten Verkehrsmittel und der Lage der Arbeitsstätte, nur Personen, die von der hiesigen Wohnung zur Arbeitsstätte pendeln, ohne Erwerbstätige, die auf dem gleichen Grundstück wohnen und arbeiten. Pendlersaldo: Einpendler in die Gemeinde minus Auspendler aus der Gemeinde.

Personenkreis

Erwerbstätige, die in ihrer Wohngemeinde arbeiten Pendler zwischen den ­Gemeinden des Landes

Für die längste Strecke benutztes Verkehrsmittel öffentliche ­Verkehrsmittel

PKW (inkl. Mitfahrer, mot. Zweirad, Sonstige)

zu Fuß oder mit dem Fahrrad

11,8 %

49,4 %

38,8 %

13,1 %

84,1 %

2,9 %

Berufsverkehr ist auch in Baden‑Württemberg überwiegend motorisierter Individualverkehr. Dabei bestehen deutliche Unterschiede zwischen Erwerbstätigen, die in ihrer Wohngemeinde arbeiten und Pendlern über die Gemeindegrenzen. Laut Mikrozensus 2016 legte knapp die Hälfte der Erwerbstätigen, die in derselben Gemeinde wohnen und arbeiten, aber 84 % der Pendler zwischen den Gemeinden des Landes die Wegstrecke zur Arbeit überwiegend als Fahrer bzw. Mitfahrer im Auto oder mit dem motorisierten Zweirad zurück. Ein wesentlicher Grund für die Unterschiede in der Verkehrsmittelwahl von Pendlern und Erwerbstätigen, die am Wohnort arbeiten, ist darin zu sehen, dass letztere wesentlich häufiger kurze Wege haben, die sich auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewältigen lassen. Berufspendlersaldo25 in Stuttgart 2017 Statistisches Landesamt Baden‑Württemberg, Berufspendlersaldo in den Gemeinden Baden-Württembergs 2017, Datenquelle: Berufspendlerrechnung 2019. URL: https://t1p.de/3xvd (zuletzt abgerufen am 21.05.2020). © Statistisches Landesamt Baden‑Württemberg, 2019

Einpendler

Auspendler

Erwerbstätige am Wohnort

265 192

96 293

314 628

Pendlersaldo je 1 000 ­Erwerbstätige am Wohnort + 536,8

Je höher der Pendlersaldo […] desto größer ist die Bedeutung einer Stadt als Arbeitsmarktzentrum für ihr Umland. Von den 1 101 Gemeinden Baden-Württembergs wiesen im Jahr 2017 nur 197 Gemeinden einen positiven Pendlersaldo auf.

Berufspendler in Baden-Württemberg

KAPITEL EINS Ausgangslage und aktuelle Situation in Stuttgart

27


KAPITEL 2


Verkehr, Umwelt und Luftqualität in Stuttgart und ­Baden-Württemberg


Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Stuttgart und Baden-Württemberg Luftverunreinigungen: Entstehung und Wirkungen aus: Landeshauptstadt Stuttgart, Amt für Umweltschutz, Luftverunreinigungen im Sinne des BImSchG sind Veränderungen der natürlichen Zusammenset- Auszüge Abt. Stadtklimatologie, „Luftverunreinigungen: Entstehungen und Wirkungen“, URL: https://t1p.de/6x1z (zuletzt abgerufen am zung der Luft, insbesondere durch Rauch, Ruß, Staub, Gase, Aerosole, Dämpfe oder Geruchsstoffe. Da in un- 02.06.2020). © Landeshauptstadt Stuttgart, Amt für Umweltschutz, serer Umgebungsluft heutzutage leicht einige hundert oder auch tausend luftverunreinigende Komponenten Abt. Stadtklimatologie vorhanden sind und viele davon nicht oder nur mit kaum vertretbarem technischen Aufwand messbar sind, ist man im Bereich der Luftreinhaltung übereingekommen nur sogenannte Leitkomponenten zu erfassen, die dann in aller Regel stellvertretend für eine ganze Gruppe von Schadstoffen stehen. Die Emissionen Im Zusammenhang mit unserer Umwelt ist die Emission die von einer Quelle (Emittent) ausgehende Freisetzung Mit denen vom Land erhobenen Emissionskatastern für den Großraum von festen, flüssigen oder gasförmigen Stoffen in die Atmosphäre. Die Emissionen können sowohl natürlichen Ursprungs als auch durch die Zivilisation bedingt (anthropogen) sein. Durch natürliche Ereignisse wie Waldbrände, Stuttgart liegen seit 1997 beziehungsweise 1998 nun auch aktualisierte Vulkanausbrüche (Emission von z. B. Ruß, Schwefeldioxid) und Sandstürme gelangen Schadstoffe in die Atmosphäre. Pflanzen emittieren Pollen sowie organische Gase, Sümpfe dagegen Methan. Anthropogen bedingte Emissionen Daten flächenhaft für das gesamte Stadtgebiet vor (Fortschreibung der stammen vor allem aus Verkehr, Industrie und Landwirtschaft. Beispiele hierfür sind die Schadstoffemissionen der Kraftfahrzeuge, die von einer Anlage ausgehenden Luftverunreinigungen oder Geräusche, der StraßenverkehrsErhebungen von 2012). Verkehrsbedingte Emissionen werden bodennah, lärm und die Funkwellen von Sendemasten. Durch das Bundes-Immissionsschutzgesetz werden die Emissionen im Rahmen von Gedas heißt in unmittelbarer Nähe zu den Passanten freigesetzt. Bei den nehmigungen und Anordnungen begrenzt, mit dem Ziel Menschen, Tiere, Pflanzen, Böden, Gewässer sowie Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu schützen. Stickoxiden, beim Kohlenmonoxid und bei den organischen Verbindungen liefert der Verkehr in Stuttgart inzwischen den größten Anteil an den aus: Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg, Emissionen. Er liegt beim Kohlenmonoxid bei 88 %, bei den Stickoxiden bei 68 % und bei den organischen Ver- 1 Auszüge Informationen zur Luftqualität: Begriffsbestimmung, URL: https://t1p.de/49dv (zuletzt abgerufen am 02.06.2020). bindungen bei 69 %. Bei den Feinstaubpartikeln variiert der Anteil verkehrsbedingter Emissionen an den Ge© Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg samtemissionen sehr stark je nach Standort. An stark verkehrsbeeinflussten Standorten kann der Anteil der Verkehrsemissionen an den Gesamtfeinstaubemissionen bei bis zu 50 % liegen. Die Leitkomponenten Stickstoffoxide (NOx) Im Sinne der Luftreinhaltung von übergeordneter Bedeutung sind die beiden Stickstoffoxide: Stickstoffmonoxid (NO) und Stickstoffdioxid (NO2). Diese entstehen vor allem durch Verbrennungsprozesse bei der Energieerzeugung und im motorisierten Straßenverkehr. In Stuttgart werden heute Stickoxide größtenteils durch den Straßenverkehr emittiert. Bei Verbrennungsprozessen entsteht durch die Oxidation des in Brennstoffen oder in der Luft enthaltenen Stickstoffs überwiegend Stickstoffmonoxid. Das emittierte Stickstoffmonoxid wird durch weitere Oxidation in der Atmosphäre zu Stickstoffdioxid. Ozon (O3) Ozon ist ein sogenannter Sekundärluftschadstoff, d. h. Ozon wird nicht, wie andere Luftschadstoffe, ­direkt emittiert, sondern wird in der Atmosphäre aus Vorläufersubstanzen unter Einwirkung der Sonneneinstrahlung erzeugt (photochemische Reaktion). Zu den Vorläufersubstanzen gehören Stickstoffoxide (NOx) und leichtflüchtige Kohlenwasserstoffe (VOC), z. B. Lösungsmittel. Da speziell die Abgase des Kfz-Verkehrs sowohl Stickstoffoxide als auch leichtflüchtige Kohlenwasserstoffe enthalten, haben diese in Stuttgart einen großen Einfluss auf die Ozonbildung. Schwefeldioxid (SO2) Schwefeldioxid entsteht vorwiegend bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe in Industrie, Haushalten und KfzVerkehr sowie bei der Eisen- und Stahlerzeugung, Zellstoffherstellung, Schwefelsäure- und Düngemittelproduktion. In Stuttgart entsteht Schwefeldioxid heute hauptsächlich in privaten Feuerungsanlagen in denen schwefelhaltige Brennstoffe wie Kohle, Heizöl etc. verbrannt werden. Kohlenmonoxid oder auch Kohlenstoffmonoxid (CO) Kohlenmonoxid entsteht bei allen unvollständigen (unsauberen) Verbrennungsprozessen. In Stuttgart sind die größten Quellen für das Kohlenmonoxid der Straßenverkehr und private Feuerungsanlagen. Kohlenmonoxid gilt auch als Leitsubstanz für un- oder nur teilweise verbrannte Kohlenwasserstoffe. Partikelförmige Luftverunreinigungen (Feinstaub PM10, Feinststaub PM2.5 und Rußpartikel) Partikelförmige Luftverunreinigungen entstehen durch eine Vielzahl von natürlichen und anthropogenen (vom Menschen verursacht) Prozessen. Die wichtigsten anthropogenen Quellen sind Verbrennungsprozesse, industrielle Fertigungsprozesse und der Verkehr (Reifen- und Bremsabrieb, Aufwirbelung von am Straßenbelag haftenden Partikeln und Motoremissionen). Im Sinne der Luftreinhaltung werden partikelförmige Luftverunreinigungen in verschiedene Korngrößenfraktionen unterteilt. Partikelförmige Luftverunreinigungen mit Partikeldurchmessern von maximal 10 μm werden als Feinstaub (PM10 ) und mit Partikeldurchmessern von maximal 2,5 μm werden als Feinststaub (PM2.5 ) bezeichnet. PM steht für den englischen Begriff „Particulate Matter“ für partikelförmige Substanz. Partikelförmige Luftverunreinigungen mit Durchmessern größer als 10 μm werden als Grobstaub bezeichnet. Aufgrund ihrer hohen Toxizität werden die, zu den sehr feinen Partikeln (PM0.1 ) zählenden, Rußpartikel in der Luftreinhaltung oftmals gesondert betrachtet. Der Anteil der anthropogenen Partikel an der atmosphärischen Gesamtpartikelmasse ist je nach betrachtetem Standort sehr variabel und liegt in urbanen Gebieten bei etwa 50 %. In Stuttgart liegt der Anteil anthropogener Partikel in etwa zwischen 40 und 60 % der atmosphärischen Gesamtpartikelmasse. Bei der standortspezifischen Beurteilung partikelförmiger Luftver1

30

KAPITEL ZWEI Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Stuttgart und Baden-Württemberg

Entstehung und Arten von Luftverunreinigungen


unreinigungen muss auch der atmosphärische Transport von Partikeln von weiter entfernten Quellen, berücksichtigt werden. Die wichtigsten Quellen für anthropogene Partikel in Stuttgart sind der Straßenverkehr und Feuerungsanlagen. Benzol (C6H6 ) Benzol ist eine organische, chemische Verbindung die in Kraftstoffen (Benzin) enthalten ist. In Stuttgart wird Benzol heute hauptsächlich mit den Abgasen des Straßenverkehrs emittiert, kann aber auch aus Kraftstofftanks verdunsten. Benzol ist die Leitsubstanz für die chemische Gruppe der Aromaten.

Bestand an Kraftfahrzeugen im Land Baden-Württemberg (in Millionen Fahrzeugen) seit 1999 nach Fahrzeugart2

Bestand an Kraftfahrzeugen in Millionen Fahrzeugen

8 7 6 1

5 2

4 3 2 1 3 4

0

1999 1 2

2

2000

2001

2002

Kraftfahrzeuge insgesamt8 Personenkraftwagen

2003 3 4

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2014

2015

2016

2017

2018

2019

Krafträder Lastkraftwagen

Kraftomnibusse, Zugmaschinen und sonstige Fahrzeuge wurden aufgrund mangelnder Relevanz (zu geringe Bestandszahlen) nicht in der Grafik berücksichtigt. Bis 2000: Stichtag 1. Juli des Jahres, ab 2001: Stichtag 1. Januar des Jahres, ab 2006: Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie 1999 / 37 / EG werden auch Fahrzeuge mit besonderer ­Zweckbestimmung (Wohnmobile, Krankenwagen, Bestattungswagen und Beschussgeschützte Fahrzeuge) zu den Personenkraftwagen gezählt, bis 2007: nach dem Kfz-Standort; einschließlich Kfz, die im entsprechenden Bezirk zugelassen wurden, deren Standort sich jedoch außerhalb des Kreises befand, ab 2008: nach dem Wohnsitz des Halters bzw. dem ­Firmensitz, der Niederlassung oder der Dienststelle. Nur noch angemeldete Fahrzeuge ohne vorübergehende Stilllegungen /Außerbetriebsetzungen.

Bestand an Kraftfahrzeugen im Stadtkreis Stuttgart (in Tausend Fahrzeugen) seit 1999 nach Fahrzeugart3

Bestand an Kraftfahrzeugen in Tausend Fahrzeugen

400 350 1

300

2

250 200 150 100 50 3 4

0 1999 1 2

3

2000

2001

2002

Kraftfahrzeuge insgesamt4 Personenkraftwagen

2003 3 4

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

Krafträder Lastkraftwagen

Leichtkrafträder, Zugmaschinen und sonstige Fahrzeuge wurden aufgrund mangelnder Relevanz (zu geringe Bestandszahlen) nicht in der Grafik berücksichtigt. Bis 2000 jeweils Juli, ab 2001: jeweils Januar, ab 2006: Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie 1999 /37 / EG werden auch Fahrzeuge mit besonderer Zweckbestimmung (Wohnmobile, Krankenwagen, Bestattungswagen und Beschussgeschützte Fahrzeuge) zu den Personenkraftwagen gezählt, bis 2007: nach dem Kfz-Standort; ohne Kfz, die im entsprechenden Bezirk zugelassen wurden, deren Standort sich jedoch außerhalb des Kreises befand sowie ohne Kfz, deren Gemeinde nicht eindeutig zuordenbar war, ab 2008: nach dem Wohnsitz des Halters bzw. dem Firmensitz, der Niederlassung oder der Dienststelle. Nur noch angemeldete Fahrzeuge ohne vorübergehende Stilllegungen /Außerbetriebsetzungen. Ohne Busse.

4

KAPITEL ZWEI Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Stuttgart und Baden-Württemberg Bestand an Kraftfahrzeugen in Baden-Württemberg und Stuttgart

31


Anzahl der PKW je 1 000 Einwohner im Stadtkreis Stuttgart seit 19995 600

500

400

Anzahl der PKW je 1 000 Einwohner

300

200

100

0 1999 5

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2016

2017

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

Seit 1998 jährlich. Stichmonat bis 2000 Juli, ab 2001 Januar. Berechnung mit Daten aus der Fortschreibung des Bevölkerungsstandes. 1993 – 2000 jeweils zum 30.06., ab 2001 zum Vorjahresende, bis 2012 auf der Basis VZ’87, ab 2013 auf der Basis des Zensus 9.5.2011.

CO2-Emissionen des Verkehrs in Baden-Württemberg (in Millionen Tonnen) seit 19906 15

1

CO2-Emissionen in Millionen Tonnen

10

5

2

3 4

0 1990 1 2

6 7 8 9 10

2005

2006

Personenverkehr7 Straßengüterverkehr8

2007

2008 3 4

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

Sonstiger Verkehr9 Flugverkehr10

Werte 2017 vorläufig. Pkw, Busse, Krafträder. Leichte und schwere Nutzfahrzeuge. Gesamtemissionen: nationale und internationale Flüge. Schienenverkehr, Binnenschifffahrt und Off-Road-Verkehr.

32

KAPITEL ZWEI Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Stuttgart und Baden-Württemberg Übersicht der Emissionen durch den Verkehr

Kohlenstoffdioxid


Emissionen an Kohlendioxid (CO2) im Stadtkreis Stuttgart (in tausend Tonnen) nach Sektoren seit 2010 – Quellen- und Verursacherbilanz 5 500

1

5 000 4 500

Emissionen an Kohlendioxid (CO2) in tausend Tonnen

Emissionen an Kohlendioxid (CO2) in tausend Tonnen

4 000

3 000 1

2 500 2 000 1 500 2 3 4

1 000 500 0

2010

2012

2013

2014

2015

2 3 4

2

3 000 2 500 2 000 1 500 3

1 000

4

500 0

2016

2010

CO2-Emissionen insgesamt Verkehr11 Industrie / Feuerungen und öffentliche Kraftwerke Haushalte, GHD12, übrige Verbraucher

1

11 12

2011

3 500

1 2 3 4

13 14

Veränderte Werte für Straßenverkehr lt. HBEFA 3.2 2014. Gewerbe, Handel, Dienstleistungen.

2011

2012

2013

2014

2015

2016

CO2-Emissionen insgesamt Private Haushalte, GHD13 und übrige Verbraucher Verkehr14 Industrie

Gewerbe, Handel, Dienstleistungen. Ohne internationalen Flugverkehr und Elektro.

Revision der regionalen CO2-Bilanzen für Baden-Württemberg Im Juli 2013 beschloss der Landtag von Baden-Württemberg das „Gesetz zur Förderung des KliDipl.-Umweltwissenschaftlerin Katharina Schmidt, maschutzes in Baden-Württemberg“, das kurz darauf in Kraft trat. Dieses Klimaschutzgesetz setzt verbindli„Revision der regionalen CO -Bilanzen für Baden-Württemberg“, in „Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 4/2014“, che Zielvorgaben für die Reduzierung des landesweiten Ausstoßes von Treibhausgasen (§ 4): Bis 2020 sollen S. 34 – 39. © Statistisches Landesamt Baden‑Württemberg in Baden-Württemberg mindestens 25 % und bis 2050 sogar 90 % weniger Treibhausgase (gemessen in CO2Äquivalenten) emittiert werden als im Referenzjahr 1990. Der Gesetzgeber hat also den rechtlichen Rahmen Gemessen an der Klimawirksamkeit hat das Gas Kohlendioxid (CO ) den bedeutendsten Anteil an den weltweiten gesteckt, die konkrete Umsetzung liegt nun weitestgehend auf lokaler Treibhausgasemissionen. In Baden-Württemberg wurden 2011 insgesamt 76,2 Millionen Tonnen CO -Äquivalente Treibhausgase direkt emittiert. 65,8 Millionen Tonnen davon waren energiebedingte CO -Emissionen, das heißt Ebene. Die öffentliche Verwaltung, Kommunen und Gemeindeverbände diese Menge an CO wurde bei der Verbrennung fossiler Energieträger freigesetzt. Das waren 1,3 Millionen Tonnen CO oder 1,9 % weniger als im Vorjahr. Seit 1990 ergibt sich eine Reduktion der energiebedingten CO -Emissionen sind angehalten, durch entsprechende Aktivitäten in ihrem Organisatiim Land von knapp 11 %. Die Treibhausgasemissionen insgesamt reduzierten sich im selben Zeitraum sogar um rund 15 %. Um die ehrgeizigen Reduktionsziele des baden-württembergischen Klimaschutzgesetzes zu erreichen, onsbereich ihrer Vorbildfunktion für den Klimaschutz gerecht zu werden bedarf es bis 2020 bei den gesamten Treibhausgasemissionen allerdings noch weiterer Einsparungen in Höhe von 8,9 Millionen Tonnen CO -Äquivalenten. (§ 7). Aber auch jeder einzelne Bürger ist verpflichtet, im Rahmen seiner Möglichkeiten zur Verwirklichung der Klimaschutzziele beizutragen (§ 8). Als erster Schritt müssen relevante Handlungsfelder identifiziert und geeignete Strategien zur Treibhausgasminderung entwickelt werden. Dafür bilden die regional und zeitlich vergleichbaren Bilanzen der Treibhausgasemissionen, wie sie das Statistische Landesamt flächendeckend für alle Gemeinden Baden-Württembergs zur Verfügung stellt, eine wichtige Grundlage. Auf einen Einwohner bezogen ergaben sich im Jahr 2011 direkte energiebedingte CO2-Emissionen von durchschnittlich 6,1 Tonnen. Jedoch variiert die Höhe dieser Pro-Kopf-Emissionen unter den einzelnen Städten und Gemeinden erheblich. Sie reichte 2010 von 1,2 bis rund 378 Tonnen CO2 je Einwohner. Darin sind sämtliche CO2-Emissionen verrechnet, deren Emissionsquelle […] im entsprechenden Stadt- bzw. Gemeindegebiet angesiedelt ist. Deshalb wird diese Darstellung auch quellenbezogene Bilanzierung oder kurz Quellenbilanz genannt. Demgegenüber steht die sogenannte Verursacherbilanz. Die verursacherbezogene Darstellung bedeutet, dass Emissionen, die bei der Strom- und Fernwärmeerzeugung entstehen, auf den Endverbraucher (Verursacher) umverteilt werden. Hier war die Spanne der Pro-Kopf-Emissionen deutlich geringer. […] Je nach Fragestellung ist entweder eine quellenoder verursacherbezogene Betrachtung der CO2Emissionen angezeigt […]. Einer der Vorteile der Verursacherbilanz ist, dass Kraftwerke, die größere Gebiete mit Energie versorgen, die Pro-Kopf-Emissionen in den Standortgemeinden nicht verzerren. Andererseits berücksichtigt die Verursacherbilanz auch den Energieverbrauch (Strom und Wärme), der aus der Erzeugung in einer anderen als der in der Bilanz betrachteten regionalen Einheit stammt. Deshalb wird für die Emissionsberechnung beim Energieträger Strom nicht der landesspezifische, sondern der deutlich größere CO2-Faktor des deutschlandweit durchschnittlichen Strommixes angesetzt. Die direkten CO2-Emissionen aus der Stromerzeugung (Quellenbilanz) weichen im Allgemeinen also von den aus dem Stromverbrauch berechneten Emissionen (Verursacherbilanz) ab. So entstanden im Jahr 2011 in Baden-Württemberg rund 18 Millionen Tonnen CO2 bei der Stromerzeugung, dem landesweiten Stromverbrauch werden hingegen indirekt verursachte CO2Emissionen in Höhe von 39,7 Millionen Tonnen zugeordnet. […] 2

2

2

2

2

2

2

2

Revision der regionalen CO2-Bilanzen für Baden-Württemberg

KAPITEL ZWEI Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Stuttgart und Baden-Württemberg Übersicht der Emissionen durch den Verkehr

33


Emissionen an Kohlenmonoxid (CO) im Stadtkreis Stuttgart (in Tonnen) nach Sektoren seit 1995 25 000 1

2

Emissionen an Kohlenmonoxid (CO) in Tonnen

20 000

15 000

10 000

5 000 3

4

0

1995 1 2

15 16

1996

1997

1998

1999

CO-Emissionen insgesamt Verkehr15

2000 3 4

2001

2002

2003

2005

2006

2006

2007

Haushalte, GHD16, übrige Verbraucher Industrie / Feuerungen und öffentliche Kraftwerke

Veränderte Werte für Straßenverkehr lt. HBEFA 3.2 2014. Gewerbe, Handel, Dienstleistungen.

Emissionen an Kohlenmonoxid (CO) im Stadtkreis Stuttgart (in Tonnen) durch den Straßenverkehr seit 1995 20 000

Emissionen an Kohlenmonoxid (CO) in Tonnen

1

15 000 2

10 000

5 000 3 4

0 1995 1 2

17 18 19

1996

1997

1998

1999

Straßenverkehr insgesamt Innerortsstraßen 18

3 4

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

201517

übrige Ausserortsstraßen Autobahnen

19

Vorläufige Werte. Berechnet lt. HBEFA 3.2 2014. Umfasst Krafträder, PKW, LNF, SNF und Busse. Bundes-, Landes-, Kreis- und Gemeindestraßen.

34

KAPITEL ZWEI Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Stuttgart und Baden-Württemberg Übersicht der Emissionen durch den Verkehr

Kohlenmonoxid


Emissionen an NMVOC20 durch den Straßenverkehr21 (in Tonnen) im Stadtkreis Stuttgart 4 000 1 78,63 %

Rückgang der Emissionen an NMVOC durch den Straßenverkehr seit 1995

3 000

Emissionen an NMVOC in Tonnen

2 3

2 000

4

1 000

5 6

0

1995 1 2

1996

1997

1998

1999

2000

2001

Emissionen an NMVOC durch den Straßenverkehr Abgas-Emissionen

2002 3 4

2003

2004

2005

2006

Innerortstraßen Verdunstungs-­Emissionen22

2007 5 6

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

übrige Ausserorts­straßen23 Autobahnen

Berechnungsstand: September 2016

20 21 22 23

Flüchtige organische Verbindungen ohne Methan Berechnet lt. HBEFA 3.2 2014. Umfasst Kräder, PKW, LNF, SNF und Busse. Aus Abstellvorgängen, durch Tankatmung, aus der Betankung und der Kraftstoffverteilung. Bundes-, Landes-, Kreis- und Gemeindestraßen.

Emissionen an NMVOC durch den Straßenverkehr24 (in 1 000 Tonnen) in Deutschland 80 84,27 %

Rückgang der Emissionen an NMVOC durch den Straßenverkehr seit 1995

Emissionen an NMVOC in Tonnen

60

40

20

0 1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

Berechnungsstand: September 2016

24

Ohne land- und forstwirtschaftlichen Verkehr.

Im Multikomponentenprotokoll (1999) zur UNECE-Luftreinhaltekonvention, das die jährlichen Emissionen durch Einführung nationaler Höchstmengen begrenzt, hat sich Deutschland verpflichtet, die NMVOC-Emissionen bis zum Jahr 2010 auf 995 000 Tonnen zu vermindern. Zudem hat Deutschland im Zuge der Novellierung des Protokolls (2012) eine Reduktion der NMVOC-Emissionen um 13 % im Zeitraum 2005 bis 2020 zugesagt. Auf EU-Ebene legt die Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen (NEC-Richtlinie 2001 / 81 / EG) fest, dass Deutschland für NMVOC ab 2010 eine Emissionshöchstmenge von 995 000 Tonnen einhalten muss. Diese Festlegung berücksichtigte jedoch nicht die seitdem dazugekommenen Emissionen aus der Landwirtschaft, so dass diese für die Überprüfung der Zielerreichung aus den Gesamtemissionen heraus gerechnet werden müssen. Mit der Richtlinie (EU) 2016 / 2284 (neue NEC-Richtlinie) ist zudem ein weiteres ­relatives Ziel gegenüber 2005, diesmal für das Jahr 2030, etabliert. Spätestens bis zu diesem Zeitpunkt müssen die NMVOC-Emissionen um 28 % sinken.

NMVOC

KAPITEL ZWEI Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Stuttgart und Baden-Württemberg Übersicht der Emissionen durch den Verkehr

35


Emissionen an Schwefeldioxid (SO2) im Stadtkreis Stuttgart (in Tonnen) nach Sektoren seit 1995 1

Emissionen an Schwefeldioxid (SO2) in Tonnen

2000

1500

2

1000

3

500

4

0 1995 1 2

25 26

1996

1997

1998

1999

SO2-Emissionen insgesamt Haushalte, GHD25, übrige Verbraucher

2000 3 4

2001

2002

2003

2005

2006

2006

2007

2008

2009

2010

2011

Industrie / Feuerungen und öffentliche Kraftwerke Verkehr26

Gewerbe, Handel, Dienstleistungen. Veränderte Werte für Straßenverkehr lt. HBEFA 3.2 2014.

Emissionen an Feinstaub (PM10) im Stadtkreis Stuttgart (in Tonnen) seit 1997 350

300

1

2

250

200

Emissionen an Feinstaub (PM10) in Tonnen

150 3

100 4

50

5

6

0 1997 1 2

27

1998

1999

2000

PM10-Emissionen insgesamt Abgasemissionen insgesamt

2001 3 4

2002

2003

2004

2005

Nutzfahrzeuge Diesel-Pkw

2006 5 6

2007

2008

2009

2012

2013

2014

2015

2016

2017

Abriebemissionen27 Otto-Pkw

Reifen- und Bremsenabrieb.

36

KAPITEL ZWEI Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Stuttgart und Baden-Württemberg Übersicht der Emissionen durch den Verkehr

Schwefeldioxid, Feinstaub


Emissionen an Stickoxid (NOx) im Stadtkreis Stuttgart (in Tonnen) seit 1997 5 500

1

5 000

4 500

4 000

3 500

3 000

2

2 050

2 000 3

Emissionen an Stickoxid (NOx) in Tonnen

1 500

1 000 4

500

5

0 1997 1 2

1998

1999

Website des Statistisches Landesamts Baden‑Württemberg, ­Glossar: Stickoxide, URL: https://t1p.de/jobr (zuletzt abgerufen am 02.06.2020). © Statistisches Landesamt Baden‑Württemberg.

Stickoxide

2000

NOx-Emissionen insgesamt Nutzfahrzeuge

2001 3 4

2002 Otto-Pkw Busse

2003

2004

2005

2006 5

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

Diesel-Pkw

Stickoxide Stickoxide (NOx) entstehen bei Verbrennungsprozessen, die mit hohen Temperaturen erfolgen. Unter diesen Bedingungen gehen der Stickstoff und der Sauerstoff der Luft eine feste Verbindung ein. Es entsteht Stickstoffmonoxid (NO), das an der Luft zu Stickstoffdioxid (NO2) oxidiert wird. Das genaue Mengenverhältnis zwischen NO und NO2 lässt sich messtechnisch unter atmosphärischen Bedingungen nur schwer angeben. Als Kürzel für Stickoxide wird deshalb meist NOx verwandt. Stickoxide sind wie Schwefeldioxid an der Bildung der sauren Niederschläge beteiligt. Zwischen SO2 und NO2 bestehen bei direkter Wirkung auf die Blattorgane wirkungsverstärkende Beziehungen. Von großer Bedeutung für das Waldsterben sind wahrscheinlich Stickoxide als Ausgangssubstanz für sekundäre Luftverunreinigungen wie Ozon und andere Photooxidantien. StickoxidEmissionen bilden einen Teil des Luftqualitätsindex.

KAPITEL ZWEI Statistiken zu Umwelt und Verkehr in Stuttgart und Baden-Württemberg Übersicht der Emissionen durch den Verkehr

37


Messstellen für die ­Luftqualität in Stuttgart Zur Überwachung der Luftqualität werden durch die LUBW1 verschiedene dauerhafte Messstellen in Stuttgart betrieben. (Auszüge aus der 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans zur Minderung der NO2-Belastung, Stand: März 2020) 1 Gnesener Straße (Stuttgart-Bad Cannstatt) – Städtische Hintergrundmessstation Der Standort von Messstellen für den städtischen Hintergrund zeichnet sich durch eine dichte Bebauung aus. Allerdings befindet er sich nicht in unmittelbarer Verkehrsnähe und ist auch nicht von Straßenschluchten oder anderen Bebauungen unmittelbar beeinflusst. Diese Kriterien treffen auf die Messstelle Gnesener Straße in Bad Cannstatt zu. Sie wird bereits seit 1981 als Teil des Landesmessnetzes betrieben. 2 Waiblinger Straße (Stuttgart-Bad Cannstatt) Der Messpunkt liegt an der früher vierstreifigen, mittlerweile zugunsten des Radverkehrs umgestalteten zweistreifigen Waiblinger Straße. In der Mitte der Straße fährt die Stadtbahn. Zusätzlich befinden sich an beiden Seiten der Straße Grünstreifen und Bürgersteige. Durch die geschlossene Bebauung wird eine weite Straßenschlucht gebildet. 3 Am Neckartor (Stuttgart-Mitte) Der Messpunkt Am Neckartor befindet sich an der Bundesstraße 14 vor dem Amtsgericht Stuttgart. Der Straßenzug Am Neckartor ist die Hauptausfahrtsstraße Richtung Stuttgart-Bad Cannstatt und Esslingen bzw. Waiblingen mit einem Verkehrsaufkommen von rund 65 000 Kfz / Tag. Die breite Straße ist mit jeweils drei Fahrstreifen pro Richtung ausgebaut, wobei seit Mitte 2019 durch die Einrichtung einer Busspur der Individualverkehr stadtauswärts nur noch auf zwei Fahrstreifen abgewickelt wird. Sie ist einseitig bebaut, die Gebäude werden etwa gleichmäßig durch Wohnungen und Arbeitsstätten genutzt. Auf der anderen Straßenseite befindet sich der Mittlere Schlossgarten mit einem dichten Baumbestand parallel zur Straße; dies begünstigt trotz einseitiger Bebauung den Schluchtcharakter der Straße Am Neckartor. In ca. 40 m Entfernung zur Messstation in nordöstlicher Richtung befindet sich die ampelgeregelte Kreuzung Am Neckartor / Heilmannstraße mit der Einmündung der Cannstatter Straße. 4 Arnulf-Klett-Platz (Stuttgart-Mitte) Die Verkehrsmessstation am Arnulf-Klett-Platz liegt zwischen der Lautenschlagerstraße und der Königstraße gegenüber dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Im größeren Umkreis um die Messstation befinden sich vor allem Handel und Arbeitsstätten sowie der Schlossgarten als Erholungsmöglichkeit. Im Bereich des Arnulf-KlettPlatzes befindet sich keine Wohnbebauung. Der Arnulf-Klett-Platz wird fünfspurig sowohl vom Individualverkehr als auch vom öffentlichen Verkehr (Busse) befahren. Auf beiden Straßenseiten befinden sich Bushaltestellen über die gesamte Länge des Platzes. Die Messstelle ist Teil des Landesmessnetzes. 5 Hohenheimer Straße (Stuttgart-Mitte) Die Hohenheimer Straße bildet die Hauptverbindung von der Stuttgarter Innenstadt in Richtung Degerloch und zum Flughafen. In der Mitte der vierspurig ausgebauten Straße fährt die Stadtbahn. Der Messpunkt liegt stadtauswärts an der ansteigenden Straßenseite in der Nähe der Stadtbahnstation Dobelstraße. Die dichte, mehrstöckige Wohnbebauung bildet eine ausgeprägte Straßenschlucht. Sondermessstellen Vor dem Hintergrund der regelmäßigen Überschreitungen des Grenzwertes für Stickstoffdioxid (NO2) im Jahresmittel in Stuttgart wurden wie in Tabelle 1 dargestellt, seit August 2015 weitere Messstellen eingerichtet. Im Jahr 2019 wurden insgesamt 42 weitere Messstellen aufgrund verschiedener Sondermessprogramme aufgestellt. 40 Messstellen davon beruhen auf einem politischen Entschluss des Koalitionsauschusses zur Darstellung der Immissionssituation in Stuttgart. Mit den zusätzlichen Messstellen zur Bestimmung von Stickstoffdioxid (NO2) erhält man ein besseres Bild der räumlichen Verteilung der Stickstoffdixoidkonzentrationen im gesamten Stadtgebiet der Landeshauptstadt Stuttgart. Die ermittelten Stickstoffdioxidkonzentrationen liegen deutlich unter dem Grenzwert und sogar unter den Prognosen. Lediglich in der Talstraße wurde eine Grenzwertüberschreitung des NO2-Jahresmittelwerts mit 50 μg /  m³ ermittelt. Tabelle 1

Auszüge aus: Regierungspräsidium Stuttgart, Luftreinhalteplan für den ­Regierungsbezirk Stuttgart, Teilplan Landeshauptstadt Stuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans zur Minderung der NO2Belastung, Stand: März 2020, URL: https://t1p.de/ru6a, zuletzt abgerufen am 21.05.2020.

1

LUBW: Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg

2

IMA-S: Sondermessungen im Auftrag der interministeriellen Arbeitsgruppe Stuttgart Verkehrsnahe Sondermessungen Sondermessungen in Stuttgart

3 4

Übersicht der Messstellen (ohne Profilmessungen) in Stuttgart

Messstelle

Messnetz / Projekt

Messstelle

Messnetz / Projekt

Messstelle

Messnetz / Projekt

Arnulf-Klett-Platz Neckarstraße Hohenheimer Straße Elbestraße Vaihinger Straße 94a Heilbronner Straße Fellbacher Str. / Kilianstr. Scharnhäuser Straße Kappelbergstraße Neue Weinsteige Schemppstraße Solitudestraße Welfenstraße Ludwigsburger Straße Epplestraße

Luftmessnetz IMA-S Spotmessnetz IMA-S verkehrsn. Sonderm.3 IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S

Hohenheimer Straße 72 Am Neckartor Wagrainstraße Talstraße Am Kräherwald Am Neckartor Imweg Immenhofer Straße Ludwigsburger Straße Rohrackerstraße Hedelfinger Straße Vaihinger Landstraße Schwabstraße Pragstraße Hauptstätter Straße

IMA-S2 Spotmessnetz IMA-S verkehrsn. Sonderm. IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S

Bad Cannstatt Olgastraße Waiblinger Straße Am Kochenhof Pragstraße 90 / 92 Wagenburgstraße Freihofstraße Kirchheimer Straße Römerstraße S-Vaihingen Hauptstr. MP 1 S-Vaihingen Hauptstr. MP 2 Rotebühlstraße Hallschlag Schwieberdinger Straße Wiener Straße

Luftmessnetz IMA-S Spotmessnetz IMA-S Sonderm. in Stuttgart4 IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S IMA-S

38

KAPITEL ZWEI Messstellen für die Luftqualität in Stuttgart Übersicht der Messstellen


Verursacher der NO2-Immissionsbelastung am Messpunkt Stuttgart Waiblinger Straße (Bezugsjahr 2017)

Verursacher der NO2-Immissionsbelastung am Messpunkt Stuttgart Am Neckartor (Bezugsjahr 2017)

Großräumiger Hintergrund 7 % 5,0 μg / m³

Großräumiger Hintergrund 7 % 5,0 μg / m³

Kl. und Mittlere Feuerungsanlagen 10 % 6,9 μg / m³

Kl. und Mittlere Feuerungsanlagen 11 % 7,2 μg / m³

Industrie, Offroad, Sonstige 2 % 2,1 μg / m³

Industrie, Offroad, Sonstige 3 % 2,0 μg / m³

Gesamthintergrundniveau: 48 %

Gesamthintergrundniveau: 48 %

Lokale Belastung: 52 %

Lokale Belastung: 52 %

Straßenverkehr 39 % 37,2 μg / m³

Straßenverkehr 29 % 21,0 μg / m³

Straßenverkehr 49 % 35,5 μg / m³

Offroad, Sonstige 3 % 2,1 μg / m³

Straßenverkehr 27 % 18,8 μg / m³

Offroad, Sonstige 1 % 0,6 μg / m³

Kleine und Mittlere ­Feuerungsanlagen 10 % 6,7 μg / m³

Kleine und Mittlere ­Feuerungsanlagen 2 % 1,9 μg / m³

Verursacher der NO2-Immissionsbelastung am Messpunkt Stuttgart Hohenheimer Straße (Bezugsjahr 2017)

Verursacher der NO2-Immissionsbelastung am Messpunkt Stuttgart Arnulf-Klett-Platz (Bezugsjahr 2017)

Großräumiger Hintergrund 11 % 5,0 μg / m³

Großräumiger Hintergrund 9 % 5,0 μg / m³

Straßenverkehr 18 % 8,1 μg / m³

Kl. und Mittlere Feuerungsanlagen 13 % 5,6 μg / m³

Lokale Belastung: 26 % Industrie, Offroad, Sonstige 5 % 2,1 μg / m³

Gesamthintergrundniveau: 74 %

Offroad, Sonstige 2 % 0,9 μg / m³

Kl. und Mittlere Feuerungsanlagen 14 % 7,8 μg / m³

Kl. und Mittlere ­Feuerungsanlagen 6 % 3,0 μg / m³

Industrie, Offroad, Sonstige 3 % 2,1 μg / m³

Straßenverkehr 31 % 17,4 μg / m³

Lokale Belastung: 38 % Gesamthintergrundniveau: 62 %

Offroad, Sonstige 1 % 0,4 μg / m³

Kleine und Mittlere ­Feuerungsanlagen 3 % 2,1 μg / m³ Straßenverkehr 45 % 20,3 μg / m³

Straßenverkehr 36 % 20,1 μg / m³

KAPITEL ZWEI Messstellen für die Luftqualität in Stuttgart Verursacher der NO2-Immissionsbelastung an den Messpunkten

39


1

Stuttgart Bad-Cannstatt · Gnesener Straße Stationstyp: Luftmessstation Standort: Gnesener Straße Messzeitraum: seit Januar 1981 Messgrössen: Luft: Schwefeldioxid, Stickoxide, Ozon, Feinstaub PM10 (kontinuierlich und gravimetrisch) Klima: Windrichtung u. -geschwindigkeit, Lufttemperatur, Niederschlag, Relative Luftfeuchtigkeit, Globalstrahlung

2

Stuttgart Bad-Cannstatt · Waiblinger Straße Stationstyp: Spotmessstation Standort: Waiblinger Straße Messzeitraum: seit Jan. 2006 Messgrössen: Feinstaub PM10 (gravimetrisch)

3

Stuttgart Mitte · Am Neckartor Stationstyp: Spotmessstation Standort: Am Neckartor 18 – 22 Messzeitraum: seit Dez. 2003 Messgrössen: Stickstoffdioxid, ­Feinstaub PM10 (kontinuierlich u. gravimetrisch)

4

Stuttgart Mitte · Arnulf-Klett-Platz Stationstyp: Luftmessstation Standort: Arnulf-Klett-Platz Messzeitraum: seit Dezember 1994 Messgrössen: Stickstoffdioxid, Ozon, Kohlen­monoxid, Feinstaub PM10 (gravimetrisch)

5

Stuttgart Mitte · Hohenheimer Straße Stationstyp: Spotmessstation Standort: Hohenheimer Straße 58 – 70a Messzeitraum: seit Dez. 2003 Messgrössen: Stickstoffdioxid, Feinstaub PM10 (gravimetrisch)

6

Stuttgart Mitte · Amt für Umweltschutz Stationstyp: Klimamessstation, Luftmessstation Standort: Gaisburgstraße 4 Messzeitraum: seit Januar 2019 Messgrössen: Klima: Windrichtung und Windgeschwindigkeit, Lufttemperatur, Relative Luftfeuchtigkeit, Absolute Luftfeuchtigkeit, Taupunkt, Luftdruck, Niederschlag Luft: ab Herbst 2019

7

Feuerbach

Killesberg

Europaviertel Nord

Stuttgart Mitte · Schwabenzentrum Klimamessstation, Luftmessstation Stationstyp: Ecke Tor- / Hauptstätter Straße Standort: seit Mai 1986 Messzeitraum: Klima: Windrichtung und -geschwindigkeit, Messgrössen: Lufttemperatur, Relative Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, Niederschlag, Globalstrahlung, UV-A und UV-B Strahlung, Strahlungsbilanz Luft: Stickoxide, Ozon, Feinstaub PM10 (kontinuierlich)

4 StuttgartMitte

Feuersee 7

5 Heusteigviertel

6

1 km Stand: Januar 2019

40

Süd

KAPITEL ZWEI Messstellen für die Luftqualität in Stuttgart Lage der Messstationen in Stuttgart


Sommerrain Hallschlag

1

Bad Cannstatt 2

Wasen

Untertürkheim

3 Ostheim

Wangen

Gablenberg

Hedelfingen

KAPITEL ZWEI Messstellen für die Luftqualität in Stuttgart Lage der Messstationen in Stuttgart

41


KAPITEL 3


Politische Maßnahmen zur Verbesserung der ­Luftqualität und der ­Verkehrsplanung


Europaweite Maßnahmen Auszüge aus der Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa

Gründe für den Erlass der Richtlinie – – – – – –

gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft insbesondere auf Artikel 175 auf Vorschlag der Kommission nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses1 nach Stellungnahme des Ausschusses der Regionen2 gemäß dem Verfahren des Artikels 251 des Vertrags3

1 In dem durch den Beschluss Nr. 1600/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates4 verabschiedeten sechsten Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft wurde festgelegt, dass die Verschmutzung auf ein Maß reduziert werden muss, bei dem schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit möglichst gering sind, wobei empfindliche Bevölkerungsgruppen und auch die Umwelt insgesamt besonders zu berücksichtigen sind, und dass die Überwachung und Bewertung der Luftqualität, einschließlich der Ablagerung von Schadstoffen, und die Verbreitung von Informationen an die Öffentlichkeit verbessert werden müssen. 2 Zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt insgesamt ist es von besonderer Bedeutung, den Ausstoß von Schadstoffen an der Quelle zu bekämpfen und die effizientesten Maßnahmen zur Emissionsminderung zu ermitteln und auf lokaler, nationaler und gemeinschaftlicher Ebene anzuwenden. Deshalb sind Emissionen von Luftschadstoffen zu vermeiden, zu verhindern oder zu verringern und angemessene Luftqualitätsziele festzulegen, wobei die einschlägigen Normen, Leitlinien und Programme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu berücksichtigen sind. 3 Die Richtlinie 96/62/EG des Rates vom 27. September 1996 über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität5, die Richtlinie 1999/30/EG des Rates vom 22. April 1999 über Grenzwerte für Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel und Blei in der Luft6, die Richtlinie 2000/69/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 über Grenzwerte für Benzol und Kohlenmonoxid in der Luft7, die Richtlinie 2002/3/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Februar 2002 über den Ozongehalt der Luft8 und die Entscheidung 97/101/EG des Rates vom 27. Januar 1997 zur Schaffung eines Austausches von Informationen und Daten aus den Netzen und Einzelstationen zur Messung der Luftverschmutzung in den Mitgliedstaaten9 müssen grundlegend geändert werden, damit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Entwicklungen im Bereich der Gesundheit und den Erfahrungen der Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden kann. Im Interesse der Klarheit, der Vereinfachung und der effizienten Verwaltung ist es daher angemessen, diese fünf Rechtsakte durch eine einzige Richtlinie und gegebenenfalls durch Durchführungsmaßnahmen zu ersetzen. 4 Sobald ausreichende Erfahrungen mit der Anwendung der Richtlinie 2004/107/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 über Arsen, Kadmium, Quecksilber, Nickel und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe in der Luft10 vorliegen, kann geprüft werden, ob diese Bestimmungen in die vorliegende Richtlinie aufgenommen werden können. 5 Für die Beurteilung der Luftqualität sollte ein einheitlicher Ansatz gelten, dem gemeinsame Beurteilungskriterien zugrunde liegen. Bei der Beurteilung der Luftqualität sollte der Größe der der Luftverschmutzung ausgesetzten Bevölkerung und Ökosysteme Rechnung getragen werden. Daher sollte das Hoheitsgebiet der einzelnen Mitgliedstaaten in Gebiete oder Ballungsräume aufgeteilt werden, die der Bevölkerungsdichte entsprechen. 6 Wenn möglich, sollten Modellrechnungen angewandt werden, damit Punktdaten im Hinblick auf die räumliche Verteilung der Konzentration interpretiert werden können. Dies könnte als Grundlage für die Berechnung der kollektiven Exposition der Bevölkerung dienen, die in dem betreffenden Gebiet lebt. 7 Damit gewährleistet ist, dass die gesammelten Daten zur Luftverschmutzung hinreichend repräsentativ und gemeinschaftsweit vergleichbar sind, ist es wichtig, dass für die Beurteilung der Luftqualität standardisierte Messtechniken und gemeinsame Kriterien für die Anzahl und die Wahl der Standorte der ­Messstationen Anwendung finden. Da die Luftqualität auch mit Hilfe anderer Techniken als Messungen beurteilt werden kann, müssen Kriterien für die Verwendung und der erforderliche Genauigkeitsgrad dieser Techniken festgelegt werden. Es sollten ausführliche Messungen von Partikeln im ländlichen Hintergrund vorgenommen wer8 den, um genauere Kenntnisse über die Auswirkungen dieses Schadstoffs zu erhalten und geeignete Strategien zu entwickeln. Diese Messungen sollten im Einklang mit denen des Programms über die Zusammenarbeit bei der Messung und Bewertung der weiträumigen Übertragung von luftverunreinigenden Stoffen in Europa („EMEP“) erfolgen, das gemäß dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung11, angenommen durch Beschluss 81/462/EWG des Rates vom 11. Juni 1981, erstellt wurde. 9 Wo bereits eine gute Luftqualität gegeben ist, sollte sie aufrechterhalten oder verbessert werden. Wenn die in dieser Richtlinie festgelegten Ziele für Luftqualität nicht erreicht werden, sollten die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, um die Grenzwerte und kritischen Werte einzuhalten und, soweit möglich, die Zielwerte und langfristigen Ziele zu erreichen.

44

KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates

Auszüge aus: Europäisches Parlament, Rat der Europäischen Union, Richtlinie 2008 / 50 / EG des Europäischen Parlaments und des ­Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, S. 1 – 39. Das Europäische Parlament ist das Gesetzgebungsorgan der EU. Es wird alle fünf Jahre direkt von den Bürgerinnen und Bürgern der EU gewählt. Die letzten Wahlen fanden im Mai 2019 statt. Aufgaben des Parlaments Gesetzgebung – Verabschiedung von EU-Rechtsvorschriften, in Zusammenarbeit mit dem Rat der EU auf der Grundlage von Vorschlägen der Europäischen Kommission – Entscheidung über internationale Abkommen – Entscheidung über Erweiterungen – Prüfung des Arbeitsprogramms der Kommission und Aufforderung der Kommission, Rechtsvorschriften vorzuschlagen Aufsicht – Demokratische Kontrolle aller EU-Organe – Wahl der Präsidentin / des Präsidenten der EU-Kommission und Zustimmung zur Kommission als Kollegium. Möglichkeit, einen Misstrauensantrag zu stellen, der die gesamte Kommission zum Rücktritt zwingen könnte. – Entlastung, d. h. Genehmigung der Ausgaben aus dem EU-Haushalt. – Bearbeitung von Petitionen der EU-Bürgerinnen und -Bürger und Einsetzen von Untersuchungsausschüssen – Erörterung der Währungspolitik mit der Europäischen Zentralbank – Befragung von Kommission und Rat Wahlbeobachtung Haushalt – Aufstellung des Haushaltsplans der EU gemeinsam mit dem Rat – Genehmigung des langfristigen EU-Haushalts, des so genannten „mehrjährigen Finanzrahmens“ Zusammensetzung Die Anzahl der Abgeordneten pro Land richtet sich ungefähr nach der Bevölkerungszahl, wobei der Grundsatz der degressiven Proportionalität Anwendung findet: Kein Land kann weniger als sechs oder mehr als 96 Abgeordnete haben, und die Gesamtzahl der Abgeordneten darf 751 (750 plus Präsident / -in) nicht überschreiten. Die Mitglieder des Parlaments sind nach Fraktionen und nicht nach Staatsangehörigkeit gruppiert. Der Präsident oder die Präsidentin vertritt das Parlament vor den anderen EU-Organen und der Außenwelt und hat das letzte Wort bei der Genehmigung des EU-Haushalts.

1 2 3

10

ABl. C 195 vom 18.8.2006, S. 84. ABl. C 206 vom 29.8.2006, S. 1. Stellungnahme des Europäischen Parlaments vom 26. September 2006 (ABl. C 306 E vom 15.12.2006, S. 102), Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 25. Juni 2007 (ABl. C 236 E vom 6.11.2007, S. 1) und Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 11. Dezember 2007. Beschluss des Rates vom 14. April 2008. ABl. L 242 vom 10.9.2002, S. 1. ABl. L 296 vom 21.11.1996, S. 55. Geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 1882 / 2003 des Europäischen ­Parlaments und des Rates (ABl. L 284 vom 31.10.2003, S. 1). ABl. L 163 vom 29.6.1999, S. 41. Geändert durch die Entscheidung 2001 / 744 / EG der Kommission (ABl. L 278 vom 23.10.2001, S. 35). ABl. L 313 vom 13.12.2000, S. 12. ABl. L 67 vom 9.3.2002, S. 14. ABl. L 35 vom 5.2.1997, S. 14. Geändert durch die Entscheidung 2001 / 752 / EG der Kommission (ABl. L 282 vom 26.10.2001, S. 69). ABl. L 23 vom 26.1.2005, S. 3.

11

ABl. L 171 vom 27.6.1981, S. 11.

4 5 6 7 8 9

Gründe für den Erlass der Richtlinie


12

ABl. L 309 vom 27.11.2001, S. 22. Zuletzt geändert durch die Richtlinie 2006/ 105 / EG des Rates (ABl. L 363 vom 20.12.2006, S. 368).

13

ABl. L 309 vom 27.11.2001, S. 1. Zuletzt geändert durch die Richtlinie 2006 / 105 / EG. ABl. L 189 vom 18.7.2002, S. 12. ABl. L 24 vom 29.1.2008, S. 8.

14 15

Gründe für den Erlassen der Richtlinie

10 Das von der Luftverschmutzung ausgehende Risiko für die Vegetation und für natürliche Ökosysteme ist außerhalb der städtischen Gebiete am größten. Die Beurteilung solcher Risiken und die Einhaltung der kritischen Werte zum Schutz der Vegetation sollten daher auf Standorte außerhalb bebauter Gebiete konzentriert werden. 11 Partikel (PM2,5) haben erhebliche negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Außerdem wurde bisher keine feststellbare Schwelle ermittelt, unterhalb deren PM2,5 kein Risiko darstellt. Daher sollten für diesen Schadstoff andere Regeln gelten als für andere Luftschadstoffe. Dieser Ansatz sollte auf eine generelle Senkung der Konzentrationen im städtischen Hintergrund abzielen, um für große Teile der Bevölkerung eine bessere Luftqualität zu gewährleisten. Damit jedoch überall ein Mindestgesundheitsschutz sichergestellt ist, sollte der Ansatz mit der Vorgabe eines Grenzwerts kombiniert werden, dem zunächst ein Zielwert vorgeschaltet wird. 12 Die geltenden Zielwerte und langfristigen Ziele der Gewährleistung eines wirksamen Schutzes vor schädlichen Auswirkungen der Ozonexposition auf die menschliche Gesundheit sowie auf die Vegetation und die Ökosysteme sollten unverändert beibehalten werden. Zum Schutz der gesamten Bevölkerung bzw. besonders empfindlicher Bevölkerungsgruppen vor kurzen Expositionen gegenüber erhöhten Ozonkonzentrationen sollten eine Alarmschwelle bzw. eine Informationsschwelle für Ozonkonzentrationen in der Luft festgelegt werden. Bei Überschreitung dieser Schwellenwerte sollte die Öffentlichkeit über die Gefahren der Exposition informiert und bei Überschreitung der Alarmschwelle sollten gegebenenfalls kurzfristige Maßnahmen zur Senkung der Ozonwerte ergriffen werden. 13 Ozon ist ein grenzüberschreitender Schadstoff, der sich in der Atmosphäre durch Emissionen von Primärschadstoffen bildet, die Gegenstand der Richtlinie 2001/81/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2001 über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe12 sind. Fortschritte im Hinblick auf die in dieser Richtlinie vorgesehenen Zielvorgaben für die Luftqualität und langfristigen Ziele für Ozon sollten anhand der Ziele und Emissionshöchstmengen der Richtlinie 2001/81/EG und gegebenenfalls durch die Umsetzung der in der vorliegenden Richtlinie vorgesehenen Luftqualitätspläne bestimmt werden. 14 In Gebieten und Ballungsräumen, in denen langfristige Ziele für Ozon oder die Beurteilungsschwellen für andere Schadstoffe überschritten werden, sollten ortsfeste Messungen vorgeschrieben werden. Daten aus ortsfesten Messungen können durch Modellrechnungen und / oder orientierende Messungen ergänzt werden, damit punktbezogene Daten im Hinblick auf die geografische Verteilung der Konzentration interpretiert werden können. Ferner sollte die Anwendung ergänzender Beurteilungsverfahren eine Verringerung der erforderlichen Mindestzahl ortsfester Probenahmestellen ermöglichen. 15 Emissionsbeiträge aus natürlichen Quellen können zwar beurteilt, aber nicht beeinflusst werden. Können natürliche Emissionsbeiträge zu Luftschadstoffen mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen werden und sind Überschreitungen ganz oder teilweise auf diese natürlichen Emissionsbeiträge zurückzuführen, können diese daher unter den in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen bei der Beurteilung der Einhaltung der Luftqualitätsgrenzwerte unberücksichtigt bleiben. Überschreitungen des Partikel (PM10)-Grenzwertes ­aufgrund der Ausbringung von Streusand oder -salz auf Straßen können ebenfalls bei der Beurteilung der Einhaltung der Luftqualitätsgrenzwerte unberücksichtigt bleiben, sofern sinnvolle Maßnahmen zur Senkung der Konzentrationen getroffen wurden. 16 Im Fall von Gebieten mit besonders schwierigen Bedingungen sollte es möglich sein, die Frist, innerhalb deren die Luftqualitätsgrenzwerte erreicht werden müssen, zu verlängern, wenn in bestimmten Gebieten und Ballungsräumen trotz der Anwendung geeigneter Maßnahmen zur Verringerung der Verschmutzung akute Probleme hinsichtlich der Einhaltung bestehen. Werden für bestimmte Gebiete und Ballungsräume Verlängerungen gewährt, ist jeweils ein umfassender, von der Kommission zu beurteilender Plan zu erstellen, um die Einhaltung innerhalb der Verlängerungsfrist zu gewährleisten. Dass die notwendigen Gemeinschaftsmaßnahmen, die dem im Rahmen der Thematischen Strategie zur Luftreinhaltung gewählten Anspruchsniveau bezüglich der Reduzierung der Emissionen an der Quelle Rechnung tragen, verfügbar sind, hat Bedeutung für eine wirkungsvolle Eindämmung der Emissionen innerhalb des Zeitrahmens, der in dieser Richtlinie für die Einhaltung der Grenzwerte vorgegeben wird; dies sollte berücksichtigt werden, wenn zu Ersuchen um Verlängerung der Fristen für die Einhaltung Stellung genommen wird. 17 Die zur Verringerung der Emissionen an der Quelle notwendigen Gemeinschaftsmaßnahmen, insbesondere Maßnahmen zur Verbesserung der Wirksamkeit der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Industrieemissionen, zur Begrenzung der Abgase von Schwerfahrzeugmotoren, zur zusätzlichen Senkung der zulässigen einzelstaatlichen Emissionsmengen entscheidender Schadstoffe und der Emissionsmengen, die durch das Betanken von Fahrzeugen mit Ottomotor an Tankstellen bedingt sind, sowie die Maßnahmen zur Eindämmung des Schwefelgehalts von Kraftstoffen, einschließlich Schiffskraftstoffen, sollten von allen beteiligten Institutionen mit gebührendem Vorrang geprüft werden. 18 Für Gebiete und Ballungsräume, in denen die Schadstoffkonzentrationen in der Luft die einschlägigen Luftqualitätszielwerte oder -grenzwerte gegebenenfalls zuzüglich zeitlich befristeter Toleranzmargen überschreiten, sollten Luftqualitätspläne erstellt werden. Luftschadstoffe werden durch viele verschiedene Quellen und Tätigkeiten verursacht. Damit die Kohärenz zwischen verschiedenen Strategien gewährleistet ist, sollten solche Luftqualitätspläne soweit möglich aufeinander abgestimmt und in die Pläne und Programme gemäß der Richtlinie 2001/80/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2001 zur Begrenzung von Schadstoffemissionen von Großfeuerungsanlagen in die Luft13, der Richtlinie 2001/81/EG und der Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Juni 2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm14 einbezogen werden. Die in dieser Richtlinie enthaltenen Luftqualitätsziele werden auch in den Fällen uneingeschränkt berücksichtigt, in denen auf Grund der Richtlinie 2008/1/EG des ­Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Januar 2008 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung15 Genehmigungen für industrielle Tätigkeiten erteilt werden.

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19 Es sollten Aktionspläne aufgestellt werden, in denen die Maßnahmen angegeben werden, die kurzfristig zu ergreifen sind, wenn die Gefahr besteht, dass eine oder mehrere einschlägige Alarmschwelle(n) überschritten werden, um diese Gefahr einzudämmen und die Dauer der Überschreitung zu begrenzen. Besteht ­diese Gefahr bei einem oder mehreren Grenz- oder Zielwerten, so können die Mitgliedstaaten gegebenenfalls solche Pläne für kurzfristige Maßnahmen erstellen. Hinsichtlich Ozon sollten solche Pläne für kurzfristige Maßnahmen der Entscheidung 2004/279/EG der Kommission vom 19. März 2004 über Leitlinien für die Umsetzung der Richtlinie 2002/3/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Ozongehalt der Luft16 Rechnung tragen. 20 Überschreitet die Konzentration eines Schadstoffs die einschlägigen Luftqualitätsziele gegebenenfalls zuzüglich der Toleranzmarge – bzw. die Alarmschwelle – infolge einer signifikanten Verunreinigung in einem anderen Mitgliedstaat oder besteht die Gefahr einer derartigen Überschreitung, sollten die Mitgliedstaaten einander konsultieren. Wegen des grenzüberschreitenden Charakters bestimmter Schadstoffe wie Ozon und Partikel könnte bei der Ausarbeitung und Durchführung von Luftqualitätsplänen und Plänen für kurzfristige Maßnahmen sowie bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit eine Koordinierung zwischen benachbarten Mitgliedstaaten notwendig sein. Gegebenenfalls sollten die Mitgliedstaaten weiterhin mit Drittländern zusammenarbeiten, wobei besonderer Wert auf eine frühzeitige Einbeziehung der Beitrittsländer zu legen ist. 21 Die Mitgliedstaaten und die Kommission müssen Informationen über die Luftqualität sammeln, austauschen und verbreiten, damit die Kenntnisse über die Auswirkungen der Luftverschmutzung erweitert und geeignete Strategien entwickelt werden können. Zu den aktuellen Informationen über die Konzentrationen aller regulierten Schadstoffe in der Luft sollte auch die Öffentlichkeit problemlos Zugang haben. […] 23 Die Verfahren für die Erstellung, Beurteilung und Übermittlung von Daten über die Luftqualität müssen angepasst werden, damit die Informationen hauptsächlich auf elektronischem Weg und über das Internet bereitgestellt werden können und damit diese Verfahren mit der Richtlinie 2007/2/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2007 zur Schaffung einer Geodateninfrastruktur in der Europäischen G ­ emeinschaft (INSPIRE)17 vereinbar sind. 24 Die Kriterien und Techniken zur Beurteilung der Luftqualität sollten an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt und die zu liefernden Informationen wiederum an diese angepasst werden können. 25 Da die Ziele dieser Richtlinie auf Ebene der Mitgliedstaaten wegen des grenzüberschreitenden Charakters von Luftschadstoffen nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher besser auf Gemeinschaftsebene zu verwirklichen sind, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das zur Erreichung dieser Ziele 26 Die Mitgliedstaaten sollten festlegen, welche Sanktionen bei Verstößen gegen diese Richtlinie zu verhängen sind, und deren Durchsetzung gewährleisten. Die Sanktionen sollten wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. 27 Einige Bestimmungen der durch diese Richtlinie aufgehobenen Rechtsakte sollten weiterhin in Kraft bleiben, damit die Kontinuität der geltenden Luftqualitätsgrenzwerte für Stickstoffdioxid bis zur Festlegung neuer Werte ab 1. Januar 2010, der Bestimmungen über die Berichterstattung über die Luftqualität bis zur Verabschiedung neuer Durchführungsvorschriften und der vorgeschriebenen Ausgangsbeurteilung der Luftqualität gemäß der Richtlinie 2004/107/EG gewährleistet ist. 28 Die Verpflichtung zur Umsetzung dieser Richtlinie in einzelstaatliches Recht sollte sich auf die Bestimmungen beschränken, die eine inhaltliche Änderung gegenüber den Vorläuferrichtlinien darstellen. 29 Gemäß Nummer 34 der Interinstitutionellen Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ 18 sind die Mitgliedstaaten aufgefordert, für ihre eigenen Zwecke und im Interesse der Gemeinschaft eigene Aufstellungen vorzunehmen, aus denen im Rahmen des Möglichen die Entsprechungen der Richtlinie und der Umsetzungsmaßnahmen zu entnehmen sind, und diese zu veröffentlichen. 30 Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Insbesondere soll durch diese Richtlinie gemäß Artikel 37 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität in die Politiken der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden. 31 Die zur Durchführung dieser Richtlinie erforderlichen Maßnahmen sollten gemäß dem Beschluss 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse19 beschlossen werden. […] 33 Nach der Umsetzungsklausel sind die Mitgliedstaaten verpflichtet sicherzustellen, dass die erforderlichen Messungen für den städtischen Hintergrund rechtzeitig vorliegen, um den Indikator für die durchschnittliche Exposition zu ermitteln, so dass gewährleistet ist, dass die Voraussetzungen für die Beurteilung des nationalen Ziels für die Reduzierung der Exposition und die Berechnung des Indikators für die durchschnittliche Exposition gegeben sind

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KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates

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ABl. L 87 vom 25.3.2004, S. 50.

17

ABl. L 108 vom 25.4.2007, S. 1.

18

ABl. C 321 vom 31.12.2003, S. 1.

19

ABl. L 184 vom 17.7.1999, S. 23. Geändert durch den ­Beschluss 2006 / 512 / EG (ABl. L 200 vom 22.7.2006, S. 11).

Gründe für den Erlass der Richtlinie


Erlassene Richtlinie Kapitel I

Allgemeine Bestimmungen Artikel 1 Gegenstand Die in dieser Richtlinie festgelegten Maßnahmen dienen folgenden Zielen: 1 Definition und Festlegung von Luftqualitätszielen zur Vermeidung, Verhütung oder Verringerung schädlicher Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt insgesamt; 2 Beurteilung der Luftqualität in den Mitgliedstaaten anhand einheitlicher Methoden und Kriterien; 3 Gewinnung von Informationen über die Luftqualität als Beitrag zur Bekämpfung von Luftverschmutzungen und -belastungen und zur Überwachung der langfristigen Tendenzen und der Verbesserungen, die aufgrund einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher Maßnahmen erzielt werden; 4 Gewährleistung des Zugangs der Öffentlichkeit zu solchen Informationen über die Luftqualität; 5 Erhaltung der Luftqualität dort, wo sie gut ist, und Verbesserung der Luftqualität, wo das nicht der Fall ist; 6 Förderung der verstärkten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Verringerung der Luftverschmutzung. Artikel 2 Begriffsbestimmungen Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen: 1 „Luft“ ist die Außenluft in der Troposphäre mit Ausnahme von Arbeitsstätten im Sinne der Richtlinie 89/654/EWG 20, an denen Bestimmungen für Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz gelten und zu denen die Öffentlichkeit normalerweise keinen Zugang hat; 2 „Schadstoff“ ist jeder in der Luft vorhandene Stoff, der schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und / oder die Umwelt insgesamt haben kann; 3 „Wert“ ist die Konzentration eines Schadstoffs in der Luft oder die Ablagerung eines Schadstoffs auf bestimmten Flächen in einem bestimmten Zeitraum; 4 „Beurteilung“ sind alle Verfahren zur Messung, Berechnung, Vorhersage oder Schätzung eines Schadstoffwertes; 5 „Grenzwert“ ist ein Wert, der aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse mit dem Ziel festgelegt wird, schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und / oder die Umwelt insgesamt zu vermeiden, zu verhüten oder zu verringern, und der innerhalb eines bestimmten Zeitraums eingehalten werden muss und danach nicht überschritten werden darf; 6 „kritischer Wert“ ist ein aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse festgelegter Wert, dessen Überschreitung unmittelbare schädliche Auswirkungen für manche Rezeptoren wie Bäume, sonstige Pflanzen oder natürliche Ökosysteme, aber nicht für den Menschen haben kann; 7 „Toleranzmarge“ ist der Prozentsatz des Grenzwerts, um den dieser unter den in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen überschritten werden darf; 8 „Luftqualitätspläne“ sind Pläne, in denen Maßnahmen zur Erreichung der Grenzwerte oder Zielwerte festgelegt sind; 9 „Zielwert“ ist ein Wert, der mit dem Ziel festgelegt wird, schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und / oder die Umwelt insgesamt zu vermeiden, zu verhindern oder zu verringern, und der soweit wie möglich in einem bestimmten Zeitraum eingehalten werden muss; 10 „Alarmschwelle“ ist ein Wert, bei dessen Überschreitung bei kurzfristiger Exposition ein Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt besteht und bei dem die Mitgliedstaaten unverzüglich Maßnahmen ergreifen müssen 11 „Informationsschwelle“ ist ein Wert, bei dessen Überschreitung bei kurzfristiger Exposition ein Risiko für die menschliche Gesundheit für besonders empfindliche Bevölkerungsgruppen besteht und bei dem unverzüglich geeignete Informationen erforderlich sind;

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12 „obere Beurteilungsschwelle“ ist ein Wert, unterhalb dessen zur Beurteilung der Luftqualität eine Kombination von ortsfesten Messungen und Modellrechnungen und / oder orientierenden Messungen angewandt werden kann; 13 „untere Beurteilungsschwelle“ ist ein Wert, unterhalb dessen zur Beurteilung der Luftqualität nur Modellrechnungen oder Techniken der objektiven Schätzung angewandt zu werden brauchen; 14 „langfristiges Ziel“ ist ein Wert zum wirksamen Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, der langfristig einzuhalten ist, es sei denn, dies ist mit verhältnismäßigen Maßnahmen nicht erreichbar; 15 „Emissionsbeiträge aus natürlichen Quellen“ sind Schadstoffemissionen, die nicht unmittelbar oder mittelbar durch menschliche Tätigkeit verursacht werden, einschließlich Naturereignissen wie Vulkanausbrüchen, Erdbeben, geothermischen Aktivitäten, Freilandbränden, Stürmen, Meeresgischt oder der atmosphärischen Aufwirbelung oder des atmosphärischen Transports natürlicher Partikel aus Trockengebieten; 16 „Gebiet“ ist ein Teil des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats, das dieser Mitgliedstaat für die Beurteilung und Kontrolle der Luftqualität abgegrenzt hat 17 „Ballungsraum“ ist ein städtisches Gebiet mit einer Bevölkerung von mehr als 250.000 Einwohnern oder, falls 250.000 oder weniger Einwohner in dem Gebiet wohnen, mit einer Bevölkerungsdichte pro km2, die von den Mitgliedstaaten festzulegen ist; 18 „PM10“ sind die Partikel, die einen größenselektierenden Lufteinlass gemäß der Referenzmethode für die Probenahme und Messung von PM10 , EN 12341, passieren, der für einen aerodynamischen Durchmesser von 10 μm eine Abscheidewirksamkeit von 50 % aufweist; 19 „PM2,5“ sind die Partikel, die einen größenselektierenden Lufteinlass gemäß der Referenzmethode für die Probenahme und Messung von PM2,5 EN 14907, passieren, der für einen aerodynamischen Durchmesser von 2,5 μm eine Abscheidewirksamkeit von 50 % aufweist; 20 „Indikator für die durchschnittliche Exposition“ ist ein anhand von Messungen an Messstationen für den städtischen Hintergrund im gesamten Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ermittelter Durchschnittswert für die Exposition der Bevölkerung. Er dient der Berechnung des nationalen Ziels für die Reduzierung der Exposition und der Berechnung der Verpflichtung in Bezug auf die Expositionskonzentration; 21 „Verpflichtung in Bezug auf die Expositionskonzentration“ ist ein Niveau, das anhand des Indikators für die durchschnittliche Exposition mit dem Ziel festgesetzt wird, schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit zu verringern, und das in einem bestimmten Zeitraum erreicht werden muss; 22 „nationales Ziel für die Reduzierung der Exposition“ ist eine prozentuale Reduzierung der durchschnittlichen Exposition der Bevölkerung eines Mitgliedstaats, die für das Bezugsjahr mit dem Ziel festgesetzt wird, schädliche Auswirkungen auf die menschliche Ge­sundheit zu verringern, und die möglichst in einem bestimmten Zeitraum erreicht werden muss; 23 „Messstationen für den städtischen Hintergrund“ sind Standorte in städtischen Gebieten, an denen die Werte repräsentativ für die Exposition der allgemeinen städtischen Bevölkerung sind; 24 „Stickstoffoxide“ sind die Summe der Volumenmischungsverhältnisse (ppbv) von Stickstoffmonoxid und Stickstoffdioxid, ausgedrückt in der Einheit der Massenkonzentration von Stickstoffdioxid (μg / m3); 25 „ortsfeste Messungen“ sind kontinuierlich oder stichprobenartig an festen Orten durchgeführte Messungen zur Ermittlung der Werte entsprechend den jeweiligen Datenqualitätszielen; 26 „orientierende Messungen“ sind Messungen, die weniger strenge Datenqualitätsziele erreichen als ortsfeste Messungen; 27 „flüchtige organische Verbindungen“ (VOC) sind organische Verbindungen anthropogenen oder biogenen Ursprungs mit Ausnahme von Methan, die durch Reaktion mit Stickstoffoxiden in Gegenwart von Sonnenlicht photochemische Oxidantien erzeugen können; 28 „Ozonvorläuferstoffe“ sind Stoffe, die zur Bildung von bodennahem Ozon beitragen; einige dieser Stoffe sind in Anhang X aufgeführt.

Richtlinie 89 / 654 / EWG des Rates vom 30. November 1989 über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz in ­Arbeitsstätten (ABl. L 393 vom 30.12.1989, S. 1). Geändert durch die Richtlinie 2007/ 30 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 165 vom 27.6.2007, S. 21).

Erlassene Richtlinie

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Artikel 3 Verantwortungsbereiche Die Mitgliedstaaten benennen auf den entsprechenden Ebenen die zuständigen Behörden und Stellen, denen die nachstehenden Aufgaben übertragen werden: a Beurteilung der Luftqualität; b Zulassung vom Messsystemen (Methoden, Ausrüstung, Netze, Laboratorien); c Sicherstellung der Genauigkeit der Messungen; d Analyse der Beurteilungsmethoden; e Koordinierung gemeinschaftlicher, von der Kommission durchgeführter Qualitätssicherungsprogramme in ihrem Hoheitsgebiet; f Zusammenarbeit mit den übrigen Mitgliedstaaten und der Kommission. Gegebenenfalls beachten die zuständigen Behörden und Stellen Anhang I Abschnitt C. Artikel 4 Festlegung von Gebieten und Ballungsräumen Die Mitgliedstaaten legen in ihrem gesamten Hoheitsgebiet Gebiete und Ballungsräume fest. In allen Gebieten und Ballungsräumen wird die Luftqualität beurteilt und unter Kontrolle gehalten. Kapitel II

Beurteilung der Luftqualität Abschnitt 1 Beurteilung der Luftqualität in Bezug auf Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel, Blei, Benzol und Kohlenmonoxid Artikel 5 Beurteilungsverfahren 1 Für Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel (PM10 und PM2,5), Blei, Benzol und Kohlenmonoxid gelten die in Anhang II Abschnitt A festgelegten oberen und unteren Beurteilungsschwellen. Alle Gebiete und Ballungsräume werden anhand dieser Beurteilungsschwellen eingestuft. 2 Die Einstufung nach Absatz 1 wird spätestens alle fünf Jahre gemäß dem in Anhang II Abschnitt B festgelegten Verfahren überprüft. Jedoch sind die Einstufungen bei signifikanten Änderungen der Aktivitäten, die für die Konzentration von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid oder gegebenenfalls Stickstoffoxiden, Partikeln (PM10 , PM2,5), Blei, Benzol oder Kohlenmonoxid in der Luft von Bedeutung sind, häufiger zu überprüfen. Artikel 6 Beurteilungskriterien 1 Die Mitgliedstaaten beurteilen die Luftqualität in Bezug auf die in Artikel 5 genannten Schadstoffe in allen ihren Gebieten und Ballungsräumen anhand der in den Absätzen 2, 3 und 4 sowie in Anhang III festgelegten Kriterien. 2 In allen Gebieten und Ballungsräumen, in denen der Wert der in Absatz 1 genannten Schadstoffe die für diese Schadstoffe festgelegte obere Beurteilungsschwelle überschreitet, sind zur Beurteilung der Luftqualität ortsfeste Messungen durchzuführen. Über diese ortsfesten Messungen hinaus können Modellrechnungen und / oder orientierende Messungen durchgeführt werden, um angemessene Informationen über die räumliche Verteilung der Luftqualität zu erhalten. 3 In allen Gebieten und Ballungsräumen, in denen der Wert der in Absatz 1 genannten Schadstoffe die für diese Schadstoffe festgelegte obere Beurteilungsschwelle unterschreitet, kann zur Beurteilung der Luftqualität eine Kombination von ortsfesten Messungen und Modellrechnungen und /  oder orientierenden Messungen angewandt werden. 4 In allen Gebieten und Ballungsräumen, in denen der Wert der in Absatz 1 genannten Schadstoffe die für diese Schadstoffe festgelegte untere Beurteilungsschwelle unterschreitet, genügen zur Beurteilung der Luftqualität Modellrechnungen, Techniken der objektiven Schätzung oder beides. 5 Zusätzlich zu den Beurteilungen gemäß den Absätzen 2, 3 und 4 sind Messungen an Messstationen für ländliche Hintergrundwerte abseits signifikanter Luftverschmutzungsquellen durchzuführen, um mindestens Informationen über die Gesamtmassenkonzentration und die Konzentration von Staubinhaltsstoffen von Partikeln (PM2,5)

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im Jahresdurchschnitt zu erhalten; diese Messungen sind anhand der folgenden Kriterien durchzuführen: a Es ist eine Probenahmestelle je 100 000 km2 einzurichten; b jeder Mitgliedstaat richtet mindestens eine Messstation ein, kann aber die Einrichtung einer oder mehrerer gemeinsamer Messstationen für benachbarte Gebiete mit angrenzenden Mitgliedstaaten vereinbaren, um die erforderliche räumliche Auflösung zu erzielen; c gegebenenfalls ist die Überwachung mit der Strategie und den Messungen des EMEP-Programms (Programm über die Zusammenarbeit bei der Messung und Bewertung der weiträumigen Übertragung von luftverunreinigenden Stoffen in Europa) zu koordinieren; d Anhang I Abschnitte A und C gilt für die Datenqualitätsziele für Massenkonzentrationsmessungen von Partikeln; Anhang IV findet uneingeschränkt Anwendung. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission mit, welche Messmethoden sie bei der Messung der chemischen Zusammensetzung von Partikeln (PM2,5) verwendet haben. Artikel 7 Probenahmestellen 1 Für die Festlegung des Standorts von Probenahmestellen zur Messung von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxiden, Partikeln (PM10, PM2,5), Blei, Benzol und Kohlenmonoxid in der Luft gelten die Kriterien des Anhangs III. 2 In Gebieten und Ballungsräumen, in denen ortsfeste Messungen die einzige Informationsquelle für die Beurteilung der Luftqualität darstellen, darf die Anzahl der Probenahmestellen für jeden relevanten Schadstoff nicht unter der in Anhang V Abschnitt A festgelegten Mindestanzahl von Probenahmestellen liegen. 3 Für Gebiete und Ballungsräume, in denen die Informationen aus Probenahmestellen für ortsfeste Messungen durch solche aus Modellrechnungen und / oder orientierenden Messungen ergänzt werden, kann die in Anhang V Abschnitt A festgelegte Gesamtzahl der Probenahmestellen um bis zu 50 % verringert werden, sofern a die zusätzlichen Methoden ausreichende Informationen für die Beurteilung der Luftqualität in Bezug auf Grenzwerte und Alarmschwellen sowie angemessene Informationen für die Öffentlichkeit liefern; b die Zahl der einzurichtenden Probenahmestellen und die räumliche Auflösung anderer Techniken ausreichen, um bei der Ermittlung der Konzentration des relevanten Schadstoffs die in Anhang I Abschnitt A festgelegten Datenqualitätsziele zu erreichen, und Beurteilungsergebnisse ermöglichen, die den in Anhang I Abschnitt B festgelegten Kriterien entsprechen. Die Ergebnisse von Modellrechnungen und / oder orientierenden Messungen werden bei der Beurteilung der Luftqualität in Bezug auf die Grenzwerte berücksichtigt. 4 Die Anwendung der Kriterien für die Auswahl der Probenahmestellen in den Mitgliedstaaten wird von der Kommission überwacht, um die harmonisierte Anwendung dieser Kriterien in der gesamten Europäischen Union zu erleichtern. Artikel 8 Referenzmessmethoden 1 Die Mitgliedstaaten wenden die in Anhang VI Abschnitt A und Abschnitt C festgelegten Referenzmessmethoden und Kriterien an. 2 Andere Messmethoden können angewandt werden, sofern die in Anhang VI Abschnitt B festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Abschnitt 2 Beurteilung der Luftqualität in Bezug auf Ozon Artikel 9 Beurteilungskriterien 1 Haben in einem Gebiet oder Ballungsraum die Ozonkonzentrationen die in Anhang VII Abschnitt C festgelegten langfristigen Ziele in einem Jahr der vorangehenden fünfjährigen Messperiode überschritten, so sind ortsfeste Messungen vorzunehmen. 2 Liegen die Daten für die vorangehende fünfjährige Messperiode nicht vollständig vor, so können die Mitgliedstaaten die Ergebnisse von kurzzeitigen Messkampagnen während derjenigen Jahreszeit und an denjenigen Stellen, an denen wahrscheinlich die höchsten Schad-

KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates

Erlassene Richtlinie


stoffwerte erreicht werden, mit Informationen aus Emissionskatastern und Modellen verbinden, um zu bestimmen, ob die in Absatz 1 genannten langfristigen Ziele während dieser fünf Jahre überschritten wurden. Artikel 10 Probenahmestellen 1 Für die Festlegung des Standorts von Probenahmestellen zur Messung von Ozon gelten die Kriterien des Anhangs VIII. 2 In Gebieten und Ballungsräumen, in denen Messungen die einzige Informationsquelle für die Beurteilung der Luftqualität darstellen, darf die Zahl der Probenahmestellen für ortsfeste Messungen von Ozon nicht unter der in Anhang IX Abschnitt A festgelegten Mindestanzahl von Probenahmestellen liegen. 3 Für Gebiete und Ballungsräume, in denen die Informationen aus Probenahmestellen für ortsfeste Messungen durch solche aus Modellrechnungen und / oder orientierenden Messungen ergänzt werden, kann die in Anhang IX Abschnitt A festgelegte Gesamtzahl der Probenahmestellen jedoch verringert werden, sofern a die zusätzlichen Methoden ausreichende Informationen für die Beurteilung der Luftqualität in Bezug auf die Zielwerte, die langfristigen Ziele sowie die Informations- und Alarmschwellen liefern; b die Zahl der einzurichtenden Probenahmestellen und die räumliche Auflösung anderer Techniken ausreichen, um bei der Ermittlung der Ozonkonzentration die in Anhang I Abschnitt A festgelegten Datenqualitätsziele zu erreichen, und Beurteilungsergebnisse ermöglichen, die den in Anhang I Abschnitt B festgelegten Kriterien entsprechen; c in jedem Gebiet oder Ballungsraum mindestens eine Probenahmestelle je zwei Millionen Einwohner oder eine Probenahmestelle je 50 000 km2 vorhanden sind, je nachdem, was zur größeren Zahl von Probenahmestellen führt; in jedem Fall muss es in jedem Gebiet oder Ballungsraum mindestens eine Probenahmestelle geben; d Stickstoffdioxid an allen verbleibenden Probenahmestellen mit Ausnahme von Stationen im ländlichen Hintergrund im Sinne von Anhang VIII Abschnitt A gemessen wird. Die Ergebnisse von Modellrechnungen und / oder orientierenden Messungen werden bei der Beurteilung der Luftqualität in Bezug auf die Zielwerte berücksichtigt. 4 Die Konzentration an Stickstoffdioxid ist an mindestens 50 % der nach Anhang IX Abschnitt A erforderlichen Ozonprobenahmestellen zu messen. Außer bei Messstationen im ländlichen Hintergrund im Sinne von Anhang VIII Abschnitt A, wo andere Messmethoden angewandt werden können, sind diese Messungen kontinuierlich vorzunehmen. 5 In Gebieten und Ballungsräumen, in denen in jedem Jahr während der vorangehenden fünfjährigen Messperiode die Konzentrationen unter den langfristigen Zielen liegen, ist die Zahl der Probenahmestellen für ortsfeste Messungen gemäß Anhang IX Abschnitt B zu bestimmen. 6 Jeder Mitgliedstaat sorgt dafür, dass in seinem Hoheitsgebiet mindestens eine Probenahmestelle zur Erfassung der Konzentrationen der in Anhang X aufgeführten Ozonvorläuferstoffe errichtet und betrieben wird. Er legt die Zahl und die Standorte der Stationen zur Messung von Ozonvorläuferstoffen unter Berücksichtigung der in Anhang X festgelegten Ziele und Methoden fest. Artikel 11 Referenzmessmethoden 1 Die Mitgliedstaaten wenden die in Anhang VI Abschnitt A Nummer 8 festgelegte Referenzmethode für die Messung von Ozon an. Andere Messmethoden können angewandt werden, sofern die in Anhang VI Abschnitt B festgelegten Bedingungen erfüllt sind. 2 Jeder Mitgliedstaat teilt der Kommission mit, welche der in Anhang X vorgesehenen Methoden er für Probenahme und Messung von VOC anwendet.

Erlassene Richtlinie

Kapitel III

Kontrolle der Luftqualität Artikel 12 Anforderungen für Gebiete, in denen die Werte unterhalb der Grenzwerte liegen In Gebieten und Ballungsräumen, in denen die Werte von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid, PM10, PM2,5, Blei, Benzol und Kohlenmonoxid in der Luft unter den jeweiligen in den Anhängen XI und XIV festgelegten Grenzwerten liegen, halten die Mitgliedstaaten die Werte dieser Schadstoffe unterhalb der Grenzwerte und sie bemühen sich darum, die beste Luftqualität aufrechtzuerhalten, die mit einer nachhaltigen Entwicklung in Einklang zu bringen ist. Artikel 13 Grenzwerte und Alarmschwellen für den Schutz der menschlichen Gesundheit 1 Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass überall in ihren Gebieten und Ballungsräumen die Werte für Schwefeldioxid, PM10, Blei und Kohlenmonoxid in der Luft die in Anhang XI festgelegten Grenzwerte nicht überschreiten. Die in Anhang XI festgelegten Grenzwerte für Stickstoffdioxid und Benzol dürfen von dem dort festgelegten Zeitpunkt an nicht mehr überschritten werden. Die Einhaltung dieser Anforderungen wird nach Anhang III beurteilt. Die in Anhang XI festgelegten Toleranzmargen sind gemäß Artikel 22 Absatz 3 und Artikel 23 Absatz 1 anzuwenden. 2 Die Alarmschwellen für die Schwefeldioxid- und Stickstoffdioxidkonzentrationen in der Luft sind in Anhang XII Abschnitt A festgelegt. Artikel 14 Kritische Werte 1 Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die in Anhang XIII festgelegten kritischen Werte entsprechend der Beurteilung nach Anhang III Abschnitt A eingehalten werden. 2 Sind ortsfeste Messungen die einzige Informationsquelle für die Beurteilung der Luftqualität, darf die Anzahl der Probenahmestellen nicht unter der in Anhang V Abschnitt C festgelegten Mindestanzahl liegen. Werden diese Informationen durch orientierende Messungen oder Modellrechnungen ergänzt, so kann die Mindestanzahl der Probenahmestellen um bis zu 50 % reduziert werden, sofern die beurteilten Konzentrationen des entsprechenden Schadstoffs im Einklang mit den in Anhang I Abschnitt A festgelegten Datenqualitätszielen ermittelt werden können. Artikel 15 Nationales Ziel für die Reduzierung der Exposition gegenüber PM2,5 zum Schutz der menschlichen Gesundheit 1 Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, die keine unverhältnismäßigen Kosten verursachen, um die Exposition gegenüber PM2,5 zu verringern, damit das nationale Ziel für die Reduzierung der Exposition gemäß Anhang XIV Abschnitt B innerhalb des dort festgelegten Jahres erreicht wird. 2 Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass der gemäß Anhang XIV Abschnitt A festgelegte Indikator für die durchschnittliche Exposition für 2015 nicht die in Anhang XIV Abschnitt C festgelegte Verpflichtung in Bezug auf die Expositionskonzentration übersteigt. 3 Der Indikator für die durchschnittliche Exposition gegenüber PM2,5 ist nach Maßgabe von Anhang XIV Abschnitt A zu beurteilen. 4 Jeder Mitgliedstaat sorgt gemäß Anhang III dafür, dass sich durch die Verteilung und die Anzahl der Probenahmestellen, auf die sich der Indikator für die durchschnittliche Exposition gegenüber PM2,5 stützt, ein angemessenes Bild der Exposition der allgemeinen Bevölkerung ergibt. Die Anzahl der Probenahmestellen darf nicht unter der gemäß Anhang V Abschnitt B vorgesehenen Anzahl liegen. Artikel 16 PM2,5-Zielwert und -Grenzwert zum Schutz der menschlichen Gesundheit 1 Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, die keine unverhältnismäßigen Kosten verursachen, um sicherzustellen, dass die PM2,5-Konzentrationen in der Luft ab dem in Anhang XIV Abschnitt D festgelegten Zeitpunkt nicht mehr den dort vorgegebenen Zielwert überschreiten. 2 Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass PM2,5-Konzentrationen in der Luft überall in ihren Gebieten und Ballungsräumen ab dem in Anhang XIV Abschnitt E festgelegten Zeitpunkt nicht mehr den dort

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festgelegten Grenzwert überschreiten. Die Einhaltung dieser Anforderung wird nach Anhang III beurteilt. 3 Die in Anhang XIV Abschnitt E festgelegte Toleranzmarge ist gemäß Artikel 23 Absatz 1 anzuwenden. Artikel 17 Anforderungen in Gebieten und Ballungsräumen, in denen die Ozonkonzentrationen die Zielwerte und die langfristigen Ziele überschreiten 1 Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, die keine unverhältnismäßigen Kosten verursachen, um sicherzustellen, dass die Zielwerte und die langfristigen Ziele erreicht werden. 2 Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in Gebieten und Ballungsräumen, in denen ein Zielwert überschritten wird, ab dem in Anhang VII Abschnitt B dieser Richtlinie festgelegten Zeitpunkt das gemäß Artikel 6 der Richtlinie 2001/81/EG erstellte Programm und gegebenenfalls ein Luftqualitätsplan durchgeführt werden, um die Zielwerte zu erreichen, es sei denn, dies ist mit Maßnahmen, die keine unverhältnismäßigen Kosten verursachen, nicht möglich. 3 Für Gebiete und Ballungsräume, in denen die Ozonwerte in der Luft die langfristigen Ziele, nicht jedoch die Zielwerte überschreiten, erarbeiten die Mitgliedstaaten kosteneffiziente Maßnahmen, um die langfristigen Ziele zu erreichen, und führen sie durch. Diese Maßnahmen müssen zumindest mit allen Luftqualitätsplänen […] im Einklang stehen. Artikel 18 Anforderungen in Gebieten und Ballungsräumen, in denen die Ozonkonzentrationen die langfristigen Ziele erreichen In Gebieten und Ballungsräumen, in denen die Ozonkonzentrationen die langfristigen Ziele erreichen, halten die Mitgliedstaaten – soweit Faktoren wie der grenzüberschreitende Charakter der Ozonbelastung und die meteorologischen Gegebenheiten dies zulassen – diese Werte unter den langfristigen Zielen und erhalten durch verhältnismäßige Maßnahmen die bestmögliche Luftqualität, die mit einer nachhaltigen Entwicklung in Einklang zu bringen ist, und ein hohes Schutzniveau für die Umwelt und die menschliche Gesundheit. Artikel 19 Bei Überschreitung der Informationsschwelle oder der Alarmschwellen erforderliche Maßnahmen Bei Überschreitung der in Anhang XII festgelegten Informationsschwelle oder einer der dort festgelegten Alarmschwellen ergreifen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um die Öffentlichkeit […] zu informieren. Darüber hinaus übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission vorläufige Informationen über die festgestellten Werte sowie über die Zeiträume, in denen die Alarmschwelle oder die Informationsschwelle überschritten wurden. Artikel 20 Emissionsbeiträge aus natürlichen Quellen 1 Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission für das jeweilige Jahr eine Aufstellung der Gebiete und Ballungsräume, in denen Überschreitungen der Grenzwerte für einen bestimmten Schadstoff Emissionsbeiträgen aus natürlichen Quellen zuzurechnen sind. Sie legen Angaben zu den Konzentrationen und Quellen sowie Nachweise dafür vor, dass die Überschreitungen auf natürliche Quellen zurückzuführen sind. 2 Wurde die Kommission gemäß Absatz 1 über eine natürlichen Quellen zuzurechnende Überschreitung unterrichtet, so gilt diese Überschreitung nicht als Überschreitung im Sinne dieser Richtlinie. 3 Die Kommission veröffentlicht bis zum 11. Juni 2010 Leitlinien für den Nachweis und die Nichtberücksichtigung von Überschreitungen, die natürlichen Quellen zuzurechnen sind. Artikel 21 Überschreitungen aufgrund der Ausbringung von Streusand oder -salz auf Straßen im Winterdienst 1 Die Mitgliedstaaten können Gebiete oder Ballungsräume ausweisen, in denen die Grenzwerte für PM10 in der Luft aufgrund der Aufwirbelung von Partikeln nach der Ausbringung von Streusand oder -salz auf Straßen im Winterdienst überschritten werden. 2 Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission eine Liste dieser Gebiete und Ballungsräume sowie Informationen über die dortigen Konzentrationen und Quellen von PM10.

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3

Bei der Übermittlung der in Artikel 27 vorgeschriebenen Informationen an die Kommission legen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Nachweise dafür vor, dass die Überschreitungen auf aufgewirbelte Partikel zurückzuführen sind und angemessene Maßnahmen zur Verringerung der Konzentrationen getroffen wurden. 4 Unbeschadet des Artikels 20 müssen die Mitgliedstaaten im Falle der in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Gebiete und Ballungsräume den Luftqualitätsplan gemäß Artikel 23 nur insoweit erstellen, als Überschreitungen auf andere PM10-Quellen als die Ausbringung von Streusand oder -salz auf Straßen im Winterdienst zurückzuführen sind. 5 Die Kommission veröffentlicht bis zum 11. Juni 2010 Leitlinien für den Nachweis von Emissionsbeiträgen durch Aufwirbelung von Partikeln nach Ausbringung von Streusand oder -salz auf Straßen im Winterdienst. Artikel 22 Verlängerung der Fristen für die Erfüllung der Vorschriften und Ausnahmen von der vorgeschriebenen Anwendung bestimmter Grenzwerte 1 Können in einem bestimmten Gebiet oder Ballungsraum die Grenzwerte für Stickstoffdioxid oder Benzol nicht innerhalb der in Anhang XI festgelegten Fristen eingehalten werden, so kann ein Mitgliedstaat diese Fristen für dieses bestimmte Gebiet oder diesen bestimmten Ballungsraum um höchstens fünf Jahre verlängern, wenn folgende Voraussetzung erfüllt ist: für das Gebiet oder den Ballungsraum, für das / den die Verlängerung gelten soll, wird ein Luftqualitätsplan gemäß Artikel 23 erstellt; dieser Luftqualitätsplan wird durch die in Anhang XV Abschnitt B aufgeführten Informationen in Bezug auf die betreffenden Schadstoffe ergänzt und zeigt auf, wie die Einhaltung der Grenzwerte vor Ablauf der neuen Frist erreicht werden soll. 2 Können in einem bestimmten Gebiet oder Ballungsraum die Grenzwerte für PM10 nach Maßgabe des Anhangs XI aufgrund standortspezifischer Ausbreitungsbedingungen, ungünstiger klimatischer Bedingungen oder grenzüberschreitender Einträge nicht eingehalten werden, so werden die Mitgliedstaaten bis zum 11. Juni 2011 von der Verpflichtung zur Einhaltung dieser Grenzwerte ausgenommen, sofern die in Absatz 1 festgelegten Bedingungen erfüllt sind und der Mitgliedstaat nachweist, dass alle geeigneten Maßnahmen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene getroffen wurden, um die Fristen einzuhalten. 3 Bei der Anwendung des Absatzes 1 oder des Absatzes 2 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der Grenzwert für jeden Schadstoff nicht um mehr als die für jeden der betroffenen Schadstoffe in Anhang XI festgelegte maximale Toleranzmarge überschritten wird. 4 Ein Mitgliedstaat, der der Ansicht ist, dass Absatz 1 oder Absatz 2 anwendbar ist, teilt dies der Kommission mit und übermittelt ihr den Luftqualitätsplan gemäß Absatz 1 einschließlich aller relevanten Informationen, die die Kommission benötigt, um festzustellen, ob die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Dabei berücksichtigt die Kommission die voraussichtlichen Auswirkungen der von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen auf die gegenwärtige und die zukünftige Luftqualität in den Mitgliedstaaten sowie die voraussichtlichen Auswirkungen der gegenwärtigen Gemeinschaftsmaßnahmen und der von der Kommission vorzuschlagenden geplanten Gemeinschaftsmaßnahmen auf die Luftqualität. Hat die Kommission neun Monate nach Eingang dieser Mitteilung keine Einwände erhoben, gelten die Bedingungen für die Anwendung von Absatz 1 bzw. Absatz 2 als erfüllt. Werden Einwände erhoben, kann die Kommission die Mitgliedstaaten auffordern, Anpassungen vorzunehmen oder neue Luftqualitätspläne vorzulegen. Kapitel IV Pläne Artikel 23 Luftqualitätspläne 1 Überschreiten in bestimmten Gebieten oder Ballungsräumen die Schadstoffwerte in der Luft einen Grenzwert oder Zielwert zuzüglich einer jeweils dafür geltenden Toleranzmarge, sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass […] Luftqualitätspläne erstellt werden, um die entsprechenden in den Anhängen XI und XIV festgelegten Grenzwerte oder Zielwerte einzuhalten.

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Erlassene Richtlinie


Im Falle der Überschreitung dieser Grenzwerte, für die die Frist für die Erreichung bereits verstrichen ist, enthalten die Luftqualitätspläne geeignete Maßnahmen, damit der Zeitraum der Nichteinhaltung so kurz wie möglich gehalten werden kann. Die genannten Pläne können zusätzlich gezielte Maßnahmen zum Schutz empfindlicher Bevölkerungsgruppen, einschließlich Maßnahmen zum Schutz von Kindern, vorsehen. Diese Luftqualitätspläne müssen mindestens die in Anhang XV Abschnitt A aufgeführten Angaben umfassen und können Maßnahmen gemäß Artikel 24 umfassen. Diese Pläne sind der Kommission unverzüglich, spätestens jedoch zwei Jahre nach Ende des Jahres, in dem die erste Überschreitung festgestellt wurde, zu übermitteln. Müssen für mehrere Schadstoffe Luftqualitätspläne ausgearbeitet oder durchgeführt werden, so arbeiten die Mitgliedstaaten gegebenenfalls für alle betreffenden Schadstoffe integrierte Luftqualitätspläne aus und führen sie durch. 2 Die Mitgliedstaaten stellen, soweit machbar, die Übereinstimmung mit anderen Plänen sicher, die aufgrund der Richtlinie 2001/80/EG, der Richtlinie 2001/81/EG oder der Richtlinie 2002/49/EG zu erstellen sind, um die entsprechenden Umweltziele zu erreichen. Artikel 24 Pläne für kurzfristige Maßnahmen 1 Besteht in einem bestimmten Gebiet oder Ballungsraum die Gefahr, dass die Schadstoffwerte eine oder mehrere der in Anhang XII festgelegten Alarmschwellen überschreiten, erstellen die Mitgliedstaaten Pläne mit den Maßnahmen, die kurzfristig zu ergreifen sind, um die Gefahr der Überschreitung zu verringern oder deren Dauer zu beschränken. Besteht diese Gefahr bei einem oder mehreren der in den Anhängen VII, XI und XIV genannten Grenzwerte oder Zielwerte, können die Mitgliedstaaten gegebenenfalls solche Pläne für kurzfristige Maßnahmen erstellen. Besteht die Gefahr einer Überschreitung der in Anhang XII Abschnitt B festgelegten Alarmschwelle für Ozon, müssen die Mitgliedstaaten solche Pläne für kurzfristige Maßnahmen jedoch nur dann erstellen, wenn ihrer Ansicht nach unter Berücksichtigung der in ihrem Land gegebenen geografischen, meteorologischen und wirtschaftlichen Bedingungen ein nennenswertes Potenzial zur Minderung der Gefahr, der Dauer oder des Ausmaßes einer solchen Überschreitung besteht. Die Mitgliedstaaten erstellen einen solchen Plan für kurzfristige Maßnahmen unter Berücksichtigung der Entscheidung 2004/279/EG. 2 In diesen Plänen für kurzfristige Maßnahmen gemäß Absatz 1 können im Einzelfall wirkungsvolle Maßnahmen zur Kontrolle und, soweit erforderlich, zur Aussetzung der Tätigkeiten vorgesehen werden, die zur Gefahr einer Überschreitung der entsprechenden Grenzwerte, Zielwerte oder Alarmschwellen beitragen. Diese Pläne können Maßnahmen in Bezug auf den Kraftfahrzeugverkehr, Bautätigkeiten, Schiffe an Liegeplätzen sowie den Betrieb von Industrieanlagen oder die Verwendung von Erzeugnissen und den Bereich Haushaltsheizungen umfassen. Außerdem können in diesen Plänen gezielte Maßnahmen zum Schutz empfindlicher Bevölkerungsgruppen, einschließlich Maßnahmen zum Schutz von Kindern, in Betracht gezogen werden. 3 Falls die Mitgliedstaaten einen Plan für kurzfristige Maßnahmen erstellt haben, machen sie der Öffentlichkeit sowie relevanten Organisationen wie Umweltschutzorganisationen, Verbraucherverbänden, Interessenvertretungen empfindlicher Bevölkerungsgruppen, anderen mit dem Gesundheitsschutz befassten relevanten Stellen und den betreffenden Wirtschaftsverbänden sowohl die Ergebnisse ihrer Untersuchungen zu Durchführbarkeit und Inhalt spezifischer Pläne für kurzfristige Maßnahmen als auch Informationen über die Durchführung dieser Pläne zugänglich. 4 Die Kommission veröffentlicht erstmals vor dem 11. Juni 2010 und danach in regelmäßigen Abständen Beispiele für bewährte Praxis zur Erstellung dieser Pläne für kurzfristige Maßnahmen, die auch Beispiele für bewährte Praxis beim Schutz von empfindlichen Bevölkerungsgruppen, auch von Kindern, umfassen. Artikel 25 Grenzüberschreitende Luftverschmutzung 1 Wird eine Alarmschwelle, ein Grenzwert oder ein Zielwert zuzüglich der dafür geltenden Toleranzmarge oder ein langfristiges Ziel aufgrund erheblicher grenzüberschreitender Transporte von Schad-

Erlassene Richtlinie

stoffen oder ihren Vorläuferstoffen überschritten, so arbeiten die betroffenen Mitgliedstaaten zusammen und sehen gegebenenfalls gemeinsame Maßnahmen vor, beispielsweise gemeinsame oder koordinierte Luftqualitätspläne gemäß Artikel 23, um solche Überschreitungen durch geeignete, angemessene Maßnahmen zu beheben. 2 Die Kommission wird aufgefordert, sich an jeder Form der Zusammenarbeit gemäß Absatz 1 zu beteiligen. Gegebenenfalls erwägt die Kommission unter Berücksichtigung der gemäß Artikel 9 der Richtlinie 2001/81/EG erstellten Berichte, ob weitere Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene ergriffen werden sollten, um die Emissionen von Vorläuferstoffen, auf die die grenzüberschreitende Luftverschmutzung zurückzuführen ist, zu senken. 3 Die Mitgliedstaaten arbeiten, gegebenenfalls nach Artikel 24, gemeinsame Pläne für kurzfristige Maßnahmen aus, die sich auf benachbarte Gebiete anderer Mitgliedstaaten erstrecken, und setzen sie um. Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die benachbarten Gebiete in anderen Mitgliedstaaten, die Pläne für kurzfristige Maßnahmen entwickelt haben, alle zweckdienlichen Informationen erhalten. 4 Bei Überschreitung der Informationsschwelle oder der Alarmschwellen in Gebieten oder Ballungsräumen nahe den Landesgrenzen sind die zuständigen Behörden der betroffenen benachbarten Mitgliedstaaten so schnell wie möglich zu unterrichten. Diese Informationen sind auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 5 Bei der Ausarbeitung der Pläne gemäß den Absätzen 1 und 3 sowie bei der Information der Öffentlichkeit gemäß Absatz 4 streben die Mitgliedstaaten gegebenenfalls eine Zusammenarbeit mit Drittländern, insbesondere mit den Bewerberländern, an. Kapitel V

Informations- und Berichtspflicht Artikel 26 Unterrichtung der Öffentlichkeit 1 Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Öffentlichkeit sowie relevante Organisationen wie Umweltschutzorganisationen, Verbraucherverbände, Interessenvertretungen empfindlicher Bevölkerungsgruppen, andere mit dem Gesundheitsschutz befasste relevante Stellen und die betreffenden Wirtschaftsverbände angemessen und rechtzeitig über Folgendes unterrichtet werden: a Luftqualität gemäß Anhang XVI, b Fristverlängerungen gemäß Artikel 22 Absatz 1, c Ausnahmen gemäß Artikel 22 Absatz 2, d Luftqualitätspläne gemäß Artikel 22 Absatz 1 und Artikel 23 und Programme gemäß Artikel 17 Absatz 2. Diese Informationen sind kostenlos über alle leicht zugänglichen Medien einschließlich des Internets oder jede andere geeignete Form der Telekommunikation zur Verfügung zu stellen und tragen den Bestimmungen der Richtlinie 2007/2/EG Rechnung. 2 Die Mitgliedstaaten veröffentlichen Jahresberichte für alle von dieser Richtlinie erfassten Schadstoffe. Diese Berichte enthalten eine Zusammenfassung der Überschreitungen von Grenzwerten, Zielwerten, langfristigen Zielen, Informationsschwellen und Alarmschwellen in den relevanten Mittelungszeiträumen. Anhand dieser Informationen wird eine zusammenfassende Bewertung der Auswirkungen dieser Überschreitungen vorgenommen. Dem sind gegebenenfalls weitere Informationen und Bewertungen in Bezug auf den Schutz der Wälder beizufügen, sowie Informationen zu anderen Schadstoffen, deren Überwachung in dieser Richtlinie vorgesehen ist, beispielsweise bestimmte nicht regulierte Ozonvorläuferstoffe gemäß Anhang X Abschnitt B. 3 Die Mitgliedstaaten unterrichten die Öffentlichkeit darüber, welche zuständige Behörde oder Stelle für die in Artikel 3 genannten Aufgaben benannt wurde. Artikel 27 Übermittlung von Informationen und Berichten 1 Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Kommission Informationen über die Luftqualität innerhalb der Fristen übermittelt werden, die in den in Artikel 28 Absatz 2 genannten Durchführungsmaßnahmen vorgesehen sind. 2 Auf jeden Fall müssen diese Informationen speziell zur Beurteilung der Einhaltung der Grenzwerte und der kritischen Werte sowie der

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Erreichung der Zielwerte – spätestens neun Monate nach Ablauf jedes Jahres – der Kommission übermittelt werden und folgende Angaben enthalten: a im betreffenden Jahr vorgenommene Änderungen der Liste der Gebiete und Ballungsräume nach Artikel 4 und der entsprechenden Abgrenzungen; b Liste der Gebiete und Ballungsräume, in denen die Werte eines oder mehrerer Schadstoffe die Grenzwerte zuzüglich etwaiger Toleranzmargen oder die Zielwerte oder die kritischen Werte überschreiten, wobei für diese Gebiete und Ballungsräume Folgendes anzugeben ist: i beurteilte Werte und gegebenenfalls Tage und Zeiträume, an bzw. in denen diese Werte festgestellt wurden; ii gegebenenfalls eine Beurteilung der gemäß den Artikeln 20 und 21 der Kommission gemeldeten Beiträge natürlicher Quellen sowie von Partikeln, die nach dem Ausbringen von Streusand oder -salz auf Straßen im Winterdienst aufgewirbelt werden, zu den beurteilten Werten. 3 Die Absätze 1 und 2 gelten für Informationen, die ab dem Beginn des zweiten Kalenderjahrs nach Inkrafttreten der in Artikel 28 Absatz 2 genannten Durchführungsmaßnahmen erhoben werden. Artikel 28 Änderung und Durchführung 1 Maßnahmen zur Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen dieser Richtlinie, d. h. der Anhänge I bis VI, der Anhänge VIII bis X sowie des Anhangs XV werden nach dem in Artikel 29 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren mit Kontrolle erlassen. Diese Änderungen dürfen jedoch keine direkte oder indirekte Änderung bewirken in Bezug auf a die in den Anhängen VII und XI bis XIV festgelegten Grenzwerte, Ziele für die Reduzierung der Exposition, kritischen Werte, Zielwerte, Informations- oder Alarmschwellen oder langfristigen Ziele oder b die Fristen für die Erfüllung eines der Parameter unter Buchstabe a. 2 Die Kommission legt nach dem in Artikel 29 Absatz 2 genannten Verfahren fest, welche zusätzlichen Informationen die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 27 innerhalb welcher Fristen zu übermitteln haben. Ferner legt die Kommission nach dem in Artikel 29 Absatz 2 genannten Verfahren fest, wie die Übermittlung von Daten und der Austausch von Informationen und Daten aus Netzen und einzelnen Stationen zur Messung der Luftverschmutzung in den Mitgliedstaaten zu vereinfachen sind. 3 Die Kommission erstellt Leitlinien für Vereinbarungen über die Errichtung gemeinsamer Messstationen gemäß Artikel 6 Absatz 5. 4 Die Kommission veröffentlicht eine Leitlinie zum Nachweis der Gleichwertigkeit gemäß Anhang VI Abschnitt B. Kapitel VI Ausschuss, Übergangs- und Schlussbestimmungen […] Artikel 30 Sanktionen Die Mitgliedstaaten legen für Verstöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Vorschriften Sanktionen fest und treffen die zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. […] Artikel 32 Überprüfung 1 Die Kommission überprüft im Jahr 2013 die Vorschriften über PM2,5 sowie gegebenenfalls andere Schadstoffe und unterbreitet dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Vorschlag. In Bezug auf PM2,5 erfolgt die Überprüfung mit Blick auf die Einführung einer rechtlich bindenden nationalen Verpflichtung zur Verringerung der Exposition, die an die Stelle des in Artikel 15 vorgesehenen nationalen Ziels für die Reduzierung der Exposition treten soll, und zur Überprüfung der in demselben Artikel vorgesehenen Verpflichtung in Bezug auf die Expositionskonzentration, wobei unter anderem die folgenden Faktoren zu berücksichtigen sind:

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a neueste wissenschaftliche Informationen der Weltgesundheitsorganisation und anderer einschlägiger Organisationen,  b tatsächliche Luftqualität und Reduzierungspotenzial in den Mitgliedstaaten, c Überarbeitung der Richtlinie 2001/81/EG, d Fortschritte bei der Umsetzung der gemeinschaftlichen Maßnahmen zur Verringerung der Luftschadstoffe. 2 Die Kommission berücksichtigt, ob die Festlegung eines strengeren Grenzwerts für PM2,5 möglich ist, überprüft den Richtgrenzwert der zweiten Stufe für PM2,5 und prüft, ob dieser Wert zu bestätigen oder zu ändern ist. 3 Im Rahmen der Überprüfung erstellt die Kommission auch einen Bericht über die Erfahrungen, die bei der fortlaufenden Messung von PM10 und PM2,5 gewonnen wurden, und darüber, ob diese Messungen notwendig sind, wobei der technische Fortschritt bei automatischen Messsystemen berücksichtigt wird. Gegebenenfalls werden neue Referenzmethoden für die Messung von PM10 und PM2,5 vorgeschlagen. Artikel 33 Umsetzung 1 Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens am 11. Juni 2010 nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Rechtsvorschriften mit. Wenn die Mitgliedstaaten diese Vorschriften erlassen, nehmen sie in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten der Bezugnahme. 2 Die Mitgliedstaaten stellen jedoch sicher, dass spätestens bis zum 1. Januar 2009 für PM2,5 eine ausreichende, d. h. die für die Berechnung des Indikators für die durchschnittliche Exposition gemäß Anhang V Abschnitt B erforderliche Zahl von Messstationen für den städtischen Hintergrund eingerichtet ist, um den Zeitplan und die Bedingungen gemäß Anhang XIV Abschnitt A einzuhalten. 3 Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission den Wortlaut der wichtigsten innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen.

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Erlassene Richtlinie


Anhänge Anhang I Datenqualitätsziele Datenqualitätsziele für die Luftqualitätsbeurteilung

1

2 3 4

Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid, Stickstoffoxide und Kohlenmonoxid

Benzol

Partikel (PM 10  / PM 2,5) und Blei

Ozon und damit zusammenhängende(s) NO und NO2

Ortsfeste Messungen1 Unsicherheit Mindestdatenerfassung

15 % 90 %

25 % 90 %

25 % 90 %

15 % 90 % im Sommer 75 % im Winter

Mindestmessdauer: städtischer Hintergrund und Verkehr Industriegebiete

— —

35 %2 90 %

— —

— —

Orientierende Messungen Unsicherheit Mindestdatenerfassung Mindestmessdauer

25 % 90 % 14 %3

30 % 90 % 14 %4

50 % 90 % 14 %4

30 % 90 % > 10 % im Sommer

Unsicherheit der Modellrechnungen stündlich 8-Stunden-Durchschnittswerte Tagesdurchschnittswerte Jahresdurchschnittswerte

50 % 50 % 50 % 50 %

— — — 50 %

— — noch nicht festgelegt 50 %

50 % 50 % — —

Objektive Schätzung Unsicherheit

75 %

100 %

100 %

75 %

Die Mitgliedstaaten können bei Benzol, Blei und Partikeln Stichprobenmessungen anstelle von kontinuierlichen Messungen durchführen, wenn sie der Kommission gegenüber nachweisen können, dass die Unsicherheit, einschließlich der Unsicherheit aufgrund der Zufallsproben, das Qualitätsziel von 25 % erreicht und die Messdauer über der Mindestmessdauer für orientierende Messungen liegt. Stichprobenmessungen sind gleichmäßig über das Jahr zu verteilen, um Verzerrungen der Ergebnisse zu vermeiden. Die Unsicherheit bei Stichprobenmessungen kann anhand des Verfahrens ermittelt werden, das in der ISO-Norm „Luftbeschaffenheit – Ermittlung der Unsicherheit von zeitlichen Mittelwerten von Luftbeschaffenheitsmessungen“ (ISO 11222 (2002)) niedergelegt ist. Werden Stichprobenmessungen zur Beurteilung der Anforderungen hinsichtlich des Grenzwerts für PM10 verwendet, so sollte der 90,4-Prozent-Wert (der höchstens 50 μg / m3 betragen darf) anstatt der in hohem Maße durch die Datenerfassung beeinflussten Anzahl der Überschreitungen beurteilt werden. Über das Jahr verteilt, damit die unterschiedlichen klimatischen und verkehrsabhängigen Bedingungen berücksichtigt werden. Eine Stichprobe pro Woche, gleichmäßig verteilt über das Jahr, oder 8 Wochen gleichmäßig verteilt über das Jahr. Eine Tagesmessung (Stichprobe) pro Woche, gleichmäßig verteilt über das Jahr, oder 8 Wochen gleichmäßig verteilt über das Jahr.

Die Unsicherheit von Modellrechnungen ist definiert als die maximale Abweichung der gemessenen und berechneten Konzentrationswerte für 90 % der einzelnen Messstationen im jeweiligen Zeitraum in Bezug auf den Grenzwert (oder, bei Ozon, den Zielwert) ohne Berücksichtigung des Zeitpunkts der Abweichungen. Die Unsicherheit von Modellrechnungen gilt für den Bereich des jeweiligen Grenzwerts (oder, bei Ozon, des Zielwertes). Die ortsfesten Messungen, die für den Vergleich mit den Ergebnissen der Modellrechnungen auszuwählen sind, müssen für die von dem Modell erfasste räumliche Auflösung repräsentativ sein. Die Unsicherheit von objektiven Schätzungen ist definiert als die maximale Abweichung der gemessenen und berechneten Konzentrationswerte im jeweiligen Zeitraum in Bezug auf den Grenzwert (oder, bei Ozon, den Zielwert) ohne Berücksichtigung des Zeitpunkts der Abweichungen. Die Anforderungen für die Mindestdatenerfassung und die Mindestmessdauer erstrecken sich nicht auf Datenverlust aufgrund der regelmäßigen Kalibrierung oder der üblichen Wartung der Messgeräte. […] Qualitätssicherung bei der Beurteilung der Luftqualität – Validierung der Daten 1 Um die Genauigkeit der Messungen und die Einhaltung der Datenqualitätsziele gemäß Abschnitt A sicherzustellen, müssen die gemäß Artikel 3 benannten zuständigen Behörden und Stellen sicherstellen, dass – alle Messungen, die im Zusammenhang mit der Beurteilung der Luftqualität gemäß den Artikeln 6 und 9 vorgenommen werden, im Einklang mit den Anforderungen in Abschnitt 5.6.2.2. der Norm ISO/IEC 17025:2005 rückverfolgt werden können; – die Einrichtungen, die Netze und Einzelstationen betreiben, über ein Qualitätssicherungs- und Qualitätskontrollsystem verfügen, das eine regelmäßige Wartung zur Gewährleistung der Präzision der Messgeräte vorsieht; – für die Datenerfassung und Berichterstattung ein Qualitätssicherungs- und Qualitätskontrollverfahren eingeführt wird und dass die mit dieser Aufgabe betrauten Einrichtungen aktiv an den entsprechenden gemeinschaftsweiten Qualitätssicherungsprogrammen teilnehmen; – die von den gemäß Artikel 3 benannten zuständigen Behörden und Stellen beauftragten nationalen Laboratorien, die an gemeinschaftsweiten Ringversuchen zu den mit dieser Richtlinie regulierten Schadstoffen teilnehmen, gemäß der Norm EN/ISO 17025 bis 2010 für die in Anhang VI aufgeführten Referenzmethoden akkreditiert sind. Diese Laboratorien müssen an der Koordinierung der gemeinschaftlichen, von der Kommission durchgeführten Qualitätssicherungsprogramme in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten beteiligt sein und koordinieren außerdem auf einzelstaatlicher Ebene die Anwendung von Referenzmethoden sowie den Nachweis der Gleichwertigkeit anderer Methoden als Referenzmethoden. 2 Alle nach Artikel 27 übermittelten Daten sind mit Ausnahme der als vorläufig gekennzeichneten Daten als gültig anzusehen.

Anhang I

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Anhang II

Festlegung der Anforderungen für die Beurteilung der Konzentration von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxiden, Partikeln (PM10 und PM2,5), Blei, Benzol und Kohlenmonoxid in der Luft innerhalb eines Gebiets oder Ballungsraums A Obere und untere Beurteilungsschwellen Es gelten die folgenden oberen und unteren Beurteilungsschwellen: 1 Schwefeldioxid Obere Beurteilungsschwelle Untere Beurteilungsschwelle

2

Schutz der menschlichen Gesundheit 60 % des 24-Stunden-Grenzwerts (75 μg / m3 dürfen nicht öfter als dreimal im Kalenderjahr überschritten werden) 40 % des 24-Stunden-Grenzwerts (50 μg / m3 dürfen nicht öfter als dreimal im Kalenderjahr überschritten werden)

Schutz der Vegetation 60 % des kritischen Werts im Winter (12 μg / m3) 40 % des kritischen Werts im Winter (8 μg / m3)

Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide

Obere Beurteilungsschwelle Untere Beurteilungsschwelle

3

1-Stunden-Grenzwert für den Schutz der menschlichen Gesundheit (NO2)

Jahresgrenzwert für den Schutz der menschlichen Gesundheit (NO2)

70 % des Grenzwerts (140 μg / m3 dürfen nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr ü ­ berschritten werden) 50 % des Grenzwerts (100 μg / m3 dürfen nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr ­überschritten werden)

80 % des Grenzwerts (32 μg / m3)

Auf das Jahr bezogener kritischer Wert für den Schutz der Vegetation und der ­natürlichen Ökosysteme (NOx) 80 % des kritischen Werts (24 μg / m3)

65 % des Grenzwerts (26 μg / m3)

65 % des kritischen Werts (19,5 μg / m3)

Jahresmittelwert PM10 80 % des Grenzwerts (32 μg / m3)

Jahresmittelwert PM2,55 80 % des kritischen Werts (24 μg / m3)

65 % des Grenzwerts (26 μg / m3)

65 % des kritischen Werts (19,5 μg / m3)

Partikel (PM10 / PM2,5) Obere Beurteilungsschwelle Untere Beurteilungsschwelle

24-Stunden-Mittelwert PM10 70 % des Grenzwerts (140 μg / m3 dürfen nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr ü ­ berschritten werden) 50 % des Grenzwerts (100 μg / m3 dürfen nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr ­überschritten werden)

4 Blei Obere Beurteilungsschwelle Untere Beurteilungsschwelle

Jahresmittelwert 70 % des Grenzwerts (0,35 μg / m3) 50 % des Grenzwerts (0,25 μg / m3)

5 Benzol Obere Beurteilungsschwelle Untere Beurteilungsschwelle

Jahresmittelwert 70 % des Grenzwerts (3,5 μg / m3) 40 % des Grenzwerts (2 μg / m3)

6 Kohlenmonoxid Obere Beurteilungsschwelle Untere Beurteilungsschwelle

5

Acht-Stunden-Mittelwert 70 % des Grenzwerts (7 mg / m3) 50 % des Grenzwerts (5 mg / m3)

Die obere Beurteilungsschwelle und die untere Beurteilungsschwelle für PM2,5 gelten nicht für die Messungen zur Beurteilung der Einhaltung des zum Schutz der menschlichen Gesundheit vorgegebenen Ziels für die Reduzierung der Exposition gegenüber PM2,5.

B Überschreitung der oberen und unteren Beurteilungsschwellen Die Überschreitung der oberen und unteren Beurteilungsschwellen ist auf der Grundlage der Konzentrationen während der vorangegangenen fünf Jahre zu ermitteln, sofern entsprechende Daten vorliegen. Eine Beurteilungsschwelle gilt als überschritten, wenn sie in den vorangegangenen fünf Jahren in mindestens drei einzelnen Jahren überschritten worden ist. Liegen Daten für die gesamten fünf vorhergehenden Jahre nicht vor, können die Mitgliedstaaten die Ergebnisse von kurzzeitigen Messkampagnen während derjenigen Jahreszeit und an denjenigen Stellen, die für die höchsten Schadstoffwerte typisch sein dürften, mit Informationen aus Emissionskatastern und Modellen verbinden, um Überschreitungen der oberen und unteren Beurteilungsschwellen zu ermitteln.

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Anhang II


Anhang III Beurteilung der Luftqualität und Lage der Probenahmestellen für Messungen von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxiden, Partikeln (PM10 und PM2,5), Blei, Benzol und Kohlenmonoxid in der Luft A Allgemeines Die Luftqualität wird in allen Gebieten und Ballungsräumen nach folgenden Kriterien beurteilt: 1 Die Luftqualität wird an allen Orten, mit Ausnahme der in Nummer 2 genannten Orte, nach den in den Abschnitten B und C für die Lage der Probenahmestellen für ortsfeste Messungen festgelegten Kriterien beurteilt. Die in den Abschnitten B und C niedergelegten Grundsätze gelten auch insoweit, als sie für die Bestimmung der spezifischen Orte von Belang sind, an denen die Konzentrationen der einschlägigen Schadstoffe ermittelt werden, wenn die Luftqualität durch orientierende Messungen oder Modellierung beurteilt wird. 2 Die Einhaltung der zum Schutz der menschlichen Gesundheit festgelegten Grenzwerte wird an folgenden Orten nicht beurteilt: a Orte innerhalb von Bereichen, zu denen die Öffentlichkeit keinen Zugang hat und in denen es keine festen Wohnunterkünfte gibt; b nach Maßgabe von Artikel 2 Absatz 1 auf Industriegeländen oder in industriellen Anlagen, für die alle relevanten Bestimmungen über Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz gelten; c auf den Fahrbahnen der Straßen und – sofern Fußgänger für gewöhnlich dorthin keinen Zugang haben – auf dem Mittelstreifen der Straßen. B Großräumige Ortbestimmung der Probenahmestellen 1 Schutz der menschlichen Gesundheit a Der Ort von Probenahmestellen, an denen Messungen zum Schutz der menschlichen Gesundheit vorgenommen werden, ist so zu wählen, dass folgende Daten gewonnen werden: – Daten über Bereiche innerhalb von Gebieten und Ballungsräumen, in denen die höchsten Konzentrationen auftreten, denen die Bevölkerung wahrscheinlich direkt oder ­indirekt über einen Zeitraum ausgesetzt sein wird, der im Vergleich zum Mittelungszeitraum der betreffenden Grenzwerte signifikant ist; – Daten zu Konzentrationen in anderen Bereichen innerhalb von Gebieten und Ballungsräumen, die für die Exposition der Bevölkerung allgemein repräsentativ sind. b Der Ort von Probenahmestellen ist im Allgemeinen so zu wählen, dass die Messung sehr kleinräumiger Umweltzustände in ihrer unmittelbaren Nähe vermieden wird, was bedeutet, dass der Ort der Probenahmestelle so zu wählen ist, dass die Luftproben – soweit möglich – für die Luftqualität eines Straßenabschnitts von nicht weniger als 100 m Länge bei Probenahmestellen für den Verkehr und nicht weniger als 250 m × 250 m bei Probenahmestellen für Industriegebiete repräsentativ sind. c Messstationen für den städtischen Hintergrund müssen so gelegen sein, dass die gemessene Verschmutzung den integrierten Beitrag sämtlicher Quellen im Luv der Station erfasst. Für die gemessene Verschmutzung sollte nicht eine Quelle vorherrschend sein, es sei denn, dies ist für ein ­größeres städtisches Gebiet typisch. Die Probenahmestellen müssen grundsätzlich für ein Gebiet von mehreren Quadratkilometern repräsentativ sein. d Soll die ländliche Hintergrundverschmutzung beurteilt werden, dürfen die Messungen der Probenahmestelle nicht durch nahe (d. h. näher als fünf Kilometer) liegende Ballungsräume oder Industriegebiete beeinflusst sein. e Soll der Beitrag industrieller Quellen beurteilt werden, ist mindestens eine Probenahmestelle im Lee der Hauptwindrichtung von der Quelle im nächstgelegenen Wohngebiet aufzustellen. Ist die Hintergrundkonzentration nicht bekannt, so wird eine weitere Probenahmestelle im Luv der Hauptwindrichtung aufgestellt. f Probenahmestellen sollten möglichst auch für ähnliche Orte repräsentativ sein, die nicht in ihrer unmittelbaren Nähe gelegen sind. g Sofern dies aus Gründen des Gesundheitsschutzes erforderlich ist, sind Probenahmestellen auf Inseln einzurichten. 2 Schutz der Vegetation und der natürlichen Ökosysteme Die Probenahmestellen, an denen Messungen zum Schutz der Vegetation und der natürlichen Ökosysteme vorgenommen werden, sollten mehr als 20 km von Ballungsräumen bzw. mehr als 5 km von anderen bebauten Gebieten, Industrieanlagen oder Autobahnen oder Hauptstraßen mit einem täglichen Verkehrsaufkommen von mehr als 50 000 Fahrzeugen entfernt gelegen sein, was bedeutet, dass der Ort der Probenahmestelle so zu wählen ist, dass die Luftproben für die Luftqualität eines Gebiets von mindestens 1 000 km2 repräsentativ sind. Die Mitgliedstaaten können aufgrund der geografischen Gegebenheiten oder im Interesse des Schutzes besonders schutzbedürftiger Bereiche vorsehen, dass eine Probenahmestelle in geringerer Entfernung gelegen oder für die Luftqualität in einem kleineren umgebenden Bereich repräsentativ ist. Es ist zu berücksichtigen, dass die Luftqualität auf Inseln beurteilt werden muss. Kleinräumige Ortbestimmung der Probenahmestellen C Soweit möglich ist Folgendes zu berücksichtigen: – Der Luftstrom um den Messeinlass darf in einem Umkreis von mindestens 270° nicht beeinträchtigt werden, und es dürfen keine Hindernisse vorhanden sein, die den Luftstrom in der Nähe der Probenahmeeinrichtung beeinflussen, d. h. Gebäude, Balkone, Bäume und andere Hindernisse müssen normalerweise einige Meter entfernt sein und die Probenahmestellen für die Luftqualität an der Baufluchtlinie müssen mindestens 0,5 m vom nächsten Gebäude entfernt sein.

Anhang III

KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates

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Im Allgemeinen muss sich der Messeinlass in einer Höhe zwischen 1,5 m (Atemzone) und 4 m über dem Boden befinden. Eine höhere Lage des Einlasses (bis zu 8 m) kann unter Umständen angezeigt sein. Ein höher gelegener Einlass kann auch angezeigt sein, wenn die Messstation für ein größeres Gebiet repräsentativ ist. – Der Messeinlass darf nicht in nächster Nähe von Quellen angebracht werden, um die unmittelbare Einleitung von Emissionen, die nicht mit der Umgebungsluft vermischt sind, zu vermeiden. – Die Abluftleitung der Probenahmestelle ist so zu legen, dass ein Wiedereintritt der Abluft in den Messeinlass vermieden wird. – Bei allen Schadstoffen müssen die Probenahmestellen in verkehrsnahen Zonen mindestens 25 m vom Rand verkehrsreicher Kreuzungen und höchstens 10 m vom Fahrbahnrand entfernt sein. […] D Dokumentation und Überprüfung der Ortswahl Die Verfahren für die Ortswahl sind in der Einstufungsphase vollständig zu dokumentieren, z. B. mit Fotografien der Umgebung in den Haupthimmelsrichtungen und einer detaillierten Karte. Die Ortswahl ist regelmäßig zu überprüfen und jeweils erneut zu dokumentieren, damit sichergestellt ist, dass die Kriterien für die Wahl weiterhin Gültigkeit haben. […] Anhang V Kriterien für die Festlegung der Mindestzahl der Probenahmestellen für ortsfeste Messungen der Konzentration von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxiden, Partikeln (PM10, PM2,5), Blei, Benzol und Kohlenmonoxid in der Luft A Mindestzahl der Probenahmestellen für ortsfeste Messungen zur Beurteilung der Einhaltung von Grenzwerten für den Schutz der menschlichen Gesundheit und von Alarmschwellen in Gebieten und Ballungsräumen, in denen ortsfeste Messungen die einzige Informationsquelle darstellen 1 Diffuse Quellen Bevölkerung des Ballungs­raums oder ­Gebiets (in Tausend)

0 –    249    250 –    499    500 –    749    750 –    999 1 000 – 1 499 1 500 – 1 999 2 000 – 2 749 2 750 – 3 749 3 750 – 4 749 4 750 – 5 999          ≥ 6 000

6

7

Falls die maximale Konzentration die obere ­Beurteilungsschwelle überschreitet6

Falls die maximale Konzentration zwischen der oberen und der unteren Beurteilungsschwelle liegt

Schadstoffe außer PM

PM7 (Summe aus PM10 und PM2,5)

Schadstoffe außer PM

PM2 (Summe aus PM10 und PM2,5)

1   2   2   3   4   5   6   7   8   9 10

2   3   3   4   6   7   8 10 11 13 15

1 1 1 1 2 2 3 3 3 4 4

1 2 2 2 3 3 4 4 6 6 7

Für NO2, Partikel, Benzol und Kohlenmonoxid: einschließlich mindestens einer Messstation für städtische Hintergrundquellen und einer Messstation für den Verkehr, sofern sich dadurch die Anzahl der Probenahmestellen nicht erhöht. Im Fall dieser Schadstoffe darf die nach Abschnitt A Nummer 1 erforderliche Gesamtzahl der Messstationen für städtische Hintergrundquellen von der nach Abschnitt A unter Nummer 1 erforderlichen Anzahl der Messstationen für den Verkehr in einem Mitgliedstaat nicht um mehr als den Faktor 2 abweichen. Die Messstationen, an denen der Grenzwert für PM10 in den letzten drei Jahren überschritten wurde, werden beibehalten, sofern nicht aufgrund besonderer Umstände, insbesondere aus Gründen der Raumentwicklung, eine Verlagerung der Stationen erforderlich ist. Werden PM2,5 und PM10 im Einklang mit Artikel 8 an der gleichen Messstation gemessen, so ist diese als zwei gesonderte Probenahmestellen anzusehen. Die nach Abschnitt A Nummer 1 erforderliche Gesamtzahl der Probenahmestellen für PM2,5 und PM10 in einem Mitgliedstaat darf nicht um mehr als den Faktor 2 differieren, und die Zahl der Messstationen für PM2,5 für städtische Hintergrundquellen in Ballungsräumen und städtischen Gebieten muss die Anforderungen von Anhang V Abschnitt B erfüllen.

2 Punktquellen Zur Beurteilung der Luftverschmutzung in der Nähe von Punktquellen ist die Zahl der Probenahmestellen für ortsfeste Messungen unter Berücksichtigung der Emissionsdichte, der wahrscheinlichen Verteilung der Luftschadstoffe und der möglichen Exposition der Bevölkerung zu berechnen. B Mindestzahl der Probenahmestellen für ortsfeste Messungen zur Beurteilung der Einhaltung der Vorgaben für die Reduzierung der PM2,5-Exposition zum Schutz der menschlichen Gesundheit Für diesen Zweck ist eine Probenahmestelle pro Million Einwohner für Ballungsräume und weitere städtische Gebiete mit mehr als 100 000 Einwohnern vorzusehen. Diese Probenahmestellen können mit den Probenahmestellen nach Abschnitt A identisch sein. C Mindestzahl der Probenahmestellen für ortsfeste Messungen zur Beurteilung der Einhaltung der kritischen Werte zum Schutz der Vegetation in anderen Gebieten als Ballungsräumen Falls die maximale Konzentration die obere ­ eurteilungsschwelle überschreitet B 1 Station je 20 000 km2

Falls die maximale Konzentration zwischen der ­oberen und der unteren Beurteilungsschwelle liegt 1 Station je 40 000 km2

Im Falle von Inselgebieten sollte die Zahl der Probenahmestellen für ortsfeste Messungen unter Berücksichtigung der wahrscheinlichen Verteilung der Luftschadstoffe und der möglichen Exposition der Vegetation berechnet werden. […]

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KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates

Anhang III, V


Anhang XI Grenzwerte zum Schutz der menschlichen Gesundheit A Kriterien Unbeschadet des Anhangs I sind bei der Aggregation der Daten und der Berechnung der statistischen Parameter zur Prüfung der Gültigkeit folgende Kriterien anzuwenden: Parameter 1-Stunden-Werte 8-Stunden-Werte Höchster 8-Stunden-Mittelwert pro Tag 24-Stunden-Werte Jahresmittelwert

1

Erforderlicher Anteil gültiger Daten 75 % (d. h. 45 Minuten) 75 % der Werte (d. h. 6 Stunden) 75 % der stündlich gleitenden 8-Stunden-Mittelwerte (d. h. 18 8-Stunden-Mittelwerte pro Tag) 75 % der stündlichen Mittelwerte (d. h. mindestens 18 1-Stunden-Werte) 90 %1 der 1-Stunden-Werte oder (falls nicht verfügbar) der 24-Stunden-Werte während des Jahres

Datenverluste aufgrund regelmäßiger Kalibrierung oder üblicher Gerätewartung sind in der Anforderung für die Berechnung des Jahresmittelwerts nicht berücksichtigt.

B Grenzwerte Mittelungszeitraum

Grenzwert

Toleranzmarge

Frist für die Einhaltung des Grenzwerts

Stunde

350 μg / m3 dürfen nicht öfter als 24-mal im Kalenderjahr überschritten werden

150 μg / m3 (43 %)

—8

Tag

125 μg / m3 dürfen nicht öfter als dreimal im Kalenderjahr überschritten werden

Keine

—8

Stunde

200 μg / m3 dürfen nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr überschritten werden

50 % am 19. Juli 1999, Reduzierung am 1. Januar 2001 und danach alle 12 Monate um einen jährlich gleichen Prozentsatz bis auf 0 % am 1. Januar 2010

1. Januar 2010

Kalenderjahr

40 μg / m3

50 % am 19. Juli 1999, Reduzierung am 1. Januar 2001 und danach alle 12 Monate um einen jährlich gleichen Prozentsatz bis auf 0 % am 1. Januar 2010

1. Januar 2010

5 μg / m3

5 μg / m3 (100 %) am 13. Dezember 2000, ­Reduzierung am 1. Januar 2006 und danach alle 12 Monate um 1 μg / m3 bis auf 0 % am 1. Januar 2010

1. Januar 2010

10 μg / m3

60 %

—8

0,5 μg / m³ 9

100 %

—10

Tag

50 μg / m3 dürfen nicht öfter als 35-mal im Kalenderjahr überschritten werden

50 %

—8

Kalenderjahr

40 μg / m3

20 %

—8

Schwefeldioxid

Stickstoffdioxid

Benzol Kalenderjahr

Kohlenstoffmonoxid Höchster 8-Stunden-Mittelwert pro Tag2

Blei Kalenderjahr

PM10

8 9

10

Bereits seit 1. Januar 2005 in Kraft. Der höchste 8-Stunden-Mittelwert der Konzentration eines Tages wird ermittelt, indem die gleitenden 8-Stunden-Mittelwerte geprüft werden, die aus ­Einstundenmittelwerten berechnet und stündlich aktualisiert werden. Jeder auf diese Weise errechnete 8-Stunden-Mittelwert gilt für den Tag, an dem dieser Zeitraum endet; das heißt, dass der erste Berechnungszeitraum für jeden einzelnen Tag die Zeitspanne von 17.00 Uhr des vorangegangenen Tages bis 1.00 Uhr des betreffenden Tages umfasst, während für den letzten Berechnungszeitraum jeweils die Stunden von 16.00 Uhr bis 24.00 Uhr des ­betreffenden Tages zugrunde gelegt werden. Bereits seit 1. Januar 2005 in Kraft. In unmittelbarer Nähe der speziellen industriellen Quellen an Standorten, die durch jahrzehntelange Industrietätigkeiten kontaminiert sind, ist der Grenzwert erst zum 1. Januar 2010 einzuhalten. In diesen Fällen gilt bis 1. Januar 2010 ein Grenzwert von 1,0 μg / m3. Das Gebiet, für das höhere Grenzwerte gelten, darf sich – gemessen von den jeweiligen speziellen Quellen – über höchstens 1 000 m erstrecken.

Anhang XI

KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates

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Anhang XIV Nationales Ziel für die Reduzierung der Exposition, Zielwert und Grenzwert für PM2,5 A Indikator für die durchschnittliche Exposition Der Indikator für die durchschnittliche Exposition (AEI – Average Exposure Indicator) wird in μg / m3 ausgedrückt und anhand von Messungen an Messstationen für den städtischen Hintergrund in Gebieten und Ballungsräumen des gesamten Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats ermittelt. Er sollte als gleitender Jahresmittelwert der Konzentration für drei Kalenderjahre berechnet werden, indem der Durchschnittswert aller gemäß Anhang V Abschnitt B eingerichteten Probenahmestellen ermittelt wird. Der AEI für das Referenzjahr 2010 ist der Mittelwert der Jahre 2008, 2009 und 2010. Die Mitgliedstaaten können jedoch, falls für 2008 keine Werte verfügbar sind, den Mittelwert der Jahre 2009 und 2010 oder den Mittelwert der Jahre 2009, 2010 und 2011 verwenden. Mitgliedstaaten, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, teilen der Kommission ihren Beschluss bis spätestens zum 11. September 2008 mit. Der AEI für das Jahr 2020 ist der gleitende Jahresmittelwert (Durchschnittswert aller dieser Probenahmestellen) für die Jahre 2018, 2019 und 2020. Anhand des AEI wird überprüft, ob das nationale Ziel für die Reduzierung der Exposition erreicht wurde. Der AEI für das Jahr 2015 ist der gleitende Jahresmittelwert (Durchschnittswert aller dieser Probenahmestellen) für die Jahre 2013, 2014 und 2015. Anhand des AEI wird überprüft, ob die Verpflichtung in Bezug auf die Expositionskonzentration erfüllt wurde. B Nationales Ziel für die Reduzierung der Exposition Ziel für die Reduzierung der Exposition gegenüber dem AEI 2010 Ausgangskonzentration in μg / m3

Reduktionsziel

<   8,5 =      8,5 >   8,5 – < 13,0 = 13,0 – < 18,0 = 18,0 – < 22,0 ≤ 22,0

0 % 10 % 15 % 20 % Alle angemessenen Maßnahmen, um das Ziel von 18 μg / m3 zu erreichen

Jahr, in dem das Ziel für die Reduzierung der Exposition erreicht werden sollte 2020

Ergibt sich als Indikator für die durchschnittliche Exposition ausgedrückt in μg / m3 im Referenzjahr 8,5 μg / m3 oder weniger, ist das Ziel für die Reduzierung der Exposition mit Null anzusetzen. Es ist auch in den Fällen mit Null anzusetzen, in denen der Indikator für die durchschnittliche Exposition zu einem beliebigen Zeitpunkt zwischen 2010 und 2020 einen Wert von 8,5 μg / m3 erreicht und auf diesem Wert oder darunter gehalten wird. C

Verpflichtung in Bezug auf die Expositionskonzentration Verpflichtung in Bezug auf die Expositionskonzentration 20 μg / m3

Jahr, in dem die Verpflichtung zu erfüllen ist 2015

D Zielwert Mittelungszeitraum Kalenderjahr

Zielwert 25 μg / m3

Zeitpunkt, zu dem der Zielwert erreicht werden sollte 1. Januar 2010

E Grenzwert

11

Mittelungszeitraum Stufe 1 Kalenderjahr

Grenzwert

Toleranzmarge

Frist für die Einhaltung des Grenzwerts

25 μg / m3

20 % am 11. Juni 2008, ­Reduzierung am folgenden 1. Januar und danach alle 12 Monate um einen jährlich gleichen Prozentsatz bis auf 0 % am 1. Januar 2015

1. Januar 2015

Stufe 211 Kalenderjahr

20 μg / m3

1. Januar 2020

Stufe 2: Richtgrenzwert, der von der Kommission im Jahr 2013 anhand zusätzlicher Informationen über die Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt, die technische Durchführbarkeit und die Erfahrungen mit dem Zielwert in den Mitgliedstaaten zu überprüfen ist.

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Anhang XIV


12

ABl. L 76 vom 6.4.1970, S. 1. Zuletzt geändert durch die Richtlinie 2006 / 96 / EG (ABl. L 363 vom 20.12.2006, S. 81).

13

ABl. L 365 vom 31.12.1994, S. 24. Geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 1882 / 2003 (ABl. L 284 vom 31.10.2003, S. 1).

14

ABl. L 24 vom 29.1.2008, S. 8.

15

ABl. L 59 vom 27.2.1998, S. 1. Zuletzt geändert durch die Richtlinie 2006 / 105 / EG.

16

ABl. L 350 vom 28.12.1998, S. 58. Geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 1882 / 2003.

17

ABl. L 85 vom 29.3.1999, S. 1. Zuletzt geändert durch die Richtlinie 2004 / 42 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 143 vom 30.4.2004, S. 87).

18

ABl. L 121 vom 11.5.1999, S. 13. Zuletzt geändert durch die Richtlinie 2005 / 33 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 191 vom 22.7.2005, S. 59).

19

ABl. L 332 vom 28.12.2000, S. 91.

Anhang XV

Anhang XV In den örtlichen, regionalen oder einzelstaatlichen Luftqualitätsplänen zu berücksichtigende Informationen A Nach Artikel 23 (Luftqualitätspläne) zu übermittelnde Informationen 1 Ort der Überschreitung a Region; b Ortschaft (Karte); c Messstation (Karte, geografische Koordinaten). 2 Allgemeine Informationen a Art des Gebiets (Stadt, Industriegebiet oder ländliches Gebiet); b Schätzung der Größe des verschmutzten Gebiets (km2) und der der Verschmutzung ausgesetzten Bevölkerung; c zweckdienliche Klimaangaben; d zweckdienliche topografische Daten; e ausreichende Informationen über die Art der in dem betreffenden Gebiet zu schützenden Ziele. 3 Zuständige Behörden Name und Anschrift der für die Ausarbeitung und Durchführung der Verbesserungspläne zuständigen Personen. 4 Art und Beurteilung der Verschmutzung a in den vorangehenden Jahren (vor der Durchführung der Verbesserungsmaßnahmen) festgestellte Konzentrationen; b seit dem Beginn des Vorhabens gemessene Konzentrationen; c angewandte Beurteilungstechniken. 5 Ursprung der Verschmutzung a Liste der wichtigsten Emissionsquellen, die für die Verschmutzung verantwortlich sind (Karte); b Gesamtmenge der Emissionen aus diesen Quellen (Tonnen /Jahr); c Informationen über Verschmutzungen, die ihren Ursprung in anderen Gebieten haben. 6 Analyse der Lage a Einzelheiten über Faktoren, die zu den Überschreitungen geführt haben (z. B. Verkehr, einschließlich grenzüberschreitender Verkehr, Entstehung sekundärer Schadstoffe in der Atmosphäre); b Einzelheiten über mögliche Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität. 7 Angaben zu den bereits vor dem 11. Juni 2008 durchgeführten Maßnahmen oder bestehenden Verbesserungsvorhaben a örtliche, regionale, nationale und internationale Maßnahmen; b festgestellte Wirkungen. 8 Angaben zu den nach dem Inkrafttreten dieser Richtlinie zur Verminderung der Verschmutzung beschlossenen Maßnahmen oder Vorhaben a Auflistung und Beschreibung aller in den Vorhaben genannten Maßnahmen; b Zeitplan für die Durchführung; c Schätzung der angestrebten Verbesserung der Luftqualität und des für die Verwirklichung dieser Ziele veranschlagten Zeitraums. 9 Angaben zu den geplanten oder langfristig angestrebten Maßnahmen oder Vorhaben. 10 Liste der Veröffentlichungen, Dokumente, Arbeiten usw., die die in diesem Anhang vorgeschriebenen Informationen ergänzen. B Nach Artikel 22 Absatz 1 zu übermittelnde Informationen 1 Sämtliche Informationen gemäß Abschnitt A. 2 Informationen über den Stand der Umsetzung nachstehender Richtlinien: 1 Richtlinie 70/220/EWG des Rates vom 20. März 1970 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen gegen die Verunreinigung der Luft durch Abgase von Kraftfahrzeugmotoren mit Fremdzündung;12 2 Richtlinie 94/63/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 1994 zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen (VOC-Emissionen) bei der Lagerung von Ottokraftstoff und seiner Verteilung von den Auslieferungslagern bis zu den Tankstellen;13 3 Richtlinie 2008/1/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Januar 2008 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung;14 4 Richtlinie 97/68/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16. Dezember 1997 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen zur Bekämpfung der Emission von gasförmigen Schadstoffen und luftverunreinigenden Partikeln aus Verbrennungsmotoren für mobile Maschinen und Geräte;15 5 Richtlinie 98/70/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über die Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen und zur Änderung der Richtlinie 93/12/EWG des Rates;16 6 Richtlinie 1999/13/EG des Rates vom 11. März 1999 über die Begrenzung von Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen, die bei bestimmten Tätigkeiten und in bestimmten Anlagen bei der Verwendung organischer Lösungsmittel entstehen;17 7 Richtlinie 1999/32/EG des Rates vom 26. April 1999 über eine Verringerung des Schwefelgehalts bestimmter flüssiger Kraft- oder Brennstoffe und zur Änderung der Richtlinie 93/12/EWG ;18 8 Richtlinie 2000/76/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Dezember 2000 über die Verbrennung von Abfällen;19 9 Richtlinie 2001/80/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2001 zur Begrenzung von Schadstoffemissionen von Großfeuerungsanlagen in die Luft; 10 Richtlinie 2001/81/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2001 über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe;

KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates

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3

11 Richtlinie 2004/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über die Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen aufgrund der Verwendung organischer Lösemittel in bestimmten Farben und Lacken und in Produkten der Fahrzeugreparaturlackierung;20 12 Richtlinie 2005/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2005 zur Änderung der Richtlinie 1999/32/EG im Hinblick auf den Schwefelgehalt von Schiffskraftstoffen.21 13 Richtlinie 2005/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. September 2005 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen gegen die Emission gasförmiger Schadstoffe und luftverunreinigender Partikel aus Selbstzündungsmotoren zum Antrieb von Fahrzeugen und die Emission gasförmiger Schadstoffe aus mit Flüssiggas oder Erdgas betriebenen Fremdzündungsmotoren zum Antrieb von Fahrzeugen.22 14 Richtlinie 2006/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 zur Endenergieeffizienz und zu Energiedienstleistungen;23 Informationen über alle Maßnahmen zur Verringerung der Luftverschmutzung, die auf geeigneter lokaler, regionaler oder nationaler Ebene im Hinblick auf die Erreichung der Luftqualitätsziele berücksichtigt wurden, u. a.: a Verringerung der Emissionen aus ortsfesten Quellen, indem sichergestellt wird, dass Schadstoff produzierende kleine und mittlere stationäre Verbrennungsanlagen (auch für Biomasse) mit emissionsmindernden Einrichtungen ausgerüstet oder durch neue Anlagen ersetzt werden; b Verringerung der Emissionen von Fahrzeugen durch Nachrüstung mit emissionsmindernden Einrichtungen. Der Einsatz wirtschaftlicher Anreize zur Beschleunigung einer solchen Ausrüstung ist in Erwägung zu ziehen; c öffentliches Beschaffungswesen im Einklang mit dem Handbuch für eine umweltgerechte öffentliche Beschaffung (bei Straßenfahrzeugen, Kraft- und Brennstoffen und Verbrennungsanlagen) mit dem Ziel der Emissionsverringerung, einschließlich des Erwerbs/der Inanspruchnahme von: – Neufahrzeugen, einschließlich solcher mit geringem Schadstoffausstoß, – Verkehrsdiensten mit umweltfreundlicheren Fahrzeugen, – stationären Verbrennungsanlagen mit geringem Schadstoffausstoß, – schadstoffarmen Kraft- oder Brennstoffen für ortsfeste und mobile Quellen; d Maßnahmen zur Begrenzung der verkehrsbedingten Emissionen durch Verkehrsplanung und -management (einschließlich Verkehrsüberlastungsgebühren, gestaffelter Parkgebühren und sonstiger finanzieller Anreize, Einrichtung von „Gebieten mit geringem Emissionsniveau“); e Maßnahmen zur Förderung einer Umstellung auf umweltfreundlichere Verkehrsträger; f Sicherstellung der Verwendung von schadstoffarmen Kraft- und Brennstoffen in kleinen, mittleren und großen ortsfesten und mobilen Quellen; g Maßnahmen zur Verringerung der Luftverschmutzung im Wege des Genehmigungssystems gemäß der Richtlinie 2008/1/EG, aufgrund der einzelstaatlichen Pläne gemäß der Richtlinie 2001/80/EG und mittels wirtschaftlicher Instrumente (Steuern, Gebühren, Emissionshandel usw.); h gegebenenfalls Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit von Kindern bzw. anderen empfindlichen Bevölkerungsgruppen.

20

ABl. L 143 vom 30.4.2004, S. 87.

21

ABl. L 191 vom 22.7.2005, S. 59.

22

ABl. L 275 vom 20.10.2005, S. 1. Zuletzt geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 715 / 2007 (ABl. L 171 vom 29.6.2007, S. 1).

23

ABl. L 114 vom 27.4.2006, S. 64.

ANHANG XVI Unterrichtung der Öffentlichkeit 1 Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass aktuelle Informationen über die Konzentrationen der in dieser Richtlinie geregelten Schadstoffe in der Luft der Öffentlichkeit routinemäßig zugänglich gemacht werden. 2 Die Konzentrationswerte sind als Durchschnittswerte entsprechend dem jeweiligen Mittelungszeitraum gemäß den Anhängen VII und XI bis XIV vorzulegen. Die Informationen müssen zumindest die Konzentrationen enthalten, mit denen Luftqualitätsziele überschritten werden (Grenzwerte, Zielwerte, Alarmschwellen, Informationsschwellen und langfristige Ziele für die regulierten Schadstoffe). Hinzuzufügen sind ferner eine kurze Beurteilung anhand der Luftqualitätsziele sowie einschlägige Angaben über gesundheitliche Auswirkungen bzw. gegebenenfalls Auswirkungen auf die Vegetation. 3 Die Informationen über die Konzentrationen von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid, Partikeln (mindestens PM10), Ozon und Kohlenmonoxid in der Luft sind mindestens täglich bzw. – soweit möglich – stündlich zu aktualisieren. Die Informationen über die Konzentrationen von Blei und Benzol in der Luft sind in Form eines Durchschnittswertes für die letzten 12 Monate vorzulegen und alle drei Monate bzw. – soweit möglich – monatlich zu aktualisieren. 4 Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Bevölkerung rechtzeitig über festgestellte oder vorhergesagte Überschreitungen der Alarmschwellen und Informationsschwellen unterrichtet wird. Die Angaben müssen mindestens Folgendes umfassen: a Informationen über eine oder mehrere festgestellte Überschreitungen: – Ort oder Gebiet der Überschreitung, – Art der überschrittenen Schwelle (Informationsschwelle oder Alarmschwelle), – Beginn und Dauer der Überschreitung, – höchste 1-Stunden-Konzentration und höchster 8-Stunden-Mittelwert der Konzentration für Ozon; b Vorhersage für den kommenden Nachmittag / Tag (die kommenden Nachmittage / Tage): – geografisches Gebiet erwarteter Überschreitungen der Informationsschwelle und / oder Alarmschwelle,

60

KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates

Anhang XV, XVI


erwartete Änderungen bei der Luftverschmutzung (Verbesserung, Stabilisierung oder Verschlechterung) sowie die Gründe für diese Änderungen; c Informationen über die betroffene Bevölkerungsgruppe, mögliche gesundheitliche Auswirkungen und empfohlenes Verhalten: – Informationen über empfindliche Bevölkerungsgruppen, – Beschreibung möglicher Symptome, – der betroffenen Bevölkerung empfohlene Vorsichtsmaßnahmen, – weitere Informationsquellen; d Informationen über vorbeugende Maßnahmen zur Verminderung der Luftverschmutzung und / oder der Exposition (Angabe der wichtigsten Verursachersektoren); Empfehlungen für Maßnahmen zur Verringerung der Emissionen; e Im Zusammenhang mit vorhergesagten Überschreitungen ergreifen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen um eine Bereitstellung dieser Angaben sicherzustellen, soweit dies möglich ist.

Anhang XVI

KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie 2008/50/EG des europäischen Parlaments und des Rates

61


Auszüge aus der Richtlinie(EU) 2016/2284 des europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 über die Reduktion der nationalen Emissionen bestimmter Luftschadstoffe, zur Änderung der Richtlinie 2003/35/EG und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/81/EG (Text von Bedeutung für den EWR)

Gründe für den Erlass der Richtlinie – – – – – – –

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union insbesondere auf Artikel 192, Absatz 1 auf Vorschlag der Europäischen Kommission nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses1 nach Stellungnahme des Ausschusses der Regionen2 gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren3

1 In den vergangenen 20 Jahren wurden in der Europäischen Union insbesondere durch eine gezielte Politik der Union, zu der auch die Mitteilung der Kommission vom 21. September 2005 mit dem Titel „Thematische Strategie zur Luftreinhaltung“ (TSAP – Thematic Strategy on Air Pollution) gehört, erhebliche Fortschritte bei den anthropogenen Emissionen in die Luft und bei der Luftqualität erzielt. Die Richtlinie 2001/81/EG des Europäischen Parlaments und des Rates4, mit der für die Jahresgesamtemissionen der Mitgliedstaaten an Schwefeldioxid (SO2), Stickstoffoxiden (NOx), flüchtigen organischen Verbindungen außer Methan (NMVOC) und Ammoniak (NH3) ab 2010 Obergrenzen gesetzt wurden, hat maßgeblich zu diesen Fortschritten beigetragen. Dies führte zwischen 1990 und 2010 zu einem Rückgang der Schwefeldioxid-Emissionen um 82 %, der Stickstoffoxid-Emissionen um 47 %, der Emissionen von flüchtigen organischen Verbindungen außer Methan um 56 % und der Ammoniak-Emissionen um 28 % in der Union. Wie aus der Mitteilung der Kommission vom 18. Dezember 2013 mit dem Titel „Programm Saubere Luft für Europa“ (im Folgenden „überarbeitete TSAP“) hervorgeht, sind signifikante negative Auswirkungen auf und Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt jedoch noch immer bedeutend. 2 Im 7. Umwelt-Aktionsprogramm5 wird das langfristige Ziel der Union zur Luftqualitätspolitik, ein Luftqualitätsniveau zu erreichen, das nicht zu signifikanten negativen Auswirkungen auf und Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt einhergeht, bestätigt und gefordert, dass die derzeitigen Luftqualitätsvorschriften der Union umfassend eingehalten, strategische Ziele und Aktionen für die Zeit nach 2020 festgesetzt und die Bemühungen in Gebieten verstärkt werden, in denen die Bevölkerung und die Ökosysteme einem hohen Luftverschmutzungsniveau ausgesetzt sind; zudem sollten verstärkt Synergien zwischen den Luftqualitätsvorschriften und den politischen Zielen der Union, die insbesondere in den Bereichen Klimaschutz und Biodiversität festgelegt wurden, angestrebt werden. 3 Die überarbeitete TSAP gibt neue strategische Ziele für die Zeit bis 2030 vor, um dem langfristigen Ziel der Union zur Luftqualität näher zu rücken. 4 Die Mitgliedstaaten und die Union sind dabei, das Übereinkommen von Minamata über Quecksilber von 2013 des Umweltprogramms der Vereinten Nationen zu ratifizieren, welches die menschliche Gesundheit und die Umwelt durch die Reduktion von Quecksilberemissionen aus bestehenden und neuen Quellen schützen soll, damit das Übereinkommen bis 2017 in Kraft treten kann. Die gemeldeten Emissionen dieses Schadstoffs sollten von der Kommission fortlaufend überprüft werden. 5 Die Mitgliedstaaten und die Union sind Vertragsparteien des Übereinkommens der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE) über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung von 1979 (im Folgenden „LRTAP-Übereinkommen“) und mehrerer Protokolle dazu, einschließlich des Protokolls zur Verringerung von Versauerung, Eutrophierung und Bodennahem Ozon von 1999, das im Jahr 2012 überarbeitet wurde (im Folgenden „überarbeitetes Göteborg-Protokoll“). 6 Das überarbeitete Göteborg-Protokoll gibt für das Jahr 2020 und danach jeder Vertragspartei neue Emissionsreduktionsverpflichtungen für Schwefeldioxid, Stickstoffoxid, flüchtige organische Verbindungen außer Methan, Ammoniak und Feinstaub mit dem Jahr 2005 als Referenzjahr vor, wirkt auf die Reduktion von Rußemissionen hin und fordert die Sammlung und das Verfügbar halten von Informationen über die nachteiligen Auswirkungen von Luftschadstoffkonzentrationen und -einträgen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt sowie die Teilnahme an den ergebnisorientierten Programmen im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens. 7 Die mit der Richtlinie 2001/81/EG eingeführte Regelung für nationale Emissionshöchstmengen sollte daher überarbeitet und mit den internationalen Verpflichtungen der Union und der Mitgliedstaaten in Übereinstimmung gebracht werden. Zu diesem Zweck sind die nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen für jedes Jahr von 2020 bis 2029 in der vorliegenden Richtlinie mit denen im überarbeiteten GöteborgProtokoll identisch. 8 Die Mitgliedstaaten sollten diese Richtlinie in einer Weise umsetzen, die durch Reduzierung der Konzentration und der Einträge von für Versauerung, Eutrophierung oder bodennahes Ozon verantwortlichen Schadstoffen auf Werte unterhalb der im LRTAP-Übereinkommen festgelegten kritischen Eintrags- und Konzentrationswerte wirksam dazu beiträgt, das langfristige Ziel der Union für eine Luftqualität in Einklang mit den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation und die Ziele der Union für den Schutz der Biodiversität und der Ökosysteme zu verwirklichen. 9 Diese Richtlinie sollte außerdem dazu beitragen, dass zusätzlich zur weltweiten Verbesserung der Luftqualität und zur Verbesserung von Synergien mit den klima- und energiepolitischen Maßnahmen der Union die im Unionsrecht verankerten Luftqualitätsziele auf kosteneffiziente Weise erreicht und die Auswirkungen des Klimawandels abgemildert werden, wobei Überschneidungen mit geltenden Rechtsvorschriften der Union vermieden werden.

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KAPITEL DREI Europaweite Maßnahmen Richtlinie(EU) 2016/2284 des europäischen Parlaments und des Rates

Auszüge aus: Europäisches Parlament, Rat der Europäischen Union, Richtlinie (EU) 2016 / 2284 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 über die Reduktion der nationalen Emissionen bestimmter Luftschadstoffe, zur Änderung der ­Richtlinie 2003 / 35 / EG und zur Aufhebung der Richtlinie 2001 / 81 / EG, S. 1 – 20.

1 2 3 4

5

ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 134. ABl. C 415 vom 20.11.2014, S. 23. Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 23. November 2016 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) und Beschluss des Rates vom 8. Dezember 2016. Richtlinie 2001 / 81 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2001 über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe (ABl. L 309 vom 27.11.2001, S. 22).

Beschluss Nr. 1386 / 2013 / EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der Union für die Zeit bis 2020 „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“ (ABl. L 354 vom 28.12.2013, S. 171).

Gründe für den Erlass der Richtlinie


6

Richtlinie 2008 / 50 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa (ABl. L 152 vom 11.6.2008, S. 1).

Gründe für den Erlassen der Richtlinie

10 Diese Richtlinie trägt durch Verbesserung des Wohlbefindens der Unionsbürger auch zur Senkung der durch Luftverschmutzung bedingten Gesundheitskosten in der Union und zur Förderung des Übergangs zu einer umweltverträglichen Wirtschaft (Green Economy) bei. 11 Diese Richtlinie sollte einen Beitrag zur schrittweisen Reduktion der Luftverschmutzung leisten, wobei sie auf den Reduktionen aufbaut, die durch Rechtsvorschriften der Union zur Reduktion der Luftverschmutzung an der Quelle für Emissionen von spezifischen Substanzen erzielt wurden. 12 Die Rechtsvorschriften der Union zur Reduktion der Luftverschmutzung an der Quelle sollten die erwarteten Emissionsreduktionen tatsächlich erreichen. Um die umfassenderen Luftqualitätsziele zu erreichen, ist es von entscheidender Bedeutung, frühzeitig nicht wirksame Rechtsvorschriften der Union zur Reduktion der Luftverschmutzung an der Quelle zu erkennen und auf diese zu reagieren, wie sich an der D ­ iskrepanz ­zwischen den Stickstoffoxid-Emissionen im praktischen Fahrbetrieb und den im Testbetrieb gemessenen ­Stickstoffoxid-Emissionen von Euro-6-Dieselfahrzeugen gezeigt hat. 13 Die Mitgliedstaaten sollten die in dieser Richtlinie enthaltenen Emissionsreduktionsverpflichtungen von 2020 bis 2029 und ab 2030 erfüllen. Um nachweisbare Fortschritte bei den Verpflichtungen für 2030 sicherzustellen, sollten die Mitgliedstaaten indikative Emissionsziele für 2025 bestimmen, die technisch umsetzbar und nicht mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden wären, und sollten bestrebt sein, diese Ziele zu erfüllen. Gelingt es nicht, die Emissionen bis 2025 in Einklang mit dem festgelegten Reduktionspfad zu begrenzen, sollten die Mitgliedstaaten diese Abweichung sowie die Maßnahmen, die sie zu ihrem Pfad zurückführen würden, in ihren darauffolgenden Berichten, die gemäß dieser Richtlinie zu erstellen sind, begründen. 14 Die ab 2030 geltenden nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen gemäß dieser Richtlinie beruhen auf dem geschätzten Reduktionspotenzial jedes Mitgliedstaats im TSAP-Bericht Nr. 16 vom Januar 2015, auf der technischen Prüfung der Unterschiede zwischen den nationalen Schätzungen und den Schätzungen im TSAP-Bericht Nr. 16 sowie auf dem politischen Ziel, die Reduktion der gesundheitlichen Auswirkungen bis 2030 (im Vergleich zu 2005) in einem möglichst ähnlichem Maße zu reduzieren wie im Entwurf der Kommission für diese Richtlinie vorgeschlagen. Zwecks größerer Transparenz sollte die Kommission die im TSAP-Bericht Nr. 16 verwendeten zugrunde liegenden Hypothesen veröffentlichen. 15 Die Erfüllung der nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen sollte unter Bezugnahme auf den spezifischen methodologischen Stand, der zum Zeitpunkt der Festlegung der Verpflichtungen erreicht war, bewertet werden. 16 Den Berichterstattungsanforderungen und den Emissionsreduktionsverpflichtungen sollten der nationale Energieverbrauch und der nationale Kraftstoffverkauf zugrunde gelegt werden. Allerdings können einige Mitgliedstaaten im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens die anhand der im Straßenverkehr verbrauchten Kraftstoffe berechneten nationalen Gesamtemissionen als Grundlage für die Einhaltung der Verpflichtungen nehmen. Diese Option sollte in dieser Richtlinie beibehalten werden, um die Kohärenz zwischen Völker- und Unionsrecht sicherzustellen. 17 Um einige der Unsicherheiten, die mit der Festlegung der nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen verbunden sind, zu beseitigen, sind im überarbeiteten Göteborg-Protokoll Flexibilitätsregelungen enthalten, die in diese Richtlinie aufgenommen werden sollten. Im Göteborg-Protokoll ist insbesondere ein Mechanismus vorgesehen, der es ermöglicht, die nationalen Emissionsinventare anzupassen und den Mittelwert der nationalen jährlichen Emissionen über einen Zeitraum von höchstens drei Jahren zugrunde zu legen, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Darüber hinaus sollten in dieser Richtlinie Flexibilitätsregelungen vorgesehen werden, wo sie eine Reduktionsverpflichtung vorschreibt, die über die im TSAP-Bericht Nr. 16 festgelegte kosteneffiziente Reduktion hinausgeht, und um die Mitgliedstaaten bei abrupten und außergewöhnlichen Ereignissen im Zusammenhang mit der Energieerzeugung oder -versorgung zu unterstützen, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Die Inanspruchnahme dieser Flexibilitätsregelungen sollte von der Kommission überwacht werden, die dabei die im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens erstellten Leitfäden berücksichtigt. Bei der Bewertung der Anträge auf Anpassung sollten die Emissionsreduktionsverpflichtungen für den Zeitraum zwischen 2020 und 2029 als am 4. Mai 2012 – dem Datum der Überarbeitung des ­Göteborg-Protokolls – festgelegt gelten. 18 Jeder Mitgliedstaat sollte ein nationales Luftreinhalteprogramm erstellen, verabschieden und durchführen, um seine Emissionsreduktionsverpflichtungen zu erfüllen und wirksam zur Verwirklichung der Luftqualitätsziele der Union beizutragen. Zu diesem Zweck sollten die Mitgliedstaaten berücksichtigen, dass in Gebieten und Ballungsräumen, in denen übermäßige Luftschadstoffkonzentrationen vorliegen und / oder in den Gebieten und Ballungsräumen, die erheblich zur Luftverschmutzung in anderen Gebieten und Ballungsräumen, auch in Nachbarländern, beitragen, die Emissionen insbesondere von Stickstoffoxiden und Feinstaub reduziert werden müssen. Die nationalen Luftreinhalteprogramme sollten in dieser Hinsicht zur erfolgreichen Durchführung der Luftqualitätspläne gemäß Artikel 23 der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates6 beitragen. 19 Um die Emissionen aus anthropogenen Quellen zu reduzieren, sollten die nationalen Luftreinhalteprogramme Maßnahmen für alle einschlägigen Sektoren umfassen, einschließlich Landwirtschaft, Energie, Industrie, Straßenverkehr, Binnenschifffahrt, Hausbrand und Einsatz von nicht für den Straßenverkehr bestimmten mobilen Maschinen und Geräten sowie Lösemittel. Allerdings sollten die Mitgliedstaaten selbst darüber entscheiden dürfen, welche Maßnahmen sie treffen, um die in dieser Richtlinie festgelegten Emissionsreduktionsverpflichtungen zu erfüllen. 20 Bei der Erstellung der nationalen Luftreinhalteprogramme sollten die Mitgliedstaaten bewährte Vorgehensweisen berücksichtigen, unter anderem hinsichtlich der gefährlichsten Schadstoffe, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, in Bezug auf empfindliche Bevölkerungsgruppen. 21 Die Landwirtschaft trägt in hohem Maße zu atmosphärischen Ammoniak- und Feinstaub-Emissionen bei. Um diese Emissionen zu reduzieren, sollten die nationalen Luftreinhalteprogramme auch Maßnahmen für den Agrarsektor vorsehen. Solche Maßnahmen sollten kosteneffizient sein, auf konkreten Informationen

KAPITEL DREI Politische Maßnahmen Richtlinie(EU) 2016/2284 des europäischen Parlaments und des Rates

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und Daten beruhen und dem wissenschaftlichen Fortschritt sowie früheren Maßnahmen der Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, mit konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität beizutragen. Wie diese Maßnahmen im Einzelnen wirken, wird im Zuge einer künftigen Bewertung verdeutlicht werden. 22 Die Verbesserung der Luftqualität sollte mit verhältnismäßigen Maßnahmen erreicht werden. Wenn die Mitgliedstaaten den Agrarsektor betreffende Maßnahmen treffen, die in die nationalen Luftreinhalteprogramme aufgenommen werden sollen, sollten sie sicherstellen, dass ihre Auswirkungen auf kleine landwirtschaftliche Betriebe in vollem Umfang berücksichtigt werden, damit möglichst geringe zusätzliche Kosten entstehen. 23 Sofern bestimmte Maßnahmen, die im Rahmen der nationalen Luftreinhalteprogramme zur Vermeidung von Emissionen in der Landwirtschaft getroffen werden, insbesondere Maßnahmen von landwirtschaftlichen Betrieben, die ihre Verfahren wesentlich ändern oder hohe Investitionen tätigen müssen, finanziell unterstützt werden können, sollte die Kommission den Zugang zu diesen Finanzmitteln und zu anderen verfügbaren Mitteln der Union erleichtern. 24 Im Hinblick auf die Reduktion der Emissionen sollten die Mitgliedstaaten die Unterstützung der Umschichtung von Investitionen in umweltverträgliche und effiziente Technologien in Erwägung ziehen. Innovation kann dazu beitragen, die Nachhaltigkeit zu stärken und Probleme dort zu lösen, wo sie entstehen, indem sie die sektorspezifischen Antworten auf die Herausforderungen in Bezug auf die Luftqualität verbessert. 25 Nationale Luftreinhalteprogramme, einschließlich der Analyse, auf deren Grundlage Strategien und Maßnahmen ausgewählt werden, sollten regelmäßig aktualisiert werden. 26 Um die nationalen Luftreinhalteprogramme und wichtige Aktualisierungen dieser Programme auf eine fundierte Grundlage zu stellen, sollten die Mitgliedstaaten die Öffentlichkeit und die zuständigen Behörden auf allen Ebenen zu diesen Programmen und Aktualisierungen konsultieren, solange noch alle Strategieund Maßnahmenoptionen offen sind. Im Einklang mit den Bestimmungen des Unions- und des Völkerrechts, einschließlich des UNECE-Übereinkommens über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen (Espoo-Übereinkommen) aus dem Jahr1991 und dessen Protokolls über die strategische Umweltprüfung aus dem Jahr 2003, sollten die Mitgliedstaaten grenzüberschreitende Konsultationen vornehmen, wenn die Durchführung ihrer Programme die Luftqualität in einem anderen Mitgliedstaat oder Drittland beeinträchtigen könnte. 27 Ziel dieser Richtlinie ist unter anderem der Schutz der menschlichen Gesundheit. Wie der Gerichtshof wiederholt ausgeführt hat, wäre es mit der verbindlichen Rechtswirkung, die einer Richtlinie in Artikel 288 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zugewiesen wird, unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, dass eine von einer Richtlinie auferlegte Verpflichtung von den betroffenen Personen geltend gemacht werden kann. Diese Überlegung gilt ganz besonders für eine Richtlinie, die die Eindämmung und Reduktion der Luftverschmutzung und damit den Schutz der menschlichen Gesundheit bezweckt. 28 Die Mitgliedstaaten sollten nationale Emissionsinventare und -prognosen sowie informative Inventarberichte zu allen unter diese Richtlinie fallenden Luftschadstoffen erstellen und übermitteln, die es der Union sodann ermöglichen, ihren Berichtspflichten im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens und seiner Protokolle nachzukommen. 29 Um unionsweite Kohärenz zu gewährleisten, sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass ihre an die Kommission übermittelten nationalen Emissionsinventare und -prognosen sowie informativen Inventarberichte vollständig mit ihrer Berichterstattung im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens in Einklang stehen. 30 Um die Wirksamkeit der in dieser Richtlinie vorgesehenen nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen zu beurteilen, sollten die Mitgliedstaaten auch die Auswirkungen der Luftverschmutzung auf terrestrische und aquatische Ökosysteme überwachen und darüber Bericht erstatten. Um einen kosteneffizienten Ansatz sicherzustellen, sollten die Mitgliedstaaten die in dieser Richtlinie vorgesehenen fakultativen Überwachungsindikatoren verwenden können und sich mit anderen Überwachungsprogrammen, die gemäß einschlägigen Richtlinien und gegebenenfalls dem LRTAP-Übereinkommen eingerichtet wurden, abstimmen. 31 Es sollte ein Europäisches Forum für saubere Luft eingerichtet werden, bei dem alle Interessenträger, einschließlich der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten sämtlicher maßgeblicher Ebenen, einbezogen werden, um Erfahrungen und bewährte Vorgehensweisen auszutauschen, insbesondere, um einen Beitrag zur Ausarbeitung von Leitlinien zu leisten und die koordinierte Umsetzung der Rechtsvorschriften und Maßnahmen der Union zur Verbesserung der Luftqualität zu erleichtern. 32 In Einklang mit der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates7 sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Informationen auf elektronischem Wege aktiv und systematisch verbreitet werden. 33 Die Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates8 muss geändert werden, um die Übereinstimmung jener Richtlinie mit dem UNECE-Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten aus dem Jahr 1998 (Aarhus-Übereinkommen) zu gewährleisten. 34 Um technischen und internationalen Entwicklungen Rechnung tragen zu können, sollte der Kommission die Befugnis übertragen werden, gemäß Artikel 290 AEUV Rechtsakte zur Änderung des Anhangs I, des Anhangs III Teil 2 und des Anhangs IV zwecks Anpassung an die Entwicklungen im Rahmen des LRTAPÜbereinkommens sowie zur Änderung des Anhangs V zwecks Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt und an die Entwicklungen im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens zu erlassen. Es ist von besonderer Bedeutung, dass die Kommission im Zuge ihrer Vorbereitungsarbeit angemessene Konsultationen, auch auf der Ebene von Sachverständigen, durchführt und dass diese Konsultationen mit den Grundsätzen in Einklang stehen, die in der Interinstitutionellen Vereinbarung vom 13. April 2016 über bessere Rechtsetzung9 niedergelegt wurden. Um insbesondere eine gleichberechtigte Beteiligung an der Ausarbeitung der delegierten Rechtsakte zu gewährleisten, erhalten das Europäische Parlament und der Rat alle Dokumente zur gleichen Zeit wie die Sachverständigen der Mitgliedstaaten, und ihre Sachverständigen haben systematisch Zugang

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7

Richtlinie 2003 / 4 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90 / 313 / EWG des Rates (ABl. L 41 vom 14.2.2003, S. 26).

8

Richtlinie 2003 / 35 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85 / 337 / EWG und 96 / 61 / EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten (ABl. L 156 vom 25.6.2003, S. 17).

9

ABl. L 123 vom 12.5.2016, S. 1.

Gründe für den Erlass der Richtlinie


10

Verordnung (EU) Nr. 182 / 2011 des Europäischen ­ arlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur FestP legung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren (ABl. L 55 vom 28.2.2011, S. 13).

11

ABl. C 369 vom 17.12.2011, S. 14.

zu den Sitzungen der Sachverständigengruppen der Kommission, die mit der Ausarbeitung der delegierten Rechtsakte befasst sind. 35 Zur Gewährleistung einheitlicher Bedingungen für die Durchführung von Flexibilitätsregelungen und nationalen Luftreinhalteprogrammen nach dieser Richtlinie sollten der Kommission Durchführungsbefugnisse übertragen werden. Diese Befugnisse sollten im Einklang mit der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates10 ausgeübt werden. 36 Die Mitgliedstaaten sollten Regelungen für die Sanktionen festlegen, die bei Verstößen gegen aufgrund dieser Richtlinie erlassene einzelstaatliche Vorschriften zu verhängen sind, und für deren Anwendung sorgen. Diese Sanktionen sollten wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. 37 Angesichts der Art und des Umfangs der notwendigen Änderungen der Richtlinie 2001/81/EG sollte jene Richtlinie im Interesse einer höheren Rechtssicherheit, Klarheit und Transparenz und zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften ersetzt werden. Um Kontinuität bei der Verbesserung der Luftqualität sicherzustellen, sollten die Mitgliedstaaten die in der Richtlinie 2001/81/EG festgesetzten nationalen Emissionshöchstmengen einhalten, bis die in der vorliegenden Richtlinie vorgesehenen neuen nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen im Jahr 2020 anwendbar werden. 38 Da das Ziel dieser Richtlinie, nämlich die Gewährleistung eines hohen Niveaus des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann, sondern vielmehr wegen der grenzüberschreitenden Wirkung der Luftverschmutzung auf Unionsebene besser zu verwirklichen ist, kann die Union in Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Verwirklichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus. 39 Gemäß der Gemeinsamen Politischen Erklärung vom 28. September 2011 der Mitgliedstaaten und der Kommission zu erläuternden Dokumenten11 haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, in begründeten Fällen zusätzlich zur Mitteilung ihrer Umsetzungsmaßnahmen ein oder mehrere Dokumente zu übermitteln, in denen der Zusammenhang zwischen den Bestandteilen einer Richtlinie und den entsprechenden Teilen nationaler Umsetzungsinstrumente erläutert wird. Bei dieser Richtlinie hält der Gesetzgeber die Übermittlung derartiger Dokumente für gerechtfertigt.

Erlassene Richtlinie Artikel 1 Ziele und Gegenstand Die in dieser Richtlinie festgelegten Maßnahmen dienen folgenden Zielen: 1 Im Hinblick auf die Verwirklichung eines Luftqualitätsniveaus, das nicht zu signifikanten negativen Auswirkungen auf und Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt führt, legt diese Richtlinie die Emissionsreduktionsverpflichtungen für die anthropogenen atmosphärischen Emissionen von Schwefeldioxid (SO2), Stickstoffoxiden (NOx), flüchtigen organischen Verbindungen außer Methan (NMVOC), Ammoniak (NH3) und Feinstaub (PM2,5) in den Mitgliedstaaten fest und schreibt die Erstellung, Verabschiedung und Durchführung von nationalen Luftreinhalteprogrammen sowie die Überwachung von und Berichterstattung über Emissionen dieser Schadstoffe und der anderen in Anhang I genannten Schadstoffe sowie deren Auswirkungen vor. 2 Die Richtlinie trägt ferner dazu bei, dass folgende Ziele erreicht werden: a die in den Rechtsvorschriften der Union festgelegten Luftqualitätsziele und Fortschritte in Bezug auf das langfristige Ziel der Union, ein Luftqualitätsniveau zu erreichen, das den von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlichten Luftqualitätsleitlinien entspricht; b die Ziele der Union in Bezug auf den Schutz der Artenvielfalt und der Ökosysteme gemäß dem 7. Umweltaktionsprogramm; c größere Synergieeffekte zwischen der Luftqualitätspolitik der Union und anderen einschlägige Unionspolitiken, insbesondere der Klimapolitik und der Energiepolitik Artikel 2 Geltungsbereich 1 Diese Richtlinie gilt für Emissionen der in Anhang I genannten Schadstoffe aus sämtlichen Quellen im Gebiet der Mitgliedstaaten, in ihren ausschließlichen Wirtschaftszonen und in ihren SchadstoffÜberwachungsgebieten. 2 Diese Richtlinie betrifft nicht Emissionen auf den Kanarischen Inseln, in den französischen überseeischen Departements, auf Madeira und den Azoren.

Erlassene Richtlinie

Artikel 3 Begriffsbestimmungen Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck 1 „Emission“ die Freisetzung eines Stoffes aus einer Punkt- oder diffusen Quelle in die Atmosphäre; 2 „anthropogene Emissionen“ atmosphärische Schadstoffemissionen, die mit Tätigkeiten des Menschen verbunden sind; 3 „Ozonvorläuferstoffe“ Stickstoffoxide, flüchtige organische Verbindungen außer Methan, Methan und Kohlenmonoxid; 4 „Luftqualitätsziele“ die Grenzwerte, Zielwerte und Verpflichtungen in Bezug auf die Expositionskonzentration für die Luftqualität gemäß der Richtlinie 2008/50/EG und der Richtlinie 2004/107/EG des Europäischen Parlaments und des Rates12; 5 „Schwefeldioxid“ oder „SO2“ alle Schwefelverbindungen, ausgedrückt als Schwefeldioxid, einschließlich Schwefeltrioxid (SO3), Schwefelsäure (H2SO4) und reduzierter Schwefelverbindungen wie Schwefelwasserstoff (H2S), Merkaptane und Dimethylsulfide; 6 „Stickstoffoxide“ oder „NOx“ Stickstoffmonoxid und Stickstoffdioxid, ausgedrückt als Stickstoffdioxid; 7 „flüchtige organische Verbindungen außer Methan“ oder „NMVOC“ alle organischen Verbindungen außer Methan, die durch Reaktion mit Stickstoffoxiden in Gegenwart von Sonnenlicht photochemische Oxidantien erzeugen können; 8 „Feinstaub“ oder „PM2,5“ Partikel mit einem aerodynamischen Durchmesser von höchstens 2,5 Mikrometern (μm); 9 „Ruß“ (black carbon, BC) kohlenstoffhaltige, lichtabsorbierende Partikel; 10 „nationale Emissionsreduktionsverpflichtung“ die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Reduktion der Emissionen eines Stoffes; ausgedrückt als Mindestemissionsreduktion für das Zielkalenderjahr, als Prozentsatz der im Referenzjahr (2005) insgesamt freigesetzten Emissionen; 11 „Lande- und Startzyklus“ der Zyklus, der sich aus Rollen, Starten,

12

Richtlinie 2004 / 107 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 über Arsen, Kadmium, Quecksilber, Nickel und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe in der Luft (ABl. L 23 vom 26.1.2005, S. 3).

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Steigflug, Anflug und Landung sowie allen anderen Manövern von Um festzustellen, ob die einschlägigen Bedingungen gemäß Anhang IV Luftfahrzeugen ergibt, die unterhalb einer Höhe von 3 000 Fuß statt- Teil 4 erfüllt sind, gelten die Emissionsreduktionsverpflichtungen für die Jahre 2020 bis 2029 als am 4. Mai 2012 festgelegt. finden; Ab 2025 gelten die folgenden zusätzlichen Bedingungen für 12 „internationaler Seeverkehr“ Fahrten auf See und in Küstengewässern von Wasserfahrzeugen unter beliebiger Flagge, ausgenommen Anpassungen in Fällen, in denen gemäß Anhang IV Teil 4 Nummer 1 BuchFischereifahrzeuge, die im Hoheitsgebiet eines Landes beginnen stabe d Ziffern ii und iii zur Bestimmung von Emissionen aus Quellen ­bestimmter Kategorien Emissionsfaktoren oder Methoden verwendet und im Hoheitsgebiet eines anderen Landes enden; 13 „Schadstoff-Überwachungsgebiet“ ein Seegebiet, das maximal 200 werden, die sich sehr von jenen unterscheiden, die als Folge der UmsetSeemeilen über die Basislinien, ab denen die Breite des Hoheitsge- zung einer bestimmten Norm nach den Rechtsvorschriften der Union zur wässers gemessen wird, hinausreicht und von einem Mitgliedstaat Reduktion der Luftverschmutzung an der Quelle zu erwarten waren: a Der betreffende Mitgliedstaat weist nach, nachdem er den zwecks Vermeidung, Reduktion und Beschränkung der VerunreiniErgebnissen der nationalen Inspektions- und Durchsetgung durch Schiffe in Einklang mit geltenden internationalen Vorzungsprogramme zur Überwachung der Wirkung der Rechtsschriften und Normen eingerichtet wurde; vorschriften der Union zur Reduktion der Luftverschmutzung 14 „Rechtsvorschriften der Union zur Reduktion der Luftverschmutzung an der Quelle Rechnung getragen hat, dass die sehr unteran der Quelle“ Rechtsvorschriften der Union, die auf eine R ­ eduktion schiedlichen Emissionsfaktoren nicht auf die innerstaatliche der Emissionen der unter diese Richtlinie fallenden Luftschadstoffe Umsetzung oder Durchführung dieser Rechtsvorschriften durch Minderungsmaßnahmen an der Quelle abzielen. zurückzuführen sind; Artikel 4 b der betreffende Mitgliedstaat hat die Kommission, die geNationale Emissionsreduktionsverpflichtungen mäß Artikel 11 Absatz 2 prüft, ob weitere Maßnahmen getrof1 Die Mitgliedstaaten begrenzen ihre jährlichen anthropogenen Emisfen werden müssen, über die signifikant unterschiedlichen sionen von Schwefeldioxid, Stickstoffoxiden, flüchtigen organiEmissionsfaktoren informiert. schen Verbindungen außer Methan, Ammoniak und Feinstaub zumindest im Einklang mit ihren in Anhang II festgelegten, von 2020 2 Wenn ein Mitgliedstaat in einem bestimmten Jahr aufgrund eines außergewöhnlich strengen Winters oder eines außergewöhnlich trobis 2029 und ab 2030 geltenden nationalen Emissionsreduktionsckenen Sommers seine Emissionsreduktionsverpflichtungen nicht verpflichtungen. erfüllen kann, so darf er zur Erfüllung dieser Verpflichtungen den Mit2 Unbeschadet Absatz 1 ergreifen die Mitgliedstaaten die erforderlitelwert seiner nationalen jährlichen Emissionen aus dem betreffenchen Maßnahmen, die darauf abzielen, ihre anthropogenen Emissioden Jahr sowie dem vorherigen und dem darauffolgenden Jahr nen von Schwefeldioxid, Stickstoffoxiden, flüchtigen organischen ­zugrunde legen, sofern dieser Mittelwert die sich aus der ReduktiVerbindungen außer Methan, Ammoniak und Feinstaub im Jahr 2025 onsverpflichtung des Mitgliedstaats ergebende nationale jährlichen zu begrenzen. Die betreffenden indikativen Emissionsmengen werEmissionsmenge nicht übersteigt. den anhand eines linearen Reduktionspfads ermittelt, der zwischen ihren Emissionsmengen, die sich aus den Emissionsreduktionsver- 3 Wenn ein Mitgliedstaat, für den in Anhang II eine oder mehrere im Vergleich zur kosteneffizienten Reduktion nach dem TSAP-Bericht pflichtungen für 2020 ergeben, und den Emissionsmengen, die sich Nr. 16 strengere Reduktionsverpflichtungen festgelegt sind, in einem aus den Emissionsreduktionsverpflichtungen für 2030 ergeben, gebestimmten Jahr seine einschlägigen Emissionsreduktionsverpflichzogen wird. tungen nicht erfüllen kann, nachdem er alle kosteneffizienten MaßDie Mitgliedstaaten können einem nichtlinearen Reduktionspfad folgen, nahmen umgesetzt hat, so gelten seine einschlägigen Emissionsrewenn dies wirtschaftlich oder technisch effizienter ist und sofern dieser duktionsverpflichtungen für einen Zeitraum von höchstens fünf Pfad sich ab 2025 schrittweise dem linearen Reduktionspfad annähert Jahren als eingehalten, sofern er diese Nichteinhaltung in dem beund dies die Emissionsreduktionsverpflichtungen für 2030 unberührt treffenden Zeitraum durch eine vergleichbare Emissionsreduktion lässt. Die Mitgliedstaaten legen diesen nichtlinearen Reduktionspfad in bei einem anderen in Anhang II genannten Schadstoff kompensiert. den gemäß Artikel 10 Absatz 1 der Kommission vorzulegenden nationalen Luftreinhalteprogrammen fest und begründen dort, warum sie sich 4 Die Verpflichtungen eines Mitgliedstaats gemäß Artikel 4 gelten für einen Zeitraum von höchstens drei Jahren als eingehalten, wenn sich daran ausrichten. die Nichteinhaltung seiner Emissionsreduktionsverpflichtungen für Gelingt es nicht, die Emissionen bis 2025 in Einklang mit die betreffenden Schadstoffe aus einer abrupten und außergewöhndem festgelegten Reduktionspfad zu begrenzen, so müssen die Mitgliedlichen Unterbrechung oder einem abrupten und außergewöhnlichen staaten diese Abweichung sowie die Maßnahmen, die sie zu ihrem Pfad Verlust von Kapazitäten im Strom- und / oder Wärmeversorgungszurückführen würden, in den darauffolgenden informativen Inventarbeder nach vernünftiger Einoder -erzeugungssystem ergibt, die /  richten begründen, die der Kommission gemäß Artikel 10 Absatz 2 vorzuschätzung nicht vorhersehbar war, und die folgenden Bedingungen legen sind. erfüllt sind: 3 Folgende Emissionen werden für die Zwecke der Absätze 1 und 2 a Der betreffende Mitgliedstaat hat nachgewiesen, dass zur nicht berücksichtigt: Gewährleistung der Einhaltung alle angemessenen Anstrena Emissionen von Flugzeugen außerhalb des Lande- und gungen, einschließlich der Durchführung neuer Maßnahmen Startzyklus; und Strategien, unternommen wurden und weiterhin unterb Emissionen aus dem nationalen Seeverkehr von und nach nommen werden, um den Zeitraum der Nichteinhaltung so den in Artikel 2 Absatz 2 genannten Gebieten; kurz wie möglich zu halten; und c Emissionen aus dem internationalen Seeverkehr; b der betreffende Mitgliedstaat hat nachgewiesen, dass die d Emissionen von Stickstoffoxiden und flüchtigen organischen Durchführung weiterer Maßnahmen und Strategien – zuVerbindungen außer Methan aus Tätigkeiten, die unter die sätzlich zu den unter Buchstabe a genannten Maßnahmen Nomenklatur für die Berichterstattung (NFR) (2014) des und Strategien – unverhältnismäßige Kosten verursachen, LRTAP-Übereinkommens gemäß den Kategorien 3B (Dündie nationale Energieversorgungssicherheit erheblich gegewirtschaft) und 3D (landwirtschaftliche Böden) fallen. fährden oder einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung der Artikel 5 Gefahr der Energiearmut aussetzen würde. Flexibilitätsregelungen 1 Die Mitgliedstaaten können in Einklang mit Anhang IV Teil 4 ihre nati- 5 Mitgliedstaaten, die die Absatz 1, 2, 3 oder 4 anwenden wollen, teilen dies der Kommission bis zum 15. Februar des betreffenden Berichtsonalen Jahresemissionsinventare für Schwefeldioxid, Stickstoffoxijahres mit. Dabei übermitteln sie die betreffenden Schadstoffe und de, flüchtige organische Verbindungen außer Methan, Ammoniak Sektoren und, sofern verfügbar, den Umfang der Auswirkungen auf und Feinstaub anpassen, wenn die Anwendung verbesserter Emissidie nationalen Emissionsinventare. onsinventurmethoden, die dem neuesten wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechen, zur Nichterfüllung ihrer nationalen Emissions- 6 Mit Unterstützung der Europäischen Umweltagentur prüft und beurteilt die Kommission, ob die Inanspruchnahme einer der Flexibilitätsreduktionsverpflichtungen führen würde.

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regelungen für ein bestimmtes Jahr die einschlägigen Bedingungen gemäß Absatz 1 dieses Artikels und Anhang IV Teil 4 oder gegebenenfalls der Absätze 2, 3 oder 4 dieses Artikels erfüllt. Läuft nach Auffassung der Kommission die Inanspruchnahme einer bestimmten Flexibilitätsregelung den einschlägigen Bedingungen gemäß Absatz 1 dieses Artikels und Anhang IV Teil 4 oder der Absätze 2, 3 oder 4 dieses Artikels zuwider, so erlässt sie innerhalb von neun Monaten ab dem Tag des Eingangs des betreffenden Berichts gemäß Artikel 8 Absatz 4 einen Beschluss, in dem sie dem betreffenden Mitgliedstaat mitteilt, dass sie die Inanspruchnahme dieser Flexibilitätsregelung nicht genehmigen kann, und diese Ablehnung begründet. Hat die Kommission innerhalb von neun Monaten ab dem Tag des Eingangs des betreffenden Berichts gemäß Artikel 8 Absatz 4 keinen Einwand erhoben, erachtet der betreffende Mitgliedstaat die Inanspruchnahme dieser Flexibilitätsregelung als für das betreffende Jahr gültig und genehmigt. 7 Die Kommission kann Durchführungsrechtsakte erlassen, in denen die genauen Regeln für die Inanspruchnahme der in den Absätzen 1, 2, 3 und 4 dieses Artikels genannten Flexibilitätsregelungen präzisiert werden. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 17 genannten Prüfverfahren erlassen. 8 Die Kommission berücksichtigt bei der Ausübung ihrer Befugnisse gemäß den Absätzen 6 und 7 die einschlägigen Leitfäden, die im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens erstellt wurden. Artikel 6 Nationale Luftreinhalteprogramme 1 Jeder Mitgliedstaat erstellt, verabschiedet und führt sein jeweiliges nationales Luftreinhalteprogramm in Einklang mit Anhang III Teil 1 durch, um seine anthropogenen Jahresemissionen gemäß Artikel 4 zu begrenzen und zur Verwirklichung der in Artikel 1 Absatz 1 dieser Richtlinie festgelegten Ziele beizutragen. 2 Jeder Mitgliedstaat muss bei der Erstellung, Verabschiedung und Durchführung des in Absatz 1 genannten Programms a bewerten, in welchem Umfang sich nationale Emissionsquellen voraussichtlich auf die Luftqualität in seinem Hoheitsgebiet und in benachbarten Mitgliedstaaten auswirken, wobei er gegebenenfalls im Rahmen des Europäischen Programms für die Messung und Auswertung der grenzüberschreitenden Luftverschmutzung (EMEP) gemäß dem ­Protokoll zum LRTAP-Übereinkommen betreffend die langfristige Finanzierung des Programms über die Zusammenarbeit bei der Messung und Bewertung der weiträumigen Übertragung von luftverunreinigenden Stoffen in Europa erhobene Daten und entwickelte Methoden verwendet; b die Notwendigkeit berücksichtigen, Luftschadstoffemissionen zu reduzieren, um die Luftqualitätsziele in seinem Hoheitsgebiet und gegebenenfalls in benachbarten Mitgliedstaaten zu erreichen; c bei der Einführung von Maßnahmen zur Erfüllung seiner nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen für Feinstaub Emissionsreduktionsmaßnahmen für Ruß prioritär behandeln; d Kohärenz mit anderen einschlägigen Plänen und Programmen, die aufgrund von nationalen oder Unionsrechtsvorschriften aufgestellt wurden, sicherstellen. Um die einschlägigen nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen zu erfüllen, beziehen die Mitgliedstaaten in ihre nationalen Luftreinhalteprogrammen die obligatorischen Emissionsreduktionsmaßnahmen gemäß Anhang III Teil 2 ein und können die fakultativen Emissionsreduktionsmaßnahmen gemäß Anhang III Teil 2 oder Maßnahmen mit vergleichbarer Minderungswirkung in diese Programme einbeziehen. 3 Jeder Mitgliedstaat aktualisiert das nationale Luftreinhalteprogramm mindestens alle vier Jahre. 4 Unbeschadet des Absatzes 3 werden die im nationalen Luftreinhalteprogramm festgelegten Emissionsreduktionsstrategien und Emissionsreduktionsmaßnahmen innerhalb von 18 Monaten aktualisiert, nachdem die letzten nationalen Emissionsinventare oder nationalen Emissionsprognosen übermittelt wurden, wenn den übermittelten Daten zufolge die in Artikel 4 genannten Verpflichtungen nicht erfüllt werden oder die Gefahr besteht, dass sie nicht erfüllt werden. 5 Die Mitgliedstaaten konsultieren in Einklang mit der Richtlinie 2003/35/EG die Öffentlichkeit und die zuständigen Behörden, für

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die aufgrund ihrer besonderen Umweltzuständigkeit auf sämtlichen Ebenen den Gebieten Luftverschmutzung, Luftqualität und Luftqualitätsmanagement die Durchführung des nationalen Luftreinhalteprogramms von besonderem Belang sein dürfte, zu dem Entwurf ihres nationalen Luftreinhalteprogramms und zu wesentlichen Aktualisierungen des Programms vor Programmende. 6 Gegebenenfalls werden grenzüberschreitende Konsultationen durchgeführt. 7 Gegebenenfalls erleichtert die Kommission die Aufstellung und Durchführung der nationalen Luftreinhalteprogramme durch den Austausch bewährter Verfahren. 8 Der Kommission wird die Befugnis übertragen, gemäß Artikel 16 delegierte Rechtsakte zu erlassen, um diese Richtlinie zur Anpassung von Anhang III Teil 2 an die Entwicklungen im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens einschließlich des technischen Fortschritts zu ändern. 9 Die Kommission kann Leitlinien für die Aufstellung und Durchführung der nationalen Luftreinhalteprogramme veröffentlichen. 10 Die Kommission gibt außerdem im Wege von Durchführungsrechtsakten das Format der Luftreinhalteprogramme der Mitgliedstaaten vor. Diese Durchführungsrechtsakte werden nach dem Prüfverfahren gemäß Artikel 17 erlassen. Artikel 7 Finanzielle Unterstützung Die Kommission ist bestrebt, den Zugang zu bestehenden Finanzmitteln der Union gemäß den gesetzlichen Bestimmungen für diese Mittel zu erleichtern, um die Maßnahmen zu unterstützen, die zur Verwirklichung der Ziele dieser Richtlinie getroffen werden müssen. Diese Finanzmittel der Union umfassen gegenwärtige und künftige Mittel, unter anderem im Rahmen: a des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation; b des Europäische Struktur- und Investitionsfonds, einschließlich der maßgeblichen Finanzmittel im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik; c der Instrumente für die Finanzierung von umwelt- und klimapolitischen Maßnahmen wie das LIFE-Programm. Die Kommission bewertet, ob eine zentrale Anlaufstelle eingerichtet werden soll, bei der jede interessierte Partei unkompliziert Informationen über die Verfügbarkeit von Finanzmitteln der Union und die diesbezüglichen Zugangsverfahren für Projekte mit dem Schwerpunkt Luftverschmutzung einholen kann. Artikel 8 Nationale Emissionsinventare und -prognosen sowie informative Inventarberichte 1 Die Mitgliedstaaten erstellen für die in Anhang I Tabelle A aufgeführten Schadstoffe gemäß den darin festgelegten Bestimmungen nationale Emissionsinventare und aktualisieren diese jährlich. Die Mitgliedstaaten können für die in Anhang I Tabelle B aufgeführten Schadstoffe gemäß den darin festgelegten Bestimmungen nationale Emissionsinventare erstellen und diese jährlich aktualisieren. 2 Die Mitgliedstaaten erstellen für die in Anhang I Tabelle C aufgeführten Schadstoffe gemäß den darin festgelegten Bestimmungen räumlich aufgeschlüsselte nationale Emissionsinventare und Inventare großer Punktquellen und aktualisieren diese alle vier Jahre; zudem erstellen sie nationale Emissionsprognosen für diese Schadstoffe und aktualisieren diese alle zwei Jahre. 3 Die Mitgliedstaaten erstellen gemäß Anhang I Tabelle D einen informativen Inventarbericht, der die in den Absätzen 1 und 2 genannten nationalen Emissionsinventare und -prognosen begleitet. 4 Mitgliedstaaten, die eine Flexibilitätsregelung gemäß Artikel 5 anwenden wollen, nehmen die Angaben, die belegen, dass die Inanspruchnahme dieser Flexibilitätsregelung die einschlägigen Bedingungen in Artikel 5 Absatz 1 und Anhang IV Teil 4 oder gegebenenfalls Artikel 5 Absatz 2, 3 oder 4 erfüllt, in den informativen Inventarbericht des betreffenden Jahres auf. 5 Die Mitgliedstaaten erstellen und aktualisieren die nationalen Emissionsinventare, (gegebenenfalls einschließlich angepasster nationaler Emissionsinventare), die nationalen Emissionsprognosen, die räumlich aufgeschlüsselten nationalen Emissionsinventare, die Inventare großer Punktquellen und den informativen Inventarbericht in Einklang mit Anhang IV.

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6 Auf der Grundlage der in den Absätzen 1, 2 und 3 dieses Artikels genannten Angaben erstellt und aktualisiert die Kommission mit ­ ­Unterstützung der Europäischen Umweltagentur jedes Jahr für die gesamte Union für die in Anhang I genannten Schadstoffe Emissions­ inventare und einen informativen Inventarbericht sowie, alle 2 Jahre, Emissionsprognosen für die gesamte Union und alle vier Jahre räumlich aufgeschlüsselte nationale Emissionsinventare für die gesamte Union und Inventare großer Punktquellen für die gesamte Union. 7 Der Kommission wird die Befugnis übertragen, gemäß Artikel 16 delegierte Rechtsakte zu erlassen, um diese Richtlinie zur Anpassung von Anhang I und Anhang IV an die Entwicklungen im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens, einschließlich des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, zu ändern. Artikel 9 Überwachung der Auswirkungen der Luftverschmutzung 1 Die Mitgliedstaaten sorgen mithilfe eines Netzes von Überwachungsstellen, die für Süßwasserökosysteme, natürliche und naturnahe Ökosysteme sowie Waldökosysteme repräsentativ sind, für die Überwachung der negativen Auswirkungen der Luftverschmutzung auf Ökosysteme […]. Zu diesem Zweck stimmen sich die Mitgliedstaaten mit anderen Überwachungsprogrammen ab, die im Einklang mit Rechtsvorschriften der Union, einschließlich der Richtlinie 2008/50/EG, der Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates13 und der Richtlinie 92/43/EWG des Rates14, und gegebenenfalls im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens eingerichtet wurden, und nutzen gegebenenfalls die im Rahmen dieser Programme erhobenen Daten. Um die Anforderungen dieses Artikels zu erfüllen, können die Mitgliedstaaten die in Anhang V aufgeführten fakultativen Überwachungsindikatoren anwenden. 2 Bei der Erhebung und Übermittlung der in Anhang V aufgeführten Daten können die im LRTAP-Übereinkommen festgelegten Methoden und der in dessen Rahmen erstellten Handbücher für Programme der internationalen Zusammenarbeit angewandt werden. 3 Der Kommission wird die Befugnis übertragen, gemäß Artikel 16 delegierte Rechtsakte zu erlassen, um diese Richtlinie zur Anpassung von Anhang V an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt und an die Entwicklungen im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens zu ändern. Artikel 10 Berichterstattung durch die Mitgliedstaaten 1 Jeder Mitgliedstaat übermittelt der Kommission bis zum 1. April 2019 sein erstes nationales Luftreinhalteprogramm. Wird ein nationales Luftreinhalteprogramm gemäß Artikel 6 Absatz 4 aktualisiert, so übermittelt der betreffende Mitgliedstaat der Kommission das aktualisierte Programm innerhalb von zwei Monaten. Die Kommission prüft die nationalen Luftreinhalteprogramme und deren Aktualisierungen vor dem Hintergrund der in Artikel 4 Absatz 2 und Artikel 6 festgelegten Bedingungen. 2 Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission und der Europäischen Umweltagentur ihre nationalen Emissionsinventare und -prognosen, räumlich aufgeschlüsselten nationalen Emissionsinventare, Inventare großer Punktquellen und informative Inventarberichte gemäß Artikel 8 Absätze 1, 2 und 3 und gegebenenfalls Artikel 8 Absatz 4 in Einklang mit den Berichterstattungsfristen in Anhang I. Diese Berichterstattung stimmt mit der Berichterstattung an das Sekretariat des LRTAP-Übereinkommens überein. 3 Mit Unterstützung der Europäischen Umweltagentur und in Konsultation mit den betreffenden Mitgliedstaaten überprüft die Kommission die Daten der nationalen Emissionsinventare im ersten Berichtsjahr und danach regelmäßig. Diese Überprüfung umfasst Folgendes: a Kontrollen zur Überprüfung der Transparenz, der Genauigkeit, der Stimmigkeit, der Vergleichbarkeit und der Vollständigkeit der übermittelten Informationen;

33 34

Richtlinie 2000 / 60 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik (ABl. L 327 vom 22.12.2000, S. 1). Richtlinie 92 / 43 / EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206 vom 22.7.1992, S. 7).

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b

Kontrollen zur Ermittlung von Fällen, in denen Inventardaten in einer Weise aufbereitet werden, die nicht mit den Anforderungen im Rahmen des Völkerrechts und insbesondere des LRTAP-Übereinkommens vereinbar ist; c gegebenenfalls eine Berechnung der sich daraus ergebenden notwendigen technischen Korrekturen in Konsultation mit dem betreffenden Mitgliedstaat. Können der betreffende Mitgliedstaat und die Kommission keine Einigung in Bezug auf die Notwendigkeit oder den Inhalt der technischen Korrekturen gemäß Buchstabe c erzielen, so erlässt die Kommission einen Beschluss, in dem die von dem betreffenden Mitgliedstaat vorzunehmenden technischen Korrekturen festgelegt sind. 4 Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission und der Europäischen Umweltagentur gemäß Artikel 9 folgende Angaben: a bis zum 1. Juli 2018 und danach alle vier Jahre: den Standort der Überwachungsstellen und die jeweiligen für die Überwachung der Auswirkungen der Luftverschmutzung verwendeten Indikatoren und b bis zum 1. Juli 2019 und danach alle vier Jahre: die Überwachungsdaten gemäß Artikel 9. Artikel 11 Berichte der Kommission 1 Bis zum 1. April 2020 und danach alle vier Jahre erstattet die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat Bericht über die Fortschritte bei der Durchführung dieser Richtlinie, einschließlich einer Bewertung ihres Beitrags zur Verwirklichung der in Artikel 1 genannten Ziele inklusive a dem Fortschritt in Bezug auf i die indikativen Emissionsziele und Emissionsreduktionsverpflichtungen gemäß Artikel 4 sowie gegebenenfalls die Gründe für deren Nichterfüllung; ii die Luftqualitätswerte gemäß den von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlichten Luftqualitätsleitlinien; iii die Ziele der Union in Bezug auf den Schutz der Artenvielfalt und der Ökosysteme gemäß dem 7. Umweltaktionsprogramm; b der Identifizierung der erforderlichen zusätzlichen Maßnahmen auf Ebene der Union und der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der in Buchstabe a genannten Ziele; c der Ausschöpfung der Unionsmittel zur Unterstützung der Maßnahmen, die zur Verwirklichung der Ziele dieser Richtlinie getroffen werden; d der Ergebnisse der von der Kommission vorgenommenen Prüfung der nationalen Luftreinhalteprogramme und deren Aktualisierungen gemäß Artikel 10 Absatz 1 Unterabsatz 3; e einer Bewertung der gesundheitlichen, ökologischen und sozioökonomischen Auswirkungen dieser Richtlinie. 2 Wenn aus dem Bericht hervorgeht, dass die Nichterfüllung der indikativen Emissionsziele und Emissionsreduktionsverpflichtungen gemäß Artikel 4 auf die mangelnde Wirksamkeit von Rechtsvorschriften der Union zur Reduktion der Luftverschmutzung an der Quelle – einschließlich ihrer Umsetzung auf der Ebene der Mitgliedstaaten – zurückzuführen sein könnte, prüft die Kommission gegebenenfalls, ob weitere Maßnahmen getroffen werden müssen, und berücksichtigt dabei auch die sektoralen Folgen der Durchführung dieser Maßnahmen. Die Kommission legt gegebenenfalls Gesetzgebungsvorschläge vor, einschließlich neuer Rechtsvorschriften zur Reduktion der Luftverschmutzung an der Quelle, um die Einhaltung der Verpflichtungen im Rahmen dieser Richtlinie sicherzustellen. Artikel 12 Europäisches Forum für saubere Luft Die Kommission richtet ein Europäisches Forum für saubere Luft ein, das einen Beitrag zur Ausarbeitung von Leitlinien leistet und die koordinierte Umsetzung der Rechtsvorschriften und Maßnahmen der Union zur Verbesserung der Luftqualität erleichtert und in dem alle Interessenträger regelmäßig zusammenkommen, einschließlich der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten sämtlicher maßgeblicher Ebenen, der Kommission, der Industrie, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft. Das Euro-

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c

päische Forum für saubere Luft dient dem Austausch von Erfahrungen und bewährten Vorgehensweisen unter anderem zur Reduktion der Emissionen aus Hausbrand und aus dem Straßenverkehr, um die nationalen Luftreinhalteprogramme und deren Umsetzung zu unterfüttern und zu verbessern. Artikel 13 Überprüfung 1 Auf der Grundlage der in Artikel 11 Absatz 1 genannten Berichte überprüft die Kommission diese Richtlinie spätestens bis zum 31. Dezember 2025, um sicherzustellen, dass Fortschritte in Bezug auf die in Artikel 1 Absatz 2 genannten Ziele erfolgen, und berücksichtigt dabei insbesondere den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt und die Umsetzung der Klimapolitik und der Energiepolitik der Union. Gegebenenfalls legt die Kommission Gesetzgebungsvorschläge im Hinblick auf die Emissionsreduktionsverpflichtungen für den Zeitraum nach 2030 vor. 2 In Bezug auf Ammoniak bewertet die Kommission in ihrer Überprüfung insbesondere a die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse; b Aktualisierungen des UNECE-Leitfadens für Techniken zur Vermeidung und Reduktion von Ammoniakemissionen aus landwirtschaftlichen Quellen aus dem Jahr 2014 (im Folgenden „Ammoniak-Leitfaden“)15 und des UNECE-Verfahrenskodex für gute fachliche Praxis in der Landwirtschaft zur Reduktion der Ammoniak-Emissionen16 in der zuletzt überarbeiteten Fassung von 2014; c Aktualisierungen der besten verfügbaren Techniken im Sinne des Artikels 3 Nummer 10 der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates17; d die Umweltschutzmaßnahmen im Agrarbereich im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik. 3 Auf der Grundlage der gemeldeten nationalen Quecksilberemissionen bewertet die Kommission deren Auswirkungen auf die Verwirklichung der in Artikel 1 Absatz 2 genannten Ziele und prüft Maßnahmen zur Reduktion dieser Emissionen; gegebenenfalls legt sie einen Gesetzgebungsvorschlag vor. Artikel 14 Zugriff auf Informationen 1 In Einklang mit der Richtlinie 2003/4/EG gewährleisten die Mitgliedstaaten die aktive und systematische Information der Öffentlichkeit, indem sie folgende Informationen auf einer öffentlich zugänglichen Website veröffentlichen: a die nationalen Luftreinhalteprogramme und etwaige Aktualisierungen; b die nationalen Emissionsinventare, gegebenenfalls einschließlich angepasster nationaler Emissionsinventare, die nationalen Emissionsprognosen und die informativen Inventarberichte sowie zusätzlicher Berichte und Angaben, die der Kommission gemäß Artikel 10 übermittelt werden. 2 Die Kommission gewährleistet in Einklang mit der Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates18 die aktive und systematische Information der Öffentlichkeit, indem sie Emissionsinventare und -prognosen sowie informative Inventarberichte für die gesamte Union auf einer öffentlich zugänglichen Website veröffentlicht. 3 Die Kommission veröffentlicht auf ihrer Website a die zugrunde liegenden Hypothesen, die bei der Ausarbeitung des TSAP-Berichts Nr. 16 für jeden Mitgliedstaat bei der Bestimmung des jeweiligen nationalen Emissionsreduktionspotenzials verwendet wurden, b das Verzeichnis der einschlägigen Rechtsvorschriften der Union zur Reduktion der Luftverschmutzung an der Quelle und

die Ergebnisse der Prüfung gemäß Artikel 10 Absatz 1 Unterabsatz 3. Artikel 15 Zusammenarbeit mit Drittländern und Koordinierung innerhalb internationaler Organisationen Die Union und gegebenenfalls die Mitgliedstaaten gewährleisten unbeschadet des Artikels 218 AEUV die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit mit Drittländern und die Koordinierung innerhalb einschlägiger internationaler Organisationen wie dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), der UNECE, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) und der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) auf den Gebieten der technischen und wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung, unter anderem durch Informationsaustausch, um die Grundlage für die Förderung von Emissionsreduktionen zu verbessern. Artikel 16 Ausübung der Befugnisübertragung 1 Die Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte wird der Kommission unter den in diesem Artikel festgelegten Bedingungen übertragen. 2 Die Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte gemäß Artikel 6 Absatz 8, Artikel 8 Absatz 7 und Artikel 9 Absatz 3 wird der Kommission für einen Zeitraum von fünf Jahren ab dem 31. Dezember 2016 übertragen. Die Kommission erstellt spätestens neun Monate vor Ablauf des Zeitraums von fünf Jahren einen Bericht über die Befugnisübertragung. Die Befugnisübertragung verlängert sich stillschweigend um Zeiträume gleicher Länge, es sei denn, das Europäische Parlament oder der Rat widersprechen einer solchen Verlängerung spätestens drei Monate vor Ablauf des jeweiligen Zeitraums. 3 Die Befugnisübertragung gemäß Artikel 6 Absatz 8, Artikel 8 Absatz 7 und Artikel 9 Absatz 3 kann vom Europäischen Parlament oder vom Rat jederzeit widerrufen werden. Der Beschluss über den Widerruf beendet die Übertragung der in diesem Beschluss angegebenen Befugnis. Er wird am Tag nach seiner Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union oder zu einem im Beschluss über den Widerruf angegebenen späteren Zeitpunkt wirksam. Die Gültigkeit von delegierten Rechtsakten, die bereits in Kraft sind, wird von dem Beschluss über den Widerruf nicht berührt. 4 Vor dem Erlass eines delegierten Rechtsakts konsultiert die Kommission die von den einzelnen Mitgliedstaaten benannten Sachverständigen, im Einklang mit den in der Interinstitutionellen Vereinbarung vom 13. April 2016 über bessere Rechtsetzung19 enthaltenen Grundsätzen. 5 Sobald die Kommission einen delegierten Rechtsakt erlässt, übermittelt sie ihn gleichzeitig dem Europäischen Parlament und dem Rat. 6 Ein delegierter Rechtsakt, der gemäß Artikel 6 Absatz 8, Artikel 8 Absatz 7 und Artikel 9 Absatz 3 erlassen wurde, tritt nur in Kraft, wenn weder das Europäische Parlament noch der Rat innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Übermittlung dieses Rechtsakts an das Europäische Parlament und den Rat Einwände erhoben haben oder wenn vor Ablauf dieser Frist das Europäische Parlament und der Rat beide der Kommission mitgeteilt haben, dass sie keine Einwände erheben werden. Auf Initiative des Europäischen Parlaments oder des Rates wird diese Frist um zwei Monate verlängert. Artikel 17 Ausschussverfahren 1 Die Kommission wird von dem Ausschuss für Luftqualität, der durch Artikel 29 der Richtlinie 2008/50/EG eingesetzt wurde, unterstützt. Dieser Ausschuss ist ein Ausschuss im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 182/2011. 2 Wird auf diesen Absatz Bezug genommen, so gilt Artikel 5 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011. Gibt der Ausschuss keine Stellungnahme ab, so erlässt die Kommission den Durchführungsrechtsakt nicht und Artikel 5 Absatz 4 Unterabsatz 3 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 findet Anwendung.

15 16 17

19

18

Beschluss 2012 / 11, ECE / EB / AIR / 113 /Add. 1. Beschluss ECE / EB.AIR / 127, Randnummer 36e. Richtlinie 2010 / 75 / EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung) (ABl. L 334 vom 17.12.2010, S. 17). Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft (ABl. L 264 vom 25.9.2006, S. 13).

Erlassene Richtlinie

ABl. L 123 vom 12.5.2016, S. 1.

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Artikel 18 Sanktionen Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. […] Artikel 20 Umsetzung 1 Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 1. Juli 2018 nachzukommen. Abweichend von Unterabsatz 1 setzen die Mitgliedstaaten die Rechtsund Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um Artikel 10 Absatz 2 nachzukommen, bis zum 15. Februar 2017 in Kraft. Die Mitgliedstaaten setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis. Bei Erlass dieser Vorschriften nehmen die Mitgliedstaaten in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten dieser Bezugnahme. 2 Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission den Wortlaut der wichtigsten nationalen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen. […]

70

KAPITEL DREI Politische Maßnahmen Richtlinie(EU) 2016/2284 des europäischen Parlaments und des Rates

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Anhänge Anhang I Tabelle A

Überwachung von und Berichterstattung über Emissionen in die Luft Anforderungen an die jährliche Berichterstattung über Emissionen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Unterabsatz 1 Punkt

Schadstoffe

Zeitreihe

Berichterstattungsfrist

Nationale Gesamtemissionen, nach Q ­ uellenkategorien1 gemäß NFR2

– SO2, NOx , NMVOC, NH3, CO – Schwermetalle (Cd, Hg, Pb)3 – POP4 (PAK5, Benzo (a) pyren, Benzo (b) fluoranthen, Benzo (k) fluoranthen, Indeno (1,2,3-cd) pyren, Dioxine / Furane, PCB (6), HCB7 ­insgesamt)

Jährlich, ab 1990 bis Berichtsjahr minus 2 (X-2)

15. Februar9

Nationale Gesamtemissionen, nach Q ­ uellenkategorien2 gemäß NFR

– PM2,5, PM108 und, falls verfügbar, Ruß.

Jährlich, ab 2000 bis Berichtsjahr minus 2 (X-2)

15. Februar9

1

Natürliche Emissionen werden nach den im LRTAP-Übereinkommen und im EMEP- / EUA-Leitfaden zum Inventar der Luftschadstoffemissionen festgelegten Methoden gemeldet. Sie werden nicht in die nationalen Gesamtmengen eingerechnet, sondern gesondert gemeldet. 2 Nomenklatur für die Berichterstattung (NFR – Nomenclature for reporting) gemäß dem LRTAP-Übereinkommen. 3 Cd (Cadmium), Hg (Quecksilber), Pb (Blei). 4 POP (persistente organische Schadstoffe). 5 PAK (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe). 6 PCB (polychlorierte Biphenyle). 7 HCB (Hexachlorbenzol). 8 „PM10“ sind Partikel mit einem aerodynamischen Durchmesser von höchstens 10 Mikrometern (μm). 9 Enthält ein Bericht Fehler, so ist er spätestens nach vier Wochen mit einer genauen Erläuterung der vorgenommenen Änderungen erneut einzureichen.

Tabelle B

10 11 12

Punkt

Schadstoffe

Zeitreihe

Berichterstattungsfrist

Nationale Gesamtemissionen, nach ­Quellenkategorien10 gemäß NFR

– Schwermetalle, (As, Cr, Cu, Ni, Se und Zn und ihre Verbindungen)11 – TSP12

Jährlich, ab 1990 (TSP: 2000) bis Berichtsjahr minus 2 (X-2)

15. Februar

Natürliche Emissionen werden nach den im LRTAP-Übereinkommen und im EMEP- / EUA-Leitfaden zum Inventar der Luftschadstoffemissionen festgelegten Methoden gemeldet. Sie werden nicht in die nationalen Gesamtmengen eingerechnet, sondern gesondert gemeldet. As (Arsen), Cr (Chrom), Cu (Kupfer), Ni (Nickel), Se (Selen), Zn (Zink). TSP (Gesamtschwebstaub).

Tabelle C

13

Anforderungen an die jährliche Berichterstattung über Emissionen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Unterabsatz 2

Anforderungen an die Berichterstattung über Emissionen und Prognosen gemäß Artikel 8 Absatz 2 Punkt

Schadstoffe

Zeitreihe / Zieljahre

Berichterstattungsfrist

Nationale Rasterdaten über Emissionen, nach Quellenkategorien (GNFR)

– SO2, NOx , NMVOC, CO, NH3, PM10, PM2,5 – Schwermetalle (Cd, Hg, Pb) – POP (PAK insgesamt, HCB, PCB, ­Dioxine / Furane) – Ruß (falls verfügbar)

Alle vier Jahre, Berichtsjahr minus 2 (X-2), ab 2017

1. Mai1

Große Punktquellen, (LPS) nach Quellenkategorien (GNFR)

– SO2, NOx , NMVOC, CO, NH3, PM10, PM2,5 – Schwermetalle (Cd, Hg, Pb) – POP (PAK insgesamt, HCB, PCB, ­Dioxine / Furane) – Ruß (falls verfügbar)

Alle vier Jahre, Berichtsjahr minus 2 (X-2), ab 2017

1. Mai13

Emissionsprognosen, nach aggregierten NFR-Sektoren

– SO2, NOx , NH3, NMVOC, PM2,5 und, falls verfügbar, Ruß

Alle zwei Jahre für die Prognosejahre 2020, 2025 und 2030 sowie, sofern verfügbar, 2040 und 2050 ab 2017

15. März

Enthält ein Bericht Fehler, so ist er innerhalb von vier Wochen mit einer eindeutigen Erläuterung der vorgenommenen Änderungen erneut einzureichen.

Tabelle D

Anhang I

Jährliche Übermittlung des informativen Inventarberichts gemäß Artikel 8 Absatz 3 Punkt

Schadstoffe

Zeitreihe / Zieljahre

Berichterstattungsfrist

Informativer Inventarbericht

– SO2, NOx , NMVOC, NH3, CO, PM2,5, PM10 – Schwermetalle (Cd, Hg, Pb) und Ruß – POP (PAK insgesamt, Benzo (a) pyren, ­Benzo (b) fluoranthen, Benzo (k) fluoranthen, Indeno (1,2,3-cd) pyren, Dioxine / Furane, PCB, HCB) – Gegebenenfalls Schwermetalle (As, Cr, Cu, Ni, Se und Zn und ihre Verbindungen) und TSP

Alle Jahre (wie in den Tabellen A, B und C angegeben)

15. März

KAPITEL DREI Politische Maßnahmen Richtlinie(EU) 2016/2284 des europäischen Parlaments und des Rates

71


Anhang II

Nationale Emissionsreduktionsverpflichtungen14 Tabelle A: Emissionsreduktionsverpflichtungen für Schwefeldioxid (SO2), Stickstoffoxide (NOx) und flüchtige organische Verbindungen außer Methan (NMVOC). Die Reduktionsverpflichtungen haben das Jahr 2005 als Referenzjahr und gelten im Bereich Straßenverkehr für Emissionen, die auf Grundlage der Kraftstoffverkäufe2 berechnet wurden. SO2-Reduktion gegenüber 2005

NOx-Reduktion gegenüber 2005

NMVOC-Reduktion gegenüber 2005

In jedem Jahr z­ wischen 2020 und 2029

In jedem Jahr ab 2030

In jedem Jahr ­zwischen 2020 und 2029

In jedem Jahr ab 2030

In jedem Jahr ­zwischen 2020 und 2029

In jedem Jahr ab 2030

21 %

58 %

39 %

65 %

13 %

28 %

Tabelle B: Emissionsreduktionsverpflichtungen für Ammoniak (NH3) und Feinstaub (PM2,5). Die Reduktionsverpflichtungen haben das Jahr 2005 als Referenzjahr und gelten im Bereich Straßenverkehr für Emissionen, die auf Grundlage der Kraftstoffverkäufe15 berechnet wurden.

14 15

NH3-Reduktion gegenüber 2005

PM2,5-Reduktion gegenüber 2005

In jedem Jahr z­ wischen 2020 und 2029

In jedem Jahr ab 2030

In jedem Jahr ­zwischen 2020 und 2029

In jedem Jahr ab 2030

5 %

29 %

26 %

43 %

Die hier aufgeführten Emissionsreduktionsverpflichtungen sind nur die Bestimmungen für die Bundesrepublik Deutschland. Mitgliedstaaten, die sich im Rahmen des LRTAP-Übereinkommens dafür entscheiden können, die anhand der verbrauchten Kraftstoffe berechneten nationalen Gesamtemissionen als Grundlage für die Einhaltung der Verpflichtungen zu nehmen, können diese Option beibehalten, um die Kohärenz zwischen den völkerrechtlichen Vorschriften und den Vorschriften der Union sicherzustellen.

[…]

72

KAPITEL DREI Politische Maßnahmen Richtlinie(EU) 2016/2284 des europäischen Parlaments und des Rates

Anhang II



Nachhaltig mobil in Stuttgart Die erste Fortschreibung des Aktionsplans wurde vom Lenkungskreis „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ unter der Leitung von ­ berbürgermeister Fritz Kuhn von Oktober 2016 bis Februar 2017 erarbeitet und vom Ausschuss für Umwelt und Technik der LandeshauptO stadt Stuttgart mit breiter Mehrheit am 18. Juli 2017 beschlossen.

Der Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ steckt den Handlungsrahmen ab, in dem die Ziele einer nachhaltigen Mobilität für und in Stuttgart erreicht werden können. Darin werden eine Vielzahl von konkreten Maßnahmen benannt, die wir zeitnah, systematisch und konsequent abarbeiten: Wir als Stadt – Gemeinderat und ­Verwaltung –bauen den Nahverkehr aus, schaffen mehr Radwege, investieren in den Fußverkehr, in die Elektromobilität, in die intelligente Verkehrssteuerung, in eine neue City-­Logistik – um nur einige Beispiele zu nennen. Gemeinsam mit dem Verkehrsentwicklungskonzept 2030 ist der Aktionsplan seit 2013 planerische und strategische Grundlage des Verwaltungshandelns in diesem sehr komplexen Themenfeld. 2017 wurde der Aktionsplan fortgeschrieben, aktuelle Entwicklungen wurden aufgegriffen und weitere, neue Maßnahmen aufgenommen. Die vorliegende Fassung ist die 1. Fortschreibung des Aktionsplans „Nachhaltig mobil in Stuttgart“, wie sie der Gemeinderat beschlossen hat.

Ständige Mitglieder des Lenkungskreises sind:1 Fritz Kuhn Oberbürgermeister Dr. Fabian Mayer (Bürgermeister – Referat Allgemeine Verwaltung, Kultur und Recht) Peter Pätzold (Bürgermeister – Referat Städtebau und Umwelt) Dr. Martin Schairer (Bürgermeister – Referat Sicherheit, Ordnung und Sport) Dirk Thürnau (Bürgermeister – Technisches Referat) Dr. Michael Münter (Referent – Referat Strategische Planung und Nachhaltige Mobilität) Wolfgang Arnold (Technikvorstand und Vorstandssprecher –  Stuttgarter Straßenbahnen AG, SSB) Thomas Hachenberger (Geschäftsführer – Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart GmbH, VVS)

Im Stuttgarter Stadtkessel gibt es zu viel Stau, Stress, Lärm und Feinstaub bzw. Stickoxide. An dieser Erkenntnis führt trotz aller Bemühungen der letzten Jahre kein Weg vorbei. Zu viele konventionell angetriebene Kraftfahrzeuge fahren täglich in den Stuttgarter Kessel und dies, obwohl die Landeshauptstadt Stuttgart über einen gut ausgebauten Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) von sehr guter Qualität verfügt und auch Verbesserungen für den Radverkehr erreicht wurden. Dabei geht es nicht um die Frage, ob man für oder gegen Autos ist, sondern darum, wie gut vernetzte Mobilität in unserer Stadt aufgebaut und organisiert werden kann. Dies ist auch und gerade im Interesse der hier ansässigen Automobil- bzw. Zulieferindustrie. Im Jahr 2013 hat die Landeshauptstadt Stuttgart deshalb den vorliegenden Aktionsplan in seiner ersten Fassung erarbeitet. Dabei wurden in neun Handlungsfeldern bereits konkrete Maßnahmen für eine nachhaltige Mobilität in der Landeshauptstadt Stuttgart identifiziert und priorisiert. In einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess wurden die Handlungsfelder im Laufe der Zeit durch weitere Maßnahmen ergänzt. Der Aktionsplan baut dabei unter anderem auf folgende Planwerke und Ansätze auf: Flächennutzungsplan (FNP), Luftreinhalteplan (LRP), Lärmminderungsplan (LMP), Nahverkehrsplan (NVP), Nahverkehrsentwicklungsplan (NVEP), Klimaschutzkonzept (KLIKS) und Stadtentwicklungskonzept (STEK) sowie das ­Verkehrsentwicklungskonzept (VEK 2030). Die Strategie des Aktionsplans ist längerfristig ausgerichtet und kombiniert stadtplanerische Instrumente mit der Verkehrsplanung, dem Verkehrsmanagement und der Infrastrukturpolitik. Im Zentrum des Aktionsplans steht eine hohe Qualität des öffentlichen Raums durch intensive Förderung der Innenentwicklung und eine Stadt der kurzen Wege. Natürlich ist die Frage, wie viele Kraftfahrzeuge täglich in den Stuttgarter Stadtkessel einfahren, auch eine Angelegenheit der gesamten Region Stuttgart. Es wird sehr darauf ankommen, dass die Kommunen, Landkreise, der Verband Region Stuttgart und die Unternehmen in Mobilitätsfragen optimal zusammenarbeiten. Das gemeinsame Ziel sollte sein, für die Bevölkerung eine zuverlässige und bezahlbare Mobilität sicherzustellen. In den letzten Jahren wurden viele Maßnahmen und Projekte im Bereich der nachhaltigen Mobilität in der Landeshauptstadt Stuttgart initiiert, begonnen und vollendet. Die vorliegende erste Fortschreibung des Aktionsplans ist gleichermaßen Bestandsaufnahme und konsequente Weiterentwicklung konkreter Maßnah-

74

1

Die Geschäftsführung des Lenkungskreises „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ obliegt Ralf Maier-Geißer (Referat Strategische Planung ­und Nachhaltige Mobilität).

Auszüge aus: Landeshauptstadt Stuttgart, Referat Strategische Planung und Nachhaltige Mobilität in Verbindung mit der Abteilung Kommunikation, Aktionsplan Nachhaltig mobil in Stuttgart 1. Fortschreibung 18. Juli 2017, Seite 1 – 24, URL: https://t1p.de/e3e2 (zuletzt abgerufen am 19.06.2020)

KAPITEL DREI Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ Ziele des Aktionsplans


men für eine nachhaltigere Mobilität in der Landeshauptstadt Stuttgart. Darin finden sich neben Maßnahmen, die bereits auf den Weg gebracht wurden bzw. die kurz- bis mittelfristig umgesetzt werden sollen, auch zahlreiche neue Maßnahmen. Im hinzugefügten 5. Kapitel sind die Projekte und Maßnahmen aufgeführt, die bis zur vorliegenden Fortschreibung des Aktionsplans bereits abgeschlossen wurden. Handlungsfelder Der Aktionsplan gliedert sich in neun Handlungsfelder mit zugeordneten Maßnahmen:

Intermodalität und Vernetzung

ÖPNV

Berufsverkehr

Stadteigene Mobilität

Mobilität in der Region

Motorisierter Individualverkehr (MIV)

Nichtmotorisierter Verkehr

Wirtschafts­verkehr

Öffentlichkeitsarbeit

Maßnahmen2 in den Handlungsfeldern Intermodalität bedeutet, dass ein Weg mit Hilfe mehrerer, möglichst vernetzter Verkehrsmittel zurückgelegt wird. Der intermodale Verkehr ist ein wesentliches Instrument, um die Umweltbelastung zu senken und das öffentliche Straßennetz zu entlasten. Der Vernetzung unterschiedlicher Verkehrsmittel und deren bequeme und barrierefreie Zugänglichkeit für alle Menschen kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Der zunehmend komplexe und individualisierte Tagesrhythmus von uns Menschen führt zum Wunsch nach diesen maßgeschneiderten Mobilitätsdienstleistungen und der Verfügbarkeit von bedarfsgerechten, schnellen, preiswerten und umweltfreundlichen Verkehrsmitteln.

2

Die bereits umgesetzten bzw. abgeschlossenen Maßnahmen sind hier kursiv gesetzt.

Ein gut ausgebauter und gut funktionierender ÖPNV sowie dessen aktive Vermarktung sind das Rückgrat für jedes Mobilitätskonzept mit dem Anspruch, eine echte Alternative zum Motorisierten Individualverkehr (MIV) zu sein. Gemeinsam mit den Partnerverkehrsmitteln im Umweltverbund, dem Fuß-, Fahrrad- und PedelecVerkehr sowie innovativen intermodalen Angeboten muss ein attraktives, alternatives Verkehrssystem gewährleistet und weiter ausgebaut werden, das dem Angebot des MIV weitgehend ebenbürtig ist.

Intermodalität und Vernetzung – Ausbau der Verkehrslagenerfassung und -steuerung, Sicherstellung der Leistungsfähigkeit des Vorbehaltsstraßennetzes, der Betriebszeiten der Integrierten Verkehrsleitzentrale (IVLZ) und damit der Verkehrsinformation für die Öffentlichkeit – Ertüchtigung der IVLZ (SIMOS-Gebäude) – Datenaufbereitung und Wirkungsanalyse in der IVLZ (Handlungsfelder übergreifend) – Verkehrsüberwachung (sichergestellte Nutzbarkeit öffentlicher Räume zum Schutz und Förderung der „schwachen“ Verkehrsteilnehmer) – Verkehrsbeeinflussung und -lenkung durch Verkehrsüberwachung (z. B. Erneuerung der Netzbeeinflussungsanlage Nord und Weiterentwicklung der IVLZ) – Ausbau eines Baustellen- und Störungsmanagements (Koordination und Überwachung von baustellenbedingten Verkehrszuständen und Flächennutzungen sowie Information über Wegeführungen unter gleichberechtigter Berücksichtigung aller Verkehrsmittel) – Vernetzung und Bereitstellung von Aufstellflächen für Car- und Bike-Sharing-Fahrzeuge im öffentlichen Verkehrsraum – Aufbau einer markttauglichen inter- und multimodalen Mobilitätsplattform (z. B. über Stuttgart Services –  polygo) – Weiterentwicklung der Mobilitätsberatung (insbesondere Neubürgerberatung und betriebliches Mobilitätsmanagement) – Schaffung eines Forums für alle Mobilitätsarten – Aufbau eines umfassenden Neubürgermarketings – Ganzheitliche Konzeption und Umsetzung bedeutender Mobilitätspunkte (z. B. in Stuttgart-Vaihingen) – Beteiligung am Projekt moveBW (Entwicklung eines App-basierten Mobilitätsassistenten für die Mobilitätsinformation und Verkehrssteuerung) – Regelmäßige Fortschreibung des Modal Split der Landeshauptstadt Stuttgart (alle drei bis fünf Jahre) – Grundsätzliche Berücksichtigung der Elektromobilität in der Stadtplanung – Auf- und Ausbau sicherer Fahrradabstellanlagen an ÖPNV-Haltestellen Einführung der Mobilitätskarte polygoCard, dabei – Verknüpfung von elektronischem VVS-Ticket mit intermodalen Mobilitätsdienstleistungen, z. B. Carund Bike-Sharing – Zugang zu kommunalen Dienstleistungen (z. B. Bibliothek) – Bereitstellung von optionalen Bezahl- und Bonusfunktionen zum Abbau von Zugangsbarrieren zum ÖPNV Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) – Ausbau des Bus- und Stadtbahnnetzes durch Netzerweiterungen, Tangentiallinien und Schnellbuslinien (z. B. Verlängerung der Stadtbahnlinie U12 ins Neckartal und nach Remseck, Tangentiallinie U19 Neugereut –  Neckarpark und Verlängerung zum Mercedeswerk Untertürkheim und zur Mercedes-Benz-Welt, Tangentiallinie U16 Fellbach – Stuttgart-Giebel, Schnellbuslinie (Pilot-Bus-Linie mit „ZERO-EMISSIONEN“) von Bad Cannstatt Wilhelmsplatz in die Innenstadt (als Vorlaufbetrieb des 80 m-Zug-Einsatzes auf der Stadtbahnlinie U1), Verlängerung der Stadtbahnlinie U6 zum Manfred Rommel Flughafen) – Erhöhung der Kapazität von Stadtbahnlinien durch den Einsatz längerer Züge (z. B. 80 m-Züge auf den Stadtbahnlinien U1 und U12) – Verdichtung des Taktangebots (z. B. U19 parallel zur bestehenden U2) und Optimierung der Anschlussbeziehungen, auch im Spät- / Nachtverkehr und am Wochenende – Prüfung eines werktäglichen Nacht-Taktes mit Bus, Stadtbahn und / oder On-Demand-Lösungen

KAPITEL DREI Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ Handlungsfelder und Maßnahmen

75


– Beschleunigung und Stabilisierung des ÖPNV für kürzere Reisezeiten und höhere Pünktlichkeit (z. B. weiterer Ausbau und Optimierung der ÖPNV-Bevorrechtigung an Lichtsignalanlagen – LSA – zusätzliche Bussonderfahrstreifen, weiterer Ausbau der SSB-Betriebsleitstelle und der IVLZ) – Weiterer Ausbau der Barrierefreiheit an ÖPNV-Haltestellen – Verbesserung der Zugänglichkeit und des Umfeldes von ÖPNV-Haltestellen sowohl in unmittelbarer Nähe als auch im weiteren Umfeld (in Kombination mit Maßnahmen zur Förderung des Fußverkehrs und SharingAngeboten) – Verbesserung und Ausbau der Fahrplan-Echtzeitinformation (z. B. an allen Bushaltestellen) – Bestandskunden (z. B. Schüler und Studenten auch im späteren Berufsleben als ÖPNV-Kunden) halten sowie neue Dauerkunden gewinnen (z. B. durch zielgerichtete und zielgruppenspezifische Marketingmaßnahmen, der aktiven Vermarktung der Abos und durch professionelle Betreuung von Groß- und Firmenkunden) – Neue Kunden im Gelegenheitsverkehr gewinnen (z. B. durch attraktive Ticketangebote sowie verbessertem und vereinfachtem Ticketverkauf) – Verbesserte Förderung und Initiierung von Arbeitgeberzuschüssen beim FirmenTicket – Einführung eines einheitlichen Ein-Zonen-Tarifs für die gesamte Landeshauptstadt Stuttgart und das zu einem Fahrpreis, der sich an dem bisherigen Preis für eine Zone orientiert – Attraktivitätssteigerung beim 9-Uhr-UmweltTicket (z. B. durch Einbeziehung in das FirmenTicket) – Einführung neuer Ticket-Innovationen (z. B. Tickets für Teilzeitkräfte) – Nutzung der polygoCard auch für Zeitfahrkarten und flexible Tickets – Weiterentwicklung der Vertriebskanäle (z. B. Online- und Handyticket) – Verbesserte Förderung und Initiierung von Arbeitgeberzuschüssen beim FirmenTicket – Ausweitung des Einsatzes von schadstofffreien und emissionsarmen Bussen mit modernen vollelektrischen, Hybrid- und Euro VI-Antrieben – Prüfen, aufgreifen und erproben neuer Möglichkeiten des autonomen Fahrens (z. B. Betriebshoflogistik, Platooning, Einsatz von selbstfahrenden Minibussen in Schwachlastzeiten) – Weiterer Ausbau der SSB-Leitstelle – Verbesserung der Netzausleuchtung / Mobilfunkverfügbarkeit in den SSB-Tunnel – Weiterentwicklung der Kommunikationsmöglichkeiten für Kunden mit mobilen Endgeräten in den Fahrzeugen (z. B. freies W-LAN) – Prüfung von Seilbahnen als Teil des ÖPNV (z. B. Machbarkeitsstudie für Stuttgart-Vaihingen) – Verabschiedung Nahverkehrsplan (NVP) der Landeshauptstadt Stuttgart – Verlängerung Stadtbahnlinie U12 nach Dürrlewang – Verlängerung 10-Minutentakt im Stadtbahn-Betrieb am Abend – Taktverdichtungen auf den Stadtbahnlinien U8 und U13 in den Hauptverkehrszeiten – Verkehrliche Optimierung von Berliner Platz und ÖPNV-Bevorrechtigung – Einführung eines städtischen SozialTickets – Einführung der netzweiten Gültigkeit von Scool-Abo und SeniorenTicket – Einführung des Ausbildungs-Abos – Temporäre Einführung eines Feinstaubtickets 2016 / 17 (unter Mitfinanzierung des Landes BadenWürttemberg) – Modernisierung der SSB-Leitstelle – Nutzung von 100 % Ökostrom für die Stadtbahnen der SSB Berufsverkehre – Fortsetzung des Dialogs mit den großen Stuttgarter Arbeitgebern in Form einer regelmäßigen Arbeitgeberkonferenz – Ausweitung von Mobilitätsbefragungen und Intensivierung der Beratungen von Unternehmen – Unterstützung von Unternehmen bei der Erstellung und Umsetzung eigener Mobilitätskonzepte im Rahmen des betrieblichen Mobilitätsmanagements – Bündelung und Unterstützung der Aktivitäten der verschiedenen Akteure wie der Landeshauptstadt Stuttgart, SSB, VVS und der großen Arbeitgeber im betrieblichen Mobilitätsmanagement – Verbindliche Verankerung von Mobilitätskonzepten in Investorenverträgen – Unterstützung bei der Einführung des Jobtickets bei weiteren Firmen – Einführung und Visualisierung eines LKW-Empfehlungsnetzes Stadteigene Mobilität – Vollständige Elektrifizierung bzw. Umstellung des städtischen Fuhrparks auf emissionsarme Fahrzeuge in den Fällen, in denen keine Elektrifizierung möglich ist – Zweiradfahren zur Arbeit für Beschäftigte durch den Ausbau der für die Nutzung von Fahrrädern, Pedelecs, E-Rollern erforderlichen Infrastruktur (z. B. Duschen oder sicheren Abstellplätzen) attraktiver gestalten – Unterstützung bei der Beschaffung von Fahrrädern und Pedelecs zur dienstlichen Nutzung für die Beschäftigten im Rahmen der steuerlichen Möglichkeiten und Prüfung, ob diese auch zur privaten Nutzung überlassen werden können – Prüfung und gegebenenfalls Umsetzung, ob Dienstgänge (inklusive Botendienste) vermehrt mit dem Fahrrad, mit Pedelecs oder Lastenrädern, zu Fuß oder mit ÖPNV durchgeführt werden können. Auch unter Einbezug der Angebote externer Car-Sharing-Anbieter (Flinkster, Stadtmobil, Car2Go) bzw. RegioRadStuttgart – Fortschreibung der Kriterien zur Vergabe städtischer Stellplätze für die Beschäftigten der Landeshauptstadt Stuttgart und andere Nutzergruppen zur Reduzierung der Fahrten mit herkömmlichen Fahrzeugen – Weiterentwicklung des Fuhrparkmanagements für die städtische Fahrzeugflotte – Mobilitätsbefragung bei den Beschäftigten der Landeshauptstadt Stuttgart – Bereitstellung verkehrlicher Echtzeitinformationen am Arbeitsplatz städtischer Beschäftigter – Personalwirtschaftliche Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit

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In der Landeshauptstadt Stuttgart waren 2016 ca. 472 000 Menschen beschäftigt. 55 % dieser Beschäftigten wohnen außerhalb der Landeshauptstadt. Davon fahren rund 60 % mit dem Auto zur Arbeit und dies meistens alleine (1,2 Personen pro Fahrzeug). Neben diesen sogenannten Berufspendlern ist die Landeshauptstadt Stuttgart auch über die Verkehre, die durch den Transport von Produkten und Dienstleistungen verursacht werden, mit Unternehmen und Organisationen im Gespräch.

Eine wesentliche Aufgabenstellung für eine nachhaltige Mobilität in der Landeshauptstadt Stuttgart sind auch die sogenannten „stadteigenen Verkehre.“ Verursacht werden diese von den rund 19 700 Beschäftigten der Landeshauptstadt, die ein umfangreiches und vielfältiges Leistungsangebot für ihre Bewohnerinnen und Bewohner erbringt. Die Landeshauptstadt kann durch eine systematische Analyse und Planung ihrer eigenen Verkehrsströme einen eigenen Beitrag zur Reduzierung motorisierter Verkehre leisten und damit ihrer Vorreiterrolle und Verantwortung im Sinne nachhaltiger Mobilität nachkommen.

KAPITEL DREI Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ Maßnahmen in den Handlungsfeldern


Im Bereich des Verkehrs haben die Kommunen der Region Stuttgart sehr oft mit identischen Problemen zu kämpfen, so dass gerade bei der Suche nach Ansätzen und Lösungen, um diese Probleme zu bekämpfen, eine engere Zusammenarbeit notwendig ist. Die Landeshauptstadt Stuttgart bietet deshalb proaktiv den Kommunen und den Landkreisen der Region sowie dem Verband Region Stuttgart (VRS) einen intensiven Austausch und eine ausgeprägte Kooperationsbereitschaft an.

Die Landeshauptstadt Stuttgart macht ausdrücklich keine Politik gegen das Auto, denn auch das Kraftfahrzeug hat seine Bedeutung im Mix des urbanen Verkehrs. Ziel der Maßnahmen hinsichtlich des Kfz-Verkehrs ist daher unter anderem, dass der motorisierte Individualverkehr stabilisiert und verstetigt wird. Daneben sind insbesondere der sorgsame Umgang mit dem öffentlichen Raum und die Sicherung der Leistungsfähigkeit des Vorbehaltsstraßennetzes von großer Bedeutung.

– Einführung eines neu entwickelten Jobtickets für die Beschäftigten der Stadtverwaltung (inklusive Eigenbetriebe und Klinikum) – Einrichtung eines „Fonds emissionsarmes Fahren“, um die Umstellung der städtischen Flotte auf emissionsarme Fahrzeuge zu unterstützen – Dienstanweisung zur systematischen Umstellung des städtischen Fuhrparks auf umweltfreundliche und emissionsarme Mobilität – Anpassung der Gebühren städtischer Stellplätze für Beschäftigte der Stadt Stuttgart – Einführung der dienstlichen Nutzung von Carsharing-Fahrzeugen unter Vorrang des ÖPNV bei Dienstgängen – Gewährung von Gehaltsvorschüssen für die Beschaffung von Fahrrädern oder Pedelecs ab einem Wert von 1 000 Euro – Pilotversuch mit Lastenpedelecs – Einführung eines Mitfahrportals für Beschäftigte der Landeshauptstadt Stuttgart (und der Landesverwaltung Baden-Württemberg) Mobilität in der Region – Regionale Aspekte des ÖPNV wie S-Bahn-Pünktlichkeit und -Sicherheit, Kapazitäten, Zubringerverkehre, Regionalverkehr, Expressbuslinien, Anschluss-Sicherung – Aufwertung von SPNV-Bahnhöfen (Deutsche Bahn, Land Baden-Württemberg, VRS) u. a. durch Sauberkeit, Beleuchtung und Steigerung der Attraktivität – Entwicklung und Umsetzung eines regionalen Park & Ride-Konzepts (P+R) – Umfang und Qualität von Mitfahrerparkplätzen weiterentwickeln – Carsharing-Angebote abstimmen – Vervollständigung und Erweiterung des Regionalen Radverkehrsnetzes – Aufbau eines interkommunalen, regionalen Fahrrad- und Pedelec-Verleihsystem (RegioRadStuttgart) unter Einbeziehung von Lastenrädern und der Möglichkeit einer Eventflotte – Ausbau der Infrastruktur für Elektromobilität (z. B. Ladestationen) – Abstimmung vorhandener und geplanter Verkehrssteuerungs- und Verkehrslenkungskonzepte – Unterstützung bei der Einrichtung neuer und Erweiterung vorhandener P+R-Plätze in unmittelbarer Nähe des ÖPNV – Begleitung des Projekts RegioWIN (Aufbau einer regionalen Mobilitätsplattform für ein gebietsübergreifendes Verkehrsmanagement) – Unterstützung der Maßnahmen aus der Fortschreibung des Regionalverkehrsplans – Ausweitung des 15-Minutentakts im S-Bahn-Betrieb – Ganztägiger 15-Minuten-Takt der S-Bahnen an Werktagen – Einführung eines eigenen SozialTickets nach dem Stuttgarter Modell durch die Landkreise – Einführung regionaler Expressbuslinien Motorisierter Individualverkehr (MIV) – Weiterentwicklung und Umsetzung des Parkraummanagements in Stuttgart-Ost, -Nord, -Mitte, -Süd und Bad Cannstatt – Prüfung der Voraussetzungen für ein Parkraummanagement in den Außenbezirken der Landeshauptstadt Stuttgart – Fortführung und Ausbau von Tempo 40 auf Steigungsstrecken des Vorbehaltsstraßennetzes – Ausweitung von Tempo 30 im Vorrangstraßennetz gemäß novellierter Straßenverkehrsordnung (STVO), insbesondere vor Kindergärten, Schulen und ähnlichen Einrichtungen – 24-Stunden-Ausnutzung vorhandener Parkplatzkapazitäten (z. B. Nutzung von gewerblichen Parkplätzen nachts und am Wochenende als Anwohnerparkplätze) – Schaffung weiterer P+R-Plätze an ÖPNV-Haltestellen entlang der Gemarkungsgrenze – Regelmäßige Anpassung der Parkgebühren in der Stuttgarter City (Parken am Straßenrand teurer als in Parkhäusern, Parken in Parkhäusern teurer als ÖPNV) – Erstellung einer Rahmenkonzeption E-Mobilität im öffentlichen Raum (u. a. rechtliche, verkehrstechnische und infrastrukturelle Grundlagen, Ladeinfrastruktur, Parkplätze) – Unterstützung des Projektes „e-Car-Sharing im Haus“ mit Investitionen in Fuhrpark (Pedelecs, Pkws, Transporter), Bau von Infrastruktur und Photovoltaikanlagen (z. B. in Quartieren oder größeren Wohnobjekten privater Gesellschaften / Genossenschaften) – Unterstützung und Förderung der Umstellung der Taxi-Flotte in der Landeshauptstadt Stuttgart auf E-Antriebe (z. B. ETAP-Programm) – Sensibilisierung von Verbänden, Innungen und Händlern für E-Mobilität – Unterstützung des Ausbaukonzepts Mitfahrgelegenheiten – Förderprogramm „Abwrackprämie“ für Zweitakt-Zweiräder – Erstellung eines stationären Carsharing-Konzepts für die Landeshauptstadt Stuttgart und Ausweisung von Carsharing-Stellplätzen im öffentlichen Verkehrsraum – Ausbau und Integration von Carsharing und Elektromobilität in bestehenden Wohngebieten (Quartieren) und bei Neubauvorhaben – Verfolgung Projektidee „City2Navigation“ (Nachfolgeprojekt NAVIGAR) – Abriss und Neubau der Auffahrtsrampe Friedrichswahl in Zuffenhausen – Machbarkeitsstudien zu Verkehrsangeboten (z. B. Ostheimer Tunnel, Zero-Emissions-Tunnel) – Kapazitätserweiterung der Nord-Süd-Straße – Kreisverkehre zur Verstetigung des Kfz-Verkehrs (z. B. Solitude- / Engelbergstraße in Stuttgart-Weilimdorf) – Einführung des Parkraummanagements in Bereichen der Stadtbezirke Stuttgart-West, -Mitte, -Nord und -Süd

KAPITEL DREI Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ Maßnahmen in den Handlungsfeldern

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– Einrichtung des P+R-Parkhauses Unterer Grund / Österfeld – Projekt NAVIGAR („Nachhaltige Verkehrssteuerung mit integrierter Navigation in der Region Stuttgart“), um situative, lokale Verkehrsinformationen in die Navigationssysteme der privaten Anbieter einzuspeisen Nicht-motorisierter Verkehr (Fahrrad, Pedelec und Fußgänger) Verkehrsart übergreifende Maßnahmen Den nicht-motorisierten Verkehr zu fördern, führt neben der – Mobilitäts- bzw. Verkehrserziehung und Verkehrsüberwachung direkten Reduktion von Abgas-, Schadstoff- und Lärmemissionen des Flächenverbrauchs zu einer wesentlich besseren – Optimierung der Querungen an Signalanlagen und nicht signalisierten Querungsstellen für Fußgänger und ­Lsowie ebensqualität und kann gleichzeitig zu einem schöneren Stadtbild beitragen. Radfahrer, einschließlich deren Funktion im Zu- und Abgang von und zu Haltestellen – Erstellung eines Sicherheitskonzepts zur Förderung des nicht-motorisierten Verkehrs – Schaffung attraktiver und sozial sicherer öffentlicher Räume – Ausweisung zusätzlicher Fußgängerzonen und verkehrsberuhigter Bereiche im gesamten Stadtgebiet – Auf- und Ausbau sicherer Fahrradabstellanlagen an ÖPNV-Haltestellen – Schaffung von Möglichkeiten zur Zwischenlagerung von Einkäufen und Aufbewahrung von Gepäck in der zentralen Innenstadt der Landeshauptstadt Stuttgart – Emissionsfreie lokale Lieferung von Einkäufen – Umgestaltung der Bundesstraße 14 („City-Boulevard“) Maßnahmen Fahrrad und Pedelec Fahrrad und Pedelec sind für viele Fahrtzwecke wie dem Weg zur – Beschleunigter Ausbau der Hauptradrouten Arbeit oder in der Freizeit ein ideales Verkehrsmittel. Eine höhere Fahrrad- und Pedelec- Nutzung verbessert unmittelbar die – Freigabe weiterer Einbahnstraßen für den Radverkehr in Gegenrichtung ökologische Bilanz der Landeshauptstadt und dient damit dem Erreichen gesteckter Umwelt- und Klimaschutzziele. Die seit – Auf- und Ausbau von Fahrrad- und Pedelec-Stationen bzw. Parkhäusern einschließlich Ladeinfrastruktur einigen Jahren laufende Radverkehrsförderung muss daher konsequent fortgesetzt werden, um die aktuell nach wie vor noch (z. B. im Bereich der Paulinenbrücke) bestehenden ungünstigen Ausgangsbedingungen weiter abzubauen. – Einrichtung von „Low-Level“-Fahrrad- / Mobilitätsstationen – Einrichtung weiterer Fahrradzählstellen – Radschulwegpläne erstellen und umsetzen, Projekt „Rad und Schule“ fortsetzen – Weitere Fahrradprojekte an Schulen initiieren – Neubau der Jugendverkehrsschule Westbahnhof (Ersatz für Diakonissenplatz) – Pilotprojekt zur Fahrradmitnahme in den Bussen der SSB in verkehrsschwachen Zeiten – Ausbau sicherer Abstellmöglichkeiten für Fahrräder und Pedelecs – Aufbau eines interkommunalen, regionalen Fahrrad- und Pedelec-Verleihsystems (RegioRadStuttgart) unter Einbeziehung von Lastenrädern und der Möglichkeit einer Eventflotte (Verschmelzung des lokalen Fahrradverleihsystems call-a-bike mit dem regionalen Verleihsystem NAMOREG E-2-R) – Vernetzung von RegioRadStuttgart und SPNV – Niederschwellige Bereitstellung von Lastenpedelecs in den Inneren und einzelnen Äußeren Stadtbezirken – Test des Einsatzes von Lastenpedelecs in der City-Logistik – Kampagne und Förderung der Nutzung von Pedelecs durch Pendler (Stuttgart als Pedelec-Stadt) – Kampagne und Förderung der Nutzung von Fahrrädern (Stuttgart aufs Rad) einschließlich besserer Beschilderung der Radwege – Permanente Öffentlichkeitskampagne für Fahrrad- und Pedelec-Verkehr Fußgänger und Plätze prägen wesentlich das Bild und Image – Investitionsprogramm Fußverkehr-Innenstadt auf der Basis des vorliegenden Fußverkehrskonzeptes Straßenräume der Landeshauptstadt Stuttgart und sind wichtig für die Lebensqualität und die Mobilität der Menschen. Einfluss darauf hat jeder (Oberflächen, Sitzgelegenheiten, Entmöblierung, Gehwegnasen, Spielgeräte etc.) Straßenraum, jeder Platz, jede Grünanlage und jede Querungsmöglichkeit. Ein Handlungsschwerpunkt wird gerade in den ein– Fußverkehrs-Checks in weiteren Bezirken (auch speziell mit Kindern) und zeitnahe Realisierung kleinerer zelnen Quartieren gesehen. Wegstrecken werden hier häufiger zu Fuß zurückgelegt, wenn sie als attraktiv und als sicher wahrgeFußverkehrsfördermaßnahmen nommen werden. Insofern beeinflusst die Gestaltung des öffentlichen Straßenraums die Art der Fortbewegung nachhaltig. Bei der – Erarbeitung und Umsetzung eines Aktionsprogramms Stäffele (Potenziale, Sanierungsprogramm, Intensi- Fußverkehrsplanung spielen daher die Stadtgestaltung und die Sicherheit eine besondere Rolle. vierung der Unterhaltung, Beschilderung, Zugänge, neue Stäffele etc.) – Barrierefreier Zugang zu ÖPNV-Haltestellen – Verbesserung der Sicherheit von Schulwegen – Entwicklung von Alternativen zum Thema „Elterntaxi“ – Stärkung und Ausbau der Mobilitätserziehung – Einrichtung eines Fußgängerbeauftragten analog zum Radverkehrsbeauftragten – Erprobung von Fußgängerampeln ohne Benutzungszwang – Zulassung neuer, kreativer Nutzungsformen für den öffentlichen Parkraum – Fußverkehrs-Checks in Stuttgart-West und -Ost und Lokalisierung kleiner Sofortmaßnahmen Wirtschaftsverkehr BürgerInnen wollen einkaufen, Handeltreibende brauchen Ware, – Erweiterung der Verkehrsinformationen und -lenkung für eine optimierte Routenplanung (Verkehrslage, Unternehmen benötigen Material und den Abtransport ihrer produzierten Güter, Abfall muss entsorgt werden und DienstleisFahrzeiten, Baustelleninformation) ter müssen für ihre Kundschaft erreichbar sein. Das alles erzeugt Verkehr und sichert gleichzeitig die Versorgung der Bevölkerung. – Weiterentwicklung der Liefer- und Zugangsbedingungen in der Innenstadt Der Wirtschaftsverkehr sorgt dafür, dass die Landeshauptstadt Stuttgart „funktioniert.“ Er ist unerlässlich für das tägliche Leben – Einsatz von emissionsarmen Fahrzeugen und Elektrofahrzeugen, insbesondere bei Taxis, Pflege- und Lie- jedes Einzelnen. Daher braucht auch der Wirtschaftsverkehr gute Rahmenbedingungen. ferdiensten – Entwicklung von Konzepten und Erprobung von Lösungsansätzen im Bereich City-Logistik (z. B. „LogSpaze“) – Versuch und Erprobung der Privilegierung von emissionsfreien Lieferverkehren in Fußgängerzonen – Unterstützung von Handwerkern und Sozialdiensten bei deren Fuhrparkumstellung auf E-Fahrzeuge – Aufbau eines Lkw-Empfehlungsnetzes (im Rahmen des EU-Projekts 2MOVE2) – Einrichtung eines bei der Wirtschaftsförderung der Landeshauptstadt Stuttgart angesiedelten Beauftragten für den Wirtschaftsverkehr – Mobilitätskonferenzen mit Arbeitgebern2MOVE2) – Einrichtung eines bei der Wirtschaftsförderung der Landeshauptstadt Stuttgart angesiedelten Beauftragten für den Wirtschaftsverkehr – Mobilitätskonferenzen mit Arbeitgebern

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KAPITEL DREI Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ Maßnahmen in den Handlungsfeldern


Die vielfältigen Aktivitäten der Landeshauptstadt auf dem Gebiet der nachhaltigen Mobilität, mit der die Lebensqualität gesteigert werden soll, soll mittels einer einheitlichen, breit angelegten und sich regelmäßig wiederholenden Öffentlichkeitskampagne unter der Dachmarke „Stuttgart-steigt-um“ kommuniziert werden.

Nicht alle Maßnahmen können einem der neun Handlungsfelder des Aktionsplans „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ zugeordnet werden.

Öffentlichkeitsarbeit – Etablierung von „Stuttgart-steigt-um“ als Dachmarke für nachhaltige Mobilität – Kampagne für das Miteinander der Verkehrsarten (Rücksichtnahme im Verkehr) – Abwechselnde verkehrsträgerbezogene Kampagnen „Stuttgart aufs Rad, Stuttgart als Pedelec-Stadt, Stuttgart geht zu Fuß, Stuttgart leiht sich ein Rad“ – Wiederkehrende öffentliche Aktionstage (z. B. Fahrradaktionstage, Stadtradeln, Europäische Mobilitätswoche) – Aktivitäten für eine neue Mobilitätskultur – Bewusstseinskampagne „Stuttgart steigt um“ – Aufbau der zentralen Mobilitäts-Webseite „www.stuttgart-steigt-um.de“ und Einrichtung von Beteiligungsmöglichkeiten und einer Meldeplattform über die Webseite – Mitfahr-Kampagne „Gemeinsam fahren“ Sonstige, keinem Handlungsfeld zugeordnete Maßnahmen – Einführung und Evaluierung des Feinstaubalarms in Verbindung mit umfangreicher Informations- und Kommunikationskampagne sowie der zentralen Webseite www.feinstaubalarm.stuttgart.de (seit Januar 2016) – Fortsetzung des Projekts Neues Grün: Mehr Bäume und Sträucher in der Stadt, 1 000 Bäume-Programm (seit Januar 2016) – Pilotversuch zur Wirksamkeit von Mooswänden zur Reduzierung von Luftschadstoffen (seit Oktober 2016) – Fortsetzung des ersten Testprojekts „Straßenreinigung Feinstaub“ vom Frühjahr 2017 über die komplette Feinstaubsaison 2017 / 18. Eine Entscheidung, ob danach aus dem Versuch eine Dauermaßnahme wird, entscheidet sich im Sommer 2018 nach der Auswertung der zweiten Testphase. – Einrichtung einer Koordinierungsstelle für Elektromobilität im Referat Strategische Planung und Nachhaltige Mobilität – Pilotprojekt „Elektrische Fahrschulfahrzeuge“ – Errichtung von Mooswänden zur Reduzierung von Luftschadstoffen entlang der Bundesstraße 27

KAPITEL DREI Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ Maßnahmen in den Handlungsfeldern

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Das Verkehrs­ entwicklungskonzept der Landeshauptstadt Stuttgart Mit dem Verkehrsentwicklungskonzept – VEK 2030 legt die Landeshauptstadt Stuttgart die Leitlinien und Strategien für die Verkehrsplanung der nächsten Jahre vor. Das VEK 2030 wird darüber hinaus durch den Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ ergänzt, der unter Leitung von Oberbürgermeister Kuhn im „Lenkungskreis Mobilität“ erarbeitet wurde.

Mobilität ist ein Grundbedürfnis der Menschen. Dabei werden sich die Möglichkeiten, mobil zu sein, auch in der Zukunft verändern. Neuartige Fahrzeuge und neue Fortbewegungskonzepte werden die heute bestehenden ergänzen oder ersetzen. Gerade für eine Großstadt ist es unerlässlich, dass Mobilität – neben dem Wunsch nach individueller Fortbewegung – sowohl verträglich für die Stadt und die die dort lebenden Menschen als auch für die Umwelt stattfindet. Auf Basis neuer bzw. zusätzlicher Angebote ist es unser Ziel, dass sich deshalb das Mobilitätsverhalten der Bürgerinnen und Bürger deutlich zugunsten der Verkehrsarten des Umweltverbundes verändert. In den kommenden Jahren wird die Landeshauptstadt Stuttgart durch innovative Projekte – zum Beispiel in der Verkehrssteuerung, der Förderung des Rad- und Fußverkehrs, der Gestaltung von öffentlichen Räumen, der Elektromobilität und im Mobilitätsmanagement – ihre Kompetenz für nachhaltige Mobilität ausbauen. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei eine beständige Einbeziehung der Bürgerschaft in die Planungsprozesse. Mittels klarer Darstellung der Ziele, die mit konkreten Maßnahmen umgesetzt werden, kann ein hohes Maß an Transparenz und dadurch Akzeptanz durch die Menschen erreicht werden. Stuttgart hat zu viel Feinstaub und Abgase sowie zu viel Stau, Stress und Lärm. Deshalb habe ich den Lenkungskreis Mobilität einberufen, und deshalb ist unter meiner Federführung der Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ erarbeitet worden, der nun Teil dieses Verkehrsentwicklungskonzepts VEK 2030 ist. Ein wichtiger Ansatzpunkt für mehr Lebensqualität in unserer Stadt ist die Reduzierung des mit konventionellen Antrieben ausgestatteten Autoverkehrs im Talkessel um 20 %. Unsere Ziele wollen wir gemeinsam, im Dialog mit der Automobilindustrie erreichen und nicht gegen sie. Denn es geht nicht um die Frage, ob man für oder gegen das Auto ist. Sondern es geht darum, wie gut vernetzte Mobilität aufgebaut und organisiert werden kann. Das hier nun vorliegende VEK 2030 und der darin enthaltene Aktionsplan bauen auf bisherigen Planwerken auf und neue Ansätze kommen hinzu. Zentrale Handlungsfelder sowie Maßnahmen werden identifiziert und priorisiert. Beide Papiere sind planerische und strategische Grundlagen unseres Handels für die kommenden Jahre im komplexen Themenfeld nachhaltiger Mobilität in Stuttgart. VEK 2030 und Aktionsplan sind nicht statisch, sondern sie entwickeln sich fort; neue Impulse und Entwicklungen fließen auch in Zukunft mit ein. So kann es gelingen, individuelle Mobilitätsbedürfnisse nachhaltig zu gestalten. Anlass Mit dem Verkehrsentwicklungskonzept (VEK) wird eine umfassende und aktualisierte Darstellung der Leitlinien Auszüge aus: der Verkehrsplanung mit konzeptionellen Aussagen für die Landeshauptstadt Stuttgart vorgelegt. Grundlage des VEK ist Landeshauptstadt Stuttgart, Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung, der Beschluss des Gemeinderats vom 1. Juli 1999, mit dem anlässlich des Feststellungsbeschlusses zum Flächennutzungs­Abteilung Verkehrsplanung und Stadtgestaltung, VEK 2030 Das Verkehrsentwickplan FNP 2010 die Verwaltung beauftragt wurde, einen Verkehrs­entwicklungsplan zu erarbeiten (GRDrs. Nr. 200/1999). Im lungskonzept der Landeshauptstadt Stuttgart, S. 1 –37, a ­ ktuellen Stadtentwicklungskonzept aus dem Jahr 2006 wurde die Behandlung der verkehrlichen Belange weitgehend URL: https://t1p.de/0s5b (zuletzt abgerufen am 19.06.2020). ausgeklammert, da diese konkret im VEK behandelt werden sollten. Die letzte veröffentlichte Gesamtschau der verkehrsplanerischen Strategien für die Landeshauptstadt war der Generalverkehrsplan 1975, der sich damals im Wesentlichen mit den Beschlüssen zum Ausbau der Stadtbahn und von Umfahrungsstraßen befasste. Zielsetzung Das VEK stellt einen Handlungsrahmen und Strategien für die Verkehrsplanung der Stadt Stuttgart für die nächsten zwanzig Jahre dar – Zielhorizont ist das Jahr 2030. Es ist ein integriertes und integratives Konzept, das eine Leitlinie der städtischen Verkehrsplanung sein soll und damit auch eine Priorisierung erforderlicher investiver, betrieblicher und ordnungspolitischer Maßnahmen ermöglicht. Integriert heißt in diesem Fall auch, dass der Verkehr im Zusammenhang mit der Umwelt, Stadtgestaltung und Stadtverträglichkeit betrachtet wird. Das VEK soll sicherstellen, dass die Mobilitätsansprüche der Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt werden. Die dazu vorzuhaltenden Verkehrssysteme sollen funktionsgerecht, sozialverträglich und umweltgerecht sein. Sie sollen außerdem gleichzeitig die Wohnqualität in Stuttgart verbessern und die wirtschaftliche Entwicklung fördern. Die Sicherstellung der Mobilität bei freier Wahl des Verkehrsmittels bedeutet immer auch, einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen vorzunehmen. Zielkonflikte lassen sich dabei nicht vermeiden. Es muss daher immer eine Abwägung für den Einzelfall stattfinden. Das VEK entfaltet seine Bindungswirkung als gesamtstädtisches, integriertes und strategisches Entwicklungskonzept. Die Inhalte des VEK fließen in die vorbereitende und verbindliche Bauleitplanung und andere Fachplanungen ein. Verfahren Das VEK wurde von der Abteilung Verkehrsplanung und Stadtgestaltung des Amts für Stadtplanung und Stadterneuerung unter Beteiligung aller für städtische Mobilitätsfragen zuständigen Ämter und Einrichtungen erarbeitet. Prozessbegleitend wurde eine Lenkungsgruppe eingerichtet, die aus Mitgliedern des Gemeinderats sowie Vertretern ­fachrelevanter Ämter und Institutionen bestand. Die intensive Bürgerbeteiligung und die Vielzahl der Anregungen von Institutionen und Verbänden zeigt, wie wichtig das Thema Verkehrsentwicklung in der Landeshauptstadt Stuttgart ist. Nach den Dialogveranstaltungen im Oktober 2010 wurden noch bis Ende 2011 Anregungen und Anträge eingereicht. Von fast allen Fraktionen des Gemeinderats wurden insgesamt sechs Anträge zum VEK gestellt, nahezu alle Bezirksbeiräte haben nach einer gemeinsamen Sitzung am 10.01.2011 das VEK nochmals behandelt. Viele Anregungen wurden über die städtische Homepage, per E-Mail und schriftlich von Vereinen, Verbänden usw. sowie von Einzelpersonen eingereicht. Die mehr als 500 Kommentare und Anregungen wurden gründlich geprüft und teilweise berücksichtigt. Neben aktuellen Entwicklungen und technischen Neuerungen war die Bürgerbeteiligung Hauptgrund für die umfassende Überarbeitung und Aktualisierung.

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KAPITEL DREI Das Verkehrsentwicklungskonzept der Stadt Stuttgart VEK 2030


Phasen des VEK 2005

2006

Beauftragung VEK

2007

2008

2009

2010

Beschluss Leitbilder

Entwicklung der Leitbilder Projekt­lenkungsgruppe

2012

2013

Entwurf VEK

Bearbeitung der Themenfelder (Abt. Verkehrsplanung, Ämter und ­Institutionen), Weitere Sitzungen ­Projektlenkungsgruppe

Beschluss der Leitbilder durch den Ausschuss für Umwelt und Technik (UTA)

2014

Beschluss VEK

Überarbeitung und Aktualisierung (Abt. Verkehrsplanung, Ämter und Institutionen)

Externe Gutachten

Beauftragung durch den Ausschuss für Umwelt und Technik (UTA)

2011

Beteiligung der ­Öffentlichkeit

Veröffentlichung des Entwurfs zur Beteiligung der Öffentlichkeit

Zielmatrix des VEK KFZ-Verkehr

Wirtschaftsverkehr

ÖPNV

Fahrradverkehr

Fußgänger­verkehr

Umwelt

− Energie­verbrauch − Luft- und Lärmbelästigung

− Klimarelevante Emissionen

− Energieverbrauch − Lärmbelästigung + ÖPNV Anteil

+ Radverkehrs­anteil

Begrünung von Straßenräumen

Gesellschaft

Sicherung der Erreichbarkeit, − Unfälle

+ Erreichbarkeit der Gewerbegebiete − Fahrleistung

+ Attraktivität + Barrierefreiheit Angebotssicherung für alle

+ Sicherheit, + Wegweisungs­system

+ Verkehrs­sicherheit, Ausbau / Erhalt der ­Staffeln

Wirtschaft

+ Nutzung der Infrastruktur

+ Liefer- und Ladezonen + Erreichbarkeit

Sicherstellung der Finanzierung, Optimierung der Kosten

+ Einsatz von Dienstfahrrädern

Stadt der kurzen Wege, + Einkaufsmöglich­keiten zu Fuß

Wohnumfeld

+ Parkplätze + Trennwirkung von Verkehrsan­lagen etc.

Stadtverträgliche Gestaltung des Wirtschaftsverkehrs

+ Daseinsvorsorge + Zugänglichkeit + Aufenthaltsqualität von Haltestellen

+ Radverkehrswege − Konflikte mit Fußgängern

+ Aufenthaltsfunktion + Überquerbarkeit von Straßen

Die Zielmatrix verdeutlicht beispielhaft das Spannungsfeld, in dem sich die Verkehrsplanung befindet. Unterschiedliche, teils konkurrierende oder gar sich ausschließende Bedürfnisse müssen in der Planung berücksichtigt werden.

+ = Steigerung bzw. Erhöhung − = Verringerung bzw. Senkung

Die Verkehrsplanung ist Bestandteil des städtischen Lebens und muss in die unterschiedlichsten Ziele, Leitbilder und Planungen integriert werden. Sie befindet sich damit in einem Spannungsfeld zwischen Umwelt, Wohnumfeld, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Belangen. Das VEK steht daher in direkten Zusammenhang mit verschiedenen Fachplanungen und baut auf fachlich übergeordneten Planwerken und gesetzlichen Vorgaben auf.

Phasen und Zielmatrix

KAPITEL DREI Das Verkehrsentwicklungskonzept der Stadt Stuttgart VEK 2030

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Das VEK im Planungssystem Das VEK baut auf Vorgaben verschiedener räumlich oder fachlich übergeordneten Planwerken oder gesetzlichen Vorgaben auf und führt diese im Detail weiter aus. Bezogen auf die weitere Entwicklung der Landeshauptstadt Stuttgart stehen vor allem folgende Pläne und Zielvorstellungen im direkten Zusammenhang mit dem VEK: – der Regionalverkehrsplan, – der Nahverkehrsplan, – der Flächennutzungsplan, – die Luftreinhalte- und die Lärmminderungsplanung, – das Klimaschutzkonzept und – das Stadtentwicklungskonzept. Als Fachplan zu Mobilität und Verkehr steht das VEK auf einer Stufe mit anderen städtebaulichen Konzepten, wie z. B. dem „Stadtentwicklungskonzept – Strategie 2006“ (STEK) und ist in seiner Entstehung und Fortschreibung eng mit diesen Planungen verknüpft.

Flächennutzungsplan FNP

Regionalverkehrsplan Regionalplan

Lärmminderungsplan

Luftreinhaltungs­planung  / Klimaschutz KLIKS

VEK 2030

Stadtentwicklungs­konzept STEK u. a.

Nahverkehrsplan

Maßnahmen

KFZVerkehr

Wirtschaftsverkehr

ÖPNV

Fahrradverkehr

Fußgänger­verkehr

Der Regionalverkehrsplan RVP Der Regionalverkehrsplan wurde als zusammenhängendes Konzept für die verkehrliche Entwicklung der Region Stuttgart vom Regionalparlament beschlossen. Er ist ein Teilbereich und eine Vertiefung des Regionalplans. Die Festlegungen von Infrastruktureinrichtungen und Schwerpunkten baulicher Entwicklungen haben Auswirkungen auf das Verkehrsgeschehen in Stuttgart. Die wichtigsten Ziele des RVP sind: – Abgestimmte Weiterentwicklung der Siedlungs- und Verkehrsstruktur – Entwicklung von ÖV (Öffentlicher Verkehr), MIV (motorisierter Individualverkehr), Rad- und Fußverkehr als integriertes System, – ÖV-Ausbau mit oberster Priorität, – Bündelung des MIV auf großen Achsen und Herstellung von Landschaftsbrücken über trennende Verkehrsachsen.

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KAPITEL DREI Das Verkehrsentwicklungskonzept der Stadt Stuttgart VEK 2030

Das VEK im Planungssystem


Der Nahverkehrsplan (NVP) Der Nahverkehrsplan gibt den Rahmen für die Entwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs vor. Er ist auf einen Zeithorizont von fünf Jahren ausgelegt. Neben den strategischen Vorgaben enthält er vor allem konkrete Maßnahmen zur Verbesserung des ÖPNV in den kommenden Jahren. Der Nahverkehrsplan ist Teil des VEK und wird im Kapitel 7 zum öffentlichen Personennahverkehr eingehender behandelt. Der Flächennutzungsplan (FNP) Grundlage der städtebaulichen Planung ist der FNP 2010. Ein wichtiges Anliegen des Flächennutzungsplans ist die integrierte Gesamtschau der für die Stadtentwicklung wichtigen Einzelkomponenten. Der Flächennutzungsplan verfolgt das Leitbild „stadtverträglicher Verkehr.“ Das heißt, Verkehrsvermeidung durch sinnvolle Nutzungszuordnung, Sicherung des notwendigen Wirtschaftsverkehrs, Veränderung des Modal Splits zugunsten der Verkehrsmittel des Umweltverbunds und Verkehrsberuhigung zum Schutz sensibler Nutzungen in der Stadt, insbesondere des Wohnens. Luftreinhalteplanung Luftreinhaltepläne sollen dazu beitragen, die Luftbelastung dauerhaft so zu verbessern, dass die Immissionsgrenzwerte eingehalten werden können. Werden diese Grenzwerte überschritten, ist nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSChG §47 Abs. 2) ein Aktionsplan erforderlich. Die bisherigen Maßnahmen (aktualisierte Maßnahmentabelle vom Juni 2012) des Luftreinhalteplans (Fortschreibung vom Feb. 2010) reichen nicht aus, um die Vorgaben für Feinstaub (PM10) und Stickstoffoxiden (NOx) einzuhalten. Die Hauptbelastung der Luft resultiert in Stuttgart aus dem MIV, daher kommt den Maßnahmen, die aus dem VEK entwickelt werden, eine besondere Bedeutung zu. Lärmminderungsplanung Im Dezember 2001 entschied der Gemeinderat, einen Lärmminderungsplan für ganz Stuttgart aufzustellen. Dies war nach der Umgebungslärmrichtlinie notwendig geworden. Der Lärmaktionsplan wurde nach einer Bürgerinformation und verschiedenen Workshops aufgestellt und Ende 2009 für die Gesamtstadt beschlossen. Die Hauptlärmquelle ist der Verkehr. Ansatzpunkte für die Lärmminderung sind daher der motorisierte Verkehr auf Straßen, der Schienen- und Luftverkehr. KLIKS – das Klimaschutzkonzept der Stadt Stuttgart 1997 wurde das erste Klimaschutzkonzept für den Zeitraum bis 2010 entwickelt und vom Gemeinderat verabschiedet. Als „10-Punkte-Programm zur Klima- und Energiepolitik in Stuttgart“ wurde es 2007 fortgeschrieben. Darin wurden auch für den Verkehrssektor Einsparungspotentiale ermittelt, die dem Klimaschutz und der Energieeinsparung dienen u. a.: – Verringerung der Verkehrsleistung im MIV z. B. durch Verkehrsvermeidung oder Verlagerung auf Verkehrsarten des Umweltverbundes. – Verbesserung des Verbrauchsverhaltens der Kfz durch Verbesserung des Verkehrsablaufs (z. B. Stauvermeidung, ­Verkehrsverflüssigung und Geschwindigkeitsbegrenzung). Auch das Forschungsprojekt SEE (Stadt mit Energie-Effizienz) hat verkehrliche Aspekte berücksichtigt. Die Ziele dieser Programme finden ebenfalls Beachtung in der Verkehrsplanung. STEK Stadtentwicklungskonzept inkl. StadtKernZiele Im Stadtentwicklungskonzept STEK werden Zielsetzungen für die Funktionen und Qualitäten in der Gesamtstadt formuliert1. Die Leitziele umfassen die Nachhaltigkeit als Leitprinzip, die Stärkung urbaner Qualitäten und den Ausbau der Kooperation mit der Region, aber auch die Förderung der Integration und des sozialen Miteinanders, die Sicherung des Wohnraums und urbaner Wohnformen, den Ausbau wirtschaftlicher Standortfaktoren und die Gestaltung einer stadtverträglichen Mobilität. Weitere konzeptionelle Planungen, die in das VEK einfließen und berücksichtig werden, sind die Raumstudie „Plätze, Parks und Panoramen“ und „StadtKernZiele.“ Letzteres konkretisiert die Innenstadtentwicklung, die Leitbilder urbanen Wohnens sowie des öffentlichen Raumes und bindet diese in das Stadtentwicklungskonzept ein.

Aus den Rahmenbedingungen, den Leitbildern und der Zielmatrix ergeben sich Handlungsfelder und Erfordernisse für die Verkehrsplanung. Diese Handlungsfelder werden in Pilotprojekten oder Maßnahmen mit Leitbildfunktion konkretisiert.

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Landeshauptstadt Stuttgart, Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung: STEK – Stadtentwicklungskonzept für Stuttgart Lt. Morkisz / Wulfhorst „Eine quartiersbezogene Mobilitätsform mit nicht-motorisierten Verkehrsmitteln.“

Handlungsfelder der integrierten Verkehrsplanung

Handlungsfelder der integrierten Verkehrsplanung Siedlungsentwicklung und Stadtplanung Lage, Art und Umfang der Bebauung definiert die aus ihr resultierende Verkehrsnachfrage. Daher ist es der Anspruch der integrierten Stadt- und Verkehrsplanung, sowohl mit der Flächenzuordnung im Flächennutzungsplan als auch mit der Projektierung konkreter Bauvorhaben die negativen verkehrlichen Auswirkungen möglichst gering zu halten bzw. die Verkehrsmittel des Umweltverbunds zu stärken. Bei der Siedlungsentwicklung, also auf Ebene der Flächennutzungsplanung, werden daher bereits folgende Leitlinien berücksichtigt: – Innenentwicklung vor Außenentwicklung zur Nutzung bestehender Verkehrsinfrastrukturen – Polyzentrische Stadtstrukturen für lebendige Stadtquartiere – Stadt der kurzen Wege durch Nutzungsmischung – Direkte Zuordnung von Bauflächen zu bestehenden bzw. projektierten Nahverkehrsachsen. Diese nachhaltige Form der Siedlungsentwicklung wirkt sich auch förderlich auf die „Nahmobilität“2 aus. Auf Seiten der Verkehrsplanung – verankert in der Bauleitplanung bzw. im Baugenehmigungsverfahren – müssen qualitativ hochwertige Wege und Angebote für den nicht-motorisierten Verkehr diesen Ansatz unterstützen. Auf Stadtbezirks- / teilebene bedeutet dies: – Flächendeckende und engmaschige Wegenetze für Fußgänger, – flächendeckende und durchgängige Wegenetze für Radfahrer, – attraktive Zuwegungen zu ÖPNV-Haltestellen, – ausreichende und zentrale Flächen für alternative Mobilitätsformen wie z. B. Fahrradabstellanlagen, Fahrradverleihsysteme, Carsharing-Standorte, – Festlegung des angestrebten Stellplatzangebots entsprechend der Güte der ÖPNV-Erreichbarkeit, – ggf. autoarme oder autofreie Gebiete zur gezielten Erhöhung der Aufenthaltsqualität in Teilbereichen,

KAPITEL DREI Das Verkehrsentwicklungskonzept der Stadt Stuttgart VEK 2030

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– qualitätsvolle Gestaltung der Straßen, Spielplätze und Grünanlagen. Diese fördern bei entsprechender Gestaltung eine lebendige Urbanität, die auch dem sozialen Umfeld zu Gute kommt. Ziel ist es, mit den Bauvorhaben selbst die Nutzung der Verkehrsmittel des Umweltverbunds bewusst zu stärken. Insbesondere bei der Projektierung konkreter Bauvorhaben, sollten äquivalent zu diesen Leitlinien und Zielen die folgend genannten Anforderungen berücksichtigt werden. – Flächen für neue Formen der Mobilität (z. B. Elektro-Lademöglichkeiten), – Flächen für Carsharing-Konzepte und Stellplätze, – Flächen für Fahrradabstellanlagen und ggf. Fahrradleihstationen, – Maßnahmen des Parkraummanagements, – Umsetzung eines betrieblichen Mobilitätsmanagements. Derartige Maßnahmen können vor allem bei Vorhaben, die besonders verkehrsintensiv sind oder eine herausragende städtebauliche Bedeutung haben, in einem „Mobilitätsplan“ verankert werden. Die Inhalte eines solchen Mobilitätsplans gehen somit über die einer reinen Erschließungsplanung hinaus. Verkehr und Umwelt Die Maßnahmen zur Luftreinhaltung und zum Klimaschutz können technischer Natur sein, z. B. durch Verbesserung der Fahrzeugtechnik. Darüber hinaus müssen planerische und organisatorische Schritte unternommen werden, um Emissionen zu verringern. Für die Verkehrsplanung wären dies u. a.: – Schaffung eines gleichmäßigen Verkehrsflusses – Verstetigung des MIV – Ausbau des ÖPNV-Angebotes – Erweiterung des Radwegenetzes – Förderung und Bevorrechtigung von Fußgängern, Fahrradverkehr und ÖPNV – Etablierung eines Mobilitätsmanagements – Förderung von neuen Mobilitätsangeboten wie Carsharing oder Fahrradverleihsysteme – Verkehrsbeschränkungen (z. B. Umweltzone, Lkw-Durchfahrtsverbot) – Parkraummanagement – Imissionsabhängige Verkehrssteuerung Bei der Lärmbelastung ist der Straßenverkehr der Hauptverursacher, weshalb sich das Maßnahmenkonzept des Lärmaktionsplans vor allem auf die Minderung des Straßenlärms bezieht. Neben den Maßnahmen, die bereits für die Luftreinhaltung aufgezählt wurden, gehören dazu: – Anschaffung / Einsatz leiserer Busse und Nutzfahrzeuge bei Ämtern, Eigenbetrieben usw. – Geschwindigkeitsbeschränkungen – Entlastung von Wohngebieten durch Lenkung des MIV – vor allem des Lkw-Verkehrs auf weniger empfindliche Straßen – Einbau von lärmmindernden Fahrbahnbelägen – Umgestaltung von Hauptverkehrsstraßen innerhalb bebauter Gebiete Eine bessere Lärmminderung lässt sich mit gezielten Baumaßnahmen wie – Lärmschutzwänden /-wällen, – Tunnel oder Einhausungen – Begrünung von Gleiskörpern – Maßnahmen zur Lärmminderung im Kurvenbereich von Gleisanlagen und – passivem Lärmschutz an Gebäuden erreichen. Diese sind aber in der Regel mit hohen Kosten verbunden und nicht in allen Fällen durchführbar.

Kosten der Mobilität Der Bau und der Unterhalt von Verkehrsinfrastruktur verursachen für die Kommunen hohe Ausgaben. Es handelt sich jedoch um Maßnahmen der Daseinsvorsorge und der Standortentwicklung. Mit Blick auf den Stand des derzeitigen Qualitäts- und Erhaltungsmanagements sowie die steigenden Kosten (wie z. B. für Umwelt- oder Qualitätsstandards) wird sich zunehmend die Frage der Finanzierbarkeit und somit der Priorisierung stellen. Nach derzeitigem Stand gibt es für Kommunen unterschiedliche Möglichkeiten für eine Beteiligung der Nutzer an den Mobilitätskosten: – Preisgestaltung in öffentlichen Parkhäusern – Parkraumbewirtschaftung /-management im öffentlichen Raum – Gestaltung des ÖPNV-Tarifs – Gebührenbeeinflussung bei öffentlich mitfinanzierten Verleihsystemen (wie z. B. Leihfahrräder, Carsharing, Taxen, usw.) Qualitäts- und Erhaltungsmanagement Die Landeshauptstadt Stuttgart ist im Besitz von 1 700 ha Verkehrsflächen, also Straßen, Wege und Plätze (ohne Straßenbegleitgrün und Grünflächen). Zurzeit liegen die für die Erhaltung eingesetzten Mittel unter dem Werteverlust. Mehr als bisher muss dem Qualitäts- und Erhaltungsmanagement der Verkehrsinfrastruktur Rechnung getragen werden. Zur Verbesserung des Qualitäts- und Erhaltungsmanagements wird ein dauerhaftes Investitionsprogramm „Erhaltung öffentlicher Flächen“ (gesamter Straßenraum inkl. Beleuchtung) empfohlen. Dieses soll Mittel für die Instandsetzung von Flächen im öffentlichen Straßenraum umfassen, unabhängig davon, ob sie dem MIV, dem Rad- oder Fußgängerverkehr zuzuordnen sind. Auch Haltestellen / Warteflächen oder Aufenthaltsflächen und Plätze sind darin enthalten. Elektromobilität / Neue Mobilitätsformen Unter E-Mobilität werden in der Regel Elektrofahrzeuge zusammengefasst, wie Elektroautos, Pedelecs, E-Bikes oder auch E-Scooter. Bei den Elektroautos gibt es verschiedene Varianten: Hybridfahrzeug mit

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KAPITEL DREI Das Verkehrsentwicklungskonzept der Stadt Stuttgart VEK 2030

Handlungsfelder der integrierten Verkehrsplanung


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Pedelecs sind elektrisch unterstützte Fahrräder, zugelassen bis 25 km / h. E-Bikes sind elektrisch betriebene Räder im Sinne von Krafträdern bis 45 km / h und benötigen ein Versicherungskennzeichen. Das gilt ebenso für E-Scooter, elektrisch betriebenen Rollern.

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Gemeint sind i. d. R. Konzepte, die ein autofreies Wohnumfeld anstreben, mit Parkmöglichkeiten am Rand

Der Großteil dieser Belange ist bereits in den Grundsätzen einer guten Fußwegeplanung integriert, die im Kapitel Fußgängerverkehr ausführlich erläutert werden. Dies gilt ebenfalls für die kinderfreundliche Verkehrsplanung.

Handlungsfelder der integrierten Verkehrsplanung

kombiniertem Antrieb, Brennstoffzellen und batteriebetriebene Fahrzeuge. Der ÖPNV bietet mit Stadt- und SBahnen seit Langem ein Angebot im Bereich der Elektromobilität an und leistet damit einen erheblichen Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele. Als Bausteine verschiedener Mobilitätslösungen und -angebote ist die E-Mobilität eine wichtige Komponente für ein zukunftsfähiges Verkehrssystem. Mit Elektrofahrzeugen werden sowohl die Lärmbelastung als auch der CO2-Ausstoß am Immissionsort deutlich reduziert. Bund und Länder haben zahlreiche Förderprogramme ins Leben gerufen, um die Elektromobilität voranzubringen. Als eine der vier Modellregionen Elektromobilität arbeiten in Stuttgart Wissenschaft, Industrie und Kommunen zusammen, um Elektrofahrzeuge in den Alltag zu integrieren. Neben der Förderung technischer Entwicklungen werden auch Mobilitätskonzepte entwickelt und die Auswirkungen und Chancen für die Stadtentwicklung überprüft. Zahlreiche Unternehmen sind im Bereich der Elektromobilität seit geraumer Zeit mit Pilotprojekten aktiv. Damit es zu wirklichen Fortschritten kommt, ist es von großer Bedeutung, dass die Wirtschaft sich dauerhaft und nachhaltig dieses Themas annimmt. Eine Förderung der Elektromobilität darf allerdings nicht zu Lasten des Umweltverbundes gehen. Eine Verlagerung von Fahrten des Umweltverbundes auf E-Autos würde keine Änderung bei Problemen, wie Parkraumbedarf, Staus, Flächenverbrauch oder Unverträglichkeit mit schwächeren Verkehrsteilnehmern ergeben. Die intelligente Verknüpfung der Verkehrsarten und Einbindung in eine multimodale Mobilität ist daher wichtig für ein zukunftsfähiges Verkehrssystem. Die Unterbringung erforderlicher Infrastruktur im öffentlichen Raum (z. B. Ladestationen) erfolgt im sensiblen und konstruktiven Dialog. Pedelecs oder E-Bikes3 bieten gerade im Hinblick auf die Topografie Stuttgarts eine große Chance, den Anteil der Fahrradfahrer zu erhöhen. Mit elektrisch unterstützten Fahrrädern können neue Nutzergruppen erreicht werden, die sonst den Pkw nutzen (z. B. Ältere oder Berufstätige). Zusätzlich wird der Aktionsradius für die Nutzung von Fahrrädern erhöht, da es weniger anstrengend ist mit einem Pedelec zu radeln, was ebenfalls zur Erschließung neuer Zielgruppen beiträgt. Das Aufladen der Batterien findet in der Regel zu Hause statt, ­öffentliche Ladestationen können in Fahrradstationen integriert werden. Carsharing ist die organisierte, gemeinschaftliche Nutzung von Kraftfahrzeugen. Das Autoteilen unter Nachbarn und Bekannten (privates Autoteilen) fällt in der Regel nicht unter den Begriff Carsharing, wird aber in verschiedenen Internetplattformen angeboten. Beim Carsharing gibt es verschiedene Systeme. Die Fahrzeuge sind entweder über fest angemietete Parkplätze über die Stadt verteilt, oder die Fahrzeuge sind auffindbar bzw. frei verfügbar. Im Gegensatz zum Mietwagen ist die Benutzung eines Carsharing-Fahrzeuges auch stundenweise möglich. Vor allem im Innenstadtbereich kann Carsharing von Nutzen sein. Besonders groß ist der Nutzen – zumal unter dem Gesichtspunkt des Schadstoffausstoßes – wenn hierbei vollelektrische Fahrzeuge zum Einsatz kommen. Planerische Vorteile sind: – i. d. R. geringerer Parkplatzbedarf im öffentlichen Raum (jedes Carsharing-Fahrzeug ersetzt vier bis acht private Pkw) – neue Möglichkeiten für autoarmes Wohnen4 – Anzahl der Stellplätze bei Einzelprojekten kann evtl. reduziert werden Für die Verkehrsentwicklungsplanung bedeutet das, dass Carsharing, privates Autoteilen und auch Leihfahrräder gefördert, in der Planung berücksichtigt und in Mobilitätskonzepte oder in ein Parkraummanagement integriert werden sollten. Vernetzung der Fortbewegungsmittel: Die Nutzungsmöglichkeiten von Carsharing oder Leihfahrrädern werden besonders durch eine Vernetzung der Angebote für den Bürger interessant und attraktiv. Ziel sollte sein, ein System aufzubauen, das nahtlose Übergänge von einem Fortbewegungsmittel zum anderen ermöglicht. Dazu gehören eine gemeinsame Informationsplattform, einheitlichen Zugangsvoraussetzungen, einheitliche Tarife, ein dichtes Netz und der gemeinsame Vertrieb. Demografischer Wandel und Barrierefreiheit Mit der veränderten Altersstruktur der Bevölkerung ändern sich auch die Ansprüche an die Mobilität. Kernelement sind attraktive Straßenräume mit hoher Aufenthaltsqualität, Sicherheit und wohnungsnahe Versorgungs- und Erholungsangebote. Durch den demografischen Wandel werden auch die Erfordernisse für eine barrierefreie Gestaltung verstärkt. Für die zukünftige Verkehrsplanung sind daher folgende Aspekte zu berücksichtigen: – Barrierefreie Verkehrsinfrastruktur (z. B. Bordsteinabsenkungen, Rampen, Tastfelder und Leiteinrichtungen für Sehbehinderte und Blinde) – Ausreichend breite und sichere Geh- und Radwege – Verkehrsberuhigung im Wohnumfeld – Erhöhung der sozialen Sicherheit – Gezielte Informationen und Aktionen zum Thema Verkehrssicherheit speziell für Senioren – Verbesserung der Orientierungsmöglichkeiten im Raum – Nutzerfreundlichkeit der technischen Infrastrukturen (z. B. Fahrkartenautomaten, Anzeigetafeln, ein leicht erfassbares Wegeleitsystem, Hinweise auf Barrierefreiheit bei der Fahrplanauskunft) – Vermittlung von Informationen und Mobilitätsangeboten für mobilitätseingeschränkte Bürger. Kinderfreundliche Verkehrsplanung Kinder und Jugendliche gehören zu den schutzbedürftigsten Teilnehmern, deren Belange bei der Verkehrsplanung berücksichtigt werden müssen. Oberstes Ziel ist daher die Sicherheit der Kinder und Jugendlichen im Verkehr. Die oben beschriebenen Belange für ältere und mobilitätseingeschränkte Personen gelten auch für Kinder. Methodisch entspricht eine kinderfreundliche Verkehrsplanung weitestgehend einer guten Fußwegeplanung und Radverkehrsplanung, die den jüngeren Verkehrsteilnehmern eine sichere und eigenständige Mobilität ermöglichen soll. Im Folgenden sind bedeutende Projekte kinderfreundlicher Verkehrsplanung aufgelistet. Für alle diese Projekte gilt, dass ihre Weiterführung bzw. ihre stufenweise Umsetzung mit entsprechendem Personal und finanzieller Ausstattung gesichert werden sollte. – Schulwegepläne, in denen sichere Schulwege für alle Grundschulen empfohlen werden.

KAPITEL DREI Das Verkehrsentwicklungskonzept der Stadt Stuttgart VEK 2030

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– „Fahrrad und Schule“ ist ein Arbeitsordner der Stadtverwaltung, der vielfältige Projekte zur Fahrradförderung an Schulen vorschlägt. – Schulradwegpläne sollen in Zukunft analog zu den Schulwegplänen die Radwege aufzeigen und so das Fahrradfahren und fördern – Verkehrssicherheitsaktionen mit Kindern, um dem Bring- und Holverkehr der Eltern mit dem Pkw entgegenzuwirken. – Kinderbeteiligung, zur Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten für Stadt- und Verkehrssituationen – Kinder(freizeit)wegeplan, der die wichtigen Kinderwegebeziehungen in der Freizeit berücksichtigt und der sicheren Erreichbarkeit von Freizeitflächen oder anderen wichtigen Kinderzielen in den Bezirken dient.

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KAPITEL DREI Das Verkehrsentwicklungskonzept der Stadt Stuttgart VEK 2030

Handlungsfelder der integrierten Verkehrsplanung



Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Auszüge aus der 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans zur Minderung der NO2-Belastung, Stand: März 2020

Neuere Entwicklung der Luftqualität Stickstoffdioxid (NO2) aus: Stickstoffdioxid (NO2) kann die menschliche Gesundheit nachhaltig schädigen. Es ist ein starkes Auszüge Regierungspräsidium Stuttgart, Luftreinhalteplan für den ­Regierungsbezirk Stuttgart, Teilplan Landeshauptstadt Stuttgart, Reizgas, das aufgrund seiner sauren Reaktion mit Wasser die Schleimhäute der Atemwege angreifen kann. 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans zur Minderung der NO Stand: März 2020, URL: https://t1p.de/8xeh, zuletzt Andererseits dringt es wegen seiner vergleichsweise geringen Wasserlöslichkeit tief in die Lunge ein und kann Belastung, abgerufen am 21.05.2020. Rechtsgrundlagen dort zu Beeinträchtigungen der Lungenfunktion führen. Akute VergifZum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt hat die Europäische Union mit der Luftqualitätsrichtlinie in der Fassung 2008 / 50 / EG für mehrere Luftschadstoffe Grenz- bzw. Zielwerte festgelegt. In Deutschland ist tungserscheinungen treten dabei erst bei sehr hohen Konzentrationen die Richtlinie im Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) und insbesondere in der 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (39. BImSchV) „Verordnung über Luftqualitätsstandards und von NO2 auf. Langzeituntersuchungen in Wohnungen zeigten bei NO2Emissionshöchstmengen“ umgesetzt worden. Gemäß § 47 BImSchG ist ein Luftreinhalteplan aufzustellen, wenn der ImmissionsgrenzJahresmittelwerten im Bereich von 40 – 60 μg / m³ eine Zunahme von wert für einen Schadstoff in der Luft zuzüglich einer dafür geltenden Toleranzmarge überschritten wird. Der Luftreinhalteplan soll durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass die Luftqualität dauerhaft so verbessert wird, Atemwegserkrankungen bei Kindern gegenüber Wohnungen ohne NO2dass die Grenzwerte eingehalten werden können bzw. der Zeitraum der Überschreitung verringert wird. Die Belastung durch Feinstaub PM und Stickstoffdioxid (NO ) ist in Stuttgart in den verQuellen. In der ­Außenluft ist der Zusammenhang zwischen erhöhten gangenen Jahren dank einer Vielzahl von durchgeführten Maßnahmen zurückgegangen. Die Grenzwerte für Feinstaub PM im Tages- und im Jahresmittel, sowie der Grenzwert für Stickstoffdioxid im Stundenmittel werden NO2-Konzentrationen und der Zunahme von Atemwegserkrankungen überall eingehalten. Gleichwohl wird an verschiedenen Stellen der Grenzwert für Stickstoffdioxid (NO ) im Jahresmittel – verstärkt durch die Kessellage Stuttgarts – noch immer überschritten. Der vorliegende Luftreinhalteweniger gut zu erfassen, da wegen der meist gleichzeitigen A ­ nwesenheit plan beschreibt daher eine verbindliche Maßnahme, die ergriffen werden muss, um den von der EU vorgegebenen Grenzwert für Stickstoffdioxid (NO ) von 40 μg / m im Jahresmittel schnellstmöglich einzuhalten. anderer Luftschadstoffe eine eindeutige Zuordnung der Wirkung zu den Die jeweils geltenden Imissionsgrenzwerte für die einzelnen Luftschadstoffe sind im Anhang XI Grenzwerte zum Schutz der menschlichen Gesundheit, Teil B der Richtlinie 2008 / 50 / EG des europäiStickstoffoxiden schwierig ist. NO2 in der Außenluft kann jedoch als guter schen Parlaments und des Rates über Luftqualität und saubere Luft für Europa aufgeführt. Indikator für Kfz-bedingte Luftverunreinigungen angesehen werden. Außerdem sind Stickstoffoxide als Vorläufersubstanzen bei der Bildung von Ozon und anderen Photooxidanzien von Bedeutung. […] Ursachenanalyse für NO2 Offroad-Verkehr: Schienenverkehr (u. a. Diesellokomotiven), Eine wichtige Grundlage für die Aufstellung von Luftreinhalteplänen ist die Kenntnis der Quellen 1 Flugverkehr, Schifffahrt, Motorsport. Sonstige technische Einrichtungen (nicht öffentliche Fahr2 und deren Anteil an den Schadstoffimmissionen. Die Ursachenanalysen sind der zentrale Bestandteil der zeuge): landwirtschaftlicher Verkehr, Baustellenfahrzeuge, Rasenmäher. Grundlagenbände der LUBW. Für jeden Messpunkt werden die Verursacheranteile der einzelnen Quellengruppen in Form von Kreisdiagrammen angegeben. Die Ursachenanalysen der LUBW für alle Überschreitungsbereiche in Baden-Württemberg sind auch im Internet zu finden. An den untersuchten Messstellen in Stuttgart betragen die Verursacheranteile an der Immissionsbelastung für NO2 beim großräumigen Hintergrund zwischen 7 % und 11 %. Die Quellengruppe Kleine und Mittlere Feuerungsanlagen hat insgesamt einen Anteil zwischen 12 % und 21 %. Die Quellengruppen industrielle Quellen, Offroad-Verkehr1 und Sonstige technische Einrichtungen2 tragen zwischen 3 % und 7 % zur Belastung bei. Die Beiträge des Straßenverkehrs an den Messstellen liegen zwischen 63 % und 78 %. […] Entwicklung der Immissionssituation in Stuttgart Die Abbildungen 1 und 2 zeigen die Entwicklungen der Stickstoffdioxid (NO2)-Immissionen an verschiedenen Standorten im Stuttgarter Stadtgebiet. Die Verkehrsmessstation Stuttgart Arnulf-Klett-Platz sowie die Spotmessstellen Stuttgart Hohenheimer Straße, Stuttgart Am Neckartor und Stuttgart Waiblinger Straße geben die Immissionsbelastungen an verkehrsnahen Standorten wieder. Die Messstation in Stuttgart-Bad Cannstatt in der Gnesener Straße ist hingegen repräsentativ für das städtische Hintergrundniveau. In Abbildung 1 ist die Entwicklung der NO2-Jahresmittelwerte dargestellt. Der Immissionsgrenzwert von NO2 in Höhe von 40 μg / m³ als Jahresmittelwert wird an fast allen verkehrsnahen Standorten dauerhaft überschritten. Seit etwa 2009 ist jedoch ein abnehmender Trend der NO2-Jahresmittelwerte an diesen Standorten zu beobachten. 2018 wurde an der Verkehrsmessstation in der Waiblinger Straße zum ersten Mal der Grenzwert eingehalten. In Abbildung 2 ist die Anzahl der jährlichen Überschreitungsstunden des NO2-Stundenmittelgrenzwertes in Höhe von 200 μg / m³ dargestellt. Seit dem Jahr 2017 ist dieser Grenzwert flächendeckend eingehalten. Die Überschreitungshäufigkeit hat sich an der Messstelle Am Neckartor von 853 Überschreitungsstunden im Jahr 2006 auf zwei Überschreitungsstunden im Jahr 2019 verringert. An der Spotmessstelle Stuttgart Hohenheimer Straße werden die Anforderungen an den Stundenmittelgrenzwert seit dem Jahr 2013 eingehalten. An der Messstation für den städtischen Hintergrund in der Gnesener Straße in Stuttgart-Bad Cannstatt wurde seit 1999 keine Überschreitung des NO2-Stundenmittelgrenzwertes gemessen. Die Luftqualitätssituation in Stuttgart weist einen deutlichen Trend zur abnehmenden Schadstoffbelastung von NO2 auf. Die verbleibenden Grenzwertüberschreitungen von NO2 treten nur im Nahbereich von Straßenabschnitten mit hohem Verkehrsaufkommen auf. Die bisher vorliegenden Messergebnisse für das Jahr 2019 zeigen eine weitere deutliche Verbesserung der Luftqualität auf (Am Neckartor: 53 μg / m3, Hohenheimer Straße: 50 μg / m3, Arnulf-Klett-Platz: 43 μg / m3). Im November 2019 sind in der Hohenheimer Straße und in der Pragstraße weitere Luftfiltersäulen, die laut Prognosen zu einer Minderung der Belastung mit Luftschadstoffen in Höhe von etwa fünf bis zehn Prozent führen, in Betrieb genommen worden. Die jüngsten Messergebnisse für November deuten auf eine weitere Verbesserung der Luftqualität hin. Die Messdaten an der Messstation Stuttgart-Bad Cannstatt belegen, dass die Immissionsgrenzwerte für NO2 im städtischen Hintergrund eingehalten 2

10

2

10

2

3

2

88

KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Neuere Entwicklung der Luftqualität


Abbildung 1

Entwicklung der Jahresmittelwerte der NO2-Konzentrationen an den verschiedenen Standorten in Stuttgart.

130

1 2 3

120

4 5

Am Neckartor Hohenheimer Straße Arnulf-Klett-Platz Waiblinger Straße Gnesener Straße

110 1

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3

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60

NO2-Jahresmittelwert in μg / m³

50 40

20 10 0 2004

Abbbildung 2 Anzahl d. Überschreitungen d. NO2-Stundenmittelwertes >200 μg / m³

NO2-Jahresmittelgrenzwert: 40 μg / m³

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2013

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2018

2019

Entwicklung der Anzahl der NO2-Stundenmittelwerte über 200 μg / m³ an verschiedenen Standorten in Stuttgart. Zulässig sind maximal 18 Überschreitungsstunden pro Kalenderjahr.

900

1

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2 3

800

Am Neckartor Hohenheimer Straße Arnulf-Klett-Platz

750 700 650 600 550

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2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

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2018

KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Entwicklung der Jahresmittelwerte der NO2-Konzentrationen und der Anzahl der NO2-Stundenmittelwerte

2019

max. 18 Stunden über NO2-Stundenmittelgrenzwert 200 μg / m³

89


werden. Diesen Trend belegen auch die vielen Messungen im gesamten Stadtgebiet in Stuttgart, die aufgrund der noch nicht über ein Jahr vollständig gemessenen Werte zwar nur Trendentwicklungen wiedergeben, aber bis auf eine Ausnahme Werte unterhalb des Grenzwerts ausweisen. Zusammensetzung der Kfz-Flotte Da, wie in der Ursachenanalyse dargestellt, der Verkehr einen sehr hohen Beitrag insbesondere zur NO2-Belastung leistet, wird an dieser Stelle die Entwicklung der Flottenzusammensetzung im Stadtgebiet Stuttgart zusammengefasst. Wichtig im Zusammenhang mit der Luftreinhaltung ist einerseits der Dieselanteil, aber auch die zu erwartende Flottendurchdringung mit der neuesten Abgasnorm Euro 6 / VI. Der Dieselanteil an der zugelassenen Pkw-Flotte (statische Flottenzusammensetzung) nahm über 15 Jahre hinweg kontinuierlich zu, was nicht zuletzt auf die steuerliche Vergünstigung des Dieselkraftstoffs und auf Leistungs- und Komfortverbesserungen des Dieselmotors zurückzuführen ist. Auch in der Region Stuttgart schlug sich der Dieselboom mit einer stetigen Zunahme des Dieselanteils an dem gesamten Pkw-Bestand von 1 % pro Jahr nieder. Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt (Stand 01.01.2019: 32,8 %) ist der Anteil der Diesel-Pkw in der Region Stuttgart mit 31,4 % unterdurchschnittlich. Innerhalb der Region Stuttgart liegt nur im Landkreis Göppingen der Anteil der Diesel-Pkw mit 33 % über dem Bundesdurchschnitt. Aufgrund des im September 2015 aufgedeckten Diesel-Skandals infolge manipulierter Abgaswerte, des eingeführten Verkehrsverbots für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 4 und schlechter in der Umweltzone Stuttgart sowie der öffentlichen Diskussion über drohende Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 5 sind die Erstzulassungen von Diesel-Pkw deutlich zurückgegangen. Die Kaufzurückhaltung für Diesel-Pkw macht sich seit 2017 im Dieselanteil des PkwBestands bemerkbar und geht mit Stand 01.01.2019 in der gesamten Region Stuttgart zurück.

Fortentwicklung Gesamtwirkungsgutachten Bereits umgesetzte Maßnahmen Mit der 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für den Regierungsbezirk Stuttgart Teilplan Landeshauptstadt Stuttgart wurde als Hauptmaßnahme ein ganzjähriges Verkehrsverbot in der Umweltzone ­Stuttgart für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der Abgasnorm Euro 5 / V eingeführt. Das Verkehrsverbot ist seit dem 01.01.2019 (bzw. seit dem 01.04.2019 für Anwohner) in Kraft. Mit der Ergänzung der 3. Fortschreibung wurde im Juli 2019 ein Sonderstreifen für den Busverkehr am Neckartor eingerichtet. Zudem wurde zum 01.04.2019 das neue Tarifzonensystem des Verkehrs- und Tarifverbunds Stuttgart (VVS) eingeführt. Durch die Umsetzung dieser und aller anderen in der 3. Fortschreibung festgelegten Maßnahmen sowie durch weitere Anstrengungen, wie z. B. Aufbau von Filtersäulen Am Neckartor, Aufbringung innovativer Straßenbeläge, Fassadenanstrich mit fotokatalytischer Fassadenfarbe und Software-Updates von Dieselfahrzeugen konnte die Luftqualität in Stuttgart signifikant verbessert werden. Diese Verbesserungen zeigen sich in den aktuellen Messwerten und haben neueste gutachterliche Berechnungen erforderlich gemacht. Die hieraus in der Folge festgelegten Maßnahmen der 4. Fortschreibung, wie z. B. Einzelstreckenverkehrsverbote für Diesel-Pkw unterhalb der Euronorm 6 und Geschwindigkeitsbeschränkung auf 40 km / h, sind ab dem 01.01.2020 in Kraft getreten. Basisfälle Aufgrund der Entwicklung des Jahresmittelwerts 2019, des seit Anfang 2019 gültigen Verkehrsverbots für Diesel schlechter Euro 5 / V in der gesamten Umweltzone Stuttgart und der u. a. damit verbundenen Flottenentwicklung sowie der VVS-Tarifreform wurden ein neuer Nullfall 2019 und darauf aufbauend ein neuer Prognosefall (2020) berechnet. Der Basisfall 2019 wurde anhand der Jahresmittelwerte für das Jahr 2019 der Messstellen Am Neckartor, Talstraße, Pragstraße und Hohenheimer Straße angepasst. Aufbauend auf dem Basisfall 2019 unter Berücksichtigung der Flottenentwicklung sowie der Software-Updates wurde der Prognosefall für das Jahr 2020 neu berechnet. Diese Berechnung ist die Basis für die 5. Fortschreibung. Zonale Berechnung Nachdem in der 4. Fortschreibung noch die streckenbezogenen Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge schlechter Euro 6 / VI im Vordergrund standen, wurden nunmehr ausgehend von der aktuellen Situation 2019 für das Jahr 2020 ein zonales Dieselverkehrsverbot für Dieselfahrzeuge schlechter Euro 6 / VI in der Umweltzone Stuttgart untersucht. Als weiterer Fall wurde ein zonales Verkehrsverbot für Dieselfahrzeuge schlechter Euro 6 / VI in einer kleinen Zone untersucht. Diese Zone umfasst den Talkessel und die Bezirke Zuffenhausen, Feuerbach und Bad Cannstatt. Die verkehrlichen Ergebnisse dieser Untersuchungen ergaben, dass es keine unzulässigen Verlagerungsverkehre gibt. Verlagerungsverkehre gelten dann als unzulässig, wenn sie zu einer erstmaligen Grenzwertüberschreitung oder zur Erhöhung einer bereits vorhandenen Überschreitung führen.

In Ergänzung zu den bisherigen Wirkungsermittlungen des ­Gesamtwirkungsgutachtens Stuttgart wurden weitergehende Untersuchungen und Aktualisierungen der Berechnungen ­durchgeführt.

Maßnahme M1 Ab dem 01.07.2020 gilt ein ganzjähriges zonales Verkehrsverbot für den Bereich des Talkessels sowie in den Einführung eines ganzjährigen zonalen Verkehrsverbots für KraftfahrzeuStadtbezirken Bad Cannstatt, Feuerbach und Zuffenhausen (sog. kleine Umweltzone Stuttgart) für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotor unterhalb der Abgasnorm Euro 6 / VI. ge mit Dieselmotor unterhalb der Abgasnorm Euro 6 / VI in der kleinen Umweltzone Stuttgart (M1). Allgemeines Seit dem 01.01.2019 gilt ein ganzjähriges Verkehrsverbot für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotor unterhalb der Abgasnorm Euro 5 / V in der Umweltzone Stuttgart. Dies hat in Stuttgart bereits zu einer deutlichen Verbesserung der Luftqualität geführt. Allerdings wird der Grenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) von 40 μg / m3 im Jahresmittel nach wie vor nicht an allen Stuttgarter Messstellen eingehalten. Die Ergebnisse der ergänzenden und aktualisierten Gutachten verdeutlichen, dass der Grenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) im Jahresmittel im Jahr 2020 an mehreren Streckenabschnitten nicht eingehalten werden kann, wenn keine zusätzlichen Luftreinhaltemaßnahmen ergriffen werden. Es genügt nicht, die laufende Erneuerung der Fahrzeug-

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KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Fortentwicklung Gesamtwirkungsgutachten und Maßnahme


Regierungspräsidium Stuttgart, Luftreinhalteplan für den ­Regierungsbezirk Stuttgart, Teilplan Landeshauptstadt Stuttgart, 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans zur Minderung der NO2Belastung, Stand: November 2019, URL: https://t1p.de/a3h1, ­zuletzt abgerufen am 22.05.2020.

flotte und die damit verbundenen niedrigeren Emissionen an Stickstoffoxiden abzuwarten. Ab dem 01.01.2020 wurden daher die Maßnahmen M1 bis M5 der 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart in Kraft gesetzt. Nachtrag der Maßnahmen M1 bis M5 der 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart M1 Ab dem 01.01.2020 gilt ein ganzjähriges Verkehrsverbot in beiden Fahrtrichtungen auf den Streckenzügen B14 (Am Neckartor) von der „ADAC-Kreuzung“ bis zur Kreuzung Cannstatter Str. / ­Heilmannstraße, B14 (Hauptstätter Straße) vom Österreichischen Platz bis zum Marienplatz, B27 (Charlottenstraße, Hohenheimer Straße, Neue Weinsteige, Obere Weinsteige) von der Kreuzung Obere Weinsteige / Jahnstraße bis zum Charlottenplatz sowie B27 (Heilbronner Straße) von der Kreuzung Kriegsbergstraße bis zur Kreuzung Wolframstraße für alle Pkw mit Dieselmotor unterhalb der Abgasnorm Euro 6. […] M2 Auf allen Vorbehaltsstraßen im Talkessel Stuttgart wird eine Geschwindigkeitsreduzierung von 50 km / h auf 40 km / h vorgenommen, soweit diese noch nicht umgesetzt wurde. Unabhängig vom Talkessel wird auf folgenden Streckenabschnitten im Stadtgebiet von Stuttgart eine Geschwindigkeitsreduzierung von 50 km / h auf 40 km / h unverzüglich und schrittweise beginnend mit den am stärksten belasteten Straßen vorgenommen: – Auf der Bebelstraße zwischen Kreuzung Schwabstraße / Bebelstraße und Einmündung Herderstraße, – auf der Heilbronner Straße (bereits geplant, aber noch nicht umgesetzt) vom KurtGeorg-Kiesinger-Platz bis zum Löwentor, – auf der Neuen / Oberen Weinsteige (B27) (bereits geplant, aber noch nicht umgesetzt), – auf der B14 Am Neckartor (dauerhaft umzusetzen) und in der Hauptstätter Straße vom Österreichischen Platz bis zum Heslacher Tunnel. Die vorhergehende Strecke zwischen Am Neckartor und dem Österreichischen Platz sollte weiterhin bedarfsgerecht umschaltbar sein, – in der Pragstraße von der Kreuzung Neckartalstraße bis zum Löwentor, – in der Brückenstraße zwischen Kreuzung Neckartalstraße bis zur Haldenstraße, – im Stadtteil Feuerbach auf der Bludenzer Straße, – im Stadtteil Zuffenhausen auf dem Teilstück der Schwieberdinger Straße zwischen Einmündung Marconistraße bis zur Wernerstraße und – in der Schozacher Straße zwischen der Kreuzung Haldenrainstraße und Tapachstraße / Roter Stich […] M3 Die Landesregierung finanziert die Errichtung und den Betrieb weiterer Filtersäulen im Jahr 2019 in Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Mann+Hummel GmbH. Neben den bereits errichteten Filtersäulen Am Neckartor werden weitere Filtersäulen im Bereich der Pragstraße und Hohenheimer Straße errichtet. Die Errichtung wird durch die Landeshauptstadt Stuttgart unterstützt. Der Betrieb geschieht durch die Firma Mann+Hummel GmbH. Hierbei handelt es sich um eine Brückentechnologie zur Vermeidung von Verkehrsverboten, folglich ist deren Aufstellung zeitlich begrenzt. Nach zwei Jahren wird evaluiert und entschieden, ob eine Fortsetzung des Betriebs erforderlich ist. Die Filtersäulen saugen die mit Stickstoffoxiden und Feinstaub belastete Luft an, reinigen diese durch die Verwendung verschiedener Filtertechnologien und geben die gereinigte Luft wieder in den Straßenraum ab. An folgenden neuralgischen Punkten werden Filtersäulen eingerichtet: – 20 Filtersäulen in der Hohenheimer Straße bei den Hausnummern 50a – 88, vollständige Installation aller Säulen und Inbetriebnahme zwischen Ende September und Anfang November – 10 Filtersäulen in der Pragstraße bei den Hausnummern 88 – 102, vollständige Installation und Inbetriebnahme Mitte / Ende Oktober M4 Das Parkraummanagement der Landeshauptstadt Stuttgart wird ab 01.01.2020 weiter ausgebaut. Die Stufe 5 umfasst Teile des Stuttgarter Nordens sowie Teile von Bad Cannstatt, Untertürkheim und Vaihingen. Die Maßnahme ist durch Satzung der Landeshauptstadt im Rahmen ihres kommunalen Selbstverwaltungsrechts umzusetzen. Um die Idee des Parkraummanagements zu verwirklichen und tatsächlich weitere Verbesserungen zu erreichen, hat die Landeshauptstadt Stuttgart weitergehende Maßnahmen bereits beschlossen und umgesetzt bzw. befinden sich in der Umsetzung. Im Jahr 2019 wurden die Kontrollen der Verkehrsüberwachung verbessert und es findet ein verstärktes Abschleppen von Falschparkern statt. In der 5. Umsetzungsstufe des Parkraummanagement findet eine räumliche Ausweitung des Parkraummanagement der Landeshauptstadt Stuttgart für Bad Cannstatt, Vaihingen, Untertürkheim und Stuttgart-Nord. In dieser Stufe kommen knapp 4 300 weitere Parkplätze in die Bewirtschaftung. Die vollständige Umsetzung der Stufe 5 ist im Jahr 2021 geplant. Damit unterliegen über 45 000 Parkplätze im öffentlichen Raum dem Parkraummanagement. Zusätzlich erging der Grundsatzbeschluss des Gemeinderats „Eine lebenswerte Stadt für alle“ („Autofreie Innenstadt“). Diverse Projekte wie beispielsweise der Rückbau des Parkplatzes unter der Paulinenbrücke oder der Rückbau von oberirdischen öffentlichen Parkplätzen innerhalb des künftigen City-Rings sind in Planung und Umsetzung. Des Weiteren hat die Landeshauptstadt Stuttgart vorgeschlagen, die rechtlichen Grundlagen dafür zu schaffen, das Parkraummanagement auf Gebiete mit einer Parkplatzauslastung ab 85 % auszudehnen. Dies alles dient dazu, das Parkraummanagement im Sinne der Luftreinhaltung noch effektiver und damit das Parken für Pendler unattraktiver zu machen.

KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Nachtrag der Maßnahmen M1 – M5 der 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart

91


M5

Auf der B27 von der Anschlussstelle der BAB A8 (Echterdinger Ei) bis zum Ortsschild von StuttgartDegerloch wird unverzüglich die zulässige Höchstgeschwindigkeit dauerhaft auf 80 km / h begrenzt. Diese Strecke ist die letzte Zulaufstrecke auf das Stadtgebiet von Stuttgart, die außerhalb geschlossener Ortschaften noch ohne dauerhafte Geschwindigkeitsbegrenzung auf 80 km / h versehen ist. Dort besteht eine Verkehrsbeeinflussungsanlage, die den Verkehr je nach Auslastungssituation verkehrsabhängig steuert. Derzeit gilt eine Geschwindigkeitsbeschränkung für PKW tagsüber max. 100 km / h und nachts (22.00 Uhr bis 06.00 Uhr) 80 km/h sowie für LKW durchgehend 60 km / h. Durch die Maßnahme M5 wird die Geschwindigkeitsbeschränkung für PKW tagsüber auf max. 80 km/ h reduziert. Die übrigen Geschwindigkeitsbeschränkungen blieben unverändert bestehen. Die Maßnahme dient einer Reduzierung und Verstetigung des Verkehrszuflusses auf der Strecke selbst sowie in der Hohenheimer Straße. […] der 3-Monatswert im April 2020 prognostisch ergeben, dass Als weitere Stufe zur sicheren Einhaltung des Grenzwerts für Stickstoffdioxid (NO2) im Jahresmittel wird zudem Sollte der Grenzwert im Jahresmittel 2020 eingehalten wird, wird von der Maßnahme M1 mangels Erforderlichkeit abgesehen. ab dem 01.07.2020 im Bereich der kleinen Umweltzone (räumliche Ausdehnung s. Abb. 7) ein ganzjähriges VerRechtliche Grundlage kehrsverbot für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotor unterhalb der AbgasDas BVerwG hat festgestellt, dass ein Verkehrsverbot wie in Maßnahme M1 vorgesehen, auf Grundlage des § 40 Abs. 1 S. 1 BImSchG unter Berücksichtigung des Unionsrechts in rechtlich zulässiger Weise angeordnet werden norm Euro 6 / VI eingeführt. Das BVerwG hat mit Urteil vom 27.02.2018 für kann (BVerwG, Urteil vom 27.02.2018, 7 C 30.17). Eine Aktualisierung der 35. BImSchV ist nach Ansicht des BVerwG nicht erforderlich. Gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 BImSchG beschränkt oder verbietet die zuständige Straßenverkehrsbedie Umweltzone Stuttgart festgestellt, dass die Einführung eines Verhörde den Kraftfahrzeugverkehr nach Maßgabe der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften, soweit ein Luftreinhalteplan dies vorsieht. kehrsverbots für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotor unterhalb der Abgasnorm 6 / VI in der Umweltzone Stuttgart ab dem 01.09.2019 und unter Abbildung 3 Gewährung von Ausnahmen mit der Verpflichtung der zuständigen Behörden aus Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 der Beschilderung der Umweltzone Richtlinie 2008/50/EG und aus § 47 Abs. 1 S. 3 BImSchG, die Zeit der Grenzwertüberschreitung so kurz wie (Zeichen 270.1 StVO) möglich zu halten, in Einklang steht (BVerwG, Urteil vom 27.02.2018, 7 C 30.17). Umsetzung Die Beschilderung der Umweltzone erfolgt mit den unten abgebildeten Zeichen 270.1 und 270.2 StVO (Abbildungen 3 und 4) in Kombination mit zwei Zusatzzeichen. Das erste Zusatzzeichen ist das Zusatzzeichen zum Zeichen 270.1 StVO (Plakettenzusatzzeichen; Abbildung 5). Das zweite Zusatzzeichen wird mit Zustimmung der obersten Straßenverkehrsbehörde auf Grundlage der VwV-StVO Rn. 46 zu §§ 39 – 43 eingeAbbildung 4 führt. Das zweite Zusatzzeichen beinhaltet die Freitextbezeichnung „Diesel (außer Lieferverkehr) erst ab Euro Beschilderung des Endes der 6 / VI frei.“ Mit dem zweiten Zusatzzeichen werden u. a. alle Fahrten zur Ver- und Entsorgung der Bevölkerung ­Umweltzone (Zeichen 270.2 vom Verbot ausgenommen (Lieferverkehr mit grüner Plakette). Unter „Lieferverkehr“ ist der geschäftsmäßige StVO) Transport von Sachen von oder zu Gewerbetreibenden sowie von oder zu sonstigen Kunden eines Gewerbetreibenden zu verstehen (Urteil BVerwG vom 08.09.1993 – 11 C 38/92). Zum Lieferverkehr zählen auch Fahrten von Handwerkern und Baufahrzeuge, die als Werkstattwagen oder zum Transport von Werkzeugen oder Material eingesetzt werden und unbedingt vor Ort sein müssen. Räumliche Abgrenzung Abbildung 5 Die aktuelle Umweltzone Stuttgart bleibt bestehen (Abbildung 6). Innerhalb dieser Umweltzone Zusatzzeichen 1 Das Zusatzzeiwird die kleine Umweltzone eingeführt, die die Einfahrt für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der chen zum Zeichen 270.1 StVO Abgasnorm Euro 6 / VI untersagt (Abbildung 7). Die kleine Umweltzone umfasst den Bereich des Talkessels sonimmt Fahrzeuge vom Verkehrsverwie die Stadtbezirke Bad Cannstatt, Feuerbach und Zuffenhausen. bot aus, die mit einer grünen Prognostizierte Wirkungen der Maßnahme Plakette nach § 3 der 35. BImSchV Die Wirkung der Maßnahme M1 wurde als Szenario 2 Variante 1 mit einer kleinen Umweltzone in Erausgestattet sind. gänzung zu den bestehenden Berechnungen auf ihre Wirkung hin untersucht. Neben der hier aufgeführten Maßnahme M1 wurde zusätzlich ein zonales Dieselverkehrsverbot für Dieselfahrzeuge schlechter Euro 6 / VI in der gesamten Umweltzone Stuttgart als Szenario 3 Variante 1 untersucht, um die Vergleichbarkeit der kleinen mit der großen Umweltzone herzustellen. Die Wirkung der M1 (verkleinerte Umweltzone) ist in nachfolgender Abbildung 8, die Wirkung des Verkehrsverbots in der gesamten Umweltzone in Abbildung 9 sowie ein Vergleich in Tabelle 1 dargestellt. Die Berechnungen haben gezeigt, dass in den relevanten Bereichen mit prognostizierter Grenzwertüberschreitung mit einer kleinen Umweltzone eine größere Wirkung erzielt werden kann als mit der großen Umweltzone. Bisherige Erfahrungen mit der Einführung von Umweltzonen, die sich auf das gesamte Stadtgebiet erstrecken, haben gezeigt, dass sich bei großzonalen Verboten kleinräumige Verlagerungseffekte nur kurzfristig einstellen, welche in kurzer Zeit aufgelöst werden, da Betroffene eines Verkehrsverbots ein anderes Kfz, welches nicht vom Verbot betroffen ist, beispielsweise durch eine Ersatzbeschaffung, verwenden. Es findet eine Flottenerneuerung statt. Die Verkehrsmenge bleibt unverändert. Anders stellt sich die Situation bei einer kleinen Umweltzone dar, weil hier an den Randbereichen noch Umfahrungsstrecken denkbar sind. Diese eventuell auftretenden Verlagerungsverkehre wurden untersucht. Eine erhebliche Verlagerungswirkung ist nicht eingetreten. Es kommt zu keinem unzulässigen Verlagerungsverkehr. An einzelnen Strecken tritt eine geringfügige verkehrliche Entlastung auf. Darüber hinaus werden sich durch die mit der Umweltzone verbundene Flottenerneuerung auch im Einzugsbereich von Stuttgart, also in den außenliegenden Stadtbezirken und in der gesamten Region Stuttgart, positive Effekte einstellen. In Tabelle 1 ist ersichtlich, dass an drei von vier Messstellen die die kleine Umweltzone eine bessere Wirkung gegenüber der großen Umweltzone aufweist. An der vierten Messstelle haben die Zonen die gleiche Tabelle 1 Gegenüberstellung der prognostizierten Werte in μg/m³ an den Messstellen Wirkung. Gegenüber dem Nullfall 2020 bedeutet dies eine deutliche NO2Strecken Prognosefall NO -Werte kleine NO -Werte große Immissionsreduktion auf den Strecken mit prognostizierten Grenzwert2020 ­Umweltzone ­Umweltzone Am Neckartor 47 40 41 überschreitungen im Bereich von 4 bis 8 μg / m³. Die ÜberschreitungsituaHohenheimer 43 38 39 Straße tion im Bereich der Pragstraße wird sich im Zuge des Neubaus des Talstraße 45 41 41 Pragstraße 90/92 49 42 43 Rosensteintunnels erledigen, da die Landeshauptstadt Stuttgart Begleitmaßnahmen im Rahmen des Bebauungsplanes umsetzt. Hieraus ergeben sich in Zukunft, wie bereits in der 4. Fortschreibung dargelegt, keine Betroffenheiten mehr, da die Stadt die dortigen Wohnungen aufkauft. Demnach ist aufgrund der besseren Wirkung und aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die kleine Umweltzone vorzugswürdig und das Mittel der Wahl.

2

92

2

KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Umsetzung, Räumliche Abgrenzung und Prognostizierte Wirkungen der Maßnahme


Kornwestheim Korntal-Münchingen

Ditzingen

Zuffenhausen

Waiblingen Fellbach

Feuerbach Gerlingen Leonberg

STUTTGART

Esslingen am Neckar

Vaihingen

Ostfildern

Hohenheim Sindelfingen Leinfelden-Echterdingen

Abbildung 6

Denkendorf

Darstellung der Umweltzone Stuttgart

Korntal-Münchingen

2 km

Stammheim Mühlhausen

Zuffenhausen Ditzingen Fellbach

Weilimdorf

Feuerbach

Hallschlag Bad Cannstatt

Gerlingen

Killesberg

Nord Untertürkheim Ost STUTTGART

Botnang

Mitte

Wangen

Feuersee West Obertürkheim Süd

Abbildung 7

Hedelfingen

Darstellung der kleinen Umweltzone

1 km

KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Darstellung der Umweltzone Stuttgart und der kleinen Umweltzone

93


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NO2-Jahresemissionen (μg / m³), Fortschreibung LRP Stuttgart Szenario 2, Variante 1 2020: Sz1 + DVV < E6 / VI in verkl. UZ, Ausn. SUP E5 & HU E5 (HB3.3: Basisfall DVV < E5 / V; SUP E5+6, HU E5) Stand: 23.03.2020 Straßen < 41 μg / m³

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Abbildung 8 NO2-Jahresimmissionen 2020 (μg /m³) – Verkehrsverbot in der kleinen Umweltzone (Szenario 2 Variante 1)

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KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart NO2-Jahresimmissionen 2020 (μg / m³) – Verkehrsverbot ganze Umweltzone (Szenario 3 Variante 1)


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NO2-Jahresemissionen (μg / m³), Fortschreibung LRP Stuttgart Szenario 3, Variante 1 2020: Sz1 + DVV < E6 / VI in UZ ST, Ausn. SUP E5 & HU E5 (HB3.3: Basisfall DVV < E5 / V; SUP E5+6, HU E5) Stand : 23.03.2020 Straßen < 41μg / m³

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Bundesstraßen /Autobahnen < 41 – 50 μg / m³

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Abbildung 9 NO2-Jahresimmissionen 2020 (μg / m³) – Verkehrsverbot ganze Umweltzone (Szenario 3 Variante 1)

KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart NO2-Jahresimmissionen 2020 (μg / m³) – Verkehrsverbot ganze Umweltzone (Szenario 3 Variante 1)

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Mit einem zonalen Verkehrsverbot für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotor unterhalb der Abgasnorm Euro 6 / VI in der kleinen Umweltzone in Kombination mit den Maßnahmen M2 bis M5 der 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart kann davon ausgegangen werden, dass im Jahr 2020 im gesamten Stadtgebiet der Immissionsgrenzwert für Stickstoffdioxid im Jahresmittel eingehalten werden kann. Folglich ist die Maßnahme M1 auch unter der auflösenden Bedingung, wie formuliert, zur Grenzwerteinhaltung geeignet. Durch die bessere Wirkung der kleinen Umweltzone und der geringeren Eingriffstiefe ist diese Maßnahme als das mildere Mittel verhältnismäßig. […] Ausnahmen vom Verkehrsverbot Ausnahmen aufgrund Nachrüstung (§ 47 Abs. 4a S. 2 BImSchG) Von den Verkehrsverboten werden auf Dauer Kraftfahrzeuge mit Hardwarenachrüstung ausgenommen. Die Voraussetzungen für die Ausnahme bestimmt § 47 Abs. 4a S. 2 Nr. 2 BImSchG. Bis 30. Juni 2022 werden Kraftfahrzeuge mit einem Softwareupdate zur Emissionsminderung von Stickstoffoxid ausgenommen, sofern das Softwareupdate für diesen Fahrzeugtyp vom Kraftfahrt-Bundesamt anerkannt wurde und die Besitzer das Softwareupdate schriftlich nachweisen können. Nach § 47 Abs. 4a S. 2 BImSchG sind folgende Kraftfahrzeuge von Verkehrsverboten ausgenommen: […] 2 Kraftfahrzeuge der Schadstoffklassen Euro 4 und Euro 5, sofern diese im praktischen Fahrbetrieb in entsprechender Anwendung des Artikels 2 Nummer 41 in Verbindung mit Anhang IIIa der Verordnung (EG) Nr. 692/2008 der Kommission vom 18. Juli 2008 zur Durchführung und Änderung der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl. L 199 vom 28.7.2008, S. 1), die zuletzt durch die Verordnung (EU) 2017/1221 (ABl. L 174 vom 7.7.2017, S. 3) geändert worden ist, weniger als 270 Milligramm Stickstoffoxide pro Kilometer ausstoßen, 3 Kraftomnibusse mit einer Allgemeinen Betriebserlaubnis für ein Stickstoffoxid-Minderungssystem mit erhöhter Minderungsleistung, sofern die Nachrüstung finanziell aus einem öffentlichen Titel des Bundes gefördert worden ist, oder die die technischen Anforderungen erfüllen, die für diese Förderung erforderlich gewesen wären, 4 Schwere Kommunalfahrzeuge mit einer Allgemeinen Betriebserlaubnis für ein StickstoffoxidMinderungssystem mit erhöhter Minderungsleistung, sofern die Nachrüstung finanziell aus einem öffentlichen Titel des Bundes gefördert worden ist, oder die die technischen Anforderungen erfüllen, die für diese Förderung erforderlich gewesen wären, sowie Fahrzeuge der privaten Entsorgungswirtschaft von mehr als 3,5 Tonnen mit einer Allgemeinen Betriebserlaubnis für ein Stickstoffoxid-Minderungssystem mit erhöhter Minderungsleistung, die die technischen Anforderungen erfüllen, die für diese Förderung erforderlich gewesen wären, 5 Handwerker- und Lieferfahrzeuge zwischen 2,8 und 7,5 Tonnen mit einer Allgemeinen Betriebserlaubnis für ein Stickstoffoxid-Minderungssystem mit erhöhter Minderungsleistung, sofern die Nachrüstung finanziell aus einem öffentlichen Titel des Bundes gefördert worden ist, oder die die technischen Anforderungen erfüllen, die für diese Förderung erforderlich gewesen wären, […] 7 Kraftfahrzeuge im Sinne von Anhang 3 Nummer 5, 6 und 7 der Verordnung zur Kennzeichnung der Kraftfahrzeuge mit geringem Beitrag zur Schadstoffbelastung vom 10. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2218), die zuletzt durch Artikel 85 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474) geändert worden ist.“ Ausnahme für Kraftfahrzeuge mit alternativem Antrieb Von den Verkehrsverboten dieser Fortschreibung werden per Allgemeinverfügung auf Dauer Kraftfahrzeuge mit alternativem Antrieb, d. h. teilelektrischem Antrieb, ausgenommen, sofern Sie mit einer grünen Umweltplakette gekennzeichnet sind. Ausnahmen gemäß Anhang 3 der Kennzeichnungsverordnung (35. BImSchV) Gemäß Anhang 3 der Kennzeichnungsverordnung (35. BImSchV) sind bestimmte Kraftfahrzeuge generell von der Kennzeichnungspflicht und damit vom Verkehrsverbot nach § 40 Abs. 1 BImSchG ausgenommen: 1 mobile Maschinen und Geräte, 2 Arbeitsmaschinen, 3 land- und forstwirtschaftliche Zugmaschinen, 4 zwei- und dreirädrige Kraftfahrzeuge, 5 Krankenwagen, Arztwagen mit entsprechender Kennzeichnung „Arzt Notfalleinsatz“ (gemäß § 52 Abs. 6 der Straßenverkehrs-Zulassungsordnung), 6 Kraftfahrzeuge, mit denen Personen fahren oder gefahren werden, die außergewöhnlich gehbehindert, hilflos oder blind sind und dies durch die im Schwerbehindertenausweis eingetragenen Merkzeichen „aG“, „H“ der „Bl“ nachweisen, 7 Fahrzeuge, für die Sonderrechte nach § 35 der Straßenverkehrsordnung in Anspruch genommen werden können, 8 Fahrzeuge nichtdeutscher Truppen von Nichtvertragsstaaten des Nordatlantikpaktes, die sich im Rahmen der militärischen Zusammenarbeit in Deutschland aufhalten, soweit sie für Fahrten aus dringenden militärischen Gründen genutzt werden, 9 zivile Kraftfahrzeuge, die im Auftrag der Bundeswehr genutzt werden, soweit es sich um unaufschiebbare Fahrten zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben der Bundeswehr handelt, 10 Oldtimer (gemäß § 2 Nr. 22 Fahrzeug-Zulassungsverordnung), die ein Kennzeichen nach § 9 Abs. 1 oder § 17 der Fahrzeug-Zulassungsverordnung führen, sowie Fahrzeuge, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, einer anderen Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Türkei zugelassen sind, wenn sie gleichwertige Anforderungen erfüllen.

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KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Umsetzung, Räumliche Abgrenzung und Prognostizierte Wirkungen der Maßnahme


Der unter Pkt. 7 aufgeführte § 35 StVO umfasst im Wesentlichen die Sonderrechte für die Bundeswehr, die Bundespolizei, die Feuerwehr, den Katastrophenschutz, die Polizei und den Zolldienst, für Fahrzeuge des Rettungsdienstes und auch Messfahrzeuge der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahn. Sonderrechte genießen auch Fahrzeuge, die dem Bau, der Unterhaltung oder Reinigung der Straßen und Anlagen im Straßenraum oder der Müllabfuhr dienen und die durch weiß-rot-weiße Warneinrichtungen gekennzeichnet sind. Ausnahmekonzeption Für die Ausnahmen nach § 1 Abs. 2 der 35. BImSchV von den in dieser Fortschreibung festgelegten Verkehrsverboten (M1), gibt es eine Ausnahmekonzeption, die im Folgenden dargestellt ist. Die Ausnahmekonzeption steht unter dem Vorbehalt zukünftiger Anpassungen. Sofern eine Erteilung der Ausnahmegenehmigung nicht im Wege der Allgemeinverfügung durch die Landeshauptstadt Stuttgart erfolgt, bedarf es der Beantragung bei der zuständigen Landeshauptstadt Stuttgart. Die Ausnahmegenehmigung bezieht sich auf den beantragten sowie genehmigten Fahrtzweck und Fahrtstrecke. Die erteilte Ausnahmegenehmigung ist im Kraftfahrzeug mitzuführen. […] Ausnahmegenehmigungen in Einzelfällen werden befristet je nach Anlass. Diese Ausnahmegenehmigungen werden längstens für den Zeitraum von einem Jahr erteilt. Bei einer Verlängerung von Einzelfallgenehmigungen sind deren Voraussetzungen erneut zu überprüfen. Es ist festzulegen, dass die Ausnahmegenehmigung gut sichtbar im Fahrzeug auf der Innenseite der Windschutzscheibe ausgelegt wird. Allgemeine Voraussetzungen 1 Das Fahrzeug entspricht der Schadstoffgruppe 4 (grüne Plakette). 2 Dem Halter des Kraftfahrzeugs steht für den Fahrtzweck kein auf ihn zugelassenes alternatives Fahrzeug zur Verfügung. 3 Das Fahrzeug, für das eine Ausnahmegenehmigung in Anspruch genommen werden soll, wurde erstmals vor dem 01.07.2020 auf den Halter zugelassen. Besondere Voraussetzungen Für im öffentlichen Interesse liegenden Fahrzeugverkehr können, sofern die Allgemeinen Voraussetzungen vorliegen, für nachfolgende Fahrten und Fahrtzwecke Ausnahmegenehmigungen von und zu bestimmten Einrichtungen erteilt werden für Prüfungs-, Probe- oder Überführungsfahrten Prüfungs-, Probe- oder Überführungsfahrten mit rotem Kennzeichen nach § 16 FZV, Probe- und Überführungsfahrten mit Kurzzeitkennzeichen nach § 16a FZV sowie Fahrten mit Ausfuhrkennzeichen nach § 19 FZV. […] Fahrten zur Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern, insbesondere die Belieferung a des Lebensmitteleinzelhandels, b von Apotheken, c von Altenheimen, Krankenhäusern und vergleichbaren öffentlichen Einrichtungen, d von Groß-, Wochen- Spezial- und Jahrmärkten sowie Volksfesten und vergleichbaren Veranstaltungen. Fahrten zur Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Dienstleistungen, insbesondere Fahrten a zum Erhalt und zur Reparatur betriebsnotwendiger technischer Anlagen, b zur Behebung von Gebäudeschäden einschließlich der Beseitigung von Wasser-, Gasund Elektroschäden, c für soziale und pflegerische Hilfsdienste, d Einsatz-, Hilfs- und Versorgungsfahrzeuge des öffentlichen Personennahverkehrs. Fahrten von folgenden Fahrzeugen oder Fahrten für folgende Zwecke: a Spezialfahrzeuge mit hohen Anschaffungskosten und geringen Fahrleistungen, wie z. B. – Kräne und ähnliche Fahrzeuge (soweit nicht als Arbeitsmaschinen zugelassen), – Schwerlasttransporter – Zugmaschinen von Schaustellern und – als Arbeitsstätte genutzte Kraftfahrzeuge mit festen Auf- / Einbauten (Kraftfahrzeuge, die aufgrund ihres speziellen Einsatzzweckes technische Besonderheiten aufweisen wie z. B. Messwagen, Mediensonderfahrzeuge) b Fahrten mit Wohnmobilen zu Urlaubszwecken c Bestattungsfahrzeuge d Taxen, Fahrzeuge im Mietwagenverkehr und sonstige mit Genehmigung nach PBefG e Carsharingfahrzeuge nach § 2 Nr. 1 CsgG f Jägerinnen und Jäger, zur Bekämpfung der afrikanischen Schweinepest g Kraftfahrzeuge im Linienverkehr h Quell- und Zielfahrten von Reisebussen. Für Fahrten zu und von bestimmten Einrichtungen können, sofern die Allgemeinen Voraussetzungen vorliegen, Ausnahmegenehmigungen erteilt werden, die zur Wahrnehmung überwiegender und unaufschiebbarer Einzelinteressen erforderlich sind, insbesondere für 1 medizinische Notfälle, 2 notwendige regelmäßige Arztbesuche, z. B. Dialysepatienten u. ä., die nicht auf den ÖPNV ausweichen können, 3 Fahrten von Schichtdienstleistenden, die nicht auf den ÖPNV ausweichen können,

KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Ausnahmekonzeption und Voraussetzungen

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Fahrten zur Aufrechterhaltung von Fertigungs- und Produktionsprozessen, wie z. B. a die Belieferung und Entsorgung von Baustellen, b die Warenanlieferung zu Produktionsbetrieben und Versand von Gütern aus der Produktion, inklusive Werkverkehr, wenn Alternativen nicht zur Verfügung stehen, 5 Schwerbehinderte Menschen, a die gehbehindert sind und dies durch das nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 Schwerbehindertenausweisverordnung im Schwerbehindertenausweis eingetragene Merkzeichen „G“ nachweisen oder Personen, die über einen orangefarbenen Parkausweis für besondere Gruppen schwerbehinderter Menschen nach § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO verfügen und diesen mit sich führen; b mit außergewöhnlicher Gehbehinderung, beidseitiger Amelie oder Phokomelie oder mit vergleichbaren Funktionseinschränkungen sowie blinde Menschen (Inhaber des EU-einheitlichen blauen Parkausweis). c Für die in dieser Ziffer genannten schwerbehinderten Menschen, finden die allgemeinen Voraussetzungen nach „Allgemeine Voraussetzungen“ keine Anwendung. […] Härtefallregelung In besonders begründeten Ausnahmefällen kann von den Regelungen nach „Allgemeine Voraussetzungen“ und „Besondere Voraussetzungen“ zur Vermeidung von privaten oder unternehmerischen Härtefällen abgewichen werden und eine Ausnahmegenehmigung im Einzelfall erteilt werden. Bei unternehmerischen Härtefällen gilt dies insbesondere für Kleinbetriebe. Bei unternehmerischen Härtefällen ist im Regelfall durch eine begründete Stellungnahme eines Steuerberaters, eines Wirtschaftsprüfers oder einer gleichwertig befähigten Person zu belegen, dass die Ersatzbeschaffung eines geeigneten Fahrzeugs zu einer Existenzgefährdung führen würde. Ausnahmen können danach auch für Fahrten von Kundinnen und Kunden zu und von Kfz-Werkstätten erteilt werden, sofern die jeweilige Kfz-Werkstätte durch die Verkehrsverbote nachweislich in ihrer Existenz bedroht ist. Analog können diese Härtefallkriterien in besonderen Einzelfällen auch auf Fahrzeuge eines gemeinnützigen Vereins angewendet werden. Bei privaten Härtefällen wird die wirtschaftliche Zumutbarkeit einer Tabelle 2 Zumutbarkeit einer Ersatzbeschaffung bei privaten Härtefällen Ersatzbeschaffung anhand nachfolgend aufgeführter Beträge beurteilt. Zumutbarkeitsgrenze Monatliches Nettogehalt Die Zumutbarkeitsgrenzen gelten für das Haushaltseinkommen bzw. für 1-Personen-Haushalt 1 415,00 € 2-Personen-Haushalt 1 950,00 € den Fall, dass die anderen Haushaltsmitglieder versorgungsberechtigt 3-Personen-Haushalt 2 275,00 € 4-Personen-Haushalt 2 640,00 € gegenüber dem Antragsteller sind. Maßgeblich ist dabei das gesamte 5-Personen-Haushalt 3 100,00 € Haushaltseinkommen bzw. welchen Haushaltsmitgliedern der Antragsteller gegenüber versorgungspflichtig ist. Unabhängig von der Zumutbarkeitsgrenze kann bei privaten Härtefällen, die persönliche und unaufschiebbare Gründe in geeigneter Weise nachweisen können, eine Ausnahme erteilt werden, wenn 1 die Fahrten nur in einem kurzen Zeitraum oder nur in seltenen Sonderfällen stattfinden wie z. B. Umzug oder Neuwagen-Kaufanbahnung mit Inzahlungnahme (temporärer Fahrtzweck), 2 die wenigen monatlichen Sonderfahrten zur familiären Betreuung von Kindern unter acht Jahren dienen, wobei regelmäßige Fahrten zur Schule, Krippe, Kita, Kindergarten oder zur Freizeitgestaltung ausgeschlossen sind (sog. „Elterntaxis“) (Fahrtzweck Betreuung kleiner Kinder) oder 3 wenn der Fahrtzweck ähnlich bestehenden allgemeinen Ausnahmeregelungen ist, z. B. sollen für Privatfahrten zur Pflege von Familienangehörigen entsprechende Ausnahmen ermöglicht werden, die auch für professionelle Pflegedienste gelten. Ausnahme für Fahrten zu und von P+R-Anlagen Von den Verkehrsverboten, die in dieser 5. Fortschreibung festgelegt wurden, sind Fahrten mit Pkw mit Dieselmotor unterhalb der Abgasnorm Euro 6 mit grüner Plakette von Personen, die Ihren Wohnsitz außerhalb der Gemarkung der Landeshauptstadt Stuttgart haben, auf dem direkten Weg zur und von der nächstgelegenen Park+Ride-Anlage ausgenommen. Der Nachweis der berechtigten An- und Rückfahrt kann unter anderem in Form eines gültigen ÖPNV-Tickets (z. B. Einzel-, Wochen-, Monats- oder Jahresticket) oder eines Parkscheins bzw. Parkquittung erfolgen. Bei der Nutzung gebührenfreier Park+Ride-Anlagen ist kein Nachweis durch Vorlage eines Parkscheins möglich, weshalb im Falle einer Kontrolle die berechtigte An- bzw. Rückfahrt plausibel zu erläutern ist. Sollte die angefahrene Park+Ride-Anlage vollständig belegt sein, kann auf direktem Weg die nächstgelegene Park+Ride-Anlage angefahren werden. Fahrten im und durch den Innenstadtbereich („Kessel“) sind untersagt. Diese Ausnahme vom Verkehrsverbot gilt für folgende Parkplätze bzw. P+R-Anlagen: 1 Zuffenhausen am Bahnhof 2 Zuffenhausen Parkplatz 3 Sommerrain […] Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit Gemäß § 47 Abs. 4 BImSchG sind Maßnahmen entsprechend des Verursacheranteils und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegen alle Emittenten zu richten, die zum Überschreiten der Grenzwerte beitragen. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf eine staatliche Maßnahme auch dann, wenn sie zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet und erforderlich ist, nicht außer Verhältnis zum Zweck bzw. zum Ziel der Maßnahme stehen. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit erfordert eine Abwägung zwischen dem Nutzen der Maßnahme und den durch diese herbeigeführten Belastungen und setzt den Belastungen hierdurch eine Grenze (BVerwG, Urteil vom 27.02.2018, 7 C 30.17 m. w. N.). Der Straßenverkehr ist die wesentliche Quelle für die NO2-Belastung in Stuttgart. Die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) kommt zu dem Ergebnis, dass der Verursacheranteil des Straßenverkehrs für die NO2-Grenzwertüberschreitungen an den verschiedenen Stuttgarter Messpunkten zwi-

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KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Härtefallregelung, Ausnahme für Fahrten von und zu P+R-Anlagen, Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit


schen 63 % und 78 % liegt. Am besonders belasteten Messort „Stuttgart Am Neckartor“ trägt allein der lokale Straßenverkehr im Jahresmittel 35,5 μg / m³ bei. Innerhalb des Straßenverkehrs wiederum emittieren Dieselfahrzeuge besonders stark. Die geltenden Normen gestatten beispielsweise einem Diesel-Pkw der Stufe Euro 5 dreimal so hohe Stickstoffoxidemissionen wie einem Otto-Pkw der gleichen Stufe. Dahingegen sind bei einem Diesel-Pkw der Stufe Euro 6 nur noch 80 mg NOx / km und bei einem Otto-Pkw der gleichen Stufe 60 mg NOx / km zulässig. Vor diesem Hintergrund belastet die geplante Erweiterung der Umweltzone die betroffenen Verkehrsteilnehmer nicht in unangemessener Weise. Wie oben […] dargestellt, setzen die Verkehrsverbote bei den weniger schadstoffarmen Kraftfahrzeugen als Hauptverursacher der NO2-Emissionen im Straßenverkehr an. Da Stickstoffdioxid (NO2) die Gesundheit schädigen kann, erscheint es zum Schutz der menschlichen Gesundheit sachgerecht, den Nutzern von weniger schadstoffarmen Fahrzeugen einen Beitrag zur Minderung dieser Schadstoffbelastungen abzuverlangen (vgl. hierzu OVG Lüneburg, Urteil vom 12. Mai 2011 – 12 LC 139/09). Nach Feststellung des BVerwG dürfen Dieselfahrzeuge, die die Anforderungen der Abgasnormen 5 / V erfüllen, ab dem 01.09.2019 mit Verkehrsverboten belegt werden (BVerwG, Urteil vom 27.02.2018, 7 C 30.17). Darüber hinaus kann durch generelle Ausnahmegenehmigungen sowie durch Ausnahmen im Einzelfall unbilligen Härten wirtschaftlicher oder sonstiger Art in hinreichender Weise begegnet und damit den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit ausreichend Rechnung getragen werden. Ein gleich geeignetes, aber milderes Mittel kann nicht ergriffen werden. Wenn trotz Umsetzung der Maßnahmen M1 bis M5 aus der 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart der Grenzwert nicht eingehalten werden kann, ist zum Schutz der Gesundheit die Maßnahme M1 erforderlich und unter der Gewährung von Ausnahmen auch verhältnismäßig. Mit der Aufnahme dieser Maßnahme erfüllt das Land auch seine Verpflichtung aus dem Urteil des VG Stuttgart vom 26.07.2017 in der Fassung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.02.2018, bereits jetzt in Stuttgart ein zonales Verkehrsverbot für Dieselfahrzeuge mit der ­Abgasnorm Euro 5 / V im Luftreinhalteplan Stuttgart vorzusehen. Prognose / Zusammenfassung Ein Luftreinhalteplan soll in einem Gesamtkonzept aufzeigen und darstellen, auf welche Weise und in welchem Zeitraum die Luftschadstoffgrenzwerte in dem betroffenen Gebiet erreicht und dauerhaft unterschritten werden. Die Immissionsgrenzwerte für Feinstaub PM10 im Tagesmittel und im Jahresmittel werden bereits eingehalten. Gleiches gilt für den Immissionsgrenzwert für Stickstoffdioxid im Stundenmittel. Für das Gebiet der Landeshauptstadt Stuttgart sind die Messstellen Am Neckartor und Hohenheimer Straße die Gradmesser und stellen die am höchsten belasteten Stellen in Stuttgart dar. An zwei weiteren Hauptdurchgangsstraßen in Stuttgart liegen die Messwerte für NO2 im Jahresmittel im Jahr 2019 deutlich über dem Grenzwert. Das liegt an dem hohen Verkehrsaufkommen und der zentralen Funktion dieser Hauptachsen im Straßensystem der Landeshauptstadt Stuttgart (z. B. B14 Cannstatter Straße bis Hauptstätter Straße; B10 Pragstraße bis Zuffenhausen). Nicht überall, aber an einigen neuralgischen Stellen entlang dieser Hauptachsen gibt es schützenswerte Wohnnutzung, die heutzutage in dieser Form nicht mehr erstellt werden würde, aber lange gewachsen ist, bevor sich der Kraftfahrzeugverkehr so entwickelt hat, wie er heute ist. Durch die beengte Talkessellage und die Topographie Stuttgarts ist eine Entkoppelung dieser Situation nur sehr langfristig denkbar. Nach der Prognose für die streckenbezogenen Verkehrsverbote gemäß der Maßnahme M1 der 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgarts liegt die Luftschadstoffbelastung durch Stickstoffdioxid (NO2) an einigen Neben- und Erschließungsstraßen im Straßennetz Stuttgarts knapp über dem zulässigen Grenzwert im Jahresmittel. Das betrifft im Jahr 2020 nach der Prognose nur noch Teile der Charlottenstraße, die Bludenzer Straße in Feuerbach, in Zuffenhausen einen kleinen Teil der Schozacher Straße und in Bad Cannstatt ein Teil der Brückenstraße. Im Übrigen herrscht in den Wohngebieten Stuttgarts eine akzeptable bzw. gute Luftsituation. Der städtische Hintergrund liegt auch bei NO2 (mit 25 μg / m³ im Jahresmittel) weit unterhalb der Grenzwerte. Betrachtet man die Maßnahme M1 dieser Fortschreibung in Verbindung mit den Maßnahmen der 4. Fortschreibung, liegen im gesamten Stadtgebiet Stuttgart nur noch vereinzelt Streckenzüge über dem Grenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) im Jahresmittel. Eine hohe Anzahl von Hardwarenachrüstungen, die eine deutliche Verbesserung der Emissionssituation bewirken werden, wirkt sich zusätzlich positiv auf die Messwerte aus. Hierfür sind sämtliche Förderungen auf Bundes- und Landesebene wie auf Herstellerseite positiv zu begleiten und zu forcieren. Das Land Baden-Württemberg geht davon aus, dass mit der Maßnahme M1 dieser 5. Fortschreibung und den Maßnahmen M2 bis M5 der 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart die baldige Einhaltung des Grenzwertes für Stickstoffdioxid (NO2) im Jahr 2020 absehbar ist. […]

KAPITEL DREI Luftreinhalteplan für den Regierungsbezirk Stuttgart Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit, Prognose / Zusammenfassung

99


KAPITEL 4


Maßnahmen zur ­Verbesserung der ­Verkehrssituation


Maßnahmen in Kopenhagen zur ­Verbesserung der ­Verkehrssituation „The Good City“ – Visionen für eine Stadt in Bewegung aus: Die zukunftsweisende Ausstellung „The Good City“ will zu Debatten, neuen Visionen und konkre- Auszüge Bicycle Innovation Lab Kopenhagen, „The Good City“ –  Visionen für eine Stadt in Bewegung, URL: https://t1p.de/nxsm ten Handlungen inspirieren. Aus diesem Grund haben sich eine Reihe prominenter dänischer und (zuletzt abgerufen am 02.06.2020). internationaler Architekten, Städteplaner, Wissenschaftler, Organisationen, Berater und Kritiker © Bicycle Innovation Lab Kopenhagen zusammengefunden, um darüber zu diskutieren, wie das Ziel, den Anteil von Radfahrern in Kopenhagen auf 50 % zu steigern, erreicht werden soll, und gleichzeitig Die Gute Stadt entstehen soll, in der alle gerne leben. Die Ausstellung beschäftigt sich mit den Herausforderungen an eine Stadt, sie hebt das besondere Potential des Fahrrads hervor und zeigt auf, warum es wichtig ist, die Fahrradkultur in der Stadt weiterzuentwickeln. Nicht nur in Kopenhagen, sondern auch in anderen Städten auf der ganzen Welt. […] Als Kopenhagen in den späten 1980er Jahren mehr oder weniger bankrott ist, beschließt der Staat die Stadt zu einem wirtschaftlichen Wachstumszentrum zu machen. Dies ist der entscheidende Moment für die Entwicklung Kopenhagens, dessen wirtschaftliches Wiederbeleben zu seiner Zeit eine große Herausforderung darstellte. Während die bestehenden Immobilien der Stadt eher dem Standard der unteren sozialen Schichten genügen, sollen wohlhabende Bürger angelockt werden. Dies bedeutet, dass den weiterhin skeptischen Investoren zu Beginn weitgehend freie Hand gelassen wird. […] Während das Auto auch weiterhin hoch im Kurs steht und für viele seine Nutzung eine Notwendigkeit darstellt, wird das Fahrrad immer beliebter. Es ist sicherer geworden, Rad zu fahren – durch mehr Regeln für Autofahrer und bessere Fahrrad-Infrastruktur. Hohe Steuern und Abgaben auf Autos machen Fahrräder zu einer echten Alternative zum Zweitauto „Kopenhagen versucht aktiv, die weltbeste Fahrradstadt und viele Kinder wachsen damit auf, in die Schule und zu Freizeitaktivitäzu werden. Die Vision der Gemeinde Kopenhagen ist es, das ten zu radeln. Nach den Demonstrationen in den 1980er Jahren und dem über die Hälfte der Verkehrsteilnehmer Radfahrer sind.“ darauffolgenden politischen Fokus auf das Radfahren in Kopenhagen, ist es schnell und einfach geworden, die meisten Orte mit dem Fahrrad zu erreichen. Obwohl Radfahren in den 1990er Jahren für viele zur Norm geworden ist, bekommt es weiterhin wenig Aufmerksamkeit. Erst zum Jahrtausendwechsel zeigt die Gemeinde Kopenhagens ernsthaftes Interesse für das Radfahren. Zum einen, weil die Probleme, die der starke Autoverkehr verursacht, weiterhin nicht gelöst sind – verstopfte Straßen und Verschmutzungen nehmen zu. Zum anderen wächst das Bewusstsein, wie einmalig es ist, eine Hauptstadt der Radfahrer zu sein, in einer Welt, in der alle Hauptstädte unter noch dichterem Autoverkehr leiden. Die Kampagne, „I bike CPH“ zielt einerseits darauf ab, die Fahrrad-Verhältnisse zu verbessern, andererseits die Marke Kopenhagen bekannter zu machen. Die Kampagne erhält viel Aufmerksamkeit und Unterstützung aus der Politik. Das bedeutet, dass Parkplatzgebühren steigen und mehr Fahrradprojekte unterstützt und initiiert werden. […] The Good City Wenn wir in der Stadt der Zukunft leben und arbeiten möchten, muss sie ein guter Ort 1 UNFPA: State of the world population 2007 zum Leben sein. Heute lebt über die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Die Zahl der Einwohner in den Städten wird weiter steigen und im Jahr 2030 werden noch 5 Milliarden Menschen Heute müssen sich die meisten Städte mit Problemen wie Verkehrsstaus, Lärm, Luftverschmutzung und niedriger mehr in den Städten leben1. Dies ist der mit Abstand größte Zugänglichkeit auseinandersetzen. In der Zukunft werden sich diese Probleme signifikant verschlimmern, da die städtische Bevölkerung wächst. Deswegen ist es an der Zeit, sich ernsthafte Alternativen zu überlegen, wenn wir Bevölkerungszuwachs, den Städte je bewältigten mussten. eine Zukunft mit einfachem und flexiblem Transport durch die Stadt anstreben. Es ist deswegen entscheidend, dass wir zu diskutieren beginnen, was die Gute Stadt ist und was sie leisten muss. Wenn wir die Stadt von morgen bauen wollen, brauchen wir ein Ziel. Die Gute Stadt. Wir müssen uns alle effektiv und bequem in der Stadt fortbewegen können. Mit dem Zuwachs der Bevölkerung und der Arbeitsplätze in der Stadt haben auch die Fahrten durch sie zugenommen. Dies erhöht den Druck auf die derzeitigen Transportlösungen. Sowohl die Kapazitäten der existierenden Infrastruktur als auch des vorhandenen Raumes in der Stadt stehen unter Druck. Verkehrsstaus, Lärm und Verschmutzung verursachen große Probleme. Die Art unseres Transports hat große Auswirkungen auf die allgemeine Qualität der Stadt und speziell die Lebensqualität. Wir brauchen neue Visionen und Ideen für die Zugänglichkeit unserer Städte für die Zukunft. Nichts ist heilig. Mit der Wanderausstellung „The Good City“ möchte das Bicycle Innovation Lab einen öffentlichen Raum für Diskussionen und neue Denkansätze über die Infrastruktur der Stadt von morgen anbieten und erforschen welche Möglichkeiten in ihr stecken. Das Fahrrad ist in vielerlei Hinsicht ein unterschätztes und wenig erforschtes Transportmittel, welches sowohl der Stadt als auch dem Transport in der Stadt eine Reihe positiver Aspekte bringen könnte. Wenn es denn nur

102

KAPITEL VIER Maßnahmen in Kopenhagen zur ­Verbesserung der ­Verkehrssituation „The Good City“ – Visionen für eine Stadt in Bewegung


mit mehr Priorität behandelt werden würde und wir die richtigen Rahmenbedingungen schaffen könnten. Aber bis heute gibt es noch keine Stadt, in der das Fahrrad die Möglichkeit bekommen hat, sein ganzes Potential unbegrenzt zu entfalten. Wir werden uns aber noch mit einer Stadt beschäftigen, in der sich das volle Potenzial 2 Monocle. 2008, 2010 des Rads zu seinen ganz eigenen Bedingungen voll entfalten konnte. Deswegen baten wir ver3 Treehugger. 2009 4 Fietsersbond (dutch cyclist federation). 2009 schiedene Organisationen, Architekten, Verkehrsplaner, Berater, Wissenschaftler und VertreterIn5 Statistics Denmark: “Hver tredje Københavnske husstand har bil.” URL: www.dst.dk/en nen der Zivilgesellschaft ihre Vorstellungen von der Fahrradstadt der Zukunft mit uns zu teilen. Wie Das Fahrrad ist günstig und flexibel. Seine Nutzung ist gesund sowohl für die Menschen als auch für die Umwelt. sieht das Leben, das wir dort führen, aus und wie bekommen Und es braucht wenig Platz. Meistens ist das Rad auch das flexibelste und effektivste Transportmittel durch den Verkehr einer Stadt und es lässt sich mit anderen Transportmitteln kombinieren. Darüber hinaus stellt das Rad bei wir mehr Menschen dazu, das Rad zu benutzen? KopenhaUnfällen keine große Gefahr für die Gesundheitsrisiko anderer Verkehrsteilnehmer dar. Dies sind alles Qualitäten, mit denen nur wenige Verkehrsmittel konkurrieren können. Es gen ist ein fortlaufender Referenzpunkt dieser Ausstellung, wäre eine riesen Verschwendung von Möglichkeiten, wenn wir es nicht schafften, den ganzen Umfang des Potenzials des Rads für die Stadt zu erforschen. Eine Stadt, in der das Rad das Haupttransportmittel ist, gibt es noch weil sein Name immer fällt, wenn es um die besten Städte nicht. Deswegen kennen wir das volle Potential des Rads als städtisches Transportmittel noch nicht. Da urbaner Raum mit auf Auto basierenden Vorstellungen von Verkehr im Hinterkopf gestaltet wurde, haben die meisten zum Leben2 und zum Rad fahren geht.3,4 Täglich fahren 35 % Städte Fußgängern, Radfahrern und öffentlichen Verkehrsmitteln wenig Platz zur eigenen Entwicklung gelassen. Da Kopenhagen bereits eine blühende Fahrradkultur hat, besitzt die Stadt großes Potenzial, um zu dem Ort zu der Kopenhagener mit dem Rad zur Arbeit oder Schule. Nur werden, an dem Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel sich unabhängig weiter entwickeln können. jeder dritte Haushalt besitzt ein Auto5. Aber Kopenhagen ist auch die einzige Stadt der westlichen Welt, in der die Anzahl der Fahrten mit dem Rad schrumpft. Die Nutzung des Rads stagniert. Deswegen ist es Zeit, nach neuen Visionen und konkreten Handlungen zu suchen, die uns wieder nach vorne bringen. In den letzten Jahren war die Fahrradkultur Kopenhagens ein bekanntes Markenzeichen und ein gutes Produkt für den Export. Solange weltweit Städte weiterhin von Kopenhagen lernen und sich inspirieren lassen wollen, sind die Visionen Kopenhagens auch die der Städte der Welt. Mit dieser Ausstellung geben wir allen die Möglichkeit, über die Gute Stadt zu diskutieren und ein Modell für diese zu wählen. Prioritäten und Flexibilität Effektiver Transport durch die Städte unserer Zukunft bedingt, dass wir uns wie Mobilisten verhalten. Und dass wir in Städten leben, die die Transportmöglichkeiten anbieten, die wir als Mobilisten brauchen. Innerhalb der Stadt bieten Fahrräder genügend Flexibilität und IntermodaliEin Mobilist ist eine Kategorie, die erfunden wurde, um eine bis dahin nicht erfasste Gruppe von dänischen Vertät, um Erfolg zu haben. Das Rad bietet individuelle Freiheit kehrsteilnehmern zu beschreiben. Ein Mobilist ist eine Person, die in ihren täglichen Aktivitäten innerhalb der Stadt zwischen den verschiedenen zugänglichen Transportmöglichkeiten wählt – Gehen, Radfahren, U-Bahn oder und in Kombination mit anderen Transportmethoden erlaubt Zug, Carpools, Car-Sharing und sogar das eigene Auto, je nach den speziellen Bedürfnissen des Transports. Mobilisten sind Verkehrsteilnehmer, die sowohl ihr Transportmittel als auch die Aktivitäten und Möglichkeiten, die sich es uns zudem, den meisten Begrenzungen des Transports während einer Fahrt von A nach B ergeben könnten, selber aussuchen wollen. Mobilisten suchen ihre Transportmöglichkeiten nach der Länge der Fahrt, der Effizienz der Transportmethode sowie ihren persönlichen Bedürfniszu entgehen. Urbane Mobilisten wechseln zwischen allen sen aus. Ein Bedürfnis könnte sein, dass die Transportmethode es einem ermöglicht, sich auszuruhen, zu arbeiten oder zu lernen. Formen des Transports, abhängig von ihren speziellen Wünschen und den von ihnen gewählten Fortbewegungsmitteln. 6 Kjærulff & Drewes: “Fremtidens transportadfærd” Manchmal ist das Fahrrad das effektivste Transportmittel; andere Male ist es die U-Bahn, die Tram, Trafik og Veje, Aug 2011 das Auto oder ganz einfach das (Zu-Fuss-)Gehen. Die Grundlage für den urbanen Mobilisten in der Stadt ist der einfache und attraktive Wechsel zwischen verschiedenen Transportmitteln. Es sollte immer möglich sein, eine Transportmöglichkeit oder eine Kombination zu wählen, die dem Mobilisten eine direkte, schnelle und unkomplizierte Route von A nach B ermöglicht, ohne gleichzeitigen Qualitätsverlust für den urbanen Raum und das Stadtleben. Erreichbarkeit7 ist ein Schlüsselbegriff in der Guten Stadt. […] Sich auf den Straßen der 7 Teknologirådet: “Veje til bæredygtig transport”. Stadt zu bewegen und Rad zu fahren ist es attraktiv, einfach und sicher. Ebenso attraktiv, effizient Teknologirådets Nyhedsbrev nr. 276, Feb 2011, S. 3. und flexibel können öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden. Das Auto wird flexibel eingesetzt und der Mobilist kauft sich Zugang zu ihm. Für den Mobilisten ist es nicht „Erreichbarkeit bedeutet, die Stadt so zu gestalten, dass notwendig, ein Auto zu besitzen. Die Möglichkeiten, die ihm ein Auto bieMenschen auf kostengünstige, bequeme, raumsparende und tet, eröffnet sich der Mobilist durch flexibles Car-Sharing, Car-Pooling, einfache Art von einem Ort zum nächsten kommen können.“ Autovermietungen, etc. So hat der Mobilist immer das richtige Transportmittel zur Hand. Besitzt der Mobilist ein Auto, verwendet er es nur, wenn es die beste Lösung für das konkrete Transport-Bedürfnis ist. Am Morgen fährt der Mobilist mit dem Rad zur Arbeit. Am Abend nimmt der Mobilist sein Rad in der U-Bahn mit, um Freunde außerhalb der Stadt zu treffen und radelt den letzten halben Kilometer zu ihnen. Der Mobilist könnte auch das Rad zum Car-Share nehmen, wo er heute vielleicht einen Transporter nimmt, nicht nur um das Fahrrad unterzubringen, sondern auch noch das Sofa, das auf dem Weg nach Hause mitgenommen wird. In der guten Stadt geht es vor allem darum, für das Geld, das wir in die Transportmöglichkeiten der Stadt investiert haben, das beste Angebot zu bekommen. Wir machen das, ­indem wir Geld in die effektivsten Transportangebote und in die Transportformen, die die größte Anzahl an Menschen zu den niedrigsten Kosten befördern können, investieren. In der Guten Stadt werden Städte danach geplant, eine gute und zugängliche Stadt für jedermann zu sichern. […] 6

KAPITEL VIER Maßnahmen in Kopenhagen „The Good City“ – Visionen für eine Stadt in Bewegung

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Wenn Kopenhagener gefragt werden, warum sie das Rad nutzen, antworten 51 %, dass es die schnellste Transportmöglichkeit darstellt. Die zweithäufigste Antwort ist Bequemlichkeit, gefolgt von Gesundheit und als Letztes antworten die Kopenhagener, dass das Fahrrad günstig sei8. KoVirtuelle Fahrzeit

8

The Technical And Environmental Administration Of ­Copenhagen: Cycle Statistics p. 18 – 19.

Eigentliche Fahrzeit ÖPNV

Kauf

Gehen | Fahrtzeit | Verspätungen | Gehen

PKW Betrieb | Instandhaltung | Versicherung | Kauf

Gehen | Fahrtzeit | Verspätungen | Parken | Gehen

Fahrrad Instandhaltung | Versicherung | Kauf

Es gibt verschiedene Arten, die Fahrtzeit zu berechnen. Neben der Zeit, die es braucht, jemanden unter idealen Bedingungen von A nach B zu bringen, müssen auch Risiken für Verspätungen, Zeit bei der Parkplatzsuche, etc. einkalkuliert werden. Dies ist die richtige / reale Fahrtzeit. Man könnte noch die Zeit einbeziehen, die es braucht, das Geld für ein Fahrzeug zu verdienen, etc. Das ist die virtuelle Fahrtzeit. Und dies macht das Radfahren und Laufen zu schnellen Methoden der Fortbewegung.

Gehen | Fahrtzeit | Gehen

zu Fuß Fahrtzeit

penhagener wählen das Rad also meist aus sehr praktischen und persönlichen Gründen. Ihre Entscheidungen basieren nur zu einem geringen Anteil auf Rücksicht gegenüber der Umwelt und anderen oder der Reduktion von Verkehrsstaus, Luftverschmutzung, Straßenlärm, etc. Die Art und Weise, in der die Kopenhagener die Vorteile des Radfahrens priorisieren, sagt uns, dass wir mehr Platz fürs Radfahren in der Stadt erschaffen müssen, wenn wir mehr Menschen aufs Rad bringen möchten. Die Strecken müssen schnell mit dem Rad zu befahren sein und es muss bequem sein, dies zu tun. Alle anderen Vorteile werden Realität, sobald wir in die Pedale treten. Es wird immer gesünder sein, Rad zu fahren. Und auch günstiger als beinahe jede andere Alternative. Die Vorteile des Radfahrens können grob in zwei Kategorien eingeteilt werden: die unmittelbaren Vorteile, die wir direkt selbst erfahren und die vielen abgeleiteten Vorteile, die das Radfahren bietet. Platz für mehr An jedem Kilometer, der in Kopenhagen mit dem Rad gefahren wird, verdient die Gesellschaft 1,22 DKK (€ 0,16). In die Kalkulation werden eine Reihe Faktoren wie Gesundheit, Fahrtzeit, Fahrtkosten, Komfort, Sicherheit sowie Markenentwicklung / Branding und Tourismus einbezogen. Im Vergleich und unter Verwendung der gleichen Parameter verliert die Gesellschaft einen Nettobetrag von 0,69 DKK (€ 0,09) für jeden Kilometer, der mit dem Auto gefahren wird.9 Die Transportmethoden, die wir in der Stadt wählen, haben nicht nur Konsequenzen für uns, sondern auch für alle, mit denen wir gemeinsam in der Stadt und Gemeinde leben. Ebenso hat das, was wir mit dem urbanen Raum machen, Konsequenzen für alle. Das grundlegende Prinzip für Städte ist, dass wir den Raum teilen müssen und dass wir alle davon beeinflusst werden, wie die Nutzung des Raums priorisiert wird. Wenn wir alle einen gleich großen Anteil der Stadtfläche besäßen, hätten wir nicht viel Platz, um uns selbst auszudrücken. Wir brauchen alle Platz für urbanes Leben, Erholung, Feiern und Bewegungsfreiheit durch die Stadt. Wir brauchen auch Platz, um die Herausforderungen zu bewältigen, die uns alle angehen. Es ergibt daher Sinn, zu fragen, wofür die Räume zwischen den Gebäuden der Stadt eigentlich genutzt werden sollen. Im Jahr 2008 beschloss die Stadt Kopenhagen eine neue Methode zur ökonomischem Analyse von Bauprojekten für die Rad-Infrastruktur zu entwickeln. Die Methode erstellt eine Kosten-Nutzen-Kalkulation für jeden Kilometer, der mit Rad gefahren wurde. Die Resultate zeigen, dass noch viele weitere positive Effekte durch eine dichtere und sicherere Fahrrad-Infrastruktur erreicht werden können. Diese Vorteile kommen vor allem über einen niedrigeren Krankenstand, reduzierte Gesundheitskosten und weniger Unfällen. Kopenhagen kann auch sehr von diesen Investments profitieren; beispielsweise durch kürzere Fahrzeiten und mehr Fahrradfahrer auf den Straßen. Der Return of Investment bei bestimmten Projekten (wie der Brygge-Broen) ist auf 12,6 % gestiegen, was signifikant über dem durch den Staat vorgegebenen Minimum von 5 % für Infrastrukturprojekten liegt.10 Alle Städte müssen sich den Herausforderungen von Verkehrsstaus und Luftverschmutzung mit ihren wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen stellen. Viele Städte kämpfen auch mit den globalen und regionalen Auswirkungen, die durch den Klimawandel entstanden sind. Für alle diese Fälle gilt, dass von den Kilometern, die wir mit dem Fahrrad in der Stadt zurücklegen, alle profitieren. Die Vorteile liegen nicht nur in der generellen Verbesserung der Gesundheit, sondern auch im Potenzial des Fahrrads, unsere Abhängigkeit von motorisierten Fahrzeugen zu reduzieren und die Möglichkeit, uns so auch von großen betonierten / asphaltierten Flächen innerhalb der Stadt zu befreien. Eine „weichere“ Stadt bietet einerseits mehr Möglichkeiten für Lösungsvorschläge auf die Herausforderungen des Klimawandels und andererseits entsteht mehr Wohnraum innerhalb der Stadt. Deswegen ist die Auseinandersetzung um Platz in der Stadt das zentrale Thema. In Kopenhagen glauben 68 % der Bewohner, dass die Fahrrad-Kultur das Stadtleben und die urbane Atmosphäre positiv oder sehr positiv beeinflussen. Deshalb hat es viele Vorteile, in gute Bedingungen für Radfahrer zu investieren. […]

104

9

The Technical And Environmental Administration Of ­Copenhagen: Cycle Statistics 2010.

10

The Technical And Environmental Administration Of ­Copenhagen: Cycle Statistics p. 18 – 19.

KAPITEL VIER Maßnahmen in Kopenhagen „The Good City“ – Visionen für eine Stadt in Bewegung


Kopenhagen: eine Hauptstadt des Radverkehrs Kopenhagen ist weltweit als Fahrradstadt bekannt. Zugleich profiliert sich die dänische Hauptstadt als ein weltweites Beispiel einer Metropole auf dem Weg zur CO2-Neutralität. Der Besucher merkt schnell, wie das Fahrrad den Alltag in der dänischen Hauptstadt prägt: große Mengen abgestellter Räder an allen Ecken, Transport von Gütern, aber auch Kindern in modernen Lastenrädern und regelrechte Fahrradstaus an den Kreuzungen der Stadt zur Rush Hour. Designer für Fahrradmode, Fotoausstellungen und Blogs zum Lebensgefühl Radfahren finden in Kopenhagen großen Anklang. Die städtische Radverkehrsförderung greift diese Philosophie des Radfahrens als Lebensgefühl auf und arbeitet eng mit der lokalen Kreativszene zusammen. Zugleich aber wird eine umfassende, wissenschaftlich gestützte Radverkehrsplanung betrieben. Grundlage der Radverkehrsplanung ist die städtische In den internationalen Fahrradhauptstädten kommt ein breites Spektrum an politischen Strategien und planeriRadverkehrsstrategie. 2011 wurde eine aktuelle Fortschreibung verabschen Ansätzen zur Anwendung. Es lassen sich aber einige zentrale Charakteristika herausstellen, die in vielen dieser Städte zum Erfolg geführt haben. So wird z. B. Radverkehrsplanung als Teil einer integrierten Verkehrsschiedet, die bis 2025 Gültigkeit haben wird. Sie entwickelt die reisezeitund Stadtplanung definiert. Dies erfordert aber zugleich konsequente Maßnahmen zur Reduktion des Pkw-Verkehrs, wie zum Beispiel eine Umverteilung des Straßenraums zugunsten des Radverkehrs, Tempolimits oder die orientierte Strategie „Schnell von A nach B“ für den Radverkehr weiter. Erhöhung von Parkgebühren. Ein solcher Umgang mit dem Themenfeld Radverkehr setzt die entsprechenden organisaSelbsterklärtes Ziel ist darin, die beste Fahrradstadt der Welt zu werden. torischen Strukturen und eine intensive Zusammenarbeit der verschiedenen Ressorts voraus. Eine städtische Radverkehrsstrategie bietet hier die Möglichkeit, verschiedene Akteure und Aktivitäten zusammenzubringen. DarüDer Fahrradanteil auf den Wegen zur Arbeit und Ausbildung soll von heuber hinaus gibt sie die Gelegenheit, das Thema Radverkehr in Bezug zu anderen strategisch wichtigen Zielen zu setzen, wie etwa dem Klimaschutz. te 35 % auf 50 % gesteigert werden. Darüber hinaus enthält der Plan weitere qualitative Vorgaben: Gegenüber 2010 sollen die Reisezeiten um 15 % reduziert werden, der Anteil jener Radfahrer, die sich im Straßenverkehr sicher fühlen, soll von 67 % auf 90 % gesteigert werden. Die Zahl schwerer Unfälle soll 2025 um 70 % niedriger sein, als 2005. Auch im infrastrukturellen Bereich bietet Kopenhagen fortschrittliche Planungsansätze. Weltweite Anerkennung haben die Radwege im „Kopenhagener Stil“ erhalten. Sie sind 2 bis 2,5 Meter breit und zeichnen sich, zumeist zwischen Parkstreifen und Gehsteig geführt, durch eine konsequente Separierung vom motorisierten Straßenverkehr aus. Mit der Norrebrogade und der Osterbrogade wurden bzw. werden zwei der wichtigsten Ausfallstraßen fahrradfreundlich umgestaltet. Auf der Norrebrogade wurde zum Beispiel nicht nur der Straßenraum zugunsten des Radverkehrs neu aufgeteilt, es wurde darüber hinaus die Ampelschaltungen zu einer „Grünen Welle“ für den Radverkehr angepasst. Kopenhagen ist dicht mit eigenständigen Nachbarkommunen verzahnt, was Kooperation bei der Radverkehrsnetzplanung erfordert. So arbeiten über 20 Kommunen für ein gemeinsames Netz von Radschnellverbindungen zusammen, das zu einem „Premiumprodukt öffentlicher Mobilität“ entwickelt werden soll. Das Logo soll in einer Reihe mit dem S-Bahn- und U-Bahn-Logo wahrgenommen werden. Innerhalb der dicht bebauten Stadt Kopenhagen verbindet es als PLUSnet(z) für den Radverkehr (plus für besonders komfortables Radfahren) die Stadtteile. Besonderheit sind die direkten Anbindungen neuer Stadterweiterungen mit Brücken über breite Wasserläufe. Die angesprochene Lifestyle-Komponente wird in vielfältigen nicht-investiven Maßnahmen aufgegriffen. Ein Schwerpunkt lag in den letzten Jahren auf der 2008 gestarteten Initiative „I bike CPH.“ Mit ihr werden alle Aktivitäten der städtischen Radverkehrsförderung unter einem Namen gebündelt: die Außendarstellung infrastruktureller Projekte, Marketing-Kampagnen, Merchandise-Artikel, Veranstaltungen sowie ein Internetportal mit einem Onlineforum für Kopenhagener Radfahrer. Auszug aus: Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) gGmbH, Forschung Radverkehr – Organisation O-3/2012, S. 2 – 4, URL: https://t1p.de/uvnv (zuletzt abgerufen am 18.06.2020). © Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) gGmbH

Ökonomische Effekte des Radverkehrs Auszug aus: Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) gGmbH, Forschung Radverkehr – Analysen A-3/2011, S. 1 – 4, URL: https://t1p.de/m8lp (zuletzt abgerufen am 18.06.2020). © Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) gGmbH

Radverkehr wird zunehmend als eine wachsende, Erfolg versprechende Branche wahrgenommen. Fahrradtouristische Angebote machen inzwischen einen nennenswerten Anteil am Tourismus in Deutschland aus. Hochwertige Produkte der Fahrradhersteller finden guten Absatz. Wichtigster ökonomischer Aspekt ist jedoch die Substituierung von Kfz-Verkehr mit dessen entsprechenden Kosten. Das gilt für eine dauerhaft b ­ ezahlbare Mobilität der privaten Haushalte, denn viele Menschen macht die Aussicht auf mittelfristig stark steigende Energiekosten nachdenklich. Auch viele Kommunen haben erkannt, dass sich Investitionen in den Radverkehr lohnen. Trotzdem ist es vor dem Hintergrund knapper Kassen schwierig, die ökonomische Effizienz des Radverkehrs zu begründen und gegenüber den Vorteilen des Pkw-Verkehrs hervorzuheben. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es eine Reihe versteckter und nicht immer leicht quantifizierbarer Kostenfaktoren sind, welche durch die unterschiedlichen Verkehrsmittel hervorgerufen werden. Oft lässt sich eine verkehrssparsame Mobilität in ihrer Wirkung nicht sofort einer Ersparnis der Kommune zurechnen. Fahrradmobilität ist viel mehr als nur Mobilität und Verkehr. Wesentliche Kosten des Verkehrs, die durch mehr Radverkehr reduziert werden können, sind: – Flächeninanspruchnahme und Trennwirkung: Die durch den Verkehr beanspruchten Flächen stehen nicht für andere Nutzungen zur Verfügung. Hoch belastete Verkehrswege stellen Barrieren dar und schränken tendenziell die Nutzbarkeit der Stadt ein, denn das Queren von vielbefahrenen Straßen kostet Zeit. Schwache Verkehrsteilnehmer werden in ihrer Mobilität eingeschränkt. Dabei benötigen Radfahrer und Fußgänger verglichen mit dem Pkw-Verkehr nur einen Bruchteil des begrenzten Straßenraums. – Lärmbelastung: Lärm ist nicht nur störend und mindert in vielen Situationen die Leistungsfähigkeit, er kann sogar Gesundheitsschäden verursachen. Darüber hinaus beeinträchtigt Lärm die Le-

KAPITEL VIER Maßnahmen in Kopenhagen Kopenhagen: eine Hauptstadt des Radverkehrs

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Gesundheitsfokus

Gesundheit und Verkehr

– Großer Gesundheits-Benefit

– Großer Gesundheits-Benefit

– Geringer Benefit hinsichtlich Stauver-

– Großer Benefit hinsichtlich Stauver-

meidung

meidung

– Geringer Umwelt-Benefit

– Großer Umwelt-Benefit

Geringe Auswirkungen

Verkehrsfokus

– Geringer Gesundheits-Benefit

– Geringer Gesundheits-Benefit

– Geringer Benefit hinsichtlich Stauver-

– Großer Benefit hinsichtlich Stauver-

meidung niedrig

Alter der Radfahrer (unter 45, über 45)

hoch

bensqualität in städtischen Gebieten drastisch, was u. a. zu einem Wertverlust der dortigen Immobilien führen kann. – Luftverschmutzung: Insbesondere durch den motorisierten Straßenverkehr wird die Luftqualität in den verkehrsreichen Gegenden stark beeinträchtigt. Dies führt u. a. zu Krankheiten und zu Beeinträchtigungen der Lebensqualität insgesamt. – Unfallschäden: Neben dem durch Verkehrsunfälle erzeugten menschlichen Leid entstehen erhebliche Kosten aufgrund von Einkommensausfällen und im Rahmen der Wiedereingliederung der Verletzten in den Arbeitsprozess. Angst vor Unfällen schränkt die Lebensqualität ein, Bewegungsmöglichkeiten von Kindern werden wegen der Gefahren des Verkehrs eingeschränkt. […] In Kanada hat Todd Litman vom Victoria Transport Policy Institute seit langem umfassende Kosten-NutzenAnalysen für den Verkehrsbereich und somit auch für den Radverkehr entwickelt. Vorliegende Forschung wird systematisch aufgearbeitet, um Kennzahlen zur Effizienz einzelner Maßnahmen zu bestimmen und Mobilitätsstrategien in ihrer Wirkung auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche zu untersuchen. Dies betrachtet sowohl Nutzen und Kosten, die für die jeweiligen Verkehrsteilnehmer selbst entstehen, als auch die externen Nutzen und Kosten für andere Menschen (z. B. Anwohner entlang der Verkehrsachsen), bzw. für die Allgemeinheit. Dienen die Verlagerungen des Automobilverkehrs als Ausgangspunkt für eine Kosten-Nutzen-Analyse, können die ökonomischen Potenziale aufgezeigt werden. Mehr Fahrradnutzung führt tendenziell dazu, dass die Alltagswege im Nahbereich der Wohnung mit insgesamt kürzeren Strecken ­zurückgelegt werden. Die kanadischen Studien zeigen, welche positiven Effekte durch eine Erhöhung des Radverkehrsanteils und die Anwendung der dazu geeigneten Maßnahmen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen erzielt werden können. Dabei wird zwischen Hauptverkehrszeiten und den übrigen Tageszeiten sowie zwischen großstädtischem und ländlichem Verkehr unterschieden. Auf dieser Datengrundlage hat Litman kalkuliert, von welcher Höhe an die Investitionsmittel durch den zu erwartenden Nutzen einer Maßnahme gerechtfertigt sind. Basis der Kalkulation der jährlichen Einspareffekte ist eine Verlagerung von einem Prozent der Automobilwege. Insgesamt werden für jede Fahrt, die zu Stoßzeiten im städtischen Verkehr vom Automobil auf das Fahrrad verlagert wird, Einsparungen in Höhe von 5,60 $ berechnet. Bei Wegen außerhalb der Stoßzeiten sind es 2,86 $, in ländlichen Gebieten 1,52 $.

– Geringer Umwelt-Benefit

Das britische SQW-Institut hat im Auftrag der Initiative Cycling England internationale Forschungsergebnisse zusammengetragen und als Sekundäranalyse die jährlichen positiven ökonomischen Effekte kalkuliert, die ein Radfahrer gegenüber einem Autofahrer erzielt. Insbesondere in den drei Bereichen öffentliche ­Gesundheit, der Klimaund Umweltverschmutzung und Stau werden Kosten-Nutzen-Analysen präsentiert, welche für eine Verlagerung zugunsten des nicht-motorisierten Verkehrs sprechen. Je nach Kontextbedingungen kann ein erhöhter Radverkehrsanteil positive Effekte in verschiedenen Bereichen haben. So ist es z. B. für die Gesundheitseffekte entscheidend, in welchen Altersgruppen der Radverkehr Zuwächse verzeichnen kann. Darüber hinaus ist ausschlaggebend, in welchem Umfang tatsächlich Autofahrten durch Radverkehr ersetzt werden. In der SQW-Studie wird gezeigt, dass eine starke Verlagerungen ­positive Effekte beim Stau, bei den Umwelt- und Klimaschutzeffekten hat. […]

meidung – Großer Umwelt-Benefit

niedrig

hoch

Anteil der Fahrradfahrten, die Autofahrten ersetzen

Mediziner empfehlen je 30 Minuten Bewegung an fünf Tagen der Woche. Am besten integriert man körperliche Bewegung in die alltäglichen Wege, z. B. indem Autofahrten durch Fahrradnutzung ersetzt werden. Bewegungsmangel führt demnach zu höheren Kosten im Gesundheitswesen. Oftmals wird ein erhöhtes Unfallrisiko als negative Konsequenz eines gesteigerten Radverkehrsanteils angeführt. Wenn man die Unfallrisiken in einem breiteren Kontext der Gesundheitseffekte betrachtet, lässt sich argumentieren, dass diese durch die positiven Effekte des Radfahrens auf die Fitness und die damit verbundene Reduzierung von Erkrankungen mehr als aufgewogen werden. So argumentiert die SQW-Studie, dass die positiven Effekte, welche durch die „normale“ Fahrradnutzung entstehen, gegenüber den durch Fahrradunfälle verlorenen Lebensjahren stark überwiegen. Die lokale Zurechenbarkeit der gesundheitlichen Prävention ist angesichts der nationalen Struktur der Krankenkassen meist nicht möglich. Aber aus Sicht von Unternehmen kann die Radverkehrsförderung für die Arbeitswege direkte Kostenersparnisse ermöglichen. Radfahrer haben bis zu 50 % weniger krankheitsbedingte Fehlzeiten. Sie kommen fit am Arbeitsplatz an. […] Die Erfolge bei der globalen CO2-Reduzierung werden bislang durch das Verkehrswachstum wieder zunichte gemacht. Indem Autofahrten durch Fahrradnutzung ersetzt werden, kann der Radverkehr dazu beitragen, positive Effekte im Bereich Klimaschutz zu erzielen. Wenn nach SQW eine Person im städtischen Verkehr das Fahrrad jährlich bei durchschnittlich 160 Fahrten mit einer Länge von vier Kilometern nutzt, ließen sich dadurch im städtischen Umfeld 79 Euro bei den Klimaschutzkosten einsparen. In ländlichen Gebieten liegt dieser Wert allerdings weitaus niedriger bei 15 Euro. […] Im Stadtverkehr wird Stau durch Radverkehrsförderung vermieden, wenn v.a. bei den Arbeitswegen in der Spitzenzeit Autofahrten aufs Rad verlagert werden. Auf die erheblichen Zeitverluste im Stau zielt in

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KAPITEL VIER Ökonomische Effekte des Radverkehrs Kosten-Nutzen-Analyse, Unfallrisiken, CO2-Reduzierung


den Niederlanden das aktuelle Programm für Radschnellwege. Nach der britischen SQW-Studie spart auch der Nutzer in städtischen Gebieten unter anderem staubedingt 155 Euro an Kosten ein, wenn er die bereits erwähnten jährlichen 160 Fahrten à vier Kilometer per Rad zurücklegt. […]

Maßnahmen

Indikatoren Am Beispiel der Wannseeroute in Berlin wurde 2008 ein systematisches Bewertungsverfahren für Radverkehrsinfrastruktur entwickelt. Aus der 50 %igen Radverkehrszunahme (Verkehrszählungen vorher / nachher) wurden jährlich 230 000 zusätzliche Personenkilometern bzw. 192 000 eingesparte Kfz-Kilometern kalkuliert. Dem Aufwand der Herrichtung der Route wurde ein Nutzen aus Senkungen der Betriebskosten (48 % des Gesamtnutzens), der CO2-Emissionen (15 %) und der Sachunfallschäden (15 %) gegenübergestellt. Je nach Annahmen wurde ein Nutzen-Kosten-Quotient (NKQ) von 3,43 oder 2,49 prognostiziert, in jedem Fall eine positive Bewertung der Maßnahme. Ebenso erlaubt es das Verfahren, Prognosen darüber zu stellen, welche Verlagerungen des Automobilverkehrs notwendig sind, um einen bestimmten Nutzen-KostenQuotienten zu erzielen.

Monetarisierbar

Nicht quantizierbar

NKA-Indikatoren

Deskriptive Indikatoren

Klimaschutz

Flächenverbrauch

Luftschadstoffe

Lebens- und Aufenthaltsqualität

Verkehrssicherheit

Teilhabe nicht mot. Personen

Betriebskosten Pkw-Rad

Nutzen Dritter Verbale Beurteilung

Red. Kosten Kfz-Verkehr Gesundheitswirkung Unterhaltungskosten Investitionskosten Nutzen-Kosten-Quotient

Unterstützung im Abwägungsprozess

Einen erheblichen Ausgabenfaktor für die öffentlichen Kassen stellen Straßen und Pkw-Stellplätze dar. Die finanziell belasteten Städte und Gemeinden haben infolgedessen weniger Geld für andere gesellschaftliche Zwecke zur Verfügung. Aus Sicht der öffentlichen Hand, insbesondere für Kommunen, stellen Radfahrer und Fußgänger die mit Abstand kostengünstigsten Mobilitätsformen dar. Eine hohe Qualität der für den Radverkehr benötigten Infrastruktur ist im Vergleich zur Kfz-Infrastruktur vergleichsweise günstig herstellbar und zu erhalten. Dies gilt umso mehr, als eine gute Radverkehrsplanung auch Radverkehrsanlagen auf der vorhandenen Fahrbahn mit einbezieht. Gleichzeitig haben Investitionen in die Radverkehrsinfrastruktur, bezogen auf die Investitionssumme, einen weit höheren Beschäftigungseffekt, verglichen mit dem Schnellstraßenbau. Bei den relativ kleinteiligen Arbeiten ist der Anteil der Personalkosten im Vergleich zum Materialaufwand relativ hoch. Zudem profitieren die kleineren lokalen Baufirmen von den Investitionen. Eine Studie aus Österreich hat eine 4,4-fach höhere ­Beschäftigungswirkung von Maßnahmen für den nichtmotorisierten Verkehr (Fußgängerzonen, Radwege) gegenüber dem Autobahnbau festgestellt (Haller 2005). Zunehmend gerät auch die Wirkung des Fahrrades auf die Wirtschaftlichkeit von Bus und Bahn in den Fokus: Als Zubringer erweitert das Fahrrad den Einzugsbereich der Haltestellen gegenüber dem Weg zu Fuß zur Haltestelle um ein Vielfaches (Bike & Ride) und vergrößert dadurch die Kundschaft einer ÖPNV-Linie. In der für den ÖPNV kritischen morgendlichen Spitzenstunde kann viel Radverkehr helfen, dass die SpitzenbeDie vielfältigen und langfristigen Ausgaben der öffentlichen Kassen für den Bereich Verkehr sind oftmals erst auf lastung mit zusätzlichen Fahrern und Fahrzeugen gedämpft wird. Am den zweiten Blick erkennbar. Viele dieser Kosten sind nicht unmittelbar finanziell kalkulierbar und zurechenbar. Unter Einbezug dieser Faktoren zeichnet sich das Fahrrad durch eine außergewöhnlich hohe Effizienz aus, insbeWochenende tragen die Fahrradausflügler zur Tragfähigkeit des regiosondere im Vergleich mit dem Kfz-Verkehr. Über die Gesundheitsförderung, Energieeinsparung und Stauvermeidung hinaus wird auch die relativ unaufwändige Infrastruktur ein Argument für Radverkehrsförderung. nalen Bahnangebots bei. Neben dem Bau von Straßen erfordert der KfzVerkehr den Bau und die Unterhaltung von Parkplätzen, die Reinigung, Beleuchtung und Entwässerung der Straßen, sowie zusätzliche Ausgaben in den Aufgabenbereichen der Feuerwehr, Polizei, Wirtschaftsförderung und Grünflächenämter. Die vergleichbaren Ausgaben für den Radverkehr sind dagegen sehr gering.

Modal Split-Anteile der einzelnen Mobilitätsformen in Bezug gesetzt zu den jeweiligen kommunalen Ausgaben der Stadt Freiburg Die tatsächlichen kommunalen Ausgaben für die unterschiedlichen Verkehrsnetze wurden am Beispiel der Stadt Freiburg im Breisgau mit dem Tool LCTP (Least Cost Transportation Planning) ermittelt. Dies zeigte schon zu ­Beginn der Untersuchung eine deutliche Diskrepanz der Ausgaben gegenüber der Verkehrsmittelnutzung (UBA 2002).

Modal Split

Ausgaben der Stadt für den Personenverkehr

19

12

21

1

18

42

87 - ohne Fußverkehr -

Fahrrad

ÖPNV

zu Fuß

Pkw

KAPITEL VIER Ökonomische Effekte des Radverkehrs Nutzen-Kosten-Quotient

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Velorouten in Hamburg Definition – was sind Velorouten? Hamburgweite bzw. bezirks- und stadtteilübergreifende Hauptverbindungen des Radverkehrsnetzes mit qualitativ hohem Ausbaustandard („Rückgrat des Radverkehrsnetzes“). – Vorrangige Ausrichtung auf den Alltagsradverkehr mit Geschwindigkeiten von 15 bis 25 km / h, höhere Geschwindigkeiten sind anzustreben. – Bündelung von Quelle-Ziel-Beziehungen mit hohem Radverkehrspotenzial; Verknüpfung von einwohnerstarken Wohngebieten, Kernbereichen, Versorgungszentren, ÖPNV-Haltestellen, Beschäftigungsschwerpunkten sowie von Zielen mit stadtweiter Bedeutung. – Von der Hamburger City ausgehendes sternförmiges Netz (Radialrouten) zuzüglich zweier (Halb-) ringe (Tangentialrouten), dadurch höhere Routendichte in der inneren Stadt und in der Nähe von Stadtteilzentren. – Nach Möglichkeit Nutzung verkehrsarmer Straßen und attraktiver Wegeverbindungen. – Möglichst direkte Führung. Radschnellwege und Velorouten Radschnellwege sind in besonderem Maße auf den städtischen, aber auch regionalen Pendlerverkehr mit längeren Fahrdistanzen ausgerichtet. Radschnellwege sind ausreichend breit für jederzeitiges Überholen und sollen möglichst bevorrechtigt geführt werden, um unterbrechungsfreies Fahren und somit eine höchstmögliche Verkehrsqualität für den Radverkehr zu erreichen. Dadurch können hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten sowie ein maximaler Fahrkomfort erreicht werden. Die Entwurfsstandards richten sich grundsätzlich nach den dazu in den ReStra1 getroffenen Regelungen. Radschnellwege sollen das Veloroutennetz insbesondere an die Umlandkommunen anbinden und perspektivisch in ein regionales Radschnellwegenetz der Metropolregion Hamburg eingebunden sein. Radschnellwege sollen über das Veloroutennetz möglichst weit in das Stadtgebiet hinein geführt werden. Dort, wo Velorouten im Radschnellweg-Standard ausgebaut werden können, soll dies umgesetzt werden. Parallele Trassen für Radschnellwege können ausnahmsweise eingerichtet werden. Radschnellwegstandards können auch auf längeren Veloroutenabschnitten sinnvoll sein, die nicht unmittelbar bis ins Hamburger Umland führen (z. B. zwischen den Bezirken Hamburg-Mitte und Bergedorf sowie Hamburg-Mitte und Harburg). Allgemeine Anforderungen – Verkehrssicherheit (subjektiv und objektiv): Sichere Radverkehrsführungen – ausreichend breit, übersichtlich, eben und insbesondere an Knotenpunkten im Sichtfeld des Kfz-Verkehrs – Verbindungsqualität: Direkte, intuitiv nachvollziehbare Routenführung und überwiegend unterbrechungsfreies Fahren über längere Strecken – Begreifbarkeit und Erkennbarkeit: durchgängige Wegweisung nach einheitlichem Standard (FGSV-Standard mit den in Hamburg angewendeten leichten Abweichungen wird über die ReStra gewährleistet) und mit regelmäßiger Wartung sowie veloroutenspezifischer Kennzeichnung – Befahrbarkeit: Hoher Fahrkomfort in Bezug auf Breite, Seitenabstand und Belag (einschl. Nullabsenkungen an Übergängen) sowie mit Überholmöglichkeiten auch bei hohem Radverkehrsaufkommen; Hindernisfreiheit, Trennung vom Fußverkehr, möglichst kurze Wartezeiten an Signalanlagen und sonstigen Querungsstellen; ganzjährige und ganztägige, komfortable Befahrbarkeit (Instandhaltung des Belages, Grünschnitt, regelmäßige Reinigung, Winterdienst, straßenbauliche Maßnahmen zur Verhinderung des Zuparkens, Überwachung des ruhenden Verkehrs auf Radverkehrsanlagen im Rahmen personeller Ressourcen und Prioritätensetzung – Erschließungsqualität: Anbindung wichtiger Ziele im Verlauf oder im Umfeld der Route; Einbindung der lokalen und regionalen / überregionalen Radverkehrsnetze (insbesondere bezirkliche und stadtteilverbindende Radrouten, Radfernwege sowie perspektivisch Radschnellwege in das Umland) – Umfeldqualität: Erlebnisqualität des verkehrlichen, städtebaulichen und landschaftlichen Umfeldes als wichtiger Beitrag zur Steigerung der Attraktivität – Soziale Sicherheit: Ausreichende und durchgängige Beleuchtung, übersichtliche und einsehbare Wegführung, freies Blickfeld – Verträglichkeit: Verträglichkeit mit anderen Nutzungen; städtebauliche Integration – Realisierbarkeit: Technische, rechtliche und zeitliche Realisierungsfähigkeit; Zusammenhang mit anderen Baumaßnahmen […] Radverkehrsnetz Die Radverkehrsinfrastruktur ist hierarchisch aufgebaut und besteht für den Alltagsverkehr aus – dem Hauptnetz mit den Velorouten, – dem Ergänzungsnetz wie z. B. Bezirksnetzen und – einem ergänzenden Nachbarschaftsnetz, das z. B. die Durchlässigkeit von Sackgassen oder Einbahnstraßen in Gegenrichtung fürs Radfahren ermöglicht. Radschnellwege sind von diesem Netz gesondert zu betrachten, weil sie auf Pendlerverkehre zielen und möglichst auf neuen Trassen andere – großräumigere – Quellen und Ziele mit großräumigerer Wirkung haben und das Umland mit dem Zentrum, Städte oder Bahnhaltepunkte verbinden. Für sie gelten daher andere Grundsätze bei der Planung. Ein Freizeitroutennetz kann dieses Angebot ergänzen, wird jedoch aufgrund von völlig anderen Kriterien separat geplant und umgesetzt. –

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Auszüge aus: Freie und Hansestadt Hamburg, Amt Verkehr und Straßenwesen, Arbeitsstelle Radverkehr, Velorouten in Hamburg – Grundlagen und Leitlinien, URL: https://t1p.de/6z4j (zuletzt abgerufen am 18.06.2020). © Freie und Hansestadt Hamburg

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Regelwerke des Straßenwesens in Hamburg

Auszüge aus: ADFC Hamburg, ADFC-Position: Velorouten, URL: https://t1p.de/gyaw (zuletzt abgerufen am 18.06.2020). © ADFC Hamburg

KAPITEL VIER Ökonomische Effekte des Radverkehrs Velorouten in Hamburg


Die Gestaltung von Fahrradstraßen Das Element Fahrradstraße wurde 1997 in die Straßenverkehrsordnung (StVO) als Verkehrszeichen aufgenommen, nachdem die Bremer Straßenverkehrsbehörde die Fahrradstraße 1978 „erfunden“ hat. Trotz einer frühzeitigen, positiv ausgefallenen Evaluation (Ruwenstroth 1991) wurde über viele Jahre hinweg das Element „Fahrradstraße“ nur in einigen Städten umgesetzt und auch dort nur in geringer Häufigkeit. Dazu beigetragen haben sicherlich zahlreiche bauliche und gestalterische Voraussetzungen, die erst mit Änderung der Verwaltungsvorschrift (Vwv-StVO) im Jahr 2009 aufgehoben wurden. Fahrradstraßen werden zu Beginn und Ende mit Verkehrszeichen (VZ) 244.1/244.2 beschildert und ihre Fahrbahn ist für den Radverkehr vorgesehen. Andere Fahrzeuge sind nur ausnahmsweise zugelassen, In Fahrradstraßen können Radfahrende nebeneinander fahren, andere Fahrzeuge sind nur ausnahmsweise zugewenn dies durch entsprechende Zusatzzeichen (z. B. Anliegerverkehr) lassen und es gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km / h. Zahlreiche Städte haben in den letzten Jahren Fahrradstraßen eingerichtet und planen einen weiteren Ausbau. Dieses Wachstum findet trotz vieler Unzulänglichkeiten angeordnet wird. Für den Fahrverkehr gilt eine Höchstgeschwindigkeit wie einer schwierigen Priorisierung an Knotenpunkten, mangelhafter Regelkenntnis unter den Verkehrsteilnehmenden und einer regelmäßigen Freigabe für Kfz-Verkehre statt. von 30 km / h. Der Radverkehr darf weder gefährdet noch behindert werVerkehrsplanerisch ist das Wachstum sehr erfreulich zu bewerten, da sich Fahrradstraßen als relativ sicher erwiesen haben und positiv wahrgenommen werden. Statt in kleinen Schritten neue Fahrradstraden. Wenn nötig, muss der Kraftfahrzeugverkehr die Geschwindigkeit ßen auszuweisen, sollten ihre Alleinstellungsmerkmale, insbesondere das Recht auf Nebeneinanderfahren, auf alle Tempo-30-Zonen übertragen werden. Innerhalb dieses etablierten Netzes mit 70 bis 80 % aller Straßen könnweiter verringern. Dieses Gebot besitzt Bedeutung, da in Abweichung zu ten Fahrradrouten mit verkehrsplanerischen Mitteln weiter priorisiert werden und es könnte mit geringem Aufwand ein großer Schritt für die Radverkehrsförderung erreicht werden. § 2 Abs. 4 StVO das Nebeneinanderfahren mit Fahrrädern ausdrücklich erlaubt ist. Im Übrigen gelten die Vorschriften über die Fahrbahnbenutzung und über die Vorfahrt, d. h. ohne weitere Beschilderung gilt rechts-vor-links. Formelle Voraussetzung für die Einrichtung von Fahrradstraßen ist, dass „der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist oder dies alsbald zu erwarten ist“ (VwV-StVO). In den letzten Jahren hat sich das anfängliche Nischendasein stark gewandelt. Köln hat 61 kurzfristig umsetzbare Fahrradstraßen beschlossen, München hatte Ende 2018 bereits 65 Fahrradstraßen und Hamburg hat über die bestehenden 20 Fahrradstraßen (12 km) hinaus weitere Einrichtungen geplant. Auch zahlreiche Mittelstädte wie Konstanz, Aschaffenburg oder Weimar haben bereits Fahrradstraßen oder setzen diese verstärkt ein. Weiteren Schub hat der Prozess des Berliner Mobilitätsgesetzes gebracht, in dessen Entwürfen die Einrichtung von 50 km je Jahr bis zur Mindestnetzlänge von 350 km (Stand 14.06.2016) bzw. die Überprüfung von jährlich 500 km Straße auf StVO-Konformität (12.02.2017) gefordert wurde (Volksentscheid Fahrrad 2017 a und b). Diese Zielvorgaben fanden am Ende allerdings nicht Eingang in das verabschiedete Landesgesetz, da rein zeitliche Zielvorgaben als nicht vereinbar mit Bundesrecht eingeschätzt wurden (Redeker 2016 S. 14 – 15). Die Gründe für diesen vermehrten Einsatz von Fahrradstraßen liegen auf der Hand. Erschließungsstraßen besitzen für den Radverkehr nicht nur eine Erschließungsfunktion, sondern besitzen auch eine Verbindungsbedeutung. Fahrradstraßen bündeln den Radverkehr in Erschließungsstraßen und machen ihn dort ­sichtbar (FGSV 2010 S. 60). Sie können eine attraktive innerörtliche Radverbindung bieten, die ein Angebot für Radfahrende aller Altersstufen und Nutzertypen mit ihren jeweiligen Prioritäten bei der Wahl der genutzten Verkehrsfläche darstellt. Nutzende nehmen ein attraktiveres städtebauliches Umfeld und ein niedrigeres Niveau an Kfz-Lärm und Luftschadstoffen war (Lißner et al. 2018 S. 59). Die seit dem Jahr 2010 in Deutschland diskutierten und umgesetzte Radschnellwege beinhalten häufig das Element Fahrradstraße. Zwar werden wie im Berliner Mobilitätsgesetz eigenständige Sonderwege als bevorzugte Führungsform meistens präferiert (Berliner Mobilitätsgesetz 2018 § 45 Abs. 3), aber die Umsetzung dieses Ziels ist ohne die Nutzung alter Bahntrassen schwierig. Innerhalb einer urbanen Umgebung wird bei Radschnellwegen sicherlich die Führungsform Fahrradstraßen häufig dominieren, wie es der Streckenanteil von 53 % an einer geplanten Bremer Radschnellverbindung zeigt (Alrutz et al. 2017 S. 131). Neben der infrastrukturellen Bedeutung sollten auch die kommunikativen und verkehrspolitischen Dimensionen nicht außer Acht gelassen werden. Fahrradstraßen verursachen bei geringem baulichen Veränderungsbedarf niedrige Kosten. Werden bestehende Tempo-30-Zonen in Fahrradstraßen mit freigegebenen Kfz-Verkehr umgewandelt, führt es nur zu geringen Einschränkungen des Kfz-Verkehrs. Intensive politische Diskussionen um die Zuordnung von Flächen im Verkehrsraum, wie sie teilweise bei der Ummarkierung von Kfz-Fahrstreifen in Radfahrstreifen auf Hauptverkehrsstraßen geführt werden, können so umgangen werden. Dennoch kann demonstriert werden, dass der Radverkehr ein wichtiges politisches Anliegen ist und infrastrukturelle Radverkehrsmaßnahmen umgesetzt werden. Aspekte und Herausforderungen der Umsetzung Trotz der steigenden Anzahl an Fahrradstraßen sind die Hilfestellungen für Planende bis heute gering. Die gültigen „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“ der FGSV stellen auf weniger als einer Seite den planerischen Rahmen dar und geben im Wesentlichen den rechtlichen Rahmen wieder. (FGSV 2010 S. 60). Aus diesem Grund haben einige Städte eigene Gestaltungsrichtlinien entwickelt (Bundesstadt Bonn 2012, Bremen 2018). Da es bei mehreren Gestaltungs- und Rechtsaspekten Unsicherheiten gibt, werden einige Themen nachfolgend in Kombination mit Lösungsansätzen diskutiert. Bevorrechtigung an Knotenpunkten Nach der ERA sollen Fahrradstraßen Hauptverbindungen sein. „Ein besonders gleichmäßiger Verkehrsfluss und eine hohe Reisegeschwindigkeit für den Radverkehr werden erreicht, wenn die Fahrradstraße gegenüber einmündenden Straßen Vorfahrt bekommt.“ (FGSV 2010 S. 60) Der Charakter mit keinem oder nur begrenzt freigegeben Kfz-Verkehr bedeutet, dass Fahrradstraßen grundsätzlich außerhalb des innerörtlichen, klassifizierten Vorfahrtstraßennetzes liegen. Häufig ist die Lage eingegliedert in Tempo-30-Zonen. Entsprechend gilt nach StVO „rechts-vor-links.“ Dies stellt einen Widerspruch zur planerischen Zielsetzung in der ERA dar. Gerade im Hinblick auf die in Einbindung von Fahrradstraßen in Radschnellwege bedarf es hier einer klaren Lösung. In der Praxis kommen ganz unterschiedliche Ansätze zum Einsatz. Es wird die „rechts-vor-links“Regelung belassen, die Vorfahrt wird durch Gehwegüberfahrten an Nebenstraßen baulich hergestellt oder die Vorfahrt wird durch Verkehrszeichen angeordnet. In einer Befragung des GDV von 110 Kommunen mit insgesamt 178 erhobenen Fahrradstraßen spiegelt die uneinheitliche Anwendung in der Praxis wider Einen wieder-

Auszüge aus: Thilo Becker, Die Gestaltung des Erfolgsmodells ­Fahrradstraße – Weiterentwicklung für Tempo-30-Zonen, URL: https://t1p.de/6fi1 (zuletzt abgerufen am 18.06.2020). © Thilo Becker

KAPITEL VIER Ökonomische Effekte des Radverkehrs Die Gestaltung von Fahrradstraßen

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erkennbaren, selbsterklärenden Standard aus Perspektive der Verkehrsteilnehmenden gibt es bisher nicht. Alle Lösungen sind mit Nachteilen verbunden: – Die Regelung „rechts-vor-links“ kann zu deutlichen Zeitverlusten im Verlauf der Fahrradstraßen führen. – Der Bau von Gehwegüberfahrten über einmündende Straßen ist mit hohen Investitionskosten verbunden. Wenn diese nicht mit ohnehin notwendigen Baumaßnahmen kombiniert werden können, stellen entsprechende Investitionen zumindest für verschuldete, finanzschwache Kommunen eine hohe Hürde dar. – Eine kostengünstige, rein verkehrsrechtliche Ausweisung als Vorfahrtstraße (VZ 306) ist nur am Rand von Tempo-30-Zonen sinnvoll (Alrutz 2016 S. 84), da dieses Zeichen Hauptverkehrsstraßen vorbehalten ist. – Die Anordnung von Vorfahrt (Z 301) an der nächsten Kreuzung bzw. Einmündung darf nur maximal dreimal hintereinander angeordnet werden (Vwv-StVO, Zu § 42, 301). Der Möglichkeit der Abweichung von dieser Regel aufgrund von Belangen des Buslinienverkehrs wird nur in seltenen Fällen in einer Fahrradstraße anwendbar sein. Mit dem aktuellen Rahmen des VwV-StVO ist ohne bauliche Investitionen keine Bevorrechtigung über mehrere Knotenpunkte hinweg möglich. Eine Änderung der Verwaltungsvorschrift würde den Einsatz als Fahrradhauptroute oder Radschnellweg deutlich erleichtern. Da eine generelle Bevorrechtigung von Fahrradstraßen auch nicht allen lokalen Randbedingungen gerecht werden kann, bleibt nur die Ausweitung der Möglichkeit, Vorfahrt an der nächsten Kreuzung bzw. Einmündung anzuordnen. Alrutz (2016 S. 93) regt an, in den VwV-StVO-Hinweisen zu Zeichen 301 neben den Belangen des Buslinienverkehrs auch den Radverkehr explizit mit aufzunehmen und somit ein mehrmaliges Hintereinanderreihen des Zeichens 301 zu erlauben. Integration in Tempo-30-Zonen Fahrradstraßen verlaufen im Regelfall abseits des klassifizierten Hauptnetzes, in denen schon in der Einführungsphase ein geringes Kfz-Aufkommen herrscht. Typisch ist die räumliche Lage innerhalb von Tempo-30-Zonen. Bei der Frage, ob Fahrradstraßen in Tempo-30-Zonen integriert werden können, gehen die Meinungen auseinander. Verkehrsrechtlich kann interpretiert werden, dass „eine Fahrradstraße nicht Teil einer Tempo-30-Zone ist, sondern – ähnlich wie dies bei einer Fußgängerzone oder einem verkehrsberuhigten Bereich ist – eine Straße mit einem besonderen Charakter ist, in der dann nur deren jeweilige Regelungen gelten.“ (Alrutz 2016 S. 20) Um Schilderwälder […] zu vermeiden wird aber auch interpretiert, dass Fahrradstraßen in bestehende Tempo-30-Zonen integriert werden können (Bremen 2018 S. 3). Entsprechend reicht die praktische Bandbreite der verkehrsrechtlichen Anordnungen von einem Verzicht auf jegliche Zeichen zu Tempo-30-Zonen entlang der Fahrradstraßen […] über die Anordnung des Beginns (Z 274.1, […]) bis hin zur Ende und Beginn der Tempo-30-Zonen (Z 274.1 und 2). Relevanz besitzt die Ausgestaltung besonders aus Perspektive der verkehrsrechtlichen Bevorrechtigung. Wenn statt einer baulichen Bevorrechtigung nur verkehrsrechtliche Anordnungen umgesetzt werden sollen, empfiehlt sich, die Tempo30-Zone bei den Einmündungen aufzuheben (Bremen 2018 S. 3). Mangelnde Regelkenntnis Trotz der Einführung von Fahrradstraßen in der Fahrradnovelle der StVO 1997 ist die Wissenstand zu Fahrradstraßen bei Kfz-Fahrenden und Radfahrenden sehr lückenhaft. Eine im Jahr 2016 veröffentlichte ­Befragungen in zehn Fahrradstraßen in sechs Städten umfasste eine Stichprobe von 452 Verkehrsteilnehmenden. 26 % der Befragten war sich nicht bewusst, dass sie sich in einer Fahrradstraße befanden. Unter KfzFahrenden war das Unwissen besonders hoch (33 %). Nur 25 % der Kfz- und Fahrradfahrenden wusste, dass andere Fahrzeuge in Fahrradstraßen nur dann fahren dürfen, wenn dies ausdrücklich zugelassen ist. Dass an Kreuzungen in Fahrradstraßen Radfahrende nicht immer Vorfahrt hat, wussten jeweils nur 46 % der Kfz- und Radfahrenden. Nur 50 % der Kfz-Fahrenden und 51 % der Radfahrenden kannte die Regel, dass Radfahrer nebeneinander fahren dürfen. (Schläger 2016 S. 95 – 98) Eine Befragung in München hat ähnliche Ergebnisse ergeben (Alrutz 2016 S. 73 – 80). Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Regelkenntnis zu Fahrradstraßen bei Führerscheininhabern nicht vorausgesetzt werden kann (Schläger 2016 S. 95). Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit, die viele Kommunen in Verbindung mit der (Erst-)Einführung von Fahrradstraßen umsetzen, erreichen nicht die Verkehrsteilnehmenden in den Fahrradstraßen. Offensichtlich sind deutlich weiter gehende Maßnahmen wie Faltblätter als Postwurfsendungen an alle Anwohner im Einzugsgebiet der Fahrradstraßen, Aktionstage, Festakten zur Eröffnung (Alrutz 2016 S. 89) sowie auffälligen Piktogrammen als Fahrbahnmarkierung zur stärkeren ­öffentlichen Wahrnehmung und besseren Regelkenntnis notwendig. Das Erreichen von überregionalen Verkehrsteilnehmern ist ungleich schwieriger. Um über das lokale Umfeld von Fahrradstraßen hinaus wahrgenommen und erkannt zu werden, muss es wohl zunächst zu einer deutlich stärkeren Verbreitung von Fahrradstraßen und zu einer Überwachung der Regeln kommen. Kennzeichnungen im Verlauf der Fahrradstraßen Neben der verkehrsrechtlich notwendigen Beschilderung werden in manchen Kommunen ergänzende Fahrbahnmarkierungen durchgeführt. Damit wird das Ziel verfolgt, die Bevorzugung des Radverkehrs gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmenden zu signalisieren und durch die gesteigerte Aufmerksamkeit die Sicherheit zu erhöhen. Weder die VwV-StVO noch die ERA geben klare Hinweise, welche Fahrbahnmarkierungen notwendig und sinnvoll ist. Somit ist es wenig überraschend, dass die Kommunen teilweise auf lokale Bedingungen eingehen, ihrer Kreativität freien Lauf lassen und höchst unterschiedlich vorgehen. Piktogramme mit Radfahrsymbolen kommen im Zufahrtbereich, im Bereich von Einmündungen und in regelmäßigen Abständen im Verlauf der Fahrradstraßen zum Einsatz. Verwendet werden einfache Fahrradpiktogramme, Piktogramme mit Richtungspfeilen, je Richtung zwei nebeneinander angeordnete Piktogramme zur Verdeutlichung des Nebeneinanderfahrens (Graf 2018 S. 136), weiße und blau-weiße Darstellungen des Zeichens „Radweg“ (VZ 237) und Darstellungen des Zeichens „Fahrradstraße“ (VZ 244.1). Auch bei den Größen

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KAPITEL VIER Ökonomische Effekte des Radverkehrs Die Gestaltung von Fahrradstraßen


gibt es Gestaltungsspielräume. In etwa über der Hälfte der 178 untersuchten Fahrradstraßen werden Piktogramme markiert (Schläger 2016 S. 54). Dies macht dieses Instrument zu der am meisten genutzten Begleitmaßnahme. Daneben kann eine Begrenzung der Fahrbahn mittels Markierung, d. h. teilweise mit Verkehrszeichen, vorgenommen werden. Auch hier ist die Bandbreite groß: keine Markierung, weißer Sicherheitstrennstreifen entlang von Parkständen, unterbrochene weiße Leitmarkierung (VZ 340) mit Breitstrich und durchgezogene weiße Leitmarkierung mit Breitstrich. Daneben werden farbliche Variationen wie blau […] und grün (Berlin) praktiziert. Deutlich seltener werden großflächige Fahrbahneinfärbungen angewandt. Diese können zur Hervorhebung einer Bevorrechtigung an Knotenpunkten genutzt werden. Noch weiter geht Graf (2018 S. 119 – 121), der mit den Argumenten Sicherheit und Marketing für eine flächenhafte Rot-Einfärbung von Fahrradstraßen plädiert. Dieser Ansatz ist an Planungsgrundsätze in den Niederlanden angelehnt. Konkrete Empfehlungen, ob und wenn ja welche Markierungs- und Gestaltungsformen angewandt werden sollten, sind mangels wissenschaftlicher Untersuchungen zu dieser Frage bisher nicht möglich. Somit kann die kommunale Verkehrsplanung relativ frei entscheiden, welche Gestaltungsform über die rechtlichen Vorgaben hinaus genutzt werden soll und ein individuelles Gesamtkonzept mit möglichen weiteren Radverkehrselementen wie Radschnellwegen umsetzen. Freigabe anderer Verkehre in Fahrradstraßen Grundsätzlich sind Fahrradstraßen gemäß der StVO dem Radverkehr vorbehalten, es sei denn, weitere Verkehre sind durch Zusatzschilder z. B. „Anlieger frei“ (VZ 1020 – 30) freigegeben. […] Deutlich wird, dass „echte Fahrradstraßen“, in denen keine anderen Verkehre zugelassen sind, mit 4 % die absolute Ausnahme darstellen. Dieses Vorgehen der weitreichenden Freigabe von sonstigen fließenden Verkehren ist naheliegend, da ein vollständiger Ausschluss aller Kfz deutliche Widerstände von Anwohner und Geschäftsinhabern auslösen würde. Die Vorteile für die Anlieger sind bei Fahrradstraßen weniger stark ausgeprägt als die Anordnung von Fußgängerzonen zur Einzelhandelsförderung. Die restriktivste Freigabe von Kfz ist „Anlieger frei“, womit sämtliche Durchgangsverkehre einschließlich touristischer Fahrten und Linienverkehre ausgeschlossen werden. Formell sind nur Verkehre der Anlieger selbst und Verkehre, die Beziehungen zu den Anliegern knüpfen wollen, zugelassen. Unter verkehrsplanerischen Gesichtspunkten ist es sinnvoll, mit „Anlieger frei“ den Kfz-Verkehr so gering wie möglich zu halten. Jedoch muss hinterfragt werden, ob entsprechende Anordnungen auch ansatzweise überwacht werden. Vom GDV werden zwar „polizeiliche Kontrollen zum regelkonformen Verhalten sowie eine entsprechende Aufklärungsarbeit zu den Verkehrsregeln“ empfohlen (Schläger 2016 S. 102). Ob die Polizei die Prioritäten entsprechend setzt, bleibt allerdings fraglich. Auch aus Sicht der Verkehrsplanung sind andere Prioritäten denkbar, bei denen eine Überwachung stärker zur Verbesserung bei Umweltproblemen oder Verkehrssicherheit beitragen würde (z. B. Fahrverbote wegen Luftqualität, Geschwindigkeitsüberwachung). Statt der rechtlichen Lösung der Freigabe ist vielmehr die Netztopologie auf eine Verhinderung der Durchfahrt von Kfz auszurichten. Da gerade im Zusammenhang mit einer Bevorrechtigung von Fahrradstraßen neben der Fahrradbeschleunigung auch der Kfz-Verkehr beschleunigt und entsprechend angezogen wird, muss dieser mit verkehrsplanerischen Mitteln wieder entschleunigt werden. Dafür spricht auch, dass in Fahrradstraßen bei Verkehrsunfällen mit Radverkehrsbeteiligung Kfz-Fahrende mit Abstand die häufigsten Unfallverursacher sind (Schläger 2016 S. 86). In der Praxis kann der Durchgangsverkehr durch klassische Maßnahmen der Verkehrsberuhigung wie gegenläufige Einbahnstraßen, Diagonalsperren oder Durchfahrsperren reduziert werden. Von Maßnahmen, die den Radverkehr abbremsen können wie etwa Fahrgassenversatz, ist allerdings abzusehen. Ruhender Verkehr in Fahrradstraßen Der Begriff „Fahrradstraße“ weckt bei manchen eingefleischten Radfahrenden sicherlich Assoziationen einer voll an den Bedürfnissen des Radverkehrs ausgerichteten Straßengestaltung: ausreichend breite, glatte Fahrbahn, sichere Radabstellanlagen im Seitenraum, eine Sitzbank zum Ausruhen, vielleicht einige schattenspendende Bäume oder Spielmöglichkeiten, um den Übergang von Rutsche und Laufrad zum Fahrrad zu erleichtern. Die Realität sieht vielfach aber anders aus. So stellte der GDV für die betrachteten Fahrradstraßen fest, „dass in 85 % der Fahrradstraßen das Parken für Kfz erlaubt ist. In gut zwei Drittel der Fahrradstraßen (68 %) werden die Fahrzeuge auf der Fahrbahn (unmarkiert und markiert) abgestellt. Das Parken im Seitenraum (Gehweg, Parkbuchten etc.) spielt nur eine untergeordnete Rolle.“ (Schläger 2016 S. 57) […] Trotz mangelnder Akzeptanz einer Reduzierung des ruhenden Verkehrs seitens der Anlieger sollte das übergeordnete Ziel eine Verlagerung des Parkens auf Privatflächen oder benachbarte Straßen sein (Graf 2018 S. 77). Eine qualitativ hochwertige Fahrradstraße bedingt ein umfassendes Konzept für den ruhenden Verkehr. Dafür spricht, dass Parken die größte Unfallgefährdung im Zuge der freien Strecke darstellt. Häufig ist der Abstand zwischen der Pkw-Tür und der Fahrlinie der Radfahrenden zu gering („Dooring-Unfälle“) (Schläger 2016 S. 85 – 86). Zu Längsparkständen und Parkbuchten ist somit mindestens ein Sicherheitstrennstreifen zu markieren (Graf 2016 S. 78, Alrutz 2016 S. IV). Senkrecht- und Schrägparkstände sind generell wegen der Rangiervorgänge, die den Radverkehr behindern und gefährden, zu vermeiden (Schläger 2016 S. 85). Manche Städte akzeptieren sie nur bei niedrigen Kfz-Verkehrsstärken und größeren Fahrbahnbreiten. (Bremen 2018 S. 4). Als Minimum sind Sichtdreiecke an Einmündungen und Kreuzungen sowie wichtigen Grundstückszufahrten freizuhalten. Fahrbahnbreiten Bei der Breite von Fahrradstraßen bewegt man sich in einem Spannungsfeld. Schmale Straßen verhindern wirkungsvoll das Überholen durch Kfz, führen aber gleichzeitig im Begegnungsfall mit Kfz zu geringen Seitenabständen oder sogar zur gegenseitigen Blockade. Breite Fahrradstraßen begünstigen Überholvorgänge, die eigentlich nicht der planerischen Zielsetzung entsprechen, und verleiten Kfz zu höheren Geschwindigkeiten. Die Empfehlungen schwanken zwischen 4,0 Metern (Schläger 2016 S. 101) und 4,5 Metern (Graf 2018 S. 74). Zum ruhenden Verkehr sind jeweils Sicherheitstrennstreifen zu addieren. Bremen plant bei höheren Kfz-

KAPITEL VIER Ökonomische Effekte des Radverkehrs Die Gestaltung von Fahrradstraßen

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Verkehrsstärken auch mit Breiten bis 6,5 Metern (Bremen 2018 S. 3). Köln verengt breitere Straßen durch unterbrochene Breitstrichmarkierung, um eine Fahrradfahrbahn von 4,5 Metern einzugrenzen. Sonstige Gestaltungsfragen Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Punkte, die planerisch bedacht und gelöst werden müssen, die allerdings nicht in diesem Rahmen diskutiert werden können. Zu diesen Punkten zählen: – Vor Einrichtung von Fahrradstraßen ist gemäß Vwv-StVO zu prüfen, ob der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist oder dies alsbald zu erwarten ist. – Die Gestaltung der Ein- und Ausfahrbereiche zu Beginn und Ende der Fahrradstraße, bei denen eine kaum systematisierbare Anzahl von Lösungen gibt (Schläger 2016 S. 86). – Die Führung über Kreuzungen des klassifizierten Hauptstraßennetzes hinweg, bei denen Querungshilfen mit möglichst geringen Zeitverlusten für den Radverkehr eingesetzt werden sollten. – Der Einsatz von Querungshilfen für Fußgänger ist in Abhängigkeit von den Verkehrsstärken des Rad- und KfzVerkehrs zu prüfen. Innerhalb von Tempo-30-Zonen sind bei Fußgänger-Lichtsignalanlagen und Fußgängerüberwegen die verkehrsrechtlichen Einschränkungen zu beachten. – Im Sinne einer verständlichen Verkehrsführung ist es notwendig, eventuell noch vorhandene Bordsteinradwege vollständig zurückzubauen. Bewertung und planerischer Anpassungsbedarf Die Fahrradstraßen haben sich in Deutschland nach den Erkenntnissen der Untersuchungen der letzten Jahre grundsätzlich bewährt (Schläger 2016 S. 12; Alrutz 2016 S. 81). Sie bewirken vielfach eine Steigerung des Radverkehrsaufkommens, während die Veränderungen bei der Kfz-Verkehrsstärke recht stark streuen und von der jeweiligen planerischen Umsetzung abhängen (Alrutz S. 81). Fahrradstraßen sind verhältnismäßig sichere Infrastrukturelemente (Alrutz S. 81). Für die Fahrradnetzplanung können sie als attraktives Element abseits oder bewusst parallel des klassifizierten Hauptverkehrsstraßennetzes eingesetzt werden. Potential besitzen sie dabei speziell für innerstädtische Radschnellwege, da sich der Komfort, die Sicherheit und die Reisegeschwindigkeit erhöht. Die Erläuterungen zu ausgewählten Gestaltungsaspekten von Fahrradstraßen verdeutlichen aber, dass die Ausgestaltung von Fahrradstraßen höchst unterschiedlich erfolgt. Fahrradstraßen sind heute nicht einheitlich und wiedererkennbar, von einer selbsterklärenden Gestaltung kann keine Rede sein. Planende haben einen hohen Informations- und Orientierungsbedarf, wie mit dem gestalterischen Freiraum, der sich aus Verordnungen und Richtlinien ergibt, umgegangen wird. Neben den eher sicherheitsorientierten Empfehlungen des GDV und der Veröffentlichung von Graf (2018) gibt es bisher keine konkrete Hilfestellung bei der Umsetzung. Hier wird sicherlich der Leitfaden für Kommunen, der im Rahmen des durch den Nationalen Radverkehrsplans geförderten Projekts „Fahrradstraßen – Ein Leitfaden für die Praxis“ durch die Bergische Universität Wuppertal und das Difu erarbeitet wird, große Verbesserung und Erleichterung bringen. (NRVP 2017) Mit fachlich untermauerten Empfehlungen zur Gestaltung wird es mittelfristig vielleicht auch zu einer Verbesserung des Wissensstandes und der Regelkenntnis unter den Verkehrsteilnehmenden kommen. Vielleicht ergeben sich auch Vorschläge, wie die Öffentlichkeitsarbeit zu Fahrradstraßen die Adressaten besser erreicht. Fehlende Standards und Empfehlungen bedeuten auch, dass in einigen Fällen Fahrradstraßen mit Freigabe des Kfz-Verkehrs nur angeordnet werden und nicht durch weitere verkehrsplanerische Maßnahmen begleitet werden. Dadurch wird der Radverkehr geringer als möglich geschützt und die Priorisierung des Radverkehrs erschließt sich nicht intuitiv. Beispiele für konzeptionelle Umsetzungsfehler sind durchgehend parkende Kfz am Fahrbahnrand, Behinderungen durch hohe Kfz-Verkehrsstärken oder schlechte Fahrbahnoberflächen. Dadurch werden die Ziele, den Radverkehr im Nebennetz zu priorisieren und ihm einen Schutzraum zu gewähren, in der Praxis teilweise nicht erreicht. Schwierigkeiten bereiten zudem speziell den Straßenverkehrsbehörden die rechtlich einwandfreie und planerisch sinnvolle verkehrsrechtliche Anordnung. Hierzu hat Alrutz (2018, S. 92 – 93) bereits Vorschläge für eine überarbeitete VwV-StVO ausformuliert. Im Kern geht es dabei um die Integration in Tempo-30-Zonen und die verkehrsrechtliche Möglichkeit eines Vorrangs über mehrere Knotenpunkte hinweg. Abschaffung wegen Erfolg? Die Priorisierung des Radverkehrs abseits des klassifizierten Hauptstraßennetzes mittels Fahrradstraßen ist insgesamt ein großer Erfolg. Was vor vier Jahrzehnten mit viel juristischem Mut entwickelt wurde, fehlt heute in kaum einem strategischen Konzept der Verkehrsentwicklungsplanung. Auf allen staatlichen Ebenen hat der Radverkehr zumindest auf einem gewissen Niveau Eingang in die Haushaltsplanung gefunden und die meisten politischen Parteien sprechen sie deutlich für eine Stärkung des Radverkehrs aus. Gesellschaftlich ist das Fahrrad modisch, es passt sich unkompliziert in den modernen Lebensstil ein. Zusammengefasst wird der Trend unter dem Schlagwort „cycle chic.“ Wie passt es in diese gesellschaftliche Stimmung hinein, über komplexe verkehrsrechtliche Details wie die Notwendigkeit der Aufhebung von Tempo-30-Zonen durch Fahrradstraßen oder die Gewährleistung der Vorfahrt zu diskutieren? Nach der vom BMVI veröffentlichten repräsentativen Befragung „Fahrrad-Monitor“ wünschen sich 44 % der Bevölkerung die Einrichtung von mehr Fahrradstraßen (Sinus 2017 S. 67). Darin wird am attraktivsten an dieser Wegführung die Bevorzugung der Radfahrenden gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern bewertet. (Sinus 2018 S. 22). Was liegt bei diesem gesellschaftlichen Rückhalt näher, als statt des in der Einleitung dargestellten Ausbaus von Fahrradstraßen gleich eine große Weiterentwicklung zu machen? Erreicht werden könnte dieser große Schritt durch eine Eins-zu-eins-Übertragung der verkehrsrechtlichen Vorteile von Fahrradstraßen (VZ 244.1 /2) auf die bestehenden Tempo-30-Zonen. Mit dem vorhandenen dichten Netz an Tempo-30-Zonen würden die beiden verbleibenden rechtlichen Vorteile von Fahrradstraßen mit Inkrafttreten in allen deutschen Gemeinden bestehen: 1 Der Radverkehr darf weder gefährdet noch behindert werden. Wenn nötig, muss der Kraftfahrzeugverkehr die Geschwindigkeit weiter verringern. 2 Das Nebeneinanderfahren mit Fahrrädern ist erlaubt. Tempo-30-Zonen sind weit verbreitet. München gibt an, dass die Stadt mit einem Anteil von 80 bis 85 % des gesamten Straßennetzes die weitest gehende Regelung hat (München 2019), bundesweit ist von 70 bis 80 % der Straßen ­auszugehen (Wissenschaftlicher Beirat 2010 S. 18). Die erweiterten Rechte des Radverkehrs würden sich mit den heute vorhandenen Zielsetzungen von Tempo-30-Zonen decken. Rechtlich fordert die VwV-StVO eine flächenhafte Verkehrsplanung

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KAPITEL VIER Ökonomische Effekte des Radverkehrs Die Gestaltung von Fahrradstraßen


mit einem definierten innerörtliche Vorfahrtstraßennetz, Schutz der Wohnbevölkerung sowie der Fußgänger und Fahrradfahrer sowie eine geringe Bedeutung des (Kfz-) Durchgangsverkehrs (VwV-StVO, Zu § 45, XI). Die verkehrsplanerischen Ziele und das „Zonenbewusstsein“ würden durch die erweiterten Rechte des Radverkehrs sogar noch gestärkt, da anwesende Radfahrerende und allein schon die Erwartung von Radfahrenden im Straßenraum die Häufigkeit von Kfz-Geschwindigkeitsüberschreitungen senken würde. Damit würden Aspekte wie Schulwegsicherung und Schutz von Kindern, Senioren und Behinderten gestärkt. Der Bund-Länder-Fachausschuss zur StVO sieht zwar mehrheitlich Fahrradstraßen nicht als Maßnahme der Verkehrsberuhigung an (Scholl 2015 S. 8), faktisch aber werden Fahrradstraßen auch mit diesem Argument eingeführt (Bundesstadt Bonn S. 16; Forschungsinformationssystem 2016). Mit einer vollständigen Überführung der Rechte des Radverkehrs in Fahrradstraßen auf Tempo30-Zonen würde zunächst die Hervorhebung des Radverkehrs entfallen. Es gäbe keine Priorisierung an Knotenpunkte, keine Markierungen und geschwindigkeitsmindernde, bauliche Maßnahmen würden den Radverkehr wohlmöglich ausbremsen. All dies sind jedoch keine verkehrsrechtlichen Maßnahmen und könnten, wie es schon dem Status-quo entspricht, uneingeschränkt auch in Tempo-30-Zonen umgesetzt werden. Wichtige Hilfestellungen, mit welchen Maßnahmen dies erfolgen könnte, wird es sicherlich im Leitfaden des NRVP-­ Projekts geben. Sobald der Radverkehr verkehrsplanerisch priorisiert worden wäre, müsste eine deutliche Wegweisung und Kennzeichnung der Routen im Tempo-30-Netz erfolgen. Letztendlich handelt es sich bei der Überarbeitung der Tempo-30-Zone um die logische Fortführung hin zu fahrradfreundlichen Quartieren. Mit zwei Förderprojekten im Stadtgebiet Bremen hat der Bund als 90 %-Zuschussgeber erkannt, dass das Denken in linienhaften Radverkehrsanlagen nicht mehr ausreichend ist. Stattdessen sollen in den Projekten alle Straßen in zwei Stadtteilen fahrradfreundlich umgebaut werden, durch Serviceinfrastruktur für Fahrräder ergänzt werden und verkehrsrechtlich eine „Fahrradzone“ mit „rechts-vor-links“-Regelung entstehen. (NRVP 2019) Anstatt aber Verkehrsteilnehmende durch weitere Verkehrszeichen wie einer „Fahrradzone“ zu beanspruchen (Bundestag 2018), könnte mit Übertragung der Regelungen zu Fahrradstraßen auf Tempo-30-Zonen ein Beitrag zum Bürokratieabbau und der Verständlichkeit der Verkehrsregeln geleistet werden. Die Zulassung des Nebeneinanderfahren von Radfahrenden in allen Tempo-30-Zonen könnte bei Kfz-Fahrenden Sorgen um ein unnötiges Ausbremsen wecken. Nach der heutigen VwV-StVO kommen allerdings „Zonen-Geschwindigkeitsbeschränkungen […] nur dort in Betracht, wo der Durchgangsverkehr von ­geringer Bedeutung ist. Sie dienen vorrangig dem Schutz der Wohnbevölkerung sowie der Fußgänger und Fahrradfahrer.“ Verkehrsplanerisch sind es Straßen der Kategorie „Erschließungsstraßen (ES 5)“, d. h. Wohnstraßen mit Verkehrsstärken < 400 Kfz / h und geringer Längenentwicklung bis ca. 300 m (FGSV 2012 S. 38). Theoretische Zeitverluste für Kfz-Fahrende auf entsprechenden Streckenlängen liegen bei einer halben Minute. Basierend auf Statistiken, Haushaltsbefragungen zum Verkehrsverhalten (z. B. MiD, SrV) und makroskopischen Verkehrsmodellen (wegen zu großen Verkehrszellen) lässt sich nicht ableiten, welche Verkehrsleistung in Tempo-30-Z­onen erbracht wird. Trotz der Dominanz beim Anteil an der Straßennetzlänge ist jedoch davon auszugehen, dass der Anteil an der Verkehrsleistung in Deutschland vernachlässigbar gering ist. Ein Ausbremsen des Kfz-Verkehrs durch die Zulassung des Nebeneinanderfahrens mit Fahrrädern kann aufgrund der Seltenheit des Ereignisses mehrerer Fahrradfahrender nicht als sachliches Argument gewertet werden. Mit einer Übertragung der Regelungen zu Fahrradstraßen auf Tempo-30-Zonen wäre zu diskutieren, was mit dem heutigen Verkehrszeichen Fahrradstraße passiert. Denkbar wäre eine vollständige Streichung des Verkehrszeichens aus der StVO oder eine deutliche qualitative Aufwertung von Fahrradstraßen. Unbestritten ist, dass bei einer Streichung des Verkehrszeichens „Fahrradstraße“ auch der Markeneffekt von Fahrradstraßen in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst entfallen würde. Bisher können Kommunen durch die Ausweisung von Fahrradstraßen mit teils geringem Mittelaufwand ihre Fahrradfreundlichkeit unter Beweis stellen. Mit einer Streichung müssten sie die gewünschten Routen zunächst baulich deutlich attraktiveren. Erst dann könnten einzelne Routen für den Radverkehr in Tempo-30-Zonen mittels Wegweisung besonders hervorgehoben werden. Wenn trotzdem auf den Marketingeffekt Wert gelegt wird, bestände immer noch die Möglichkeit, mit verkehrsrechtlich nicht (mehr) relevanten, rein informativen Schildern auf die besonders fahrradfreundliche Gestaltung der Route hinzuweisen. So ist es auch in den Niederlanden (van Boggelen 2018 S. 17) oder in Frankreich […]üblich. Ein Erhalt der verkehrsrechtlich definierten Fahrradstraßen sollte mit einer deutlichen Weiterentwicklung verknüpft werden. Mit einer Wandlung des verwaltungsseitigen Gebots der „vorherrschenden Verkehrsart“ hin zu „Bestandteil des Hauptradroutennetzes“, praktikableren Regelungen zum Vorrang an Knotenpunkten und verstärkten Ansätzen, den ruhenden und fließenden Kfz-Verkehr deutlich zu reduzieren, sind genug Verbesserungsmöglichkeiten gegeben. Damit wäre auch eine Sicherung der wenigen bestehenden „echten“ Fahrradstraßen tatsächlich gegeben, bei denen ansonsten mit Negativbeschilderung wie „Verbot für Fahrzeuge aller Art“ (VZ 250) in Kombination mit Zusatzzeichen „Radverkehr frei“ angeordnet werden müsste. Für die notwendige Diskussion, wie Fahrradstraßen bei einer Übertragung der Regeln auf Tempo30-Zonen weiterentwickelt oder gänzlich abgeschafft werden müssten, werden die Ergebnisse des NRVPProjekts weitere Argumente liefern. Unabhängig von dieser Weiterentwicklung würde die Übertragung der heutigen Fahrradstraßenregeln auf Tempo-30-Zonen sicherlich eine größere Breitenwirkung erzielen. Der Anteil an Tempo-30-Zonen ist so groß, dass mit der Übertragung ein neues Miteinander zwischen Rad- und KfzVerkehr eintreten würde, das Geschwindigkeitsniveau in Tempo-30-Zonen besser eingehalten würde und es eine deutliche Aufwertung des Radverkehrs im Gesamtsystem Straßenverkehr geben könnte.

KAPITEL VIER Ökonomische Effekte des Radverkehrs Die Gestaltung von Fahrradstraßen

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KAPITEL 5


Beispiele für a ­ lternative Mobilitätskonzepte


Entwürfe für eine Welt mit Zukunft Gewebe der Zivilisation Zivilisierung als Mobilisierung Nur in den Zeitläufen einer kosmischen Perspektive enthüllt sich die außergewöhnliche Dynamik und Reichweite der Ver­wandlung der menschlichen Zivilisation in der jüngeren Ver­gangenheit. Was dem Menschen in seiner alltäglichen Zeit­erfahrung wie eine stetige Evolution erscheint, präsentiert sich im Blick der außerirdischen Beobachter als ein Quantensprung. Wären sie beständig zugegen gewesen, hätten ihnen die ersten hunderttausend Jahre Menschheitsgeschichte den Eindruck eines sich langsam beschleunigenden Anlaufs gemacht, der erst im 20. Jahrhundert im fulminanten Weitsprung einer nunmehr durch und durch wissenschaftlich-technologischen Zivilisation mündete. Und dieser Weitsprung hält noch an. Wo ist der Landungspunkt? Wird die Landung glücken, oder endet sie in einem Crash? Und trägt der Vergleich des Weitsprungs überhaupt? Oder war der Ab­sprung ein Take-Off in ganz neue Dimensionen? Noch wissen wir es nicht, genauso wenig wie die außerirdischen Besucher, die in der Auswertung und Extrapolation ihrer Sensorenmessungen offenbar zu einer betrüblich ungünstigen Prognose für die Menschheit gelangt sind. Zu hoffen bleibt, dass sie sich irren und zu früh weitergezogen sind. Unstrittiger ist wohl, dass die Methoden der Raumüberwindung und ihre Techniken und Infrastrukturen bis heute einen der eindrücklichsten Belege dieser radikalen Veränderung darstellen. Als die der Nahrung folgenden, wandernden Menschengruppen Tier und Pflanze domestizierten und bei ihnen sesshaft wurden, entstanden Siedlungen, Völker und Kulturen. Diese schufen sich mit der Zeit ein immer dichteres Netz von Wegen und Kommunikationsmitteln und erschlossen stetig neue geographische Räume, bis schließlich der ganze Planet ihre Heimat geworden war. Häfen, Straßen, Parkplätze, Schienen, Bahnhöfe, schließlich Flughäfen und Raumbahnhöfe markieren die Technisierung der Mobilität und sind zugleich sichtbarster Ausdruck des Umbaus der Welt zur Beschleunigungsarena, die mit ihren Lichtspuren stets und ständig das Gewebe unserer Zivilisation in den Nachthimmel schreibt. Die Geschichte der Mobilität ist oft als eine Abfolge von genialen Augenblicken richtungsweisender Einzelereignisse beschrieben worden, in denen wissenschaftlich und technologisch immer voraussetzungsreichere Erfindungen uns das Rad, das Schiff, die Nautik, den Verbrennungsmotor, das Flugzeug und schließlich die Raketentechnik und das Internet bescherten. Man kann diese Aufwärtstransformation des Verkehrswesens aber auch als das stete Verweben von systemischen Optimierungs- und Innovationsprozessen beschreiben, die mit Eintritt ins 19. Jahrhundert wissenschaftlich fundiert, methodisch angeleitet und systematisch vorangetrieben wurden. Mindestens drei solcher Innovationskomplexe der Mobilität überlagerten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts und brachten eine gigantische Mobilitätsmaschinerie hervor, die unter Verbrauch enormer Mengen an Ressourcen, Boden, Ka­pital und Arbeitskraft und zum Preis immer größerer negativer Begleiterscheinungen für Umwelt und Gesellschaft bis heute einen stetig wachsenden Output an Bewegung von Menschen und Materie ermöglicht, der zur Grundlage unserer modernen Lebensstile geworden ist. In diesen drei Innovationskomplexen, der Orientierungsinnovationen, der Beschleunigungsinnovationen und der Vernetzungsinnovationen bündeln und verweben sich produkttechnologische Erfindungen mit systemischen Infrastrukturinnovationen und zunehmend auch mit – und dies gibt Anlass zur Hoffnung – völlig neuen Formen und Ausprägungen einer Dienst­leistungs- und Sharingkultur. Die Kunst der Navigation Keine Mobilität ohne Navigation. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der Mobilität ist kaum zu überschätzen. Seit sich Menschen im Raum bewegen, stehen sie vor der Herausforderung, sich zu orientieren. Bei der steinzeitlichen Jagd, beim Wandern der Nomaden, beim Handeln und Reisen. Zunächst halfen Sterne, Landmarken, Orientierungssinn und Gedächtnisnavigation. Als die Räume größer wurden, die Wege und Reisen länger und die Zahl der Reisenden größer, reichte das nicht mehr aus. Die Gedankenkarten wurden ergänzt durch Landkarten, und die Kartographie entwickelte sich zu einer hochgeschätzten Kunst. Die Karten galten der Sicherstellung, Überlieferung und Reproduzierbarkeit der gefundenen Wege und Orte. Sie waren auf Tafeln, Leder und geschöpftem Papier gespeichertes Wissen. Auf diesem Wissen konnten die immer neuen, die bekannten Grenzen überschreitenden Expeditionen aufbauen, auf die gleiche Weise, wie das Voranschreiten der Wissenschaft auf den in Büchern dokumentierten Er­kenntniskontinenten a ­ ufbaute. Als die Schifffahrt schließlich mit dem Weltverkehr der frühen Neuzeit die Flüsse und Küstenstraßen verließ und das offene Meer suchte, war dies eine Blütezeit der Navigation, der Steuermannskunst mit ihren über die nachfolgenden Jahrhunderte immer weiter verfei­nerten und verwissenschaftlichten Verfahren der Orts- und Routenbestimmung zu Wasser, Land, in der Luft und schließlich im Weltraum. Zwei Schritte der Orientierung gehen jedem Steuern voraus: das Feststellen der aktuellen Position und das Ermitteln der günstigsten Route zum Ziel. Beides wurde über die Jahrhun­derte kontinuierlich perfektioniert und mündete mit der Er­findung der Satellitennavigation und der Verkehrstelematik in der flächendeckenden Individualisierung der Routenfin­dung durch Millionen von Navigationssystemen für Auto- und Lkw-Fahrer, Schiffsoffiziere und Flugkapitäne. Auch die Kriegsführung ist heute nicht mehr ohne die perfektionierten Methoden der

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KAPITEL FÜNF Entwürfe für eine Welt mit Zukunft Gewebe der Zivilisation

Auszüge aus: Stephan Rammler, Schubumkehr Die Zukunft der Mobilität, Frankfurt am Main: FISCHER Taschenbuch 2014, ­Herausgegeben von Harald Welzer und Klaus Wiegandt. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014

Zivilisierung als Mobilisierung, die Kunst der Navigation


Ortsbestimmung und Zielfindung für Panzer, Kampfbomber und U-Boote denkbar, für Marschkörper, Raketen und unbemannte Drohnen jeglicher Art. Die millimetergenaue, computergestützte Navigation wird selbst aus dem Operationssaal bald nicht mehr wegzudenken sein, wo die Operateure sich mit Hilfe eines medizintechnischen Systems auf der Grundlage von Röntgenbilddaten und Computertomographien präzise durch schwieriges Terrain manövrieren können, etwa im äußerst verletzlichen Gehirngewebe, in dem jeder Fehlgriff schwerwiegende Folgen haben kann. Die fortschreitende Digitalisierung der Navigation verlangt heute unsere gleichzeitige Orientierung in drei Typen von Welten: Neben der realen Welt steht die Welt der digitalen Daten, und zwischen diesen beiden wächst die immer komplexer werdende Mischwelt aus digitalen und geographischen Raummarken, beweglichen Gegenständen und Menschen, die zunehmend mit einer virtuellen Bedeutungsschicht über­zogen werden. Die virtuelle Welt des weltweiten Netzes, der Datenwolken und digitalen Parallelwelten ist heute durch den technologischen ­Fortschritt so überaus komplex geworden, dass wir uns auch dort vielleicht bald nur noch mit individuellen Routenscouts und Rechercheassistenten zurechtfinden können. In der sich rasant entwickelnden Mischwelt aus realen und digitalen Bewegungen wird unsere hybride Existenz als ortspolygame Cyberwesen zukünftig womöglich auf die Spitze getrieben. Allerdings zeigt sich schon heute in Sackgas­sen, vor toten Brücken und an Hafenkanten, dass mitunter derjenige ziemlich verlassen ist, der sich vollkommen auf die digitalen Techniken der Orientierung verlässt. Je mehr wir der informationstechnologischen Unterstützung unserer di­gitalen Navigatoren vertrauen, desto mehr ähneln wir tumben Päckchen, die verloren gehen, wenn diese Unterstützung plötzlich wegfällt. Deswegen kann für die Zukunft die Gefahr eines digital lost – des digitalen Verlorengehens – gar nicht ernst genug genommen werden. Je perfekter uns die Technologie in der Alltags­orientierung unterstützt, desto schneller stellen steh unsere Gewohnheiten darauf ein und machen uns abhängig. Es wäre denkbar, dass sich am Ende bestimmte neuronale Verknüp­fungen gar nicht erst ausbilden, die die Notwendigkeit, sich im Raum zurechtzufinden, in den Gehirnen der früheren Menschen entstehen ließ. Gehirnstrukturen und Fähigkeiten, die sich durch lange Übung von klein auf ausbilden, wären dann im Notfall eines Technologieversagens nicht mehr ab­rufbar. Bereits für das Jahr 2014 wird erwartet, dass über eine Milliarde GPS-fähige Handys und Smartphones verkauft werden. Steht uns damit die eigentliche Kollektivierung der Orientierungslosigkeit erst bevor? Ein Rückfall in die Zei­ten vor der ursprünglichen Kultivierung von technologischen und kulturellen Orientierungssystemen, paradoxerweise ge­rade weil wir die Kunst der Navigation informationstechnologisch auf die Spitze getrieben haben? Die Mobilisierung der Welt hätte ohne die zeitgleiche Entwicklung von Systemen der räumlichen Orientierung nicht stattfinden können. Hin­ter Jahrtausenderfindungen wie der des Rades, des Verbrennungsmotors und anderen Beschleunigungsinnovationen der Mobilität – wie sie im folgenden Abschnitt beschrieben wer­den – tritt die Bedeutung der Orientierungssysteme in der wissenschaftlichen wie in der Laienwahrnehmung häufig zurück. Was würde passieren, wenn durch einen Sonnensturm, einen Stromausfall oder eine Cyber-Attacke die globalen Da­ tennetze ausfielen? Im Cyber-GAU würde die globale Mobili­ tätsmaschine abrupt zum Stillstand kommen. Dieses Risiko wächst mit dem Grad der technologischen Durchdringung und Abhängigkeit, was für die Zukunft vor allem die Frage nach der Möglichkeit resilienter – also krisensicherer – Infra­strukturen aufwirft. Vom Rad zur Rakete – Zur Geschichte der Beschleunigungsinnovationen Der Mensch, so der Sozialanthropologe Arnold Gehlen, „könnte sich in der ihm gegebenen biologischen Konstitution innerhalb der rohen Natur gar nicht halten. Sein intelligentes Handeln zielt deswegen in erster Linie auf die Veränderung der Außenwelt aus barer organischer Bedürftigkeit. So muss er sich die ihm organisch versagten Waffen erst selbst her­stellen, und wenn er in die Kälte vordringt, dann hängt er sich den Pelz um, der ihm nicht wächst.“ Auch die Gestaltung von einzelnen Techniken und schließlich ganzen Systemen der Raumüberwindung lassen sich in Gehlens Lesart der Technikentstehung als Organersatz, Organentlas­tung und Organüberbietung begreifen: Der Wagen, das Reittier entlasten uns von der Gehbewegung und überbieten weit deren Fähigkeit. Im Tragtier wird das Entlastungsprinzip handgreiflich anschaulich. Das Flugzeug wieder ersetzt uns die nicht organisch gewachsenen Flügel und überbietet weit alle organische Flugleistung. Die gleich­zeitige Ansässigkeit des Menschen in der Grenzenlosigkeit des Raums und der Begrenztheit der Zeit bot Anlass, das Rad zu erfinden und – metaphorisch gesprochen – immer neu zu erfinden, indem ein ganzes Arsenal künstlicher Organe der Raumüberwindung geschaffen wurde, mit deren Hilfe sich die Einschränkungen des gegebenen menschlichen Körpers überwinden lassen. Diese Hilfsmittel werden hier deswegen unter dem Begriff der Beschleunigungsinnovationen zusammenge­fasst, weil die Beschleunigung eine Strategie ist, trotz knapper Zeitressourcen – und Zeit ist individuell angesichts des Todes und gesellschaftlich aufgrund der kapitalistischen Wirtschafts­weise immer knapp – immer weitere Räume zu erschließen.

Vom Rad zur Rakete – Zur Geschichte der Beschleunigungsinnovationen

KAPITEL FÜNF Entwürfe für eine Welt mit Zukunft Gewebe der Zivilisation

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Zukunftstrends der Mobilität Die Zukunft ist ein schwieriges Terrain. Das war schon immer so, gilt heute aber erst recht. Wir leben in einer immer schnelleren und riskanteren Welt, in der das Kommende stetig we­niger fassbar und erwartbar wird als in den Jahrzehnten zuvor. Das betrifft insbesondere alle Aussagen zur Zukunft der Mobilität, denn es ist ja gerade der immer mobilere, beschleunigte und veränderliche Charakter der modernen Kultur, der die Orientierung in den Gefilden der Zukunft immer schwieriger und überraschungsreicher macht. Wo gestern ein Weg war, ist heute keiner mehr. Wo wir heute vor einer Sackgasse stehen, dort spannt morgen eine Brücke überraschend neue Verbindungen auf, und was seit Jahrhunderten als gute und sinnvolle gesellschaftliche Praxis gelten konnte, wie zum Beispiel das Wachstumsprinzip oder die Nutzung fossiler Brennstoffe, hat sich auf einmal zu einer der größten Gefahren für die menschliche Zivilisation entwickelt. Wegen dieser Unübersichtlichkeit und Risiken ist die Analyse zukünftiger Entwicklungen heute wichtiger denn je. Gleichzeitig sollte sie durchaus mit Demut vor dem Unerwarteten und ohne den unbeirrten, quasiwissenschaftlichen und mitunter überheblichen Gestus betrieben werden, den heute manche Institutio­nen der Zukunftsforschung an den Tag legen, insinuierend, man könne die Zukunft wissen. Obschon die Zukunft also nicht sicher vorhersagbar ist, können wir doch versuchen, uns auf verschiedene mögliche Zu­kunftsvarianten vorzubereiten. Dabei ist das Mögliche nicht immer das Wahrscheinliche, und das Unwahrscheinliche, womöglich Riskante mag mit unerbittlicher statistischer Berechtigung plötzlich eintreten. Mitunter genügt schon die Veränderung weniger, für unbedeutend gehaltener Parameter, um die Annahmen des bislang Wahrscheinlichen zugunsten völlig neuer und überraschender Entwicklungen außer Kraft zu setzen. Das Zukünftige entfaltet sich von heute aus be­trachtet also in einem gedanklichen Möglichkeitsraum, der von den unterschiedlichsten Einflussfaktoren aufgespannt wird. Betrachtet man die Zukunft der Robotik oder der Künst­lichen Intelligenz, so wird man andere Einflussfaktoren in den Blick nehmen als bei der Frage nach den künftigen Ernährungsweisen, der Sexualität oder der Kriegsführung. Die Mobilität nimmt im Vergleich zu solchen Fragen eine gesonderte Stellung ein. Sie ist als ein von sehr breiten und vielfältigen kulturellen, sozialen und technologischen Entwicklungs­trends abzuleitendes Phänomen zu verstehen. Deswegen stellt allein schon die Auswahl der Einflussfaktoren eine Ent­scheidung dar, die alle weiteren Ableitungen maßgeblich prägt. In diesem Sinne werden Zukunftsprognosen der Mobilität oft aus einer besonderen Schwerpunktsetzung bei der technologischen Entwicklungsdynamik heraus unternommen. Das ist nicht falsch, bleibt aber angesichts der enormen Bedeutung zum Beispiel demographischer oder geopolitischer Entwicklungen unvollständig. Das Bild der zukünftigen Mobilität ist also ein Bild, das mit den verschiedensten Pinseln, Farben und Perspektivgebungen zu malen ist. Für die folgende Skizze des Zukunftsraumes der Mobilität wurden in diesem Sinne unterschiedliche soziale, politische, demographische und technologische Einflussfak­toren berücksichtigt, die wiederum gebündelt in sieben mobilitätsrelevanten Faktorenclustern des (1) Wachstums der Transportnachfrage, (2) deren externer Effekte, (3) des Ma­terialbedarfs, (4) des Energiebedarfs der Mobilität, (5) der Resilienz ihrer Infrastrukturen, (6) der demographischen und siedlungsstrukturellen Entwicklung und schließlich (7) der Digitalisierungs- und Vernetzungsprozesse der Mobilität im Folgenden dargestellt werden. Mobility Peak Wohl selten war die Ratlosigkeit von Experten selbst für fachfremde Beobachter greifbarer als während des Weltverkehrsforums 2011 in Leipzig. Angesichts der zentralen Botschaft des World Transport Outlook des International Transport Fo­rum der OECD (OECD/ITF 2011), das Verkehrsaufkommen werde sich bis zum Jahr 2050 weltweit verdreifachen – wobei sich der Trend zum Auto und Flugzeug weiter ausprägen wird –, war guter Rat teuer. Während in allen anderen Sek­toren Effizienzsteigerungen, Verbrauchssenkungen und die Verringerung von Umwelteffekten mehr oder minder erfolgreich umgesetzt werden, dreht sich die globale Mobilitätsma­schinerie offenkundig immer schneller. Eine Antwort auf die Frage, wie unter diesen Umständen die Mobilitätsanforderungen von neun Milliarden Menschen auf wirklich nachhaltige Weise zu gewährleisten wären, blieben allerdings alle Ex­perten schuldig. Einig war man sich allein darin, dass bei einer ungesteuerten Entwicklung die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen und dementsprechend die Emissionen von Klimagasen, Luftschadstoffen und Feinstäuben, die Lärmemis­sionen, die Unfallkosten und vor allem der Material- und Raumbedarf der Mobilität weiter enorm ansteigen werden. In der Verkehrsökonomie wird in diesem Zusammenhang von den sogenannten externen Kosten des Verkehrs gesprochen, die als individuell und gesellschaftlich unangenehme bis ge­fährliche, ja oft tödliche Begleiterscheinungen der Nutzen­produktion der Mobilität auftreten, ohne dass diese negativen Auswirkungen von den Verursachern gegenüber den Betrof­fenen in irgendeiner Weise ausgeglichen würden. Angefan­gen bei den ersten Reitunfällen, Schiffsuntergängen, über die modernen Eisenbahnunglücke und spektakulären Flugzeugabstürze, das Massensterben auf den Straßen und Autobah­nen bis zu den emissionsbedingten Gesundheits- und Um­welteffekten – die externen Effekte bilden die Schattenseite ihrer Erfolgsgeschichte und begleiteten die Entwicklung der Mobilität von Beginn an. Angesichts der Wachstumsprognosen des World Transport Outlook stellt sich gegenwärtig ernsthaft die Frage, wie unter der Bedingung der rasant wachsenden Weltbevölkerung – und damit den weltweit zwangsläufig immer dichter gepackten Raum- und Siedlungsstrukturen – weiteres Verkehrswachstum und Verkehrssicherheit, Lebensqualität und Schutz der Gesundheit überhaupt vereinbar sein können. Womöglich liegen die Grenzen weiterer Beschleunigung und Mobilisierung weniger in den Limits der noch verfügbaren Brennstoffe als in einem gesellschaftlichen Verträglichkeitslimit, in dessen Nähe die individuellen und sozialen Grenzkosten jedes weiteren Mobilisierungsschubes höher sind als der immer geringer werdende Nutzenzuwachs. Gibt es also

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KAPITEL FÜNF Entwürfe für eine Welt mit Zukunft Zukunftstrends der Mobilität

Mobility Peak


eine Art „Mobility Peak“, einen Gipfel der Mobilität, und wann wäre er erreicht? Für eine belastbare Antwort auf diese Frage ist es wohl noch zu früh, doch wird es in diesem Zusammenhang zukünftig nicht nur interessant sein zu beobachten, wie sich der Wider­stand gegen große Verkehrsinfrastrukturprojekte in Europa weiterentwickelt, sondern auch, ob und wie zum Beispiel die chinesische Bevölkerung politisch auf die extreme Luftver­ schmutzung in den urbanen Ballungszentren reagiert, die sich als dauerhafte Begleiterscheinung des extrem forcierten chi­nesischen Wachstums- und Mobilisierungsmodells etabliert hat. Riskante Mobilität Schon im ersten Monat des Jahres 2013 wurden in China mehrere fragwürdige Verkaufsrekorde aufgestellt. Während die deutschen Autobauer freudig verkündeten, 2013 auf einen Absatz zuzusteuern, der die bereits fulminanten Zahlen des Jahres 2012 noch überbieten würde, konnte sich ein Unter­nehmer aus Peking nur mit halbem Herzen über den Erfolg seiner Produkte freuen. Er produziert Luftreiniger mit denen Menschen in ganz Nordchina versuchen, die Luft in ­ihren Wohnräumen halbwegs atembar zu machen. Auch die Produzenten von Feinstaubmasken verzeichneten in China im Ja­nuar 2013 Verkaufsrekorde, denn große Teile Nordchinas lagen unter einer nie dagewesenen Smogglocke. Die in Peking gemessenen Feinstaubwerte reichten weit über die Skalen der WHO-Luftschadstoffindizes hinaus. Allein im Januar wurden die Grenzwerte der WHO an 25 Tagen um mehr als das Zehnfache überboten. Atmen war in Peking wie in den meisten der chinesischen Millionenmetropolen immer schon mehr oder weniger ungesund, doch im Januar 2013 wurde es lebensgefährlich. Selbst die Kummer gewohnten Pekinger sprachen von „Airpokalypse“, und diejenigen, die es sich leisten kön­nen, denken immer ernsthafter daran, ihre Heimat zu verlassen, Dabei kommt die akute Situation des Januars 2013 nicht überraschend, Mit dem Wirtschaftswachstum Chinas werden täglich neue Betriebe eröffnet, der Energiehunger des Landes wird vor allem mit immer neuen Kohlekraftwerken gestillt, von denen fast jede Woche ein neues ans Netz geht. Dies, zusammen mit den Emissionen des rasant wachsenden Ver­kehrs, hat eine neue Verschmutzungsdimension geschaffen, die in den meisten westlichen OECD-Staaten selbst in den dunkelsten Stunden ihrer Umweltgeschichte in den vergangenen zweihundert Jahren nicht erreicht worden war. 2012 war China zum vierten Mal in Folge sowohl der größte Produzent als auch der größte Markt für Autos. Für 2013 wird erwartet, dass die Autoverkäufe die 20-Millionen-Marke knacken, und es ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, dass sich dieser Trend umkehren könnte, Allein in Peking werden täg­lich etwa 2000 neue Fahrzeuge zugelassen. Bleibt das so, dann könnten 2015 in der 11-Millionen-Metropole fast sieben Millionen Fahrzeuge zugelassen sein. Die staubedingte Durch­schnittsgeschwindigkeit läge dann wieder bei etwa 15 Stun­denkilometern und damit auf einem ähnlichen Niveau wie zu den Zeiten, als das Fahrrad Pekings Massenverkehrsmittel war. Sicher hat der große Anteil des Verkehrs an der schlechten Luftqualität auch damit zu tun, dass in China sehr schmutziges Benzin zum Einsatz kommt, dessen Schwefelgehalt 15-mal höher ist als bei dem in der EU verwendeten, doch wären die Emissionen auch unter günstigeren Bedingungen noch hoch, Der Luftverkehr in China verzeichnet ebenfalls enorme Wachstumsraten, ganz zu schweigen von der Schiff­fahrt, die mit Schweröl den dreckigsten aller Treibstoffe verbrennt brennt und die Luftqualität in den Küsten- und Hafenregio­nen zusätzlich verschlechtert. Das Beispiel Chinas ist exemplarisch für das, was sich über­all auf der Welt abspielt: Fossile Mobilität erzeugt – auch unter technologisch günstigen Bedingungen – große Mengen von Luftschadstoffemissionen durch Abgase und den Abrieb von Reifen, Bremsen und Fahrbahnbelägen. Während in Asien die Belastungen auf immer neue Gipfel zustreben, galt die verkehrsbedingte Emissionsproblematik .in Europa und Nordamerika aufgrund besserer Motorentechnologie als mehr oder minder gelöst. Jetzt zeigt sich auch hier eine neue Dimension der Verschmutzung, paradoxerweise als ein Effekt der Bemühungen, die verkehrsbedingten Feinstäube, den Verbrauch und die Kosten der Automobilität zu reduzieren. Der Grund ist der enorme Erfolg des Dieselantriebs, der als sparsamer und deswegen kostengünstiger und tendenziell weniger klimaschädlich gilt. Durch moderne Filtertechnologie konnten die Feinstaubemissionen zumindest der Neuwagenflotte drastisch reduziert werden, mit dem Nebeneffekt, dass die ohne­hin hohen Stickstoffdioxid-Emissionen von Dieselfahrzeugen noch weiter ansteigen. NO2 gilt als Mitverursacher von Herz-Kreislauf-Problemen, Asthma und Krebs, Im Winter 2013 wurde der NO2-Grenzwert an allen sechs Luftmessstatio­nen an den Berliner Hauptverkehrsadern überschritten. Eine Projektion der OECD geht davon aus, dass weltweit die „Ge­sundheitsschädigungen infolge von Luftverschmutzung in städtischen Gebieten weiter zunehmen und zur wichtigsten umweltbedingten Ursache vorzeitiger Todesfälle werden, An­gesichts der Zunahme der Luftschadstoffemissionen des Ver­ kehrssektors und der Industrie wird sich die Gesamtzahl der vorzeitigen Todesfälle, die mit Feinstaub in der Luft zusammenhängen, den Projektionen zufolge global mehr als verdoppeln (auf 3,6 Millionen jährlich), wobei es in China und Indien wohl zu den meisten dieser Todesfälle kommen wird“ (OECD 2012). Schlechtes Klima durch verkehrsbedingte Treibhausgase Neben den unmittelbar gesundheitsschädlichen Emissionen und Feinstäuben, die bei der Verbrennung fossiler Treibstoffe im Verkehr entstehen, ist vor allem das Klimagas CO2 ein Problem. Auch CO2 entsteht bei der Verbrennung von Treib­stoffen und ist neben anderen Gasen hauptverantwortlich für die sich immer stärker beschleunigende Erderwärmung, den sogenannten Treibhauseffekt. Wo steigende Verkehrsleis­tungen weltweit zu einem steigenden Treibstoffverbrauch führen, steigen auch die CO2-Emissionen. Rund 11 % der weltweiten Treibhausgas-Emissionen werden durch die 27 Staaten der Europäischen Union verursacht (PBL Nether­lands Environmental Assessment Agency (2012). Der Trans­port ist hier der einzige Sektor, der seit 1990 stark steigende Emissionen verzeichnet. Der Landtransport, der für rund drei Viertel der Treibhausgas-Emissionen des Transportsektors verantwortlich ist, hatte im Jahr 2010 einen Anteil von etwa 18 % am Treibhausgas-Ausstoß

Riskante Mobilität, Schlechtes Klima durch verkehrsbedingte Treibhausgase

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der EU-27. Zusätzlich müssen die Treibhausgasemissionen des Luftverkehrs und der internationalen Seeschifffahrt in die Rechnung einbezogen werden. Sie sind für jeweils rund 3 % der CO2-Emissio­nen der EU-27 verantwortlich, allerdings mit stark steigender Tendenz. Die CO2-Emissionen des Luftverkehrs haben seit 1990 um rund 80 % zugenommen, die des Seeverkehrs um 30 %. Damit ist der Luftverkehr der mit Abstand größte Wachstumstreiber bei den Treibhausgasemissionen, wobei die besondere Klimawirksamkeit der Luftverkehrsabgase in dieser Betrachtung noch nicht berücksichtigt ist. Nimmt man alle Verkehrssparten zusammen, sind die C02-Emissionen des Verkehrssektors in den EU-27 laut der Daten der Europäischen Umweltagentur (EEA 2012) seit 1990 um 27 % gestiegen. Der Transportsektor ist also der einzige Bereich, in dem kon­tinuierlich stark ansteigende Klimagasemissionen zu verzeichnen sind. Auch die gegenwärtig als Hoffnungsträger einer nachhaltigen Mobilitätszukunft gehandelte Technologie des Elektroantriebs wird hier nur Linderung verschaffen, wenn die eingesetzte Primärenergie aus regenerativen Quellen stammt. Allerdings sieht es im Augenblick eher so aus, als ob der Elektroantrieb vor allem dazu dienen soll, die Abhängigkeit vom sich schnell verteuernden Erdöl zu verringern. Atom-, Gas- und Kohlekraftwerke werden dabei internatio­nal-abgesehen von einigen wenigen europäischen Nationen – durchaus als sinnvolle Energielieferanten für die Elektromobilität angesehen. Mit diesen stationären Anlagen verrin­gert sich – natürlich nur unter der Voraussetzung, dass eine fortschrittliche Kraftwerks- und Filtertechnologie eingesetzt wird – die Problematik der lokalen Schadstoffemissionen, das CO2-Problem wird allerdings kaum gemildert, sondern nur geringfügig verschoben. Schließlich verdient in diesem Zusammenhang vor allem der Luftverkehr eine besondere Aufmerksamkeit. Die absoluten CO2-Emissionen der globalen Luftfahrt fallen im Vergleich zum Straßenverkehr und zur Schifffahrt am geringsten aus. Gleichwohl besteht die gut begründbare, wenn auch nach wie vor umstrittene Vermutung, dass das Einbringen von Verbrennungsgasen durch Flugzeuge in großer Höhe besonders klimaschädigende Effekte hat. Man spricht hier vom RFI, dem Radio Forcing Index, der besagt, dass C02 und Wasserdampf in der Troposphäre eine drei- bis viermal höhere Klimawirksamkeit haben. Grund dafür sind besondere chemische Prozesse der Wolkenbildung, die die Wärmeabstrahlung der Erde behindern und damit am schleichenden Prozess der Aufheizung beteiligt sind. Genau aus diesem Grund gelten Flüge, vor allem internationale Langstreckenflüge, als ungleich klimaschädlicher als die Automobilnutzung. Ein Flug Berlin-München wäre dementsprechend drei-bis viermal klimawirksamer als dieselbe Reise mit dem Auto. Und ein einziger Flug in den Westen der USA entspräche der durchschnittlichen Autonutzung eines ganzen Jahres in Deutschland. Genau dieser Sachverhalt ist nun auch für den vordergründig paradoxen Effekt mitverantwortlich, dass die sogenannten LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability), also die in ihrem unmittelbaren Lebensalltag ausgesprochen umwelt- und gesundheitsbewussten, gebildeten und politisch oft linksliberal orientierten urbanen Mittelschichten ohne Auto, mit starker Neigung zu Fahrrad und Bio-Lebensmitteln, aufgrund ihrer meist ausgeprägten Neigung zu häufigen und weiten Flugreisen, verkehrs- und klimapolitisch betrachtet, die größten Schäden verursachen. „Vision Zero“ in weiter Ferne – Der kalte Krieg auf den Straßen der Welt Was würde in der deutschen Öffentlichkeit wohl geschehen, wenn in einem Jahr in Afghanistan oder anderswo 3 500 deutsche Soldaten sterben würden? Genau so viele Menschen starben 2012 in Deutschland an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Seit Beginn des deutschen Einsatzes im Jahr 2002 ließen 53 Soldaten ihr Leben in Afghanistan. Dies wurde immer von einer breiten Öffentlichkeit thematisiert und bedauert. Zeitgleich gleich starben in diesen zehn Jahren auf den deutschen Stra­ßen fast 50 000 Menschen, was annähernd der Summe der im Vietnamkrieg getöteten U. S.-amerikanischen Soldaten entspricht. Es sind solche makabren Vergleiche, die deutlich machen, mit welchem Ausmaß an Gewöhnung unsere und auch fast alle anderen Gesellschaften auf der Welt bereit sind, Menschenleben und körperliche und seelische Unversehrtheit auf dem Altar der Mobilität zu opfern. Laut WHO starben 2010 weltweit etwa 1,3 Millionen, also täglich etwa 3 000 Menschen im Verkehr. Zwischen 20 und 50 Millionen Menschen werden jedes Jahr verletzt. Neben dem menschlichen Leid sind vor allem die ökonomischen Kosten riesig. Allein für Deutschland bezifferte die Bundesanstalt für Straßenwesen die Gesamtkosten durch Straßenverkehrsunfälle im Jahr 2003 auf 32 Milliarden Euro, die sich zu gleichen Teilen auf Personen- wie auf Sachschäden verteilen. Weltweit betrachtet, gehen die Kosten wohl in die Billiarden. Mit diesen Dimensio­nen übertrifft der Straßenverkehr fast alle seit dem Zweiten Weltkrieg auf der Welt geführten Kriege bei weitem. Es ist eben auch eine Art Krieg, der sich auf den Straßen der Welt abspielt und dessen Verschärfung angesichts der erwarteten Motorisierungzuwächse vor allem in den asiatischen Modernisierungsgesellschaften sehr wahrscheinlich ist. Bereits 2012 gab es in China trotz der noch vergleichsweise geringen Mo­torisierungsrate etwa 60 000 Verkehrstote. Damit ist China der weltweite Spitzenreiter, dicht gefolgt von Indien und den USA. China und Indien sind es auch, aus denen von den Medien immer wieder die haarsträubendsten Geschichten zum Thema „Kampf auf den Straßen“ kolportiert werden: Fußgänger werden fahrlässig überrollt, Schwerverletzte achtlos mitten im Verkehr ihrem Schicksal überlassen, Bus- und LKW-Fahrer liefern sich mit ihren vollbesetzten Fahrzeugen auf Wüstenpisten Wettrennen, bis einer von der Straße gedrängt wird. Zwar gibt es auch in China und Indien am internationalen Gebrauch orientierte kodifizierte Verhaltensmaßstäbe, allerdings werden sie durch die gewachsene ungeschriebenen Regeln des alltäglichen Verkehrsverhalten noch so stark überlagert, dass das Geschehen auf den Straßen, gemessen an den Maßstäben der westlichen Straßenverkehrskultur, scheinbar jede Form von Zivilisiertheit vermissen lässt. Interessanterweise unterscheiden sich diese Eindrücke und Geschichten kaum von den historischen Schilderungen des Verkehrsgeschehens in Europa zu Beginn der Massenmotorisierung Anfang des 20. Jahrhunderts. Ähnlich wie heute in China und Indien war die Straße damals auch in Europa ein vielfältiger Lebensraum, der von den Bewohnern der Dörfer und Städte gleichzeitig mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen und Anforderungen in Anspruch genommen wurde. Erst in einem konfliktreichen Prozess wurde dieser Lebensraum dann zu einem verhaltenshomogenen, auf die Ansprüche des schnellen motorisierten Verkehrs optimierten Transit-

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„Vision Zero“ in weiter Ferne – Der kalte Krieg auf den Straßen der Welt


raum umgebaut. Verkehrsgerechtes Verhalten ist heute ein Verhalten, das die Dominanz des Automobils und den Vorrang des ungehinderten Verkehrsflusses respektiert. Um die Verkehrssicherheit und einen reibungslosen Ablauf zu garantieren, wurde in allen westlichen Gesellschaften im Prozess der Motorisierung seit den 1960er Jahren ein dichtes Netz von Überwachungs- und Normierungsvereinen, Verkehrserziehungs- und Überwachungsinstitutionen gewebt, das die Verkehrssozialisation, also das Erlernen des verkehrsgerechte Verhaltens jeder neuen Generation von Verkehrsteilnehmer garantiert. Verkehrssicherheit ist also eine Frage der gewachsenen Verkehrskultur. Während in Europa und Nordamerika über einhundert Jahre zur Verfügung standen, um die gesellschaftliche und technologische Entwicklung der Automobilisierung in eine Verkehrssicherheitskultur einzubetten, muss dieser Prozess in Asien in wenigen Jahren vollzogen wer­den. Die hohen Verkehrsopferzahlen sind Ausdruck dieser großen Geschwindigkeit und der Ungleichzeitigkeit der Mo­ ­ torisierung mit der Entwicklung des entsprechenden „ver­kehrsfunktionalen“ Verhaltens. Obwohl die westlichen ­Ge­sellschaften einen vergleichsweise erfolgreichen Weg hinter sich haben – was sich in Deutschland daran ablesen lässt, dass seit dem Höhepunkt der Unfallentwicklung Anfang der 70er Jahre mit über 20 000 Verkehrstoten trotz zeitgleich wachsen­der Verkehrsleistungen ein Rückgang auf heute 3 500 Ver­kehrstote ­erreicht wurde –, ist auch hier noch lange nicht alles gut. Ausgehend von den skandinavischen Ländern, insbeson­dere dem Vorreiter Schweden, wurde deswegen die sogenannte Vision Zero zum Leitbild eines Straßenverkehrs, in dem es keine Verkehrstoten mehr gibt; ein Leitbild, an dem sich immer mehr europäische Staaten mit zunehmenden Erfolg orientieren: In der EU-27 gab es 2010 31 000 Verkehrstote, was im Vergleich zum Referenzjahr 1990 (75 977) eine Vermin­derung um ca. 59 % ausmacht. In Deutschland wurde die Zahl der Verkehrstoten im selben Zeitraum von 11 000 auf 3 648 um 66,8 % reduziert. Insgesamt gab es in der EU-27 2010 1 115 000 Verkehrsunfälle, was einer Reduktion um 25 % im Vergleich zu 1990 (1 487 000) entspricht. In Deutschland sank die Zahl der Verkehrsunfälle im selben Zeitraum um 25,8 % von 389 000 auf 288 297. Weltweit betrachtet, ist Vision Zero noch in weiter Ferne. Überträgt man die Erfahrungen des westlichen Motorisie­rungspfades auf den gesamten Globus, so ist mit exorbitanten Zuwächsen an Verkehrstoten und Verletzten zu rechnen – sofern es nicht in kürzester Zeit, politisch forciert und mit großem Aufwand vorangetrieben, zu großen Änderungen de Verkehrskultur kommt. Alle Fragen der Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit eines wünschenswerten Verkehrssystem werden sich also zuoberst daran entscheiden, ob die Vision Zero weltweit in den Mittelpunkt der Verkehrssicherheitskultur gestellt wird, statt wie bislang Verkehrstote als unvermeidbare Kollateralschäden des nach wie vor verheißungsvollen automobilen Beschleunigungsmodells zu betrachten. Wenn der soziale Zusammenhalt auf der Strecke bleibt – Die psychischen und sozialen Kosten der Mobilität Mit den Emissionen und der Unfall-und Sicherheitsproblematik sind die üblicherweise in den Vordergrund gerückte Schattenseiten des Verkehrs benannt. Man kann die List noch ergänzen um den insbesondere durch die Luftfahrt stark wachsenden Verkehrslärm, den Verlust von Landschaft und qualitativ hochwertigen und sicheren urbanen Lebensräumen, die durch die Verkehrsinfrastrukturen zerschnitten und zersiedelt werden. Luft- und Lärmemissionen, Unfälle und eingeschränkte Wohnqualität sind direkt oder indirekt, sofort oder langfristig über die Beeinträchtigung von Gesundheit und Wohlbefinden psychologische und damit auch soziale Kosten. Hinzu kommt die bislang wenig diskutierte Frag nach dem sozialen Zusammenhalt und den Stabilitätsbedingungen einer zunehmend hochmobilen und flexiblen Gesellschaft. Dazu drei Gedanken. Erstens: Es könnte einen psychologischen Grenzwert der Mobilitätsbereitschaft geben, über den hinaus eine global ausgreifende Beschleunigung nicht weiter verträglich ist. Die ­aktuellen Trends weisen auf einen massiv ansteigenden geschäftlichen internationalen Reiseverkehr hin. Es wird nicht mehr nur von den Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik hohe Mobilitätsbereitschaft erwartet, sondern zuneh­mend auch von Mitarbeitern der mittleren und unteren Managementebene, von Facharbeitern, Spezialisten und von Studenten. Aus dem immer weiter aufgespannten Möglich­keitsraum äußerst günstiger und schneller internationaler Mobilität entsteht ein zunehmender Zwang zur Mobilität, eine Standarderwartung auf höherem Niveau. Waren es bis­lang vor allem Menschen mit besonderen Karriereambitionen oder herausragenden Positionen, Funktionen und Ämtern, von denen eine hohe Mobilitätsbereitschaft erwartet wurde, so ­gehört diese heute zu immer mehr Jobs selbstverständlich dazu. Diese Zwangsmobilisierung trifft zunehmend auch Menschen mit einer größeren Bodenhaftung oder, anders ge­sagt, mit einer geringer ausgeprägten Mobilitätstoleranz. Es ist davon auszugehen, dass diese Zwangsmobilisierung wachsende psychologische und körperliche Probleme mit sich bringen wird. Schon jetzt weisen epidemiologische Studien darauf hin, dass der Gesundheitszustand von sogenannten Fernpendlern oft signifikant schlechter ist als von Nichtpendlern. Dabei sind wiederum diejenigen stärker ­betroffen, die erzwungenermaßen pendeln, im Gegensatz zu denen, die über­wiegend freiwillig viel unterwegs sind. Es liegt außerdem nahe, dass die persönlichen Belastungen des vielen und häufigen Reisens über lange Distanzen umso in­tensiver empfunden werden, je größer der davon betroffene soziale Zusammenhang ist, was zum zweiten Gedanken führt: Es könnte einen sozialen Grenzwert der Belastbarkeit von Be­ziehungen und Familien durch hohe Mobilitätsanforderun­gen geben. Auch wenn die modernen Kommunikationsmedien heute hochmobile Lebensstile und Distanzbeziehungen ungleich leichter und erträglicher machen als früher, bleibt es doch dabei: familiärer und freundschaftlicher Austausch und ein gelingendes soziales Leben benötigen räumliche Nähe. Je mehr Menschen immer häufiger unterwegs sind, desto schwerer wird es in Zukunft sein, das Maß an Stabilität von Familien- und Gruppenbeziehungen aufrechtzuerhalten, das für ein gelingendes gesellschaftliches Leben notwendig ist. Je stärker ortspolygame Lebensstile und Sozialbeziehungen sich entwickeln, desto mehr könnten wir als gesamte Gesellschaft mit dem Problem der sozialen Integration konfrontiert sein.

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Auf dieser Folie könnte drittens eine Belastungsgrenze des politischen Systems erreicht werden, über die hinaus der Bau und Betrieb von Verkehrsinfrastrukturen, die die Lebensqualität von immer mehr Menschen beeinträchtigen, nicht mehr vermittelbar ist, so dass die Zahl eskalierender Auseinandersetzungen um solche Projekte zunimmt. Das Konfliktpotential und mit ihm die Anforderungen an das politische System zwischen Betreibern, Nutzern und den Betroffenen von Verkehrsinfrastrukturen einen Ausgleich zu schaffen, wird um so größer, je kleiner das geographische Territorium einer Gesellschaft und je größer die Nutzungskonkurrenz zwischen Wohn- und Mobilitätsinfrastrukturen ist. Sind die eigentlichen Grenzen weiteren Verkehrswachstums also neben den ökologischen Limits unserer äußere Umwelt auch in unserer Innenwelt begründet – bei den seelischen und psychischen Grenzen des zunehmend mobil und beschleunigten Subjekts und seiner geringer werdende Bereitschaft, weitere Beschleunigungsbemühungen politisch mitzutragen? […]

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Von Ikarus lernen Die „Menge in der Enge“ –, dieses Bild beschreibt die aktuelle Situation am treffendsten: Immer mehr Menschen, die immer älter werden, leben auf immer engerem Raum, verbrauchen immer mehr Nahrungsmittel und Rohstoffe und erzeugen dabei immer mehr Emissionen. Durch die Konkurrenz um Ressourcen und durch die ungleiche Verteilung von Reichtum und Lebensrisiken werden zugleich auch die Grenzen der geopolitischen und ­kulturellen Tragfähigkeit erreicht. So weit eine Quintessenz aus den beschriebenen Zukunftstrends, die von den meisten Zukunftsforschern geteilt wird. Damit entsteht, trotz aller unbestreitbaren, vor allem technologischen Fortschritte in einzelnen Bereichen der Nachhaltigkeit, gegenwärtig eine so rasante Transformationsdynamik, dass die Welt in wenigen Jahrzehnten völlig anders aussehen könnte. Die Tore unkontrollierter Transformation öffnen sich dort wo Risiken in konkrete, politisch und sozial nicht mehr kontrollierbare Gefährdungslagen umschlagen, wie es heute bereits vielerorts der Fall ist. In dieser Situation – so könnte man argumentieren – wäre die Systemfrage radikal zu stellen und wären ab sofort alle Handlungen und Entscheidungen an einer Art Zukunftsfähigkeits-Apriori auszurichten. Die ginge davon aus, dass der Systemwechsel hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaftsform prinzipiell machbar ist und dass sich jede weitere Entwicklung vor ­allem an diesem Ziel auszurichten hätte. Es basierte auf der Annahme von sozialer Lernfähigkeit, der Bereitschaft zu konzertiertem Handeln, der rechtzeitigen Verfügbarkeit von Technologie und der Voraussetzung, dass die wichtigsten Kipppunkte irreversibler Zerstörung der Ökosysteme nicht bereits hinter uns liegen. Die selbst gewählte und auf das Ziel der Zukunftsfähigkeit ausgerichtete kulturelle Transformation wäre das Gegenteil der potentiell chaotischen Transformationsdynamik, die sich im Falle von Nichthandeln sehr wahrscheinlich einstellen wird. Es ginge um die Gestaltung einer neuen globalen Kultur des guten Lebens, um ein Transformationsdesign, das die wachstumsverliebte Moderne überwindet hin zu einer nachmodernen, wie auch immer zu benennenden Epoche. Ziele und Kriterien nachhaltiger Mobilität Nachhaltige Mobilität lässt sich definieren als die ökologisch verträgliche und sozial auch gegenüber kommenden Genera­tionen gerechte Gestaltung und Gewährleistung der Erreich­ barkeit von Einrichtungen und Kommunikationszugängen in einer globalen Gesellschaft. Für eine nachhaltige Mobilität sollten Effizienz-, Konsistenz- und Suffizienzstrategie – die drei Grundkonzepte zur Gestaltung von Nachhaltigkeit – in einem gleichberechtigten und ausgewogenen Verhältnis in­einandergreifen (vgl. Schwedes 2011: 23), wobei mit Hilfe stetiger Produkt-, Nutzungs- und Systeminnovationen der Verkehrsträger einerseits, mit den Planungsinstrumenten einer integrierten Siedlungs- und Standortpolitik andererseits, die Prozesse der Entstehung von Raumüberwindungsbedarf wie dessen tatsächliche Abwicklung in ökologischer, ökonomi­scher und sozialer ­Hinsicht beständig optimiert werden kön­nen. Wird nur die Effizienzstrategie eingesetzt, kommt es nach anfänglichen Entlastungen mittel- und langfristig zu Effekten der Überkompensation von ökologisch sinnvollen Einsparungen. Welche große Bedeutung die Forderung einer integrierten, also auf alle drei Strategien zurückgreifenden Nachhaltig­keitspolitik in der Mobilität hat, lässt sich gut an der aktuellen Debatte um die Elektromobilität aufzeigen. Die die Nachhaltigkeitspolitik nach wie vor dominierende Effizienzstrategie verfolgt das Ziel einer Entkopplung von Be­dürfnisbefriedigung und Ressourcenaufwand durch technolo­gische und organisatorische Optimierung von Produkten und Prozessabläufen. Beispiele hierfür sind in der Mobilität etwa die Optimierung von Motoren, Gewichtsreduktionen oder die telematische Verkehrsflussoptimierung. Die Konsistenzstrategie zielt vor allem auf einen klugen und effektiven Umgang mit Materialressourcen zur Verringerung der ökologischen Rucksäcke von Produkten und Infrastrukturen. Neue Materialtechnologien, Gestaltungsphilosophien und Produktionsweisen können zusammengreifen um einmal verwendete Rohstoffe im maximalen Ausmaß nach dem Ablauf eines Produktlebenszyklus wieder in einen neuen Produktlebenszyklus zu überführen. Auch kollaborative Nutzungsphilosophien können den Materialaufwand pro Serviceeinheit minimieren. Die Suffizienzstrategie zielt schließlich auf die Lebensstile, Konsumwünsche und Verhaltensweisen von Verbrauchern, wie das Verkehrsmittelwahlverhalten oder die Auswahl der Verkehrsziele, zum Beispiel bei Reisen. Entscheidungen für Wohnformen, etwa die Abwägung des relativ verkehrsarmen Wohnens in einem dicht gepackten urbanen Zusammenhang gegenüber dem strukturell verkehrsaufwendigeren Wohnen in einer suburbanen Eigenheimsiedlung fallen ebenfalls unter die Kategorie der Suffizienz. Bezieht man diese Begrifflichkeiten nun auf die aktuelle Diskussion und innovationspolitische Praxis zur Elektrifizierung der Mobilität, so zeigt sich, dass hier bislang vor allem an der Effizienzstrategie festgehalten wird. Metaphorisch gesprochen, geht es nach einer hoffnungsfroh stimmenden und­offenen Aufbruchsphase heute im Grunde darum, den neuen technologischen Wein des batterieelektrischen Fahrzeugs (und seiner verschiedenen Variationen) in die alten Schläuche der überkommenen und offenbar bislang nicht anzutastenden Nutzungskultur der privaten Massenmotorisierung zu gießen. Ging es in den konzeptionell breitangelegten Zielvisionen der Aufbruchsphase vor einigen Jahren durchaus noch um die umfassende energie- wie verkehrswirtschaftliche Integration der Elektromobilität als systemischen Gesamtzusammenhang aller Verkehrsträger, so steht heute vor allem das telematisch vernetzte und automatisierte Elektroauto im Privatbesitz im Vordergrund. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass diese Engführung der neuen Technologie mit der alten Nutzungsform – insbesondere vor dem Hintergrund der Globalisierung des westlichen Motorisierungsmodells – hoch problematisch ist. Elektrofahrzeuge sind aufgrund der für Motor, Energiespeicher, Steuerung und Fahrzeugaufbau benötigten seltenen Metalle und Rohstoffe in der Herstellung enorm ressourcenaufwendig und werden der Konsistenzanforderung der nachhaltigen Mobilität bislang nicht gerecht. Nur durch den flächendeckenden, bislang aber eher noch für Nischenmärkte diskutierten Betrieb in den nutzungsopti­mierten Anwendungskontexten einer Sharing-Kultur könnte die Materialintensität pro elektromobiler Ser-

Ziele und Kriterien nachhaltiger Mobilität

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viceeinheit konsequent gesenkt werden. Kreislaufwirtschaftliche Produk­ tions- und Rückführungssysteme werden bislang nicht disku­tiert. Hinzu kommt, dass das Elektroauto seine Vorteile nur dann voll ausspielen kann, wenn es mit regenerativen Energien betrieben wird. Dieses würde die energiewirtschaftliche Integration über sogenannte SmartGrid-Konzepte erfordern, die ebenfalls deutliche Veränderungen von Anspruch und Verhalten der Nutzer mit sich bringen würde. Weltweit be­trachtet, ist allerdings eher ein Trend beobachtbar, Elektroau­tos mit dem jeweils vorherrschenden, meist auf Kohle oder Atomkraft basierenden Energiemix zu betreiben. Beide Aspekte verweisen nun darauf, dass sich die Fortfüh­rung der bisherigen Philosophie der Produktinnovation (die der Effizienzstrategie zugeordnet werden kann) in der Elek­tromobilität zu einer Sackgasse entwickelt, die den Anfor­derungen der nachhaltigen Mobilität nicht gerecht wird. Nur durch die Kombination mit die Konsistenzanforderung adressierenden Nutzungsinnovationen und schließlich die Einbindung in die umfassende Systeminnovation eines intermodalen, also verkehrsträgerübergreifenden – und damit massive Verhaltensänderungen implizierenden – Mobilitätskonzeptes (dieses entspricht der Suffizienzstrategie) würde eine nachhaltige Elektromobilität entstehen. Aufgrund der im historischen Teil beschriebenen fundamentalen Bedeutung der Mobilität für die moderne Gesellschaft wird die nachhaltige Mobilitätspolitik einer der wichtigst Drehund Angelpunkte einer solchen kulturellen Transformation sein. Angesichts dieser Ausgangslage gleichen aktuellen mobilitätspolitischen Konzepte jedoch eher Wartungsmaßnahmen auf der Titanic als einer wirklichen Schubumkehr und Kursänderung, die sicher am Eisberg vorbeiführt. Die technologisch brillante, aber konzeptionell eher phantasielose Mobilitätsindustrie ist mit der Entwicklung völlig neuer Verkehrskonzepte gefordert, sieht sich aber in der Pfadabhängigkeit unserer Mobilitätskultur ebenso gefangen wie die Verkehrspolitik und große Teile der Verkehrswissenschaften. Man sollte aufräumen mit der Lebenslüge der kritischen Mobilitätsdiskurse, es ließe sich innerhalb des geltenden Entwicklungspfades allein mit Hilfe der Effizienzbestrebungen ökologischer Modernisierung etwas substantiell ändern. Alle Optimierungs- und Lenkungs-, Verflüssigungs- und Verlagerungskonzepte für den Verkehr – so sinnvoll im Einzelnen auch sein mögen –  beheben den Umstand nicht, dass wir auf dem falschen Pfad sind, solange wir uns nur innerhalb des geltenden, rein wachstumsorientierten Gesellschaftsmodells bewegen. Wirklich nachhaltige Mobilität wird im großen Stile auch auf der bestmöglichen Vermeidung von Raumüberwindung basieren müssen, was im Kern die Frage nach unseren Lebensstilen und Bedürfnisniveaus und damit letztlich nach unserem Wohlstandskonzept stellt. Der Blick in die Zukunft der Mobilität zeigt neben span­ nenden technologischen Entwicklungen wie der Digitalisie­rungsdynamik also vor allem, von welchen Grenzen und Herausforderungen sich Gestaltungskriterien einer nachhal­tigen Mobilität ableiten lassen, Betrachtet man alle Trends und Treiber zusammen, so lassen sich die sich daraus ergeben­den Anforderungen vor allem in vier Kriterien bündeln: Mo­bilitätslösungen der Zukunft sollten so schnell wie möglich den Pfad der fossilen Energienutzung verlassen, sie sollten eine geringstmögliche Materialintensität haben und verwendete Materialien in maximal möglichem Ausmaß wiederverwerten, sie sollten Menschen und Natur vor tödlichen Unfällen, dauerhaften körperlichen und seelischen Schäden und ­irreversiblen Verlusten an ökologischer Vielfalt schützen, und schließlich sollten sie robust sein gegenüber natürlichen Stress­faktoren, menschlichem und technologischem Versagen in komplexen Systemen oder gezielten militärischen wie terro­ristischen Attacken. Erneuerbare Mobilität Die einzige Möglichkeit, dauerhaft auf den Einsatz fossi­ler Treibstoffe in der Mobilität zu verzichten, sind An­triebssysteme auf der Basis regenerativer Energie. Mittel- bis langfristig ist die Elektrizität neben Wasserstoff das beste Speichermedium für regenerative Energie aus solaren und geothermischen Quellen und der Windkraft. Dementspre­chend werden zukünftig vor allem elektrische Antriebe für Fahrzeuge in allen Verkehrssystemen zum Einsatz kommen. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen batterieelektrischen, brennstoffzellenelektrischen und hybridelektrischen Antriebssystemen. Bislang ist nicht abzusehen, ob eine dieser Technologielinien dominant wird oder ob die Entwicklung aller drei Optionen zeitgleich vorangetrieben wird, was aus heutiger Sicht am sinnvollsten erscheint. Auch ist im Augenblick nicht genau abzusehen, welche Rolle Wasserstoff als Energiespeichermedium in der Mobilität spielen wird. Seine Einsatzchancen in Brennstoffzellen zur Stromproduktion für Elektroantriebe steigen mit der Verbesserung sicherer und ­zugleich platz- und gewichtsoptimierter Speichermöglichkeiten. Insbesondere im Schwerlastbereich der Mobilität, also bei den Lkw-Transporten, dem Schiffsverkehr, der Landwirtschaft, dem Baugewerbe, der Industrie und der Luftfahrt ist der Ersatz von fossilen Treibstoffen durch regenerativ erzeugte Elektrizität schwierig. Während bei Schiffen mittelfristig brennstoffzellenelektrische Antriebe in Kombination mit neuartigen Drachenzugsystemen eine aussichtsreiche Entwicklungsperspektive bieten, könnte in den anderen Bereichen der Einsatz von regenerativ erzeugten Biokraftstoffe der zweiten und dritten Generation – etwa auf Algenbasis eine Lösung sein. Voraussetzung ist allerdings, dass es bei ihrer Produktion nicht zur Konkurrenz mit der Nahrungsmittelerzeugung kommen darf. Eine wichtige Bedingung dafür, möglichst viel regenerative Energie in das Mobilitätssystem zu bekommen, ist der Ausbau der kollektiven Verkehrssysteme – also E-Busse, Straßenbahnen, U- und S-Bahnen im urbanen Bereich und Fernbahn und Nachtzüge im regionalen und ­überregionalen Verkehr. Insofern hier ein flächendeckender und durchgängiger Betrieb mit Strom möglich ist, kann die Verlagerung von der Straße auf die Schiene und von der Luft auf das Wasser hel­fen, das Gesamtniveau dieser strukturell eher konversionsresistenten Verkehrsformen zu reduzieren. Damit würde die Menge des in diesen Bereichen dann noch nötigen Biokraft­stoffs ebenso verringert wie der Ressourcenaufwand der im Straßenverkehr eingesetzten E-Fahrzeugflotte. Denn aufgrund der enormen Ressourcenintensität elektrischer Antriebssysteme und ihrer Energie-

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Erneuerbare Mobilität


speicher ist es geboten, das Ausmaß individualisierter Transporte im Privat- und Ge­schäftsverkehr wie auch in der Güterlogistik generell zu reduzieren. Eine technologische Transformation dieses Ausmaßes ist nicht von heute auf morgen zu bewältigen. Für die Übergangszeit sind die weitere Effizienzoptimierung bestehender Antriebs­ und Fahrzeugsysteme (etwa über die weitere Verbesserung der Motorentechnologie) und der Einsatz von Gas – zum Bei­spiel im Schwerlastverkehr – Wege, um die Gesamtmenge der eingesetzten fossilen Ressourcen zu reduzieren bzw. de­ren spezifische Emissionslast immer weiter zu verkleinern. Schließlich sind die Reduzierung von Gewicht und Geschwindigkeit Möglichkeiten, den Aufwand der einzusetzenden fossilen Treibstoffe zu verringern. So kann eine Geschwindig­ keitsdrosselung im Schiffsverkehr um nur wenige Prozent signifikant Treibstoff und Kosten sparen. Viele Reeder gehen deswegen diesen Weg und gleichen den Verlust an Ladekapazität durch den Einsatz zusätzlicher Schiffe aus. Insgesamt wäre eine Reduktion des Geschwindigkeitsniveaus über alle Verkehrsträger zur Verbrauchs- und Emissionsverringerung sofort umsetzbar. Ohne den Trend zum Upsizing im Automobilmarkt wären auch hier die realisierbaren Einsparungen aufgrund der enormen Fortschritte in der Motorentechnologie theoretisch viel größer, als sie es im Moment sind. Zum einen bringt die Anpassung der Assistenz- und Sicherheitstechnologie und der Aufbauauslegung der Fahrzeuge an hohe Endgeschwindigkeiten einen Teil des Gewichtszuwachses mit sich, zum anderen ist der Gewichtszuwachs, insbesondere im Bereich des Sport and Utility ­Vehicle (SUV)-Segments, einem Markt- und Designtrend geschuldet. Eine generelle, politisch forcierte Senkung des Geschwindigkeitsniveaus und damit der Sicherheitsanforderungen könnte hier gegebenenfalls dazu beitragen, auch den Trend zum Gewichtsanstieg und den damit immer verbundenen erhöhten Energieverbrauch zu verhindern. Dematerialisierte Mobilität Die Verkehrsnachfrage und mit ihr der Material- und Ressourcenverbrauch der Mobilität sind bereits heute enorm, werden in der Zukunft jedoch weiter stark ansteigen. Prinzipiell sind drei Wege denkbar, um diesen Anstieg in den Griff zu bekommen. Erstens die Etablierung kreislaufwirtschaftlicher Produktionsprinzipien, bei denen die Schrott- und Abfallprodukte eines Produktlebenszyklus wieder zum Ausgangspunkt eines neuen Produktlebenszyklus werden. Eine solche Produktion „von der Wiege bis zur Wiege“ (Braungart / McDonou 2009), wie man sagt, wäre im Idealfall vollkommen in sich geschlossen und käme ohne oder mit einem sehr reduzierten Maß weiterer Ausbeutung von Primärressourcen aus. Allerdings setzt die Kreislaufwirtschaft die Etablierung eines vollkommen neuen Produktionsmodells voraus und ist insofern zunächst noch ein elegantes theoretisches Modell. Zweitens können vermehrt Baustoffe, Farben und Textilia eingesetzt werden, die einer „solaren Chemie“ (Fischer 2012) entstammen, also letztlich auf natürlichen Rohstoffen basie­ren und damit die Unabhängigkeit von der momentan allgegenwärtigen Petrochemie mit sich bringen. Als Leitbild der Etablierung neuer Designphilosophien und Produktionsmethoden in der Verkehrsgüterindustrie können heute beide Ansätze dienen. Gerade die Automobilwirtschaft wird zukünftig wahrscheinlich gar nicht ohne sie auskom­men, da im Zuge der Umstellung auf Elektromobilität (ganz gleich, ob batterie- oder brennstoffzellenbasiert) einerseits und den weiteren Trends zur digitalen Vernetzung und Auto­matisierung des Fahrzeugs andererseits enorm seltene, hoch­wertige und teure Rohstoffe zum Einsatz kommen, deren Zu­gang schon jetzt prekär ist. Den dritten Weg zur Dematerialisierung der Mobilität bie­tet die Strategie der Nutzungsinnovation, also der möglichst effizienten Auslastung alles fahrenden Geräte auf allen Stre­cken und zu allen Zeiten. Die Tatsache, dass heute Pkws im Privatbesitz im Durchschnitt 23 Stunden am Tag nicht ge­nutzt werden, ist letztlich ein betriebs- wie volkswirtschaftlich höchst irrationaler Luxus, der in der zukünftigen Mobilitäts­welt so nicht weiter aufrechtzuerhalten sein wird. Alle Konzepte und Geschäftsmodelle der Mobilitätswirtschaft, die das Nutzen dem Besitzen vorziehen und die anteilige Nutzung eines Fahrzeuges ökonomisieren, sei es als Carsharing, Car­pooling, Mitfahrzenrale etc., und damit die Auslastung des , einzelnen Produktes erhöhen, minimieren zugleich – unter ceteris paribus-Bedingungen – den absoluten Produkt- und Materialaufwand der Mobilität. Fahrzeuge konsequent auf diese Formen des kollaborativen Konsums und der „Shareeconomy“ auszurichten würde auch bedeuten, Neue Gestaltungsphilosophien und Produkteigenschaften zu entwickeln. Das Ziel wäre dann womöglich die Entwicklung extrem hochwertiger und auf permanente und langlebige Nutzung durch unterschiedliche Kunden ausgelegter Fahrzeuge statt – im Extremfall – kurzlebiger Niedrigpreis-Produkte, etwa für den chinesischen Low-BudgetMassenmarkt. Solche hochwertigen Fahrzeuge wären dann zu teuer für den durchschnittlichen Privatkunden und würden sich auch für die Automobilwirtschaft betriebswirtschaftlich nur in Kombination mit neuen Wertschöpfungskonzepten für Mobilitätsdienstleistungen rechnen. […] Resiliente Mobilität Resilienz bezeichnet die Widerstandsfähigkeit und Festigkeit eines Individuums, einer Gesellschaft oder einzelner ihrer Funktionssysteme gegenüber Störungen, Krisen und Katastrophen. Diese Fähigkeit sollte insbesondere für die Gestaltung zukünftiger Mobilitätssysteme aus verschiedenen Gründen eine wichtige Rolle spielen. Erstens: Je abhängiger Gesellschaften von einem hohen Niveau an Mobilität und ­sicher planbaren Transportdienstleistungen sind, desto größer ist das Schadenspotential von Störfällen und Verzögerungen. In einer Zeit, in der der überwiegende Teil der Bevölkerung in der industrialisierten Welt sich mit Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs über den Einzelhandel versorgt, statt sie selbst zu produzieren, können größere Versorgungskrisen schon in wenigen Tagen entstehen. Im Vergleich dazu war es vielleicht ärgerlich aber in keiner Weise systemrelevant, wenn in einer bäuerlich-dörflichen Kultur von Selbstversorgern die Lieferung von Salzheringen, Zucker oder Kaffee mit einer Woche Verspätung eintraf.

Dematerialisierte Mobilität, Resiliente Mobilität

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Zweitens: Je feingliedriger, komplexer und (digital) vernetzter ein Verkehrssystem aufgebaut ist, desto größer ist das Risiko, dass sich externe oder interne Störfälle schnell im gesamten System fortsetzen und sich die Schadenswirkungen akkumulieren. Auf diese Weise können heute Bahnbetriebsstörungen in Süddeutschland mit ein wenig Pech schnell zu massiven und weit ausgreifenden Verspätungen in Norddeutschland führen, ein Kälteeinbruch in Chicago oder ein Vulkanausbruch in Indonesien den Flugverkehr in Europa tangieren. Drittens: Ein Verkehrssystem ist umso verletzbarer, je größer das Ausmaß an digitaler Technologie ist, das zu seiner Betriebsführung eingesetzt wird. Als Weichen noch mechanisch gestellt wurden und der Straßenverkehr noch ohne Verkehrsleitsysteme auskam, war es deswegen natürlich auch nicht möglich, mit Hilfe von Software-Manipulationen von entfernter Stelle aus Störungen zu provozieren. Alle drei Problemlagen betreffen unsere modernen Verkehrs­systeme. Das wird in der weiteren Entwicklung dieser Sys­teme immer deutlicher werden. Verstärkend wirkt hierbei, dass die Vielfalt potentieller externer wie interner Störfaktoren beständig zunimmt. Klimabedingte Starkwetterereig­nisse, technisches wie menschliches Versagen in den hochkomplexen Abläufen der modernen Systemarchitekturen sowie Manipulationen und Hackerangriffe jeglicher Provenienz sind zu erwarten. Deswegen ist Resilienz heute eine Qualitätsanforderung an Verkehrssysteme, um Störfälle mit großem Schadenspotential zukünftig auszuschließen. Mögliche Lösungen sind der Aufbau robuster Infrastrukturen durch redundante Systemarchitekturen, die Ersatzmöglichkeiten, Vervielfältigung, Verlinkung, Spiegelung und den Erhalt me­chanischer Steuerelemente ebenso einschließen wie beson­dere Systemkontrollen und den Einbau von Zeitpuffern. Deutlich wird bei genauerer Betrachtung auch, dass die Störfallproblematik durch externe, nicht im Aufbau und dem Betrieb der Verkehrssysteme selbst liegende Anforderungen noch verschärft wird: so zum Beispiel durch eine engmaschige Just-in-time-Logistik, mit der eigentlich privatwirtschaftlich zu erbringende Lagerhaltungskosten in die Infrastrukturen verlagert und damit auf die Gemeinschaft externalisiert werden. Transportintensive Geschäftsmodelle mögen die einzelwirtschaftlichen Kosten minimieren, erhöhen aber die ex­ternen Kosten, die von der gesamten Gesellschaft getragen werden. Hier ist grundsätzlich zu fragen, ob solche Strukturen nicht zurückzufahren wären. Dadurch würden die Risiken für einzelne Unternehmen, letztlich aber auch für gesamte, in ihren Wertschöpfungsketten hochvernetzte Branchen wieder geringer. Zugleich würden Umweltkosten minimiert. Die richtige Flughöhe finden „Flieg nicht so hoch“, riet Dädalus seinem Sohn Ikarus. Doch berauscht vom Gefühl der grenzenlosen Freiheit und der Macht über die Elemente, verlor dieser rasch jegliche Demut und Vorsicht. Er überging die Warnung seines Vaters, flog nahe an die Sonne, und das Wachs seiner Schwingen schmolz. Der Ausgang der griechischen Sage ist bekannt. Wie Ikarus sind wir alle sehr gut darin, angesichts der Faszination der Mobilität ihre Schattenseiten auszublenden. Wir sind ambivalente Wesen zwischen Einsicht und Ignoranz. Wir wissen durchaus um die Gefahren der Mobilität, halten sie aber für beherrschbar, obwohl sie das immer weniger sind. Raumüberwindung ist aufwendig und in vielerlei Hinsicht unmittelbar wie mittelbar gefährlich, und je höher die ­Geschwindigkeit wird, mit der wir das System betreiben, desto höher wird letztlich auch das Risiko, das wir in Kauf nehmen. Die Ermöglichung von Mobilität an der einen Stelle ist letztlich immer erkauft durch Zerstörung von Lebensqualität an einer anderen Stelle. Ebendiese Botschaften stecken in der Sage von Ikarus, die den Wunsch nach Überwindung der organischen Beschränktheit des Menschen ebenso ausdrückt, wie sie als ­Ursprung aller technikkritischen Warnungen – verbunden mit der Warnung vor menschlicher Selbstüberschätzung – verstanden werden kann: Bedenke die Folgen. Du kannst fliegen, aber flieg nicht zu hoch. Fliege in angemessener Höhe. […]

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Die richtige Flughöhe finden


Urbane Mobilität Persönliches IT-basiertes Informations- und Beratungswerkzeug, das eine sprachbasierte Schnittstelle zur virtuellen Welt und zum alltäglich eingesetzten Maschinenpark bildet. Es ist die wesentliche Grundlage für das Angebot kurierter Mobilitätsdienstleistungen.

Passepartu – Kuratierte Mobilität

Passepartu – Kuratierte Mobilität Hintergrund Der Verkehr bedient sich, anders als die Energiewirtschaft, noch heute überwiegend bewährter Strukturen, die schon seit langem in ähnlicher Gestalt im Einsatz sind. Doch hat sich die Art in ihrer Nutzung revolutioniert. Die globale Energiewende ist geprägt durch immense Raumveränderungen und einen gigantischen Ressourcenaufwand für die photovoltaische Urbarmachung der Wüsten und stahlintensive Offshore-Windparks. Sie gleicht einer Marskolonialisierung auf Erden. Bei der ebenso dem Klimawandel geschuldeten Mobilitätswende setzen die hochindustrialisierten Leitstaaten dagegen auf ein neues Betriebssystem. Es ist eine Strategie der intelligenten Neuinterpretation des Gebrauchs alter Hardware, des effizienteren Einsatzes des enormen Bestands an Infrastrukturen und Fahrzeugen. Vor allem in urbanen Räumen hat dieser Kulturwandel das Leben radikal verändert. Passepartu-System Der wesentliche Katalysator für diese neue Form der Mobilität war ein Produkt namens Passepartu. Es hat nicht nur, ganz wie Apples iPhone zu Beginn des Jahrhunderts, in kürzester Zeit den Smartphonemarkt erobert und funktionell erweitert. Es ist zudem wie Tesafilm oder Ohropax zum Synonym für eine ganze Produktsparte geworden. Dabei wird das kaum sichtbare In-Ohr-Gerät seinem vielseitig auslegbaren Produk­tnamen in allen Belangen gerecht. Wie ein Generalschlüs­sel sichert es seinem Träger in Kombination mit der eigenen Stimme den Zugang zu diversen Artefakten des Alltags, Ob Wohnungstür, Carsharing-Auto oder Bankkonto – das Passepartu verwandelt das gesprochene „Auf!“ über digitale Pfade in eine universelle „Sesam öffne dich“-Losung. Wie ein Rahmen bettet es zahlreiche Dienstleistungen in eine einheitliche, wohlvertraute (Stimm-)Umgebung, liest E-Mails vor, empfiehlt Zeitungsartikel und Musikstreams oder wird in Verbindung mit einem Tablet-Bildschirm zum individualisierten Schaufenster in die Welt. Die bedeutendste Neuerung lässt sich jedoch anhand des namensgebenden Helden aus Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt beschreiben. Der junge Diener Jean Passepartout nimmt darin die Rolle des gewieften Organisators für den Weltreisenden Phileas Fogg ein. Während dieser in Bahnabteilen und Schiffskabinen Pläne schmiedet und Entscheidungen trifft, um seine Wette der 80-tägigen Weltumrundung zum Erfolg zu führen, ist Jean Passepartout für die Exekutive verantwort­lich Er bildet Foggs lebende Schnittstelle zur fremdartigen Außenwelt. In gleicher Weise wird das Passepartu für seinen Anwender zum Dolmetscher und Torwächter in der hochtechnisierten Gegenwart, die von unzähligen zu steuernden Kleinst- und Großgeräten bestimmt wird. Von endlosen PIN-, TAN- und Passwortlisten über die berufliche E-Mail-Flut und implantierte medizinische Diagnosesensoren bis hin zur Fernabfrage des Kühlschrankinhalts – alles verlangt unabhängig von der augenblicklichen Relevanz fortwährend Aufmerksamkeit, Entscheidungen und letztendlich Zeit. Durch seine ständige Erreichbarkeit wird das Passepartu zu einem zweiten, künstlichen Unterbewusstsein, das das menschliche Bewusstsein vom andauernden Entscheidungsterror entlastet. Es filtert, sortiert und strukturiert im Hintergrund. Zuverlässig arbeitet es Routinehandlungen ab und kommuniziert hierfür eigenständig mit dem allgegenwärtigen Maschinenpark. Bei Bedarf kann sich der Anwender durch die einfachste und schnellste menschliche Kommunikationsform einbringen: die Stimme. Was Anfang der 2010er mit relativ simplen Sprachbefehlen für das iPhone begann, ist inzwischen Grundlage für eine gewaltige Komplexitätsreduktion im Alltag. Das Passepartu macht sich den Hang des Menschen zu habitualisierten Verhaltensweisen zunutze und lernt schnell die Präferenzen seines Anwenders einzuschätzen. Je länger die Beziehung andauert, desto geringer wird der Kommunikationsaufwand zwischen Mensch und Maschine. Schon Jahrzehnte zuvor waren große Internetversandhändler und Musikportale in der Lage, auf der Grundlage vorheriger Wahlentscheidungen erstaunlich treffend weitere personalisierte Angebote zu unterbreiten. Das Passepartu erkennt mit großer Genauigkeit, wann der geeignete Moment ist, um den Eingang einer neuen E-Mail des Chefs zu melden, ob heute die Nutzung des Fahrrads geraten ist und welche Sonderangebote im Baumarkt relevant sein könnten. Wer trotzdem spontan die letzten E-Mail-Eingänge wissen möchte, fragt einfach kurz nach. Viele verzichten aus Angst vor systematischer Fremdsteuerung auf maßgeschneiderte Freizeitempfehlungen. Die Wahl der abendlichen Bar machen sie weiterhin lieber vom Zufall abhängig als von elektronisch zugeflüsterten Rabattaktionen. Doch in einigen Bereichen hat sich das Passepartu als extrem vorteilhafter Ratgeber etabliert. Seine Stärke liegt in der Fähigkeit, einmal getroffene grundsätzliche Le­bensentscheidungen, beispielsweise für gesündere und kli­maschonendere Ernährung und Fortbewegung, tatsächlich wirksam im Alltag zu installieren. So ist die Anzahl der Werktag-Vegetarier geradezu explodiert, seitdem das Passepartu interessierte Nutzer mit saisonalen Einkaufs- und Kochtipps, neuen standortabhängigen Kantinenempfehlungen und überraschenden Veggie-Events kontinuierlich zu einer besseren Ernährung verführt. Entgegen kam dieser Entwicklung na­türlich, dass die vegetarische Küche auch in der westlichen Gastronomie im Vergleich zum Beginn des Jahrhunderts einen Quantensprung nach vorn gemacht hat, was Raffinesse, Geschmack und vor allem die Breite des Angebots betrifft. So war das überdenken des eigenen zeit- und kosteninten­siven Mobilitätsverhaltens eine logische Konsequenz aus der Verwendung des Passpartus in den genannten Lebensbereichen. Auf dem Feld der Mobilität konnte das Passepartu als universelle Mobilitäts-Über-App seine Vernetzungs- und Optimierungskapazitäten zum ersten Mal voll ausspielen. Die bisherige Marktnische der Carsharer, Fahrgemeinschaften, Busnutzer und anderer kollektiv-kollaborativer Ansätze wurde durch das neue passepartu-gestützte Betriebssystem auf einen Schlag alltagstauglich und massenkompatibel. Als hätte jema­nd einen Kippschalter umgelegt. Ziel der Anwendung ist möglichst viel Verkehr energieeffizient zu bündeln, also simultan Hunderttausende Fahrtwünsche mit unterschiedlichs­ten Anforderungen zu kombinieren, sei es in Privatautos oder im öffentlichen Nahverkehr, und, so weit wie vom Nutzer toleriert, dessen eigene Muskelkraft einzubinden. Auch hier wirkte die Verführungsstra-

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tegie des konkreten Angebots der Ad-hoc-Alternative, die Portemonnaie und Umwelt in glei­cher Weise schont, verblüffend überzeugend. Vor die Wahl gestellt, voraussichtlich in 20 Minuten mit dem eigenen Auto oder in 30 Minuten als Mitfahrer das Ziel zu erreichen, entschieden sich viele für das neue Gemeinschaftsangebot. Und noch mehr Verkehrsteilnehmer stellten fest, dass ein Großteil ihrer Wege komfortabel zu Fuß und mit dem Fahrrad zu be­wältigen waren. Besonders, wenn man die schönsten Abkürzungen en passant angezeigt bekam. So verwickelt das Passepartu seinen Nutzer in einen wechselseitigen Lernprozess, Während die Elektronik mit jedem Weg mehr über seinen Nutzer erfährt, wird dieser stetig mit ­attraktiven und umweltfreundlichen Mobilitätsalternativen konfrontiert. Anders als der Schachcomputer nutzt das Passepartu jedoch die Schwächen seines Anwenders in dessen eigenem Interesse und spielt auf positiv motivierende Weise gegen dessen inneren Schweinehund, also ­gegen die eingefahrenen, nicht mehr hinterfragten Routinehandlungen. Es ver­anschaulicht, dass nachhaltiges Leben ungeahnt einfach und angenehm ist. Mit dem Passepartu verfügt jeder Nutzer auf Wunsch über einen tiefen Einblick in sein reales Mobilitätsverhalten Ein alter Manager-Grundsatz besagt, dass nur das, was man messen kann, wirklich steuerbar ist. In diesem Sinne wurde plötzlich nicht wenigen bekennenden Ökoaktivisten deutlich vor Augen geführt, wie weit sich auch ihr Lebensstil inzwischen von den eigenen Ansprüchen entfernt hatte. Das Passepartu liefert eben nicht nur die Diagnosefunktion, sondern auch einfache, schnell umsetzbare Lösungen für ein aktives Gegensteuern. Es bildet die Brücke über die vielzitierte attitude-action-gap. Das ist der im Allgemeinen breite Spalt zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit eines umweltfreundlicheren Mobilitätsverhaltens (meist öffentlich laut proklamiert) und den tagtäglich getroffenen Verkehrsmittelwahlentscheidungen (meist verschwiegen oder mit guten Ausreden versehen). Mit dem Passepartu stellt man sich faktisch einen persönlichen Kurator für das eigene Mobilitätsverhalten ein. Will man das bestmögliche Ergebnis erzielen, ist man in seiner neuen Direktorenfunktion gut beraten, seinem Passepartu ein paar Grundsätze wie das gewünschte jährliche Treibhausgas- und Kostenbudget vorzugeben und von da an diesen Autopiloten auf Flughöhe null zu vertrauen. Das Passepartu kann bei der Planung mehr Faktoren einbeziehen – es sind ihm einfach mehr Informationen bekannt – und kann diese dann schneller verarbeiten als jeder Mensch. Dass beim Einsetzen von Geburtswehen und bei medizinischen Notfällen auch einmal ineffizientere Transportlösungen angesagt sind, haben die Programmiere in den Optimierungsalgorithmen natürlich berücksichtigt. Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten Diese neue Philosophie der kuratierten Mobilität hatte in der Gesamtsicht drei elementare Auswirkungen auf den Verkehr. Der motorisierte Verkehr wurde rationaler. Sicherlich, zielloses Cruisen mit dem Auto, nachdenken und schalten, all das gibt es natürlich immer noch. Aber prinzipiell hat sich der Personenverkehr die alte Logistikversion des Internets der Dinge abgeschaut. Im Internet der Reisenden stellt jeder Passepartu-gestützte Teilnehmer quasi ein Päckchen dar. Unter Ausnutzung der verschiedenen Transportmöglichkeiten wie Bahn, Bus, Automitfahrten, Carsharing, Fahrrad, E-Scooter und vielem mehr sucht es sich situationsbezogen einen geeigneten Weg durch das Stadtlabyrinth. Das Passepartu-Kollek­tiv organisiert im Verbund die Gesamtheit aller Fahrten und jongliert als unsichtbare Hand die einzelnen Fahrtwünsche auf einem Energieminimum. Das Fahrtziel ist jeweils fest definiert, die Ankunftszeit meist auch, der Weg jedes Ein­zelnen kann sich spontan ändern. Mit der neuen Attraktivität kollektiven und unmotorisierten Verkehrs konnten sich viele Staaten und Ballungsräume auch eine Transparenzof­fensive hinsichtlich der tatsächlichen Kosten motorisierten Verkehrs leisten. Mit dem Rückenwind der Passepartu-induzierten Umsteigerzahlen führte die Politik Treibstoffsteuern, Straßenmaut und Parkgebühren näher an die echten Ver­kehrskosten für Umwelt und Gesellschaft heran, ohne popu­listische Sprengkräfte fürchten zu müssen. Die Zusatzeinnahmen fließen nicht nur in die Kompensation der entstandenen Umweltschäden, sondern zudem in den beschleunigten Um­bau des Verkehrssystems. Der physische Verkehr wurde reduziert. Menschen lieben Spiele und Wettbewerbe. Mit dem Passepartu und der persönlichen Mobilitätsdatensammlung erwuchs die Gamifizierung der Fortbewegung, das heißt der Einsatz spieltypischer Ele­mente wie Ranglisten, Statusauszeichnungen und Gewinnen im Verkehr. Statistische Akribie, wie sie zuvor vor allem vom Baseball und American Football bekannt war, hat sich den Weg in die Mobilitätsauswertung gebahnt. Man kann den eigenen Zeit-, Energie- und Kostenaufwand mit den Durchschnittswerten aller Verkehrsteilnehmer, mit seiner Alters- oder Einkommensgruppe vergleichen oder sich als Einzel­person, Kiez oder Unternehmen an Effizienzwettbewerben beteiligen. Sichtbares Engagement wird belohnt, insbesondere mit weiteren Anreizen zur Reduzierung des physischen Verkehrs. Denn neben der Bündelung von Verkehr und dem Umstieg auf nichtmotorisierte Alternativen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass viele Wege bei ehrlichem Hinterfragen eigentlich nicht gewollt sind. Bei anderer Organisation sind sie schlicht unnötig und vermeidbar. Die Mobilität wurde bunter. Inzwischen ist sie nicht zuletzt durch das Passepartu selbst noch stärker technisiert als in der Vergangenheit. Trotzdem hat die Technikfixierung im Alltag neuerdings den Rückzug aus den Köpfen der Nutzer angetreten. Höher, schneller, weiter sind nicht mehr die entscheidenden Kategorien zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Cleverer ist das neue Ideal. Dabei macht die Technikabhängigkeit von der „Stimme im Ohr“ die Nutzer nicht automatisch zu dumpfen Robotern, die wie die Lemminge ihrem Navigationswerkzeug blind auf nicht existente Brücken folgen oder ihre Umgebung nicht mehr selbstständig erkunden wollen. Stattdessen hat sich gezeigt, dass der neue Assistent im Gegenteil zum Experimentieren einlädt und häufiger neue Pfade getestet werden. Auf den dominierenden Kurzstrecken ist die Mobilität im doppelten Sinne offener geworden: Die Menschen verlassen zunehmend die geschlossenen Transportgefäße und nutzen ihre eigene ­Motorik, um sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad fortzubewegen. Sie nehmen zudem ihr direktes Umfeld, das ehedem bloß ein Transitraum auf dem Weg zu ferneren Zielen war, nun anders wahr. Der Nahraum wird wiederentdeckt. Die meisten stellen bei dieser Exploration fest, wie ungeahnt groß der Möglichkeitsraum in ihrem Kiez ist. Das Passepartu wirkt also eher wie ein solides Sicherheitsnetz, das zu räumliche und zwischenmenschlichen

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Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten


Regulierungsansatz, bei dem die Jahresautofahrleistung je­des Bürgers im Stadtgebiet limitiert ist und die persönlichen Autokilometer-Zertifikate an einer speziellen Börse gehandelt werden können.

Cap-a-City-Politik, Riding Republic

Entscheidungstouren einlädt. Es ist keine gigantische marionettenspielende Fernsteuerung, die eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit mit sich bringt. Sondern die neue Technologie wird selbst zum Schlüssel der allgemeinen Verabschiedung vom bisherigen technology fix. Diese Heilssuche im technischen Fortschritt wurde insbesondere bei der Autofixierung und dem langen Festhalten an der privaten Massenmotorisierung sichtbar. Im Zuge des Passepartus als großem Multimodalizer, als kinderleichtem Ermöglicher – oder neu­deutsch Enabler – der bequemen fallspezifischen Mischung aller Verkehrsträger, verändern sich die gesellschaftlichen Spielregeln. Die Vormachtstellung der Automobilität wird zurückgedrängt von der neuen Dominanz der Nachfrage nach Auto-Mobilität, der im ursprünglichen Wortsinn bewusst selbstbestimmten, ganz eigenen Beweglichkeit in einem breit gefächerten Markt unterschiedlichster physischer und virtueller Mobilitätsoptionen. Cap-a-City-Politik Hintergrund Nichts ging mehr: Mitte der 2020er Jahre erstickte selbst das relativ autoarme Berlin im Verkehr. In Moskau, London oder Singapur war schon Jahre zuvor der Verkehrskollaps zu be­ sichtigen gewesen. Immer noch gab es genug billiges Öl auf der Welt, machte keine Regierung ­Anstalten, im Kampf gegen den schleichenden Klimawandel das Brot der Moderne höher zu ­besteuern. Erst im Angesicht des dauerhaften Übergangs von der motorisierten Mobilität zur motorisierten Immobilität auf deutschen Straßen eröffnete sich für die Stadtverwaltungen die Möglichkeit, den Verkehrsirrsinn auf einem von der breiten Bevölkerung akzeptierten Pfad zu begrenzen, anstatt wie bisher immer nur weiter umzuverteilen und neue Schneisen durch die (Stadt-) Landschaft zu schlagen. Handlungsansatz Anders als bei den alten Ansätzen wie der City-Maut (London, Stockholm) und tagesanhängigen Fahrverboten für gerade oder ungerade Nummernschildzahlen (Peking) sollte eine soziale Schieflage des Systems vermieden werden. Ein Grundkontingent kostenfreier Mobilität sollte jedem Bürger zur Verfügung stehen, die Summe der Grundkontingente verkehrsseitig ein lebensfreundliches Stadtklima und Raumgefühl weiterhin ermöglichen. Im Gegensatz zu City Maut & Co. konnte man sich nun selbst für viel Geld nicht mehr individualmobilisierter Mobilität (MIV) einfach und unbegrenzt zu einem Fixpreis hinzukaufen. In dem neuen System mit einer limitierten Anzahl an Gesamtfahrzeugkilometern pro Jahr musste der Vielfahrer stattdessen jemanden finden, der bereit war, ihm einen Anteil seines Autokilometerkontingentes zu verkaufen – zum Beispiel um sich von dem Erlös ein gutes Fahrrad zu besorgen. Die vieldiskutierte Postwachstumsgesellschaft hatte eine erste ernstzunehmende Spielwiese gefunden, auf dem der steady state, die Ökonomie des langfristigen Gleichgewichts, tatsächlich gelebt wurde. Marktreaktion Nach leichten Korrekturen des Regulierungsmechanismus zeigt sich in den Verkehrsstatistiken und auf den Straßen inzwischen die bezweckte Wirkung: die Verkehrsleistung sinkt. Dass die Mobilität der Stadtbewohner trotzdem weiter­hin gesichert ist und daher der Widerstand gegen die Fahrbe­grenzung schnell abebbte, ist auf mehrere erfolgreiche Anpas­sungsstrategien der urbanen Bevölkerung zurückzuführen. Zunächst erlebten die Cap-a-City-Städte einen enormen Boom motorisierter Zweiräder. Der Lastencruiserscooter ersetzte das alte Leitbild der Rennreiselimousine als städtisches Universalfahrzeug. Als auch dieser in das neue System einbe­zogen und analog zu den vierrädrigen Mobilen mit einer fingerhutgroßen, mit den Mautbarken kommunizierenden Onboard Unit am Tacho versehen wurde, begann die neue Ära der Stadt der kurzen Wege. Das Planungsleitbild, das bereits seit den 1980ern proklamiert wurde und stets an der so billigbequemen automobilen Fortbewegung gescheitert war, er­lebte eine Renaissance: Plötzlich hatten die innerstädtischen Einzelhändler wieder einen substantiellen Konkurrenz- und Preisvorteil gegenüber den Einkaufszentren auf der „Grünen Wiese“ – zumindest wenn es ihnen gelang, den eigenen Ver­sorgungsverkehr effizient abzuwickeln. Das sich aus diesem Effizienzstreben ableitende neue Verkehrs-Kooperationspara­digma war aber nicht nur im Lieferverkehr zu beobachten sondern auch im privaten Personenverkehr. Mitfahrsysteme für Kurzstrecken etablierten sich schnell als gängige Ver­kehrsoption, wobei nun auch eine Kostenbeteiligung über die Weitergabe von Kilometerkontingenten erfolgte. War im vorherigen Jahrzehnt der CAC für alle Wirtschaftsfachleute noch der Inbegriff des Pariser Börsenindex gewesen, stand das Kürzel jetzt für den größten Online-Handelsplatz von MIV-Kilometerkontingenten, dessen Aufbau und Betrieb sich rechtzeitig ein Konglomerat verschiedener traditioneller Automobilhersteller gesichert hatte. Es war die logische Fortsetzung ihres Wandels vom Fahrzeugbauer zum Mobilitätsanbieter. Riding Republic Hintergrund Kein Mobilitätstrend war Anfang der 2010er Jahre so sichtbar wie die Renaissance des Radverkehrs in den Großstädten. Nicht zuletzt unterstützt durch die städtischen Behörden, die ihre Chance witterten, mit schmalen Anteilen des stetig schrumpfenden Infrastrukturbudgets die ihnen politisch vorgesetzten Modal-Split-Ziele und Feinstaubgrenzwerte doch noch zu erreichen. Radfahren wurde wieder möglich und chic, doch mit der an Bedeutung gewinnenden Velokultur wuchsen auch die Konflikte im Straßenraum. Immer mehr Radfahrer hatten letztlich das Gefühl, dass sie trotz allem politisch akzeptierten Nutzen für das Stadtklima, Volksgesundheit und Ressourcenschonung auf Dauer immer nur der Juniorpartner im Stadtverkehr bleiben sollten, der auf die Restgelder und den Goodwill der Auto- und ÖPNV-Fraktio­nen angewiesen war.

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Zweirad-Schwarmkonzept Auf diesem Nährboden entwickelte sich ein neuer Ableger der Street-Reclaiming-Bewegung, der unter Ausnutzung der immer größeren Spielräume der Kommunikationstechnologie und der Ausreifung des Straßenverkehrsrechts deutlich sichtbare Fakten schuf. Der privaten Massenmotorisierung setzen die Initiatoren neue spielerische Möglichkeiten der Massenpedalisierung entgegen. So ist in Deutschland nach § 27 der StVO seit langer Zeit das Nebeneinanderfahren und damit eine geschickte Vollausnutzung der Fahrbahn erlaubt, wenn mindestens 16 Radler erkennbar gemeinsam unterwegs sind und so einen geschlossenen Verband bilden. Dann sind diese Radler sogar wie ein Fahrzeug zu behandeln, das heißt, wenn die beiden ersten bei grüner Ampel über die Kreuzung fahren, dürfen die übrigen auch bei gelbem und rotem Signal die Kreuzung passieren, der Querverkehr ist wartepflichtig trotz grüner Ampel. Die Riding Republic verknüpfte nun per Smartphone-App die unterschiedlichen Fahrtwünsche vieler Radfahrer und generierte auf diese Weise virtuell Verbände, die sich anschließend physisch auf der Straße realisierten. Neben dauerhaft organisierten morgendlichen Fahrgemeinschaften zu Arbeit, die sich teilweise mehrerer sich kreuzender Verbände bedienten, wurden Zigtausende Verbände spontan auf die Grundlage von Ad-hoc-Fahrtanmeldungen erzeugt. Die Teilnahme an den flashmobähnlichen Kollektivfahrten wurde schnell Kult. Wie bei der Laufbus-Bewegung, bei der Kinder in größeren Gruppen gemeinsam zur Schule gingen, sahen viele ihren Nachwuchs, aber auch sich selbst, in den Radler-Konvois sicherer aufgehoben. Und auf dem Fahrtweg ein Gespräch un­ter Gleichgesinnten zu führen, verlockte ebenfalls nicht wenige. Auch wenn nicht jeder geplante Anschluss klappte. Die Software ermittelte in diesem Fall in Windeseile Alternativen für die Anbindung an andere Radzüge. Von der Revolution zur Institution – Professionalisierung und Spezialisierung Insbesondere viele sportlich aktive Senioren mit großer Liebe zum Velo meldeten sich freiwillig als sogenannte Auffüller. Fehlten irgendwo ein, zwei Radler, um die kritische Größe eines Verbunds zu erreichen, wurden die nächstpositionierten Füller informiert, die den Zug dann komplettierten. Viele dieser erfahrenen urban riders übernahmen dann die Spitze eines Zuges und sorgten für ein angenehmes, gleichmäßiges Tempo und eine sichere Konvoiführung. Mit der Zeit und einer wachsenden Teilnehmerzahl differenzierte sich das Angebot immer weiter aus, ohne dass die Bildung ausreichend großer Verbände gefährdet worden wäre. Es gab spezielle Schnellfahrkonvois, den Cruiser-Club, Touristentouren und vieles mehr. Raum- / Stadtwirkung Die Situation für den Autoverkehr wurde immer komplizierter, da die langsameren Radkonvois auf strategische Straßenachsen beinahe dauerhaft ganze Fahrspuren blockierten und den Verkehr insgesamt entschleunigten. Die Verwaltungen hatten verpasst, rechtzeitig einzuschreiten und die Auflagen für die Radverbände zu erhöhen. Nun konnte die Regulierung nicht mehr im Stillen geändert werden, ohne ein gefährliches Echo aus der Bevölkerung zu provozieren. Derart überrumpelt, blieb den politischen Führungen nur übrig, weitreichende Konzessionen an den Radverkehr zu machen, um auf einigen Achsen Radkonvois vollständig unterbinden zu können. Doch angesichts der guten Verhandlungssituation konnte die Riding Republic ein weites Fahrradstraßennetz durchsetzen, auf dem sich nun das Kräfteverhältnis verscho­ben hatte: Nun war das Auto der Juniorpartner. Quartiere innovativen Lebens (QIL) – Sustainable Communities Hintergrund In den 2020er Jahren etablierte sich eine neue Spielart der Gated Communities. Anders als der Ursprung dieser Privatstadtteile, die ihre Bewohner vor der restlichen Stadt und ihrer Armut abschotten und private Eigentumsverhältnisse schützen wollen, verpflichten sich die Bewohner der Sustainable Communities, als ökologisches Vorbild und experimen­telle Vorreiter zu leben. Ihre Stadtgebiete sind Labore klimaneutralen Lebens, in denen Beta-Produkte in einem frühen Entwicklungsstadium unter Alltagsbedingungen getestet wer­den. Natürlich – ­ regelmäßig geht dabei etwas schief, bricht die Stromversorgung für Stunden zusammen oder werden ganze Häuser nach kurzer Zeit wieder umgebaut. Dies passiert allerdings mit dem vollkommenen Einverständnis der Bewohner, denn alles ist darauf ausgerichtet, möglichst schnell Erfahrungen ­mit der Zukunft zu sammeln und flexibel auf die gesam­ten Erkenntnisse zu reagieren. Insbesondere Deutschland hat für diese ­Pionierstadtkieze gezielte steuerliche Rahmen­bedingungen geschaffen. Die Politik sieht hierin die Chance, in einer sich immer stärker nach den großen Absatzmärkten China und Afrika richtenden Konsumgüterkultur Deutschland als technologischen Test- und Leitmarkt zu positionieren. Den Anstoß für die Errichtung von Quartieren innovati­ven ­Lebens gab 2015 ausgerechnet eine Doku-Soap des damals vollkommen zu Recht vielgescholtenen öffentlichrechtlichen Fernsehens. Nachdem zuvor zahlreiche Doku-Soap-Formate eine Anzahl Freiwilliger für mehrere Wochen in verschiedene Epochen (zum Beispiel ins Mittelalter) zurückversetzt hatten, wagte der aus dem Zusammenschluss von ARD und ZDF her­vorgegangene Sender DIF das Experiment einer Reisegruppe in die ­Zukunft. Die Erlebnisse der Zukunftstester begeisterten so viele, dass diesem Tele-Quartier „Neue Heimat“ schnell weitere Reallabore folgten. Community-Modell Die Idee der örtlichen Bündelung ist es, durch stärkere gegenseitige Motivation eine höhere Sichtbarkeit der Innovationen zu erzielen. Die gegenseitige Stärkung und Unterstützung der Gleichgesinnten ist das entscheidende Momentum für eine spürbar positive Veränderung der Lebensqualität. Die green early adopter sollen nicht mehr das Gefühl haben, nur die dumme Allianz der Willigen zu sein, die aus ihrem durchaus aufwendigeren, nachhaltigen Lebensstil keine entsprechende Rendite ziehen kann, weil die ignorante Masse in der direkten Nachbarschaft fröhlich weiter Verkehrslärm produziert, Abgase emittiert und Parkplatzflächen verbraucht. Stattdessen wird die Gestaltungskraft der eigenen Veränderung in dieser räumlich abgegrenzten Keimzelle tatsächlich sichtbar. Was für Europäer zunächst befremdlich wirkte, erschien indischen Akteuren als

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Radfahrbewegung, die über die Verabredung gemeinsam gefahrener Etappen zeitgleich hunderte größere Radverbände im Verkehr organisiert, diese aufeinander abstimmt und so ein dauerhaftes Fahren jedes einzelnen Radlers in großen Schwärmen ermöglicht. Basiert auf dem Konzept der critial-mass-Fahrraddemos, die erstmals Anfang der 1990er in San Francisco stattfanden.

Innerstädtische Stadtgebiete, die sich durch ein hohes Maß an ökologischer Selbstregulierung und die Erstanwendung inno­ vativer Technologien auszeichnen.

Zweirad-Schwarmkonzept, Quartiere innovativen Lebens (QIL)


In internationalen städtebaupolitischen und verkehrswissen­ schaftlichen Zusammenhängen seit 2015 verwendeter Sam­ melbegriff für innovative Infrastruktur-und Dienstleistungs­ konzepte zum stadt-und verkehrsgerechten Management zunehmend begrenzten urbanen Parkraums. Im Zuge der glo­ balen urbanen Verdichtungsprozesse einerseits und weiter anhaltender Motorisierungstendenzen andererseits hat sich Smart Parking zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem der effizientesten kommunalen Steuerungsinstrumente für die Ge­staltung einer zukunftsfähigen urbanen Mobilität entwickelt.

Smart-Parking, FairParking

vollkommen normal. So existieren in Mumbai seit langem ganze Stadtquartiere, in ­denen – insbesondere geprägt durch die Jains-Minderheit – Wohnungen nur an Vegetarier vermietet werden. Mobilitätskonzept Ein wesentlicher Baustein der Sustainable Communities ist eine klimaschonende und wertegebundene Mobilitätsversor­gung. Die von einer privaten Initiative mit privatem Kapital errichteten Communities gehen dabei weit über die schon seit Jahrzehnten autofreien Wohnanlagen hinaus. Sie sind nicht nur als Wohngebiete angelegt, sondern inkludieren auch Gewerbe- und Versorgungseinrichtungen. Den Wissensarbeitern werden wohnungsnahe Satellitenbüros geboten, lokale Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe, die sich auf ­com­munityintern genutzte Lastenräder und E-LKW-Anlieferung einlassen, werden Gewerbe- und Wohnräume offeriert. Alles ist auf die nutzernahe Produktion und Selbstversorgung des neuen Laborkiezes ausgerichtet. Was die Community von außen bezieht, wie beispielsweise Lebensmittel, Großgeräte etc., unterliegt strengen Anforderungen. Grundsätzlich zählt „Weniger ist mehr“ und die kollaborative Nutzung möglichst vieler Artefakte zum gewünschten Lifestyle, ohne dass die Gemeinschaft in diktatorische Sektiererei verfällt. Die interne Verwaltung ist eine Gratwanderung, doch unter dem Motto des Experimentierens sollen möglichst viele kreative Freiräume erhalten werden. Der Spieltrieb wurde geweckt und die Bewohner nehmen die Möglichkeiten, den eigenen Footprint genau zu messen und mit Nachbarn, anderen Communitys und weltweiten Benchmarks vergleichen zu können, intensiv wahr. […] Smart-Parking Geschichtlicher Hintergrund Anfang dieses Jahrhunderts bewirkte die Mobilitätsentwick­lung eine weitere Verknappung des innerstädtischen Parkraumes und führte damit zu einer günstigen Ausgangssituation für die Entstehung eines neuen Parkraumparadigmas. Wichtigster Treiber war die zunehmende Flächenknappheit, vor allem bedingt durch das Bevölkerungswachstum und die weitere Motorisierung in den BRIC-Nationen, Gleichzeitig bewirkte der Attraktivitätsgewinn der Innenstädte eine weitere Verdichtung durch Zuzug auch in den Metropolen der westlichen Industrieländer. Hinzu kam hier die wachsende Flä­chenkonkurrenz durch den Fahrradboom. Im Resultat attes­tierten diverse Studien zu Beginn des Jahrtausends, dass über 30 % des innerstädtischen Straßenverkehrs durch Parksuchverkehr verursacht werden. Insofern bestand Hand­lungsbedarf. Dank der zunehmenden Digitalisierung der Mobilität sowohl aufseiten der Nutzer als auch seitens der Infrastruktur bot sich den politischen Entscheidungsträgern die Chance, eine Regulierung einerseits verhältnismäßig kos­tengünstig zu installieren. Andererseits wurde das Parkraummanagement zum ersten Mal als zentrale Stellschraube ur­baner Verkehrspolitik verstanden: Im Durchschnitt steht ein Fahrzeug 95 % der Zeit, in Stunden ausgedrückt steht ein Pkw 23 Stunden am Tag im öffentlichen Raum oder auf privaten Grundstücken, jede Fahrt beginnt und endet mit dem Parken des Fahrzeugs. Wer eine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung intelligent einsetzt, hat einen starken Hebel, um den Straßenverkehr insgesamt besser zu steuern. Dies wurde umso dringender, als durch die Umstellung auf elektro­mobile Fahrzeuge die Kraftstoffbesteuerung als A ­ nsatzpunkt wegfiel und die Parkgebühren neben City-Mautabgaben nun den bedeutendsten Anteil an den Out-of-pocket Kosten des Autonutzers ausmachten. Smart-Parking-Komponenten Der Smart-Parking-Ansatz umfasst in den meisten Städten zwei Komponenten. Zum einen führen stellplatzscharfe Leitsysteme dazu, dass unnötige Fahrten vermieden werden. Auf der anderen Seite wurde die einheitliche Parkraumbewirtschaftung durch eine zeit- und fahrzeugspezifische Gebührenerhebung ersetzt. Parkleitsystem Die alten Sensoren zur Detektierung von freien Parkplätzen, wie sie noch Anfang der 2010er Jahre zu Tausenden in die Stellplatzinfrastruktur eingebaut wurden, stellen ein auslaufendes Erfassungsinstrument dar. Inzwischen erfolgen drei Viertel der Parkplatz-Freimeldung kostengünstiger, wartungsarmer und präziser über optische Systeme, bei denen eine einzige Kamera teilweise den Status Hunderter Stellflächen überwachen kann. Je nach örtlicher Gegebenheit sind die optischen Sensoren an Hochhäusern, Drohnen oder wetterballonähnlichen Flugobjekten montiert. Gemeinsam bieten sie ein vollständiges Bild der aktuellen Parkraumverfügbarkeit. Gegen Gebühr können private Dienstleister auf das Datengerüst zugreifen und auch über kostenpflichtige Reservierungen den Status eines Platzes beeinflussen. FairParking – Parkraumbewirtschaftung mit erweiterter Steuerungsfunktion Während bei Schadstoff- und Lärmemissionen umweltfreundlichere Verkehrsteilnehmer bereits seit vielen Jahrzehnten für ihren gesellschaftlichen Beitrag belohnt werden, waren Bonus- / Malusregelungen beim Flächenverbrauch bis vor wenigen Jahren kaum zu finden. Dabei ist ein effizientes Flächenmanagement von zentraler Bedeutung für die Sicherstellung der urbanen Lebensqualität. Was zunächst nur in einigen Städten wie London oder Amsterdam für die Bepreisung von Anwohnerparkkarten in Ansätzen realisiert worden war, entwickelte sich zum Standardtarifbaustein moderner Parkraumbewirtschaftungssysteme. Mit der Umstellung von der Einheitsparkierungsgebühr auf eine flächenverbrauchsspezifische Bepreisung von Parkierungsflächen wurden – die lnfrastrukturkosten über die Entgelte gerechter verteilt; – die Nutzung kleinerer Fahrzeuge inzentiviert und – eine Datenbasis für die langfristige Neudimensionierung der Parkierungsflächen geschaffen. Dabei erfolgt eine Splittung des Einheitsparkierungspreises in drei fahrzeuggrößenabhängige Tarife (mini / midi / maxi), die mit tageszeitabhängigen Faktoren multipliziert werden. Die gerechtere Bepreisung des ruhenden Verkehrs führte zu einer deutlichen Akzeptanzsteigerung des Bewirtschaftungssystems. Wo die preisliche Besserstellung des Kleinwagens noch kein schlagendes Argument bei der Kaufentscheidung war, konnte sie doch zumindest beim Besitz mehrerer

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Fahrzeuge die bevorzugte Verwendung des kleineren, stadtverträglicheren Wagens anstoßen. Für Stadtverwaltungen beinhaltete die Umstellung die Chance, mit geringem Infrastrukturaufwand einen Anreiz für den Einsatz flächensparsamer Fahrzeuge im Stadtverkehr zu geben. Dabei wurde der für die Instandhaltung der Parkierungsanlagen notwendige Deckungsbeitrag aus den Parkraumeinnahmen mindestens auf dem bestehenden Niveau gehalten. Avatar Mobility Hintergrund Anfang des Jahrtausends schwollen die werktäglichen Pendlerströme in den Industriestaaten zum größten Verkehrsproblem an. Befeuert durch die überwiegende Berufstätigkeit beider Elternteile der zahlenmäßig wieder stark zunehmenden Kleinfamilien, wurden längere Arbeitswege als geringeres Übel in Kauf genommen. Die Alternative des ständigen Umziehens, wenn einer der zeitlich befristeten Arbeitsverträge der Lebenspartner endete und die nächste Anstellung an einem anderen Ort begann, stellte nicht nur aufgrund des Kostenaufwands keine belastbare Option dar. Das mehrfache Verlassen der gewohnten Lebensumgebung wurde vor ­allem für die Kinder als unzumutbare Belastung empfunden. Die Folge waren überlastete Verkehrsinfrastrukturen, staubedingt ausufernde Pendlerzeiten und überfüllte öffentliche Verkehrsmittel –  verbunden mit einer massiven Beeinträchtigung der Gesundheit und der Arbeitsmotivation. Die gesellschaftlichen Wohlfahrtsverluste wurden der Ende der 2010er Jahre alleine für Europa auf einen zweistelligen Milliardenbetrag pro Jahr taxiert. Erst die Mitte der 2020er Jahre etablierten Avatar-Mobility-Systeme führen zu einer deutlichen qualitativen Aufwertung der Home-Office-­ Alternative und waren damit der entscheidende Impuls zur Einführung neuer Arbeitsplatz- und Präsenzzeitmodelle. Avatar-Mobility-Systeme In Anlehnung an den ersten großangelegten Versuch, virtuelle Welten als Dritte Orte geschäftlicher Treffen und interaktiver Arbeit zu nutzen, wird die Avatar Mobility auch als Third Life bezeichnet. Die Zugangsbedingungen sind dabei ähnlich dem Vorgänger Second Life extrem niedrig, qualitativ hochwertigere Hardware kann die räumliche Illusion allerdings beliebig weit erhöhen. Anders als bei den bis vor wenigen Jahren üblichen Videokonferenzsystemen sehen sich die Besprechungsteilnehmer nicht mehr persönlich gegenseitig auf dem eigenen Monitor, sondern befinden sich gemeinsam in einem virtuellen Raum, in dem sie jeweils durch ihren persönlichen Avatar vertreten werden. Per Videobrille, Maus und Internetverbindung steuert man sein Double durch Raumwelten, die nicht selten anlassspezifisch gestaltet sind und deren Atmosphäre die Produktivität und Kreativität des Treffens positiv beeinflussen sollen. Für einen Bruchteil der Investitions- und Betriebskosten betonierter Unternehmenskomplexe entstehen auf gemieteten Serverfarmen allzeit saubere und nicht selten räumlich beeindruckende Arbeits- und Präsentationsumgebungen im Cyberspace. Diese sind leicht in der Größe skalier- und modernisierbar, müssen nicht beheizt werden und sind von überall auf der Welt mit der entsprechenden Zugangsberechtigung innerhalb von Sekunden aus jedem Winkel der Welt klimaschonend erreichbar. Insofern heißt das Motto nicht mehr nur infrastrukturbezogen „from bricks to clicks“, sondern auch vor allem verkehrssparsam „from vehicle to virtual.“ Aufbauend auf Fortschritten der Computerspielindustrie taucht der Nutzer innerhalb kürzester Zeit vollständig in die künstliche Welt ein. Er bewegt sich mit seinem Avatar durch AvatarGruppen und kommuniziert über ihn mit einzelnen oder zwanzig Mitarbeitern wie im traditionellen Büroalltag. Neben den schnell einzurichtenden Heimarbeitsplätzen sind riesige sogenannte Avatar Mobility Center gegründet worden. In diesen verkehrstechnisch sehr gut angebundenen Gemeinschaftsbüros können Einzelplätze oder ganze Etagen für die Avatararbeit gemietet werden. Vorreiter der Erstellung und Implementierung der Avatar-Mobility-Systeme waren renommierte Universitäten, die in ihren Heimatmärkten mit geburtenschwachen Jahrgängen konfrontiert wurden und zugleich bei ihren ersten Online-Experimenten eine gewaltige Nachfrage aus den wirtschaftlich aufholenden Weltregionen verzeichneten. Die Avatararbeit bewährte sich als hervorragendes Instrument zur Ergänzung der individuell abrufbaren Vortragsvideos um Tutorien, Lerngruppen und interkulturell zusammengesetzte Seminare. Mussten sich große amerikanische Universitäten zuvor um die Bereitstellung und den Unterhalt Zehntausender Parkplätze kümmern, fließen die freigewordenen Mittel nun in zusätzliche Gastprofessuren. Während weite Parkplatzflächen wieder ergrünen, wird der Campus überwiegend alternierend für Blockwochen einzelner Fakultäten genutzt, um den weiterhin gewünschten physisch-persönlichen Kontakt zeitlich komprimiert zu ermöglichen. Wirkung auf den Verkehr 90 % der europäischen Unternehmen haben Avatararbeit inzwischen fest in den Arbeitsalltag integriert. Überwiegend können die Mitarbeiter selbst bestimmen, zu welchem Anteil sie zu Hause, in einem Avatar Mobility Center oder am ursprünglichen Firmenstandort arbeiten möchten. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit den Arbeitsergebnissen haben sich Avatarmeetings aber zum Standard in vielen Wissensarbeitsbranchen entwickelt. Vereinzelt existieren noch Mischsysteme, bei denen die Mitarbeiter beispielsweise über Telepräsenzroboter an physisch durchgeführten Sitzungen teilnehmen. Verkehrsseitig hat dies zu einer erheblichen Reduzierung des Verkehrsaufkommens in den ehemaligen Spitzenstunden des Berufsverkehrs geführt. Viele geplante Ausbaumaßnahmen, die auf den zusätzlich prognostizierten Kapazitätsbedarf in den werktäglichen Morgenstunden ausgelegt waren, konnten zum Vorteil der öffentlichen Haushalte gestrichen werden. Die Befürchtungen, die Avatararbeiter wür­den die gewonnene Zeit verstärkt in verkehrsintensive Frei­zeitaktivitäten investieren, bewahrheiteten sich nicht. […] New H (Rurale Kolonien bzw. Dorf 2.0) Hintergrund Das Wunschbild vom idyllischen Landleben – in Hochglanzmagazinen, TV-Sendungen und der Werbung für Landesprodukte aufwendig medial inszeniert – war lange kaum zu vereinen mit der tatsächlichen Entwicklung.

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Virtuelle Kommunikations- und Arbeitsplattform zur Reduzierung von Pendlerverkehr.

Stadtflucht-Bewegung kreativer Digital Natives, die eine moderne Form des Landlebens propagiert.

Avatar-Mobility-Systeme, New H (Rurale Kolonien bzw. Dorf 2.0)


Jahrzehntelang waren der Verfall ländlicher Gemeinden und eine massive Landflucht zu beobachten. Erst mit Beginn der 2020er Jahre wandelte sich das Bild. Baugemeinschaften und Avantgardisten eroberten brachliegende Dörfer zurück, aber auch professionelle Projektentwickler spekulierten auf das gerade in vielen akademischen Schichten prinzipiell positive Bild vom Landleben und konzipierten auf der Grundlage der Anforderungen dieser Klientel unter dem Schlagwort Dorf 2.0 ein neues Modell ländlicher Siedlungen. Zum großen Teil nutzen die Stadtauswanderer ressourcenschonend alte Bausubstanz. Teilweise werden jedoch auch günstige neue Standorte mit zeitgenössischen Architekturentwürfen entwickelt, weshalb die ruralen Projekte in Anlehnung an das Berliner Hansaviertel in Planerkreisen auch Hansadörfer genannt werden. Die neuen Ansiedlungen liegen überwiegend in 60-bis-90-Minuten-Schnellzugdistanz in der erweiterten Peripherie großer Städte. Vorreiter Vorreiter und Namensgeber der New H-Bewegung waren New Yorker Hipster, die Anfang der 2010er Jahre von Manhattan in die Kleinstadt Hastings am Hudson River zogen. Die kreativen Pioniere suchten zunächst vor allem eine Alternative zu den überhitzten innerstädtischen Immobilienpreisen. Was als temporäre Stadtflucht für den Feierabend und zu­gunsten größerer Wohnflächen begann, mündete schließlich in funktionierenden suburbanen Lebensräumen, die sich immer stärker vom nächstgelegenen Metropolraum abnabelten, ohne dass dieser als Möglichkeitsraum für Einkauf, Freizeit oder allgemeines Kontrastprogramm an Bedeutung für das Gesamtkonzept verlor. Ausgestaltung Anders als die zuvor bekannten Schlafstädte und Retortendörfer setzt sich die Bevölkerung nicht aus einem Heer von Arbeitsnomaden zusammen, das faktisch nur am Wochenende und nachts in voller Besetzung anzutreffen ist. Stattdes­sen zielt das Modell auf die Digital Natives, die sich aus ihrem Arbeitszimmer oder der BüroWG nebenan in den weltweit stattfindenden Arbeitsalltag einklinken, aber einer exzessiven physischen Mobilität eine Absage erteilen; die für einige Jahre oder für immer eine Auszeit vom Großstadtleben suchen, ohne komplett aussteigen zu müssen. Es ist die Neuentdeckung von intensiv genutzten Versorgungs-, Begegnungs- und Erholungsstrukturen im unmittelbaren, unmotorisiert erlebbaren Umfeld. Der Lebensentwurf basiert auf einer großen Naturnähe, einem hohen Grad an Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln und Energie und einer starken virtuellen Nabelschnur, die den Anschluss an die Welt sichert. Die physische Anbindung an die weite Welt allerdings wird bewusst erschwert, um das rastlose Hopping zwischen Landleben, Großstadt und Flughafen bereits im Ansatz zu unterbinden.

New H (Rurale Kolonien bzw. Dorf 2.0)

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Kollaborative Mobilität Carsharing Sammelbegriff für alle Formen des gemeinschaftlichen Automobilteilens, für das sich auch im deutschsprachigen Raum der englische Terminus weithin eingebürgert hat. Während der Privatbesitz eines Fahrzeuges das gesamte 20. Jahrhundert hindurch im Kern der Automobilkultur stand, hat sich diese Praxis seit Beginn des 21. Jahrhunderts radikal zugunsten einer Kultur des Nutzens-statt-Besitzens gewandelt. Der allgemeine Trend der Konsumkultur des frühen 21. Jahrhunderts in Richtung der Shareeconomy, in der der Besitz von Konsumund Investitionsgütern durch den marktvermittelten Zugang zu Produkten für den Zeitraum der Nutzung ab­ gelöst wurde, fand damit in der Mobilität seine früheste und konsequenteste Ausprägung. Hintergrund Die Idee eines gemeinschaftlich genutzten „Clubautos“ wird zum ersten Mal 1951 in der Revue d'Urbanisme und später im sogenannten Buchanan-Report von 1964 erwähnt. Bereits in den 1960er Jahren gab es vor allem im angloamerikanischen Raum Konzepte für sechs größere Teilautoprojekte, von denen jedoch keines in einem dauerhaften Pilotprojekt tatsächlich umgesetzt wurde. Das änderte sich erst mit den Projekten Procotip von 1971 bis 1973 in Montpellier, Witcar von 1973 bis 1981 in Amsterdam, Mobility Enterprise von 1982 bis 1985 in West Indiana und STAR von 1983 bis 1985 in San Francisco. Während diese Versuche von Beginn bis Projektende stark von einem wissenschaftlichen Experimentalcharakter geprägt waren, entwickelte sich das weltweit erste auch dauerhaft erfolgreiche Unternehmen „Stattauto“ des forschenden Unternehmers Markus Petersen in Berlin seit 1988 sehr schnell von einem wissenschaftlichen Feldversuch zu einem kommerziellen Betrieb. Schnell folgten dieser Geschäftsidee Einzelpersonen, Vereine und Genossenschaften mit Unternehmungsgründungen für das Autoteilen in vielen Städten, vor allem im deutschsprachigen Raum. Die weitere Entwicklung des Carsharing in der Phase vom Beginn der 1990er Jahre bis 2015 ist geprägt von einer großen Dynamik, Vielfalt, technologischer Innovation und unternehmerischer Kreativität. Der nächste Schritt zur Professionalisierung und dauerhaften Etablierung erfolgte in den 2010er Jahren mit dem Einstieg der europäischen Mobilitäts- und Autoindustrie in den Carsharing-Markt mit eigenen Produkten (z. B. DB AG mit Flinkster, Daimler AG mit car2go, BMW mit DriveNow und VW mit Quicar). Dieser Schritt kann aus heutiger Sicht als kluge unternehmerische Zukunftsvorsorge betrachtet werden angesichts globaler gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die zu einem steten Attraktivitätsverlust der klassischen Automobilnutzung beitrugen. Da Anfang des Jahrhunderts bereits über sechzig Prozent der Weltbevölkerung in urbanisierten Weltregionen lebten und diese Entwicklung sich bis zur Mitte dieses Jahrhunderts durch den demographischen Wandel noch deutlich verstärkte, waren diese urbanen Märkte für den zukünftigen unternehmerischen Erfolg der Branche entscheidend. Gleichzeitig schon die veränderten Rahmenbedingungen die Entwicklung an, einerseits durch den wachsenden Automobilbestand, steigendes Verkehrsaufkommen und entsprechende massive Kapazitätsprobleme für den fließenden und ruhenden Verkehr, andererseits durch die enormen Digitalisierungsschübe, die immer schnellere, flexiblere und passgenauere informationstechnologische Dienstleistungen und Geschäftsfelder ermöglichten. Hinzu kamen Wertver­schiebungen gegenüber der Automobilität bei jüngeren Käuferschichten in den weitgehend gesättigten Märkten der westlichen Industriegesellschaften und ein rationalerer, sprich vor allem kostenbewussterer Umgang mit dem betriebs- wie volkswirtschaftlich im Grunde unwirtschaftlichen Besitzgut Automobil zugunsten flexibler und nicht an den Privatbesitz gekoppelter Nutzungsweisen. Der Blechbesitz eines langjäh­rig haltbaren Nutzungsgutes hatte seit Beginn der digitalen Ära ein zentrales Handicap – ihm fehlten die Update-Möglichkeiten. In der permanente Aktualisierung und immer neue Zusatznutzungen gewohnten Smartphone- und Internetepoche büßte das Auto an Attraktivität ein, da der Käufer sich mit der Anschaffung technologisch für viele Jahre festlegen musste, Die Verschiebung vom Besitzen zum Nutzen war gegenüber den bislang vorherrschenden produkttechnologischen Inno­ vationsstrategien der Automobilindustrie eine vorwiegend nutzerseitige, also soziale Innovationsstrategie, die den Autobauern eher aufgezwungen wurde, als dass sie sich an die Spitze der Bewegung gesetzt hätten. Befeuert wurde die Entwicklung durch eine nicht unerhebliche Dynamik im Bereich des privaten, meist nachbarschaftlichen Autoteilens. Grundidee deutscher Online-Plattformen wie Nachbarschaftsauto, Tamyca, Rent-n-Roll, Autonetzer und carzapp oder internationaler Äquivalente wie buzzcar (Frankreich), RelayRides / Getaround (USA) oder WhipCar (England) war es, den Verleih bzw. die Ausleihe von privaten Autos in der Nachbar­ schaft transaktionskostenarm, sicher und einfach zu gestalten. Ohne eigene Produktionsmittel konzentrierten sie sich vollständig auf eine provisionsfinanzierte Vermittlerrolle mit intuitiv nutzbarer Bedienoberfläche. Vor allem durch den Einzug digitaler Medien in den Alltag wurde es einfacher als je zuvor, Gesuchtes mit dem Aufwand weniger Mausklicks in akzeptabler Reichweite zu finden. Kombiniert mit den Veränderungen der sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen wie der Finanzkrise, stagnierenden oder zurückgehenden Einkommen und der hohen Bedeutung sozialer Netzwerke für den Alltag bildeten Internet, Smartphones und mobile Ortungsdienste etwa seit 2010 den idealen Nährboden für virtuelle Plattformen, auf denen von privat an privat alles Erdenkliche verliehen wird: alltägliche Gebrauchsgegenstände (z. B. frents, niriu, neighborGoods), Übernachtungsmöglichkeiten (z. B. airbnb, 9flats, wimdu) – und eben Verkehrsmittel. Der Impuls kam dabei nicht moralbeladen aus der Ökobewegung, sondern von jungen Digital Natives, die das Peerto-Peer-Prinzip auf die Automobilität übertragen wollten, nachdem sie die ineffiziente Verwendung der kostenintensiven „Stehzeuge“ identifiziert hatten. Mit der anschlussfähigen Story der ressourcenschonenden Shareeconomy und neuen Akteuren wie risikoaffinen E-commerce-Investoren

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Carsharing


MOB ist eine 2019 in Berlin aus der 2018er-Bürgerpflichtbewegung entstandene Genossenschaft, die das flächendeckende Angebot von privat ausleihbaren Kraftfahrzeugen und Fahrrädern zum Selbstkostenpreis betreibt.

Swosh, MOB

und Versicherungen als Partner setzen sie, wendige Freibeuter im Markt der Autokonzerne und Mietwagenmultis, auf das bis dahin unentdeckte Geschäftsfeld des privaten Autoleihens und -verleihens. Aktuelle Situation Seit 2015 bis heute veränderten sich angesichts der vor allem durch die neuen Medien entfachten Dynamik die globalen Mobilitätsmärkte vollständig. Mobilität wird heute fast gänzlich ohne den einstmals vorausgesetzten Besitz von Verkehrsmitteln organisiert. Verkehrsmittel bleiben heute im Besitz der Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen. Oft teilen sich verschiedene Anbieter ein und dieselbe Fahrzeugflotte, der eigentliche Wettbewerb um die Kunden findet im Bereich der Servicequalität, der Zusatzangebote und der Kosten statt. In der ehemaligen Automobilindustrie fand im Zuge dieses Prozesses eine radikale Marktbereinigung statt, in der nur wenige reine Produzenten von Fahrzeugen überlebten. Sie stellen heute den Grundbedarf technologisch wie konzeptionell sehr hochwertiger und langlebiger Fahrzeuge bereit, die von den Mobilitätsdienstleistungsunternehmen neben Informationstechnologien und besonders qualifizierten Infrastrukturspezialisten als Produktionsgrundlage ihrer komplexen Mobilitätsangebote dienen. […] Swosh Ausgehend von der These, dass sich der kollaborative Konsum zukünftig in vielen Lebensbereichen als wichtiges Marktsegment etablieren wird, stellte sich ein großer deutscher Auto­mobilkonzern die Frage, wie er signifikant an diesem Sharing­-Trend partizipieren könnte. Als ein erfolgversprechender Ansatz wurde die Etablierung des Online-Marktplatzes Swosh (swop shop für Mobilitätsprodukte und -dienstleistungen, basierend auf swop – engl. für tauschen) ­angesehen, der eine systemeigene Tauschwährung mit traditionellen EUR-Abrech­nungen kombiniert und hierüber vielfältige Nutzungs­anreize für die Kunden sowie Provisionszahlungen, Einsparund C ­ rossmarketingeffekte für die Anbieter generiert. Konzept Grundbaustein bildet ein privates oder professionelles Car-Sharing, dessen Abrechnung über eine systemeigene Wäh­rung, den Swoshy, erfolgt. Darüber hinaus können Swoshys genutzt werden, um Dienstleistungen des Automobilherstel­lers sowie Produkte und Dienstleistungen angeschlossener Drittanbieter bargeldlos zu erwerben. Swoshys können zu einem festen EUR-Wechselkurs erworben und zurückgewechselt w ­ erden. Intelligente Anreizmechanismen inzentivieren jedoch die plattforminterne Reinvestition der Swoshys. Swosh stellt damit ein Mischsystem aus altbekannten Zeit­-Tauschringen bzw. Regionalwährungen, etablierten Bonussyst­emen (wie Miles & More) und mobilitätsspezifischen Rechnungsformen (wie das Punktemodell von Mu by Peu­geot) dar. Es bietet dem Kunden den Vorteil, Einnahmen aus dem Verleih des eigenen Fahrzeugs zum Beispiel direkt in eine Fahrzeuginspektion, den Erwerb von Autozubehör oder aber auch die Ausleihe einer Kreissäge für das Verlegen eines Laminatfußbodens zu reinvestieren. Durch die tauschbörsen­interne Abwicklung wird zumindest im P2P-Segment die Mehrwertsteuer umgangen und das Angebot dadurch potentiell günstiger. Private wie professionelle Anbieter sind, sich angebotsseitig ergänzend, auf einem gemeinsamen Marktplatz verfügbar. Anbieternutzen Der Plattformbetreiber profitiert von Kundenguthaben, die auf den Swoshy-Konten unverzinst verwaltet werden. Bei je­der Transaktion wird zudem eine geringe Transaktionsgebühr für den Leistungsersteller fällig. Beide Elemente sind auf­grund der geringen Höhe für den Nutzer kaum spürbar, sum­mieren sich jedoch im Mengeneffekt für den Anbieter. Der Betreiber kann die Plattform sowohl zur zielgruppenspezifi­schen Vermarktung eigener Dienstleitungen / Produkte nut­zen als auch stufenweise für mobilitätsnahe und -fernere An­gebote öffnen. Die Bereitschaft, die fiktive Währung zeitnah zur eigenen Belohnung mit einem anderen Produkt einzusetzen, ist be­deutend höher als beim Einsatz traditionellen Geldes, insbe­ sondere wenn das Swoshy-Guthaben zuvor durch eine eigene Sharing-Dienstleistung erworben wurde, also add-on zum normalen Haushaltseinkommen verfügbar ist (vgl. Umgang mit Bonusmeilen, Paybackpunkten). Dem System kommt da­bei umsatzsteigernd die in Studien belegte Tatsache zugute, dass Sharer zwar anders, tendenziell aber sogar mehr konsu­mieren. Swosh hat das Ziel, durch attraktive Angebote die Konsumentenrente quasi am Entstehungspunkt wieder abzu­schöpfen. Durch den einfachen Zukauf von Swoshys kann fiktives Geld um tatsächliche EURBeträge ergänzt zur Finanzierung einer Leistung eingesetzt werden, womit der Zugang zu allen Leistungen niedrigschwellig bleibt, weil es nicht wie bei reinen Tauschringen eines äquivalenten Leistungsbetrags in der Größenordnung des Konsums bedarf. MOB Hintergrund Anfang der 2010er Jahre rückten im Kielwasser des Teilen-Trends (alternativ als Shareconomy oder collaborative consumption bezeichnet) auch im Mobilitätsmarkt erstmals kollaborative Ansätze in das Sichtfeld der breiten Bevölkerungsgruppe. Zwar war die Ineffizienz des Besitzes von Fahrzeugen nicht annähernd so schlecht wie die der vielzitierten Bohrmaschinen. Deren durchschnittliche Einsatzzeiten wurden damals auf rund 13 Minuten pro Jahr geschätzt. Angesichts einer mittleren Nutzzeit privater Automobile von nur fünf Prozent ihrer Lebenszeit waren diese jedoch ebenfalls eher als Steh- denn als Fahrzeuge zu bezeichnen. Und wenn sie dann einmal benutzt wurden, war ganz überwiegend nur einer der Sitzplätze besetzt, was in der deutschlandweiten Betrachtung zu einem statistischen Besetzungsgrad von 1,3 Personen je bewegtem Fahrzeug führte. Beschleunigt durch fehlende Stellplatzflächen und leicht bedienbare Smartphone-Appli­kationen, eroberten Kurzmiet- und Mitfahrsysteme die Welt des motorisierten Straßenverkehrs. War es zunächst vor allem schick, sich der Umweltfreundlichkeit und Innovationsgeist ausstrahlenden Mobilitätsdienstleistungen zu bedienen, kamen gegen Ende der 2010er Jahre handfeste ökonomische Argumente hinzu, sich der „Nutzen statt Besitzen“-Szene anzuschließen. Der Ölpreis stieg aufgrund der auflodernden Nahostkrise extrem an. Auch die wirtschaftliche Re-

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zession in Europa, die aus dem Süden kommend nun die Bastionen des Wirtschaftswachstums im Norden einnahm und hohe Arbeitslosenzahlen vor allem unter der jungen Bevölkerung ver­ursachte, wirkte aufgrund der gewaltigen Nachfrage in Asien und Afrika kaum dämpfend auf die Energiepreise. Motorisierter Individualverkehr wurde plötzlich für viele zum Luxus­gut, ohne dass die Betroffenen ihre verkehrsinduzierenden Randbedingungen wie Wohn- und Arbeitsstandort, Sportver­ein der Tochter und Freundeskreis im Nachbarort kurzfris­tig hätten anpassen können. Auf diesem Nährboden mutierte die Lifestyle-Dienstleistung schlagartig zu einem bequemen Ausweg, den bisherigen Mobilitätsstandard budgetgerecht si­chern zu können. Mobilitätsnetzwerk MOB Die Wirtschaftskrise führte zu einem massiven Einbruch der Nachfrage nach Neu- und Gebrauchtwagen. Den eigenen Pkw ohne große finanzielle Verluste abzustoßen oder zumindest durch ein kleineres sparsameres Fahrzeug zu ersetzen war kaum noch möglich. Um die Leasinggebühren und Unter­haltskosten trotzdem finanzieren zu können, suchten viele Autobesitzer nach zahlenden Mitnutzern. Gleichzeitig mussten nicht wenige Hochmobile angesichts von Jobmangel und sinkender Nettoeinkünfte auf den Kauf eines neuen eigenen Autos verzichten. Die Genossenschaft MOB brachte beide Akteursgruppen zusammen. Wie bei anderen Anbietern privaten Carsharings auch, fin­den Anbieter und Suchende auf einer Onlineplattform zueinander. Aber die dem Motto „Kollaborieren statt kollabie­ren“ folgende genossenschaftliche Organisation unterschied sich von alternativen Vermittlungsbörsen. Die sogenannten Mobileros hatten sich von ­Beginn an einen strengen Verhaltens­kodex bezüglich Sauberkeit, Pünktlichkeit und Kosten­ermittlung auferlegt, der an die sozial-ökologisch angelegte Startphase des Carsharings Ende der 1980er Jahre erinnerte. Gewinnerzielung war verpönt und Provisionsgebühren für Online-Vermittlung entfielen dank des ehrenamtlichen Zusatzengagements einiger IT-begabter Mobileros. Dabei entwickelte sich das System schnell über den ein Auto teilenden kleinen nachbarschaftlichen Kreis einander bekannter Privatpers­onen hinaus. Grundlage hierfür war die frühe Möglichkeit, gegen einen geringen Preis in Partnerwerkstätten den Privatwagen mit einem elektronischen Zugangssystem nachzurüsten. Fortan gehörten Schlüsselübergaben der Vergangen­heit an. Der Besitzer reservierte im Buchungssystem seine Nutzungszeiten, in der übrigen Zeit stand das Fahrzeug allen Mobileros zur Verfügung, die der Smartphone-App passende Fahrzeuge finden, buchen und bezahlen konnten. Eine weitere Besonderheit der MOB-Genossenschaft ist die Selbstverpflichtung, wann immer möglich Mitfahrergesuche anzunehmen, die auf der gleichen Online-Plattform einge­stellt werden können. Von dieser Möglichkeit der Bildung von Ad-hoc-Fahrgemeinschaften wird rege Gebrauch gemacht, lassen sich doch dank der Größe des MOB-Netzwerkes unterschiedliche Mitfahrgelegenheiten kombinieren und somit auch exotische Fahrtenwünsche zeitlich attraktiver realisieren als mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Entwicklungspfad Das MOB-Verkehrssystem hat sich so zu einem kostengüns­tigen Parallelsystem des öffentlichen Verkehrs entwickelt. Der ursprüngliche Peer-to-Peer-Ansatz weitet sich inzwischen zu einem leistungsfähigen Peer-to-Public-Konzept aus. Weiterhin sind es Privatpersonen, die Fahrzeuge ver- und ausleihen und damit private Fahrten durchführen. Das Mitnahmekonzept ist allerdings besonders erfolgreich, weil es elementar zur Senkung der Nutzungskosten beiträgt. Dank der hohen Nutzungszahlen ist diese crowd-driven mobility (CROMOB) zum Aushängeschild der MOB-Dienstleistung geworden: Da die vielen Mitfahranfragen immer stärker das Bewegungsmuster der Einzelfahrzeuge beeinflussen, ist es quasi die Masse, die das Verkehrsgeschehen steuert –  nicht mehr physisch am Lenkrad, sondern per Tastendruck auf dem Smartphone. Wie bei einer modernen Variante des legendä­ren Pony-Express wechselt der Reisende teilweise mehrfach das Fahrzeug, um an sein Ziel zu gelangen. Das veränderte Nutzungsprofil hat zur Folge, dass sich bei Ersatzbeschaffungen viele MOB-Fahrzeugbesitzer inzwischen für einen Klein­bus entscheiden, der die Bündelung vieler Fahrtenwünsche ermöglicht. Die geteilten Fahrzeuge haben sich zum Bürger­bus 2.0 gemausert. progressIV – Mikromobil & multimodal unterwegs Hintergrund Mit Beginn der 2010er Jahre bemühten sich die europäischen Automobilkonzerne verstärkt, ihr Image des reinen Fahrzeugherstellers in das eines umfassenden Mobilitätsdienstleisters zu verwandeln. Nicht zuletzt das wachsende Umweltbewusstsein der Konsumenten motivierte die Fahrzeugbauer, ihre Carsharing-Experimente, multimodalen Plattformen und Elektromobilitätsaktivitäten medial in den Vordergrund zu stellen und ihre verkehrsträgerübergreifende Dienstleistungskompetenz zu betonen. Die bedeutendsten Umsatzanteile wurden aber weiterhin mit den großen, spritschluckenden Modellen gemacht – jetzt allerdings vorwiegend auf den jungen Märkten Asiens. Dass auch in Deutschland weiterhin Neufahrzeuge der Ober- und Mittelklasse in relevanter Größenordnung verkauft wurden, war vor allem auf die Zulassung von Dienstfahrzeugen zurückzuführen, deren Anteil in diesem Marktsegment zwischen 80 und 90 % betrug. Aber gerade diese Klientel vollzog 2015 mit Blick auf schwache Konjunkturprognosen und erforderliche Kostensenkungsziele zur Sicherung der globalen Wettbewerbsfähigkeit einen harten Richtungswechsel in ihrer Einkaufspolitik. Vordergründig sich in gleicher Weise wie die Automobilgiganten auf die Umwelt und ihre Corporate Social Responsibility (CSR)-Ziele berufend, schrieben 18 von 30 DAX-Konzernen in einer konzentrierten Aktion gleichzeitig ein Mobilitätspaket für ihre Führungskräfte aus. Wenig später schlossen sich viele Mittelständler mit ähnlichen Ausschreibungen der Initiative an. progresslV-Mobilitätspaket Das mit dem Titel progressIV (progressiver Individualver­kehr) versehene Mobilitätspaket musste ein hochwertiges Kleinfahrzeug als Basis der persönlichen Mobilität des Mit­arbeiters enthalten. Darüber hinaus sollte der Vertragspartner über ergänzende Bausteine wie einen einfa-

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KAPITEL FÜNF Entwürfe für eine Welt mit Zukunft Kollaborative Mobilität

Mobilitätspaket für Führungskräfte, das ein mikromobiles Dienstfahrzeug mit einer multimodalen Mobilitätsdienstleistung kombiniert.

progressIV – Mikromobil & multimodal unterwegs


Seit 2025 dominierendes Leitbild kommerzieller Mobilitäts­ dienstleistungen.

Caring Mobility (Beyond Sharing)

chen ÖPNV-Zu­gang, Mieträder oder Bahnpreisrabatte eine kostengünstige und gesundheitsfördernde Fortbewegungsmöglichkeit der Mitarbeiter inzentivieren. Für weitere Strecken, repräsenta­ tive Anlässe oder als anerkennender Leistungsbonus sollte der Zugang zu einem ergänzenden Fahrzeugpool inkludiert sein. Offensichtlich war den Konzernen angesichts der aktuellen Motorisierung ihrer SUV-sozialisierten Manager der Sprung auf ein reines Nutzen-statt-Besitzen-Produkt zu groß gewe­sen. Daher sollte es nun eher ein Viel-Nutzen-wenig-Besit­zen-Konzept mit einem ­attraktiven Ergänzungsangebot zum persönlichen Mikrofahrzeug sein. Die Initiative der Wirt­schaft hatte die Automobilindustrie damit beim Wort genom­men, statt eines Fahrzeugs eine komplette Dienstleistungswelt bieten zu können, und aus deren viel kommunizierten Zu­kunftsvisionen eine konkrete Produktbeschreibung abgeleitet. Reaktion der Fahrzeughersteller Die progressIV-Anforderungen waren die Geburtsstunde einer vollkommen neuen Fahrzeugklasse. Um trotz des kun­dengewünschten Downsizings ein image- wie margenstarkes Fahrzeug anbieten zu können, konzipierten die Hersteller überwiegend technisch hochwertige Mikrofahrzeuge. Corsa, Polo & Co waren keine Optionen für die Managerklasse, und E-Scooter wie Pedelecs deckten nicht den Anspruch der wetteru­nabhängigen Nutzung ab. Die auf Konzeptfahrzeugen oder Kleinserien wie Volkswagens XL 1 aufbauenden Modelle zeichneten sich dagegen zum einen durch sehr geringe Ver­brauchswerte aus, um in den Lebenszykluskosten-Berech­ nungen der Firmeneinkäufer möglichst gut abzuschneiden. Attraktivität für den tatsächlichen Nutzer wurde zudem durch spezielle Features wie automatische Einparksysteme, High-End-Entertainmentsysteme und edle Ausstattungsvarian­ ten gesichert, die gleichzeitig zu einer hohen Wertstabili­tät des Fahrzeugs beitrugen. Aufgrund ihres bezogen auf Gewich­t und Flächenverbrauch hohen Preisniveaus erhielt die Fahrzeugklasse bald die Bezeichnung „Diamond Cars.“ Auswirkungen auf den Mobilitätsmarkt progressIV veränderte nicht nur direkt über den veränderten Modal Split der mittleren Managementebene den Mobilitätsmarkt. Wichtiger war die Einflussnahme über den Imageeffekt und den Gebrauchtwagenmarkt. Als Vorbild für den Nachwuchs kreierten sie einen neuen Mobilitätsstil, der sich deutlich vom alten autozentrierten Mobilitätsbild unterschied. Waren zuvor auch grüne Manager von den alten Rollenbildern in große Karossen gedrängt worden, konnten sie nun ohne internen Statusverlust eine klimaschonende Lebensweise demonstrieren. Aufgrund der kurzen Umschlagzeiten und der großen Volumina an Firmenfahrzeugen erreichte der neue Trend der neuen Fahrzeugklassen aber auch schnell und in relevanter Größenordnung den privaten Gebrauchtwagenmarkt. Caring Mobility (Beyond Sharing) Hintergrund Anfang der 2010er Jahre wurde in den Industrieländern und speziell in Europa ein wachsender Trend hin zu anbieter- und verkehrsträgerübergreifenden Mobilitätsdienstleistun­gen sichtbar. Besondere Dynamik erhielt die Entwicklung mit der Abkehr der großen Automobilhersteller von der reinen Fahrzeugproduktion und deren immer stärkeren Positionie­rung als komplette Mobilitätsdienstleister. In Deutschland war es insbesondere der Automobilkonzern Daimler, der auf seiner Smartphone-Plattform moovel die Information und Buchung unterschiedlichster Angebote wie Carsharing, Taxi, Mietrad oder öffentlichem Nahverkehr bequem über eine Oberfläche zugänglich machte. Viele Wettbewerber, aber auch Kommunikationskonzerne und SoftwareStartups, folgten dem Beispiel. Die Leistungsexplosion bei den Informationstechnologien löste ein neues Kooperationsparadigma in der Verkehrsbranche aus. Zuvor weitgehend solitär betriebene Angebote wie Pkw-Mitfahrt, Bahnreise und Mietrad ließen sich über die neuen Datenbrücken und -autobahnen zu kinderleichten such-, buch- und abrechenbaren Mobilitätsan­geboten von Tür zu Tür verknüpfen. Es war der Beginn der Sharing-Ära, die nur auf den ersten Blick durch den Aufstieg des „Nutzen statt Besitzen“-Kundenmottos geprägt wurde. Mindestens von ebenso großer Bedeutung wie das Teilen von Autos, Fahrten, Rädern & Co durch die „Gebraucher“ war das Teilen der Daten aufseiten der Mobilitätsdienstleister. Die Vorhersage, Daten würden sich zum Öl des 21. Jahrhunderts entwickeln, hatte sich bewahrheitet. Während auf den Straßen- und Schienen inzwischen die Elektromotoren surrten, waren die Daten im Hintergrund zur eigentlich treibenden Kraft geworden. Ergebnis der umfassenden Vernetzung war Bildung der drei großen Mobilitätsallianzen, die noch heute den Markt für nahtlose Beförderungsangebote von A nach B beherrschen. Nachdem sich die Differenzierungsmöglichkeiten durch das (Daten-) Sharing erschöpft haben, wird nun über innovative Caring-Produkte um Marktanteile gerungen. Carsharing-Mobility-Philosophie Das Sharing-Konzept ermöglicht es dem Nutzer, sich IT-unterstützt ein persönliches Fahrtenangebot durch Zusammenstellung unterschiedlichster Transportmittel fallspezifisch zu generieren. Der Caring-Ansatz geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur vollumfängliche Informationen und automatische Abrechnung werden gewährleistet, sondern vor dem Hintergrund des Nutzerprofils vorausschauend die beste Mobilitätslösung antizipiert und dem Kunden Entscheidungsprozesse abgenommen. Ziel ist das Outsourcing belastender Mobilitätsplanungsprozesse aus dem Bewusstsein oder vereinfacht: Der Kunde soll den Käse nur noch essen müssen – und nicht mehr an füttern, melken, käsen, transportieren etc. denken. Das alte Leitbild des Nutzens ohne Nachdenken in Vollendung. Raumüberwindung bei höchstmöglichem Komfort ist der Anspruch, der sich sowohl bei den eingesetzten Artefakten als auch dem Management der Mobilitätsbedürfnisse zeigt. Beispiele sind Motorisierungsoptionen wie Exoskelett und Autobahn NG, die jeden Millimeter Fortbewegung für den Anwender vorausdenken, ihm im Gleichgewicht halten oder in der Spur. Kuratorsysteme wie das Passepartu lernen persönliche Präferenzen aus der Vergangenheit, wählen passende Mobilitätsoptionen eigenständig aus und routen den Nutzer flexibel um, wenn sich kurzfristig passgenauere Alternativen anbieten. In dieser Philoso-

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phie ist Mobilität kein Selbstzweck, und der Dienstleister wird zum sorgenden Diener mit der Kernaufgabe, dass nicht mehr nur alles im Fluss bleibt, sondern der Kunde gleichsam durchs Leben gleitet. Der Nutzer gibt seine Rolle als Dirigent des Orchesters der Optionen ab. Stattdessen wechselt er von der Bühne in den Zuschauerraum und genießt nur noch das Zusammenspiel. Marktresonanz Angesichts der zunehmenden Komplexität der Lebensentwürfe und der Alltagsgestaltung wurden Caring Mobility Services als bedeutende Entlastung wahrgenommen und verzeichneten starke Wachstumsraten. Sie waren der Gegentrend zu der noch Anfang des Jahrtausends zu beobachtenden „Ikearisierung.“ Diese hatte den Verbraucher immer enger in die Produktion einbezogen, um personalintensive Prozesse kostensenkend zu verringern. Dieses sogenannte Prosuming war anscheinend an die Grenzen der Kundenakzeptanz gestoßen, der mit seinem Zeitbudget lieber anderes anfangen wollte, als optimale Wegeketten zu ermitteln und Fahrzeuge selber zu lenken. Durch das Mobilitätsfukushima wurde das Bewusstsein für die eigene Verletzlichkeit durch fehlgelei­tete Fremdsteuerung mittels intelligenter Systeme zwar zwischenzeitlich sensibilisiert, das Rad jedoch nicht zurückgedreht.

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Caring Mobility (Beyond Sharing)


Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Shared Space wurde im Rahmen des EU-Programmes „Interreg IIIB North Sea“ von 2004 bis 2008 von sieben Kooperationspartnern mit jeweils einem regionalen Projekt getestet. Diese sind: – die Provinz Fryslân (Niederlande) – die Gemeinde Haren (Niederlande) – die Gemeinde Emmen (Niederlande) – die Stadt Oostende (Belgien) – die Gemeinde Eiby (Middelfart Kommune, Dänemark) – die Gemeinde Bohmte (Deuschland) – die Verwaltungsgrafschaft Suffolk (Ipswich, England). Entwickelt wurde Shared Space vom niederländischen Keuning Instituut unter der damaligen Leitung von Hans Mondermann. Shared Space basiert auf einem soziologischen Ansatz und beinhaltet ein umfangreiches Im Beitrag „Sinn und Unsinn von Shared Space – Zur Versachlichung einer populären Gestaltungsphilosophie“ Beteiligungsverfahren. Der Begriff Shared Space wurde inzwischen seiwurde eine etwas konkretere, auf deutsche Verhältnisse bezogene Definition versucht. Demnach können im engeren Sinne Projekte als Shared Space bezeichnet werden, wenn tens des Keuning Instituuts bzw. vom im Jahr 2009 neu gegründeten – in dörflichen Hauptstraßen, örtlichen Geschäftsstraßen oder Hauptgeschäftsstraßen abschnittsweise – vorzugsweise in Platzbereichen – das Mischungsprinzip angewendet wird, Shared Space Instituut markenrechtlich geschützt. – das Mischungsprinzip möglichst alle Verkehrsteilsysteme – mindestens aber den Rad- und Fußverkehr auf nicht separierten Flächen – umfasst, Bei Shared Space handelt es sich in erster Linie um eine – die Verkehrsteilsysteme Kfz-Verkehr, Rad- und Fußgängerverkehr, ggf. auch Öffentlicher Verkehr, diese Abschnitte nutzen, Haltung mit dem Ziel der gegenseitigen Rücksichtnahme, die bezogen – ruhender Verkehr aus diesen Abschnitten möglichst vollständig verbannt wird, – auf Beschilderung weitgehend verzichtet wird. auf den Verkehr als eine Gestaltungsphilosophie oder ein Gestaltungsprinzip zum Tragen kommt. Straßenräume sollen in partizipativen Prozessen so gestaltet werden, dass alle Funktionen in ein Gleichgewicht gebracht werden und Kraftfahrzeuge eher als Gäste in diesen Räumen unterwegs sind. Shared Space versucht, die drei Funktionen Verbindung, Erschließung und Aufenthalt in einem möglichst nicht geteilten und ortstypisch gestalteten Raum zu überlagern. Dabei wird möglichst das Mischprinzip bei weitgehendem Verzicht auf Lichtsignalanlagen und Verkehrszeichen angewendet. Zur konkreten Ausgestaltung bietet Shared Space kein Fertigrezept an, denn jedes Problem und jeder Ort braucht eine maßgeschneiderte Lösung. Bei der Gestaltung der Straßen und ihrer Umgebung sollte auf die unverwechselbaren Umgebungselemente und so wenig wie möglich auf verkehrstechnische Maßnahmen zurückgegriffen werden, um soziales Verhalten zu fördern. Hier sollen die Vorfahrtsregeln durch zwischenmenschliche Verständigung e ­ rsetzt werden. Wenn nicht mehr klar ist, wer Vorfahrt hat, sollen die informellen Regeln menschlicher Höflichkeit in Kraft treten. Gewünscht wird ein integrierter Prozess, in dem Bewohner, Nutzer, Beschäftigte und Fachleute ihre Wünsche, Kenntnisse und Fähigkeiten einbringen. Der Entwurf wird in die Verantwortlichkeit eines ­interdisziplinären Teams gelegt, von dem neben Kreativität vor allem Kooperationswille und Kommunikation erwartet wird. […] Neben den sieben Partnern im EU-Projekt gibt es noch weitere Kommunen, vor allem in der Schweiz, in Benelux, Skandinavien und Großbritannien, die mit der Idee des Shared Space in Verbindung gebracht werden. In Deutschland und im Ausland existiert zudem eine Vielzahl von umgestalteten Straßenräumen und Plätzen, die teilweise schon seit vielen Jahren eine Shared Space Charakteristik aufweisen. Seit 2002 ist in der Schweiz die so genannte „Begegnungszone“ geltendes Recht, die rechtlich wie ein Verkehrsberuhigter Bereich in Deutschland einzuordnen ist und gestalterisch mit Shared Space verglichen werden kann. Mit ihr soll der Fußverkehr gefördert werden. Sie kennzeichnet Straßen in Wohn- und Geschäftsbereichen, auf denen Fußgänger die gesamte Verkehrsfläche benutzen dürfen und gegenüber dem Fahrzeugverkehr vortrittsberechtigt sind. Das Parken ist nur an gekennzeichneten Stellen erlaubt und es gilt eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 20 km / h. Im Gegensatz zum deutschen „Verkehrsberuhigten Bereich“ ist aber das Spielen auf den Fahrbahnflächen in den Begegnungszonen nicht gestattet. Mit dieser Regelung der Begegnungszone können Tempobegrenzungen und vor allem Vortrittregelungen zugunsten des Fußgängerverkehrs wesentlich einfacher eingerichtet werden als zuvor. […] Niederlande, Drachten, Kreisverkehr Laweiplein Im Jahr 2001 wurde der innerstädtische Knotenpunkt mit einer Verkehrsbelastung von ca. 18 000 Drachten, ein Ort in der Gemeinde Smalingerland mit ca. 44.000 Kfz / 24h von einem signalgeregelten Knotenpunkt als Shared Space Vorzeigeprojekt zu einem Platz mit KreisEinwohnern, liegt im Nordosten der Niederlande und gehört zu der Provinz Friesland. verkehrsanlage (Laweiplein) umgestaltet. Täglich befahren ca. 5 000 Radfahrer den Platz. Der zentrale Platz, an dem auch das Theater der Gemeinde Drachten liegt, sollte in seiner städtebaulichen Qualität aufgewertet werden, wobei Fußgänger und Radfahrer Priorität gegenüber dem motorisierten Individualverkehr bekommen sollten. Der Platz hat eine attraktive Gestaltung mit Aufenthaltsfläche und Brunnenanlagen. Die Umfeldnutzung des Platzes wird maßgeblich geprägt durch gewerbliche und kulturelle Nutzung (Banken, Theater, Gastronomie). Der Kreisverkehr wurde in der Kreismitte mit dem in Deutschland üblichen Verkehrszeichen 215 StVO (Kreisverkehr) beschildert. Die Vorfahrtregelung erfolgt durch Beschilderung und Markierung. An den Zuund Ausfahrten der Kreisfahrbahn und vor Querungsstellen wurden Markierungen in Form von „Haifischzähnen“ vorgenommen. Diese Markierung signalisiert in den Niederlanden „Vorrang gewähren“ und entspricht damit in Deutschland etwa dem Verkehrszeichen 205 StVO. Die Seitenräume und die nach der Umgestaltung neu entstandenen Platzflächen können vom nicht motorisierten Verkehr genutzt werden. Radfahrer können so im Mischverkehr auf der Kreisfahrbahn oder in den Seitenräumen bzw. auf den Platzbereichen fahren. Querungsstellen für den Radverkehr befinden sich unmittelbar an den Einmündungen der Kreiszufahrten. Sie sind durch Farb- und Materialwahl von der Fahrbahn abgesetzt und zusätzlich durch Aufpflasterung und durch Markierungen („Haifischzähne“) auf der Fahrbahngekennzeichnet. Diese Querungsstellen werden von Radfahrern in beiden Richtungen befahren und auch von Fußgängern genutzt. Fußgängerüberwege wurden in größerem Abstand von der Kreisfahrbahn an allen vier Zufahrten angelegt und mit einem Aufmerksamkeitsfeld (ca. 30 cm Noppenplatten) versehen. Zudem bestehen für Blin-

Auszüge aus: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V., Unfallforschung der Versicherer, Shared Space Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Beispiele und Empfehlungen für die Praxis, URL: https://t1p.de/txvv (zuletzt abgerufen am 18.06.2020). © Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.

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Niederlande, Drachten

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de mit Langstock deutlich wahrnehmbare Kanten, die zum Auffinden der Noppenplatten und des Fußgängerüberweges genutzt werden können. Der Überweg selbst ist mit einer Nullabsenkung ausgeführt. Die Erkenntnisse über die Unfallentwicklung am Laweiplein wurden in zwei Untersuchungen zusammengestellt und hier aktualisiert. Nach Umgestaltung der signalisierten Kreuzung zu einem Kreisverkehr kam es hier nicht mehr zu Unfällen mit schwerverletzten Personen. Auch die Anzahl der Unfälle mit leicht Verletzten und die Anzahl von Unfällen mit Sachschäden sind rückläufig. Die jährliche Unfallkostendichte ist nach dem Umbau deutlich zurückgegangen. Diese positive Entwicklung des Unfallgeschehens ist aber vorwiegend auf den Umbau zu einem Kreisverkehr zurückzuführen. Sie gibt keinen Hinweis darauf, dass durch Shared Space die Verkehrssicherheit erhöht wird. […] Niederlande, Drachten, Knotenpunkt De Drift / Torenstraat / Kaden In Drachten befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Kreisverkehr Laweiplein der Knotenpunkt De Drift / Torenstraat / Kaden. Dieser Knotenpunkt war vormals lichtsignalgeregelt und wurde im Jahr 1998 zu einer Kreuzung mit „Rechts-vor-Links“ Regelung umgestaltet. Der Knotenpunkt weist eine Verkehrsbelastung von ca. 15 000 Kfz / 24 h auf. Auf einem der vier Knotenpunktarme ist ausschließlich Radverkehr zugelassen (ca. 7 000 Radfahrten / Tag). An dem Knotenpunkt liegen eine Kirche, Wohngebäude sowie gewerbliche und gastronomische Betriebe. Der Platzbereich ist im Mischungsprinzip gestaltet. Die einheitliche Gestaltung unterstreicht den Platzcharakter, wobei in den angrenzenden Flächen mit Markierungen und Gestaltungselementen wie Baumscheiben gearbeitet wurde, die die Flächen für den Fußgänger- und Radverkehr von der Fahrbahn abgrenzen. Auf Wunsch der Anwohner wurden nachträglich Fußgängerüberwege über den ehemaligen übergeordneten Hauptstraßenzug angelegt, einschließlich entsprechender Beschilderung sowie kontrastierender Leit- bzw. Auffangstreifen für blinde und sehbehinderte Personen. Auf Beschilderungen wurde nicht vollständig verzichtet. Neben der Beschilderung der Fußgängerüberwege ist ein eingeschränktes Halteverbot für eine Zone analog Zeichen 291 StVO angeordnet. An dem Knotenpunkt gilt die „Rechts-vor-Links“ Regelung. Diese Regel wurde in den Niederlanden erst im Mai 2001 auch auf Nicht-Kraftfahrzeuge wie z. B. auf Radfahrer ausgedehnt. Sehbehinderte Personen mit Langstock haben an den Fußgängerüberwegen Probleme. Von den äußeren Häuserkanten führen zwar Leitstreifen zum Fußgängerüberweg hin, dieser beginnt aber mit einem wenig kontrastreich ausgeführten Auffangstreifen aus Noppenplatten. Eine Ausrichtung an diesen Noppenplatten zum Auffinden der gegenüberliegenden Seite ist für blinde Personen mit Langstock aufgrund einer fehlenden, taktil erfassbaren Kante kaum möglich. Die Unfallzahlen zeigen, dass es nach dem Umbau zu mehreren Unfällen mit verletzten Personen und mit Sachschäden gekommen ist. Die Entwicklung der Unfallzahlen ist jedoch statistisch nicht signifikant. Sie gibt dennoch einen Hinweis darauf, dass sich an dieser Kreuzung die Verkehrssicherheit durch den Umbau keinesfalls verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Niederlande, Haren, Rijksstraatweg Kreisverkehre verdeutlichen Anfang und Ende des Shared Space Bereiches. Die dazwischen liegenden Einmündungen und Kreuzungen sind im Mischungsprinzip gestaltet. Hier gilt einheitlich die „Rechtsvor-Links“ Regelung. Aufenthaltsflächen heben sich von den Verkehrsflächen in den Knotenpunktbereichen in keiner Weise ab. Materialwechsel in der Fahrbahn kündigen die Knotenpunktbereiche an. Außerhalb der Knotenpunktbereiche sind auch die Streckenabschnitte niveaugleich ausgeführt. Die Gehwegbereiche sind durch Material- und Farbwahl, Bäume und Leuchten eindeutig von der Fahrbahnfläche separiert, Gitter verhindern zusätzlich das Parken in den Seitenräumen. Für Radfahrer sind bis auf eine „weiche Kanalisierung“ durch eine andersfarbige Pflasterlinie auf dem Gehwegbereich keine Regelungen eingeführt. Sie nutzen sowohl die Fahrbahn als auch die Gehwegflächen uneingeschränkt. Mit Ausnahme von drei Pkw-Stellplätzen für Behinderte werden auf dem Rijksstraatweg keine Parkstände angeboten. Im unmittelbaren Umfeld befinden sich jedoch ausreichend Parkraumkapazitäten. Beschilderungen wurden insgesamt mit Zurückhaltung angeordnet. An einigen Stellen warnen Schilder vor querenden Fußgängern und Radfahrern. Der Rijksstraatweg wird mit Bussen im Linienverkehr befahren. Im Bereich des umgestalteten Rijksstraatweg sind Haltestellen für Linienbusse integriert. Die Länge der Haltestelle ist für einen Standardbus als Kap ausgelegt. Die Wartefläche für Fahrgäste hebt sich farblich von den umgebenden Flächen ab und entspricht in der ausgeführten Bauhöhe etwa einem klassischen Hochbord. Ein niveaugleicher Einstieg ist bei dieser Ausführung jedoch nicht möglich. Im mittleren Bereich der Wartefläche wurde eine Rampe ausgeführt, die für Rollstuhlfahrer und Personen mit Rollatoren den Zugang ermöglicht. Leit- und Auffangstreifen zum Auffinden der Haltestelle fehlen jedoch. Sitzgelegenheiten und Fahrgastunterstände sind ebenfalls nicht vorhanden. Die Entwicklung des Unfallgeschehens am Rijksstraatweg gibt einen Hinweis darauf, dass sich die Verkehrssicherheit durch den Umbau verbessert hat. Insbesondere ist die Anzahl der jährlichen Unfälle mit Sachschaden, aber auch die Anzahl der Unfälle mit Leichtverletzten deutlich zurück gegangen. Auch die jährliche Unfallkostendichte ist seit der Umgestaltung deutlich niedriger. Deutschland, Bohmte, Bremer Straße Die Umgestaltung wurde anhand eines mehrstufigen Partizipationsprozesses mit der Bohmter Bevölkerung und weiteren Beteiligten abgestimmt. Die Bürgerbeteiligung in Bohmte ging dabei über den gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen des § 3 Abs 1 BauGB hinaus. Aufgrund von verkehrlichen und gewerblichen Entwicklungen in der Gemeinde Bohmte sollte ein städtebauliches Planungsverfahren zur Lösung verkehrlicher und städtebaulicher Missstände durchgeführt werden.6 Die stark belastete Hauptverkehrsstraße bot wenig Aufenthaltsqualität, für Umbaumaßnahmen standen nicht die Haushaltsmittel im erforderlichen Umfang zur Verfügung. Im Rahmen der Teilnahme an dem EU-Projekt Shared Space bot sich eine Gelegenheit, Teile der Ortsdurchfahrt zu überplanen und in Teilbereichen umzugestalten.

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Haren, ein Vorort der Stadt Groningen, hat ca. 19 200 Einwohner. Im Jahr 2003 wurde hier eine örtliche Geschäftsstraße mit angrenzenden Knotenpunktarmen nach dem Prinzip Shared Space umgestaltet. Die Verkehrsbelastung des ca. 400 m langen Abschnitts der Geschäftsstraße beträgt ca. 8 000 Kfz / 24 h.

Die Gemeinde Bohmte liegt in Niedersachsen und gehört zum Landkreis Osnabrück. In der Gemeinde leben ca. 13 200 Einwohner. Die Gemeinde Bohmte nimmt bislang als einzige deutsche Kommune an dem EU-Projekt Shared Space teil. Die Bremer Straße (L 81) ist mit ca. 12 600 Kfz / 24 h belastet, davon ca. 1 000 LKW / 24 h

Niederlande, Drachten, Haren | Deutschland, Bohmte


Die Stadt Brühl befindet sich in Nordrhein-Westfalen und hat ca. 47 000 Einwohner. Der Platz vor der „Giesler-Galerie“ in Brühl wird auch als „Stern“ bezeichnet und wurde im Jahr 2006 von einem Kreisverkehrsplatz in einen Platzbereich umgebaut. Die Verkehrsbelastung auf dem Platz liegt bei bis zu 7 500 Kfz / 24 h.

Kevelaer hat ca. 28 200 Einwohner und aufgrund der Wallfahrer ein hohes Besucheraufkommen. Teile der Bahnstraße (L 491), Marktstraße (L 491) und Gelderner Straße wurden bereits 2003 zu einem Platz umgebaut. Seinerzeit wurde der Roermonder Platz im Rahmen eines städtebaulichen Gesamtkonzeptes als eine Art Erweiterung der Fußgängerzone geplant. Eine vorgesehene, jedoch nicht realisierte Ortskernumgehung sollte die Verkehrsbelastung reduzieren. Heute findet jedoch nach wie vor in einem nicht unerheblichen Maße regulärer Durchgangsverkehr statt. An den Platz grenzt die Hauptstraße, eine Fußgängerzone. Der Straßenzug Bahnstraße / Marktstraße ist eine innerörtliche Hauptverkehrsstraße mit einer Belastung von bis zu 9 000 Kfz / 24 h. Den Roermonder Platz frequentieren derzeit etwa 10 500 Kfz / 24 h sowie zahlreiche Fußgänger und Radfahrer

Deutschland, Brühl, Kevelaer

Umgesetzt ist mittlerweile ein Abschnitt von etwa 350 m Länge. Geplant ist die Ausweitung auf etwa 1 000 m Länge nach Süden in Richtung Bahnhof, wobei diskutiert wird, teilweise auch das Separationsprinzip mit anderen Gestaltungsmitteln einzusetzen. Bei der Umgestaltung wurde ein einheitliches Betonpflaster verwendet, das auch in den Bereichen der privaten Grundstücksflächen zum Einsatz kommt. Die Fahrbahnbreite beträgt 5,70 m zwischen zwei Rinnen, so dass LKW im Begegnungsfall auf die Gehbereiche ausweichen müssen. Der kontrastierende Blindenleitstreifen im Gehwegbereich wird dabei jedoch als äußerste Fahrbahnbegrenzung interpretiert. Besonders markant ist der ca. 30 Meter große „Kreisverkehrsplatz“, der aufgrund fehlender Beschilderungen rechtlich aber als „überfahrbare Platzfläche mit Rechts-vor-Links-­Regelung“ einzustufen ist. Die Kreisfahrbahn hat dadurch keinen Vorrang. Überwiegend wird der Platz jedoch als Kreisverkehr befahren. Zum Teil erfolgt die Durchfahrt aber – ganz legal – auch auf direktem Wege. Auf Beschilderung und Wegweisung wurde im Kernbereich verzichtet. Nur im Annäherungsbereich wurde das Schild „Ende der Vorfahrtstraße“ (Zeichen 307) angebracht. Im gesamten Bereich gilt jedoch für LKW eine durch Zeichen 274 StVO angeordnete zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km / h. Durch die hohe Verkehrsbelastung dominiert der Kraftfahrzeugverkehr. Radfahrer und Fußgänger bewegen sich überwiegend in den Seitenräumen, die jedoch teilweise durch parkende Fahrzeuge eingeschränkt werden. Die Betrachtung des Unfallgeschehens im ersten Jahr nach der Umgestaltung lässt tendenziell eine deutliche Zunahme insbesondere der Bagatellunfälle erkennen. Während in der ehemaligen signalisierten Einmündung durch die Umgestaltung zu einem „Kreisverkehr“ Dominanz des Kraftfahrzeugverkehrs Blindenleitstreifen kaum noch Unfälle zu beobachten sind, haben sich auf dem anschließenden Streckenbereich deutlich mehr Unfälle ereignet als in den Jahren zuvor. Auch ist die Anzahl der Unfälle mit Verletzten bislang auf dem gleichen, wenn auch niedrigen, Niveau geblieben. Wie in den Jahren zuvor wurden bislang keine Unfälle mit Fußgängern festgestellt. Die Anzahl der Unfälle mit Radfahrern hingegen hat zugenommen. Auch das subjektive Sicherheitsgefühl der Anwohner hat sich nach einer Befragung durch die FH Osnabrück nicht verbessert, 50 Prozent der Befragten fühlen sich unsicherer als vor dem Umbau. Deutschland, Brühl, „Stern“ Insgesamt münden fünf Straßen in versetzter Form in den Platz. Räumlich abgegrenzt wird der Platz durch die umgebende Bebauung. An den Zufahrten des Kfz-Verkehrs verdeutlicht jeweils das Zeichen 325 StVO den verkehrsberuhigten Bereich. Der Übergang in diesen Bereich wird durch ein rotes Pflasterband quer zur Fahrbahn unterstrichen. Die Oberfläche des Platzes wurde niveaugleich mit diagonal laufenden Pflasterbändern gestaltet. Auf einem Teil der Platzfläche befindet sich die Außengastronomie mehrerer Lokale. Insgesamt münden fünf Straßen in versetzter Form in den Platz. Räumlich abgegrenzt wird der Platz durch die umgebende Bebauung. An den Zufahrten des Kfz-Verkehrs verdeutlicht jeweils das Zeichen 325 StVO den verkehrsberuhigten Bereich. Der Übergang in diesen Bereich wird durch ein rotes Pflasterband quer zur Fahrbahn unterstrichen. Die Oberfläche des Platzes wurde niveaugleich mit diagonal laufenden Pflasterbändern gestaltet. Auf einem Teil der Platzfläche befindet sich die Außengastronomie mehrerer Lokale. Durch die Anordnung von Poller und Gitter werden die Fußgängerbereiche deutlich von den überfahrbaren Flächen des Platzes separiert. Im Ergebnis führt dies für den Kfz-Verkehr zu verengten Fahrflächen und deutlichen Fahrversätzen. Die Fußgänger werden durch die Anordnung der Gitter gezielt geführt. Hierdurch entstehen sowohl an Stellen, die durch rote Pflasterung zusätzlich betont werden als auch an einer Stelle vor dem Eingang der Giesler-Galerie häufig genutzte definierte Querungsstellen für Fußgänger. Generell sind in dem Bereich keine ausreichenden taktil erfassbaren Leit- und Auffangstreifen für blinde oder sehbehinderte Personen vorhanden. Die definierten Querungsstellen sind lediglich durch eine kontrastreiche Gestaltung hervorgehoben. Flächen zum Parken sind in dem gesamten Bereich des Platzes nicht vorgesehen. Es gilt die „Rechts-vor-Links“ Regel. Ein Knotenpunktarm ist als abgehende Einbahnstraße (Mühlenstraße) und ein weiterer Arm als zufließende Einbahnstraße (Clemens-August-Straße) ausgeschildert. In beiden Straßen wird Radfahren entgegen der Einbahnrichtung durch Beschilderung erlaubt (Zusatzzeichen 1022-10 StVO). Auf das mögliche Entgegenkommen von Radfahrer aus Richtung der Mühlenstraße wird durch eine Markierung auf der Fahrbahn hingewiesen. Der verkehrsberuhigte Bereich am „Stern“ wird von Standardbussen zahlreicher Linien im Linienverkehr in nahezu alle Richtungen befahren. Das Unfallgeschehen der ersten Jahre nach dem Umbau weist auf eine deutliche Verbesserung der Verkehrssicherheit hin. Und das, obwohl der Verkehrsablauf hier vorher bereits durch einen im Allgemeinen relativ sicher geltenden Kreisverkehrsplatz geregelt wurde. Deutschland, Kevelaer, Roermonder Platz Der Roermonder Platz stellt eine Art Eingangstor in die Innenstadt von Kevelaer dar. Der Platz wurde niveaugleich mit diagonal laufenden, hellen Pflasterbändern gestaltet. Die Oberfläche besteht durchgehend aus roten bzw. hellen Betonsteinen. Der Fahrzeugverkehr auf der Mischverkehrsfläche wird durch Poller kanalisiert. Der Verkehrsablauf auf dem Roermonder Platz stellt für den Kfz-Verkehr eine wenig komplexe Verkehrssituation dar. Im Kern besteht eine Durchgangsfahrbahn, in die eine Einbahnstraße mündet. Die Einbahnstraße ist für den Radverkehr in Gegenrichtung freigegeben. Fußgänger und Radfahrer dürfen zudem den Platzbereich in seiner ganzen Breite uneingeschränkt nutzen. Innerhalb des verkehrsberuhigten Bereichs (325 StVO) gilt die „Rechts-vor-Links“ Regelung. Ein Zusatzzeichen „Schritt fahren“ unter Zeichen 325 verdeutlicht die im Verkehrsberuhigten Bereich vorgeschriebene Schrittgeschwindigkeit. Parken ist nur in dazu gekennzeichneten Flächen erlaubt. Poller verhindern zusätzlich Falschparken. In Bezug auf die Verkehrsunfallentwicklung ist eine Vorher-Nachher-Betrachtung nicht möglich, da keine Vergleichsdaten vor 2004 zur Verfügung stehen. Bezogen auf meldepflichtige Verkehrsunfälle ist der Bereich aber als eher unauffällig zu bezeichnen. Allerdings haben nach Aussagen der Polizei Sachschadenunfälle (Kategorie 5) und Verkehrsunfallfluchten deutlich zugenommen.

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Deutschland, Duisburg, Opernplatz Die Verkehrsflächen des Opernplatzes sind durch Rinnen und Flachborde in Fahrbahn und Seitenräume gegliedert. Hochborde kommen im verkehrsberuhigten Bereich nicht zur Anwendung. Auf sichtbehindernde feste Einbauten oder Bepflanzungen wurde im gesamten Bereich verzichtet. Die Fahrbahn besteht aus je einem (ca. 4 Meter breiten) Fahrstreifen je Richtung. Die Richtungen sind durch einen (ca. 50 cm bis 1 m breiten) Mittelstreifen getrennt. Auch der Mittelstreifen kann durch eine taktil erfassbare Kante von querenden sehbehinderten Personen mit dem Langstock wahrgenommen werden. Im zentralen Bereich gegenüber dem Eingang zum Theater wurde zudem eine ca. 20 m breite definierte und vollständig niveaugleiche Querungsstelle ausgeführt, die von gehbehinderten Personen oder Rollstuhlfahrern barrierefrei genutzt werden kann. Stellplätze für Kraftfahrzeuge enthält der Opernplatz nicht. Parkplätze sind im Bereich der Moselstraße vorgesehen. Zudem werden die Seitenräume der Neckarstraße regelmäßig für Parkvorgänge genutzt, obwohl hier keine Parkflächen ausgewiesen sind. Trotz Ausweisung als Verkehrsberuhigter Bereich wird der Vorrang der Fußgänger vor dem motorisierten Individualverkehr auf dem Opernplatz oft missachtet. Im Anschluss an den Verkehrsberuhigten Bereich wird die Landfermannstraße auf zwei Fahrstreifen je Richtung aufgeweitet. Der Seitenraum ist durch ein Hochbord separiert. Radfahrer werden auf einem ca. 2 m breiten, rot markierten Radfahrstreifen auf der Fahrbahn geführt. Das Unfallgeschehen im Bereich Opernplatz kann insgesamt betrachtet als recht moderat betrachtet werden. Die Daten der ersten beiden Jahre nach dem Umbau weisen jedoch eine tendenzielle Zunahme des Unfallgeschehens auf. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass für den Vorher-Zeitraum nur Unterlagen zu den Unfällen in den Knotenpunkten vorliegen. Insbesondere das Unfallgeschehen mit verletzten Personen sollte hier in den nächsten Jahren weiter kritisch beobachtet werden. Schweiz, Bern-Köniz, Schwarzenburg-Strasse Die Ortsdurchfahrt wurde im Jahr 2006 komplett umgestaltet. Der gesamte Straßenraum zwischen den Bauten wird als eine durchlaufende Fläche behandelt. Die Fahrbahnränder sowie der Kreisverkehrsplatz (Bläuacker) werden durch eng angeordnete niedrige Pfosten definiert. Markante Leuchten, angeordnet auf einem Trennstreifen aus eingefärbtem Asphalt in Fahrbahnmitte prägen den Straßenraum. Der Trennstreifen dient als linienhaft wirksame Querungshilfe für Fußgänger. Ziel der Umgestaltung war eine Optimierung der Querungsmöglichkeiten für die Fußgänger sowie eine Verbesserung des Verkehrsflusses für den motorisierten Verkehr. Dazu wurden nach der in 2001 erfolgten baulichen Umgestaltung in einem Verkehrsversuch im Jahr 2005 zusätzlich die erlaubte Geschwindigkeit auf 30 km / h reduziert und die bestehenden Zebrastreifen entfernt. Dadurch müssen die Fahrzeuge am Zebrastreifen den Fußgängern nicht mehr den Vortritt gewähren, und es entstand eine bessere Verständigung durch vermehrtes gegenseitiges Beobachten unter den Verkehrsteilnehmern. Die Umgestaltung zeigt zwar weder positive noch negative Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit. Die Verkehrskultur hat sich aber nachhaltig in Richtung mehr Rücksichtnahme verändert. Schweiz, Burgdorf, Bahnhofstrasse / Lyssachstrasse Die Erfahrungen und Resultate, die im Rahmen des Projekts „Fussgänger- und Velo-Modellstadt Burgdorf“ (FuVeMo) ermittelt wurden, werden vielfach als Basis für Maßnahmen in anderen Städten herangezogen und haben wegweisenden Charakter. Im Zeitraum von 10 Jahren hat die FuVeMo insgesamt 22 Projekte zur Förderung des Fuß- und Radverkehrs realisiert. Laut „Gesamtevaluation“ konnten die informell gesetzten quantitativen Ziele (Verkehrsverlagerung vom motorisierten auf den Langsamverkehr um 10 Prozent, Senkung des Unfallrisikos um 10 Prozent) aber nicht vollständig erreicht werden. Insbesondere konnte die Senkung des Unfallrisikos nicht abschließend beurteilt werden. Die gemeldeten Unfallzahlen in der Stadt Burgdorf haben sich zwar deutlich reduziert (-30 %), der Einfluss von FuVeMo auf diese Reduktion ist jedoch nicht nachweisbar. Aus qualitativer Sicht hat sich aber die Situation zumindest im Bahnhofquartier spürbar verbessert, vor allem was die Schwere der Unfälle anbelangt. Die Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 20 km / h wurde aber bislang nicht vollständig erreicht. Schweiz, Biel, Zentralplatz 2002 wurde der verkehrsreiche Knotenpunkt zu einer Platzfläche umgestaltet und als Begegnungszone ausgewiesen. Auf den Zentralplatz münden acht Straßen ein. Im Rahmen der Umgestaltung wurden die möglichen Fahrbeziehungen durch Anordnung von Einbahnstraßen und Durchfahrtsverboten für den motorisierten Individualverkehr reduziert. Gleichzeitig wurde die zentrale Bus-Haltestelle verlegt und die Linienführung der Busse modifiziert. Dadurch konnte insgesamt eine wesentliche Reduzierung der erforderlichen Fahrbahnflächen und eine geordnete Führung des Fahrzeugverkehrs über den Platzbereich erreicht werden. Der Platz mit einer Ausdehnung von 55 m x 70 m wird täglich von bis zu 12 000 Fahrzeugen befahren. An Werktagen queren 5 000 – 6 000 Fahrräder und 1 200 Busse den Platz. An der am Rand des Platzes gelegenen Bus-Haltestelle steigen täglich ca. 5 500 Fahrgäste ein und aus. Die gesamte Platzfläche wurde mit einer einheitlichen eingefärbten Asphaltoberfläche gestaltet. Die Fahrbahnbereiche sind von den Gehbereichen durch kontrastierende Flach- bzw. Schrägborde getrennt. An einigen definierten Querungsstellen befinden sich taktil erfassbare markierte Aufmerksamkeitsstreifen am Fahrbahnrand. Während Fußgänger den Platz in allen Richtungen queren, halten sich Radfahrer überwiegend an die definierten Fahrbahnflächen. Eine Geschwindigkeitsmessung im Jahr 2003 ergab, dass 85 % aller Fahrzeuge (V85) nicht schneller als 24 km / h fahren. Etwa drei Viertel aller Fahrer halten die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 20 km / h ein. Dieses niedrige Geschwindigkeitsniveau trägt wesentlich zum Funktionieren der Mischverkehrsfläche bei. Denn trotz relativ hoher Fahrzeugfrequenzen ist es gelungen, für Fußgänger einen sicheren und attraktiven Platz mit hoher Aufenthaltsqualität zu schaffen. Fußgänger lassen oft den Bussen freiwillig den Vortritt. Der Gesamtverkehr fließt gleichmäßiger.

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KAPITEL FÜNF Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Einsatzbeispiele

Duisburg ist eine kreisfreie Stadt mit ca. 500 000 Einwohnern. Der Opernplatz befindet sich auf der Landfermannstraße im Herzen der Stadt in der Nähe des Hauptbahnhofs. Der Platz selbst ist als Verkehrsberuhigter Bereich (Z 325 StVO) ausgeschildert und wird an Werktagen durchschnittliche von 13 700 Pkw und 90 LKW befahren. In den verkehrsberuhigten Bereich des Opernplatzes sind Teile der Moselstraße im Nordwesten und der Neckarstraße im Nordosten eingebunden. Beide Abschnitte gehen im weiteren Verlauf in eine Tempo-30-Zone (Z 274.1 StVO) über.

Die Schwarzenburg-Strasse in Bern-Könitz ist eine Ortsdurchfahrt mit zentralem Geschäftsbereich. Täglich verkehren hier ca. 16 000 Kfz. Linienbusse und viele querende Fußgänger und Radfahrer prägen das lebhafte Verkehrsgeschehen.

Burgdorf, mit seinen rund 15 000 Einwohnern, vereint in sich die Qualitäten einer modernen Kleinstadt mit Zentrumsfunktion. Die erste Begegnungszone der Schweiz besteht seit 1994 – anfänglich versuchsweise unter dem Namen „Flanierzone.“

Deutschland, Duisburg | Schweiz, Bern-Köniz, Burgdorf, Biel


Die Stadt Biel ist mit ihren ca. 52 000 Einwohnern die größte zweisprachige Stadt der Schweiz. Der Zentralplatz ist der Kreuzungspunkt der großen Raumachsen, ein Verkehrsknotenpunkt und bedeutender Identifikationsort im Zentrum von Biel.

Die Unfallstatistik zeigt, dass sich durch die Umgestaltung und die neue Verkehrsregelung keine Verschlechterung der schon vor dem Umbau sehr geringen Unfallsituation ergeben hat. Voraussetzungen zum Einsatz von Shared Space in Deutschland Die Beispiele aus Deutschland, Niederlande und der Schweiz zeigen, dass eine Umgestaltung von Straßenräumen unter bestimmten Umständen zu einer Harmonisierung des Verkehrsablaufs führen kann. Hauptziel bei allen Beispielen war jedoch die städtebauliche Aufwertung und die Verbesserung der Aufenthaltsqualität. Eine Verbesserung der Verkehrssicherheit steht hingegen weder bei Shared Space noch bei den anderen Maßnahmen im Vordergrund. Die nachfolgend beschriebenen Voraussetzungen für den Einsatz von Shared Space sollen dazu beitragen, dass die neue Gestaltungsphilosophie mit dem nötigen Augenmaß und unter Berücksichtigung der Belange insbesondere von Kindern, Älteren und mobilitätseingeschränkten Personen und nur dort angewendet wird, wo sie einen sinnvollen Beitrag zur Aufwertung des Lebensraums Stadt beitragen kann. Geeignete Bereiche Geeignet sind in erster Linie sensible Abschnitte von Hauptgeschäftsstraßen, örtliche Geschäftsstraßen oder dörfliche Hauptstraßen. Der Fußgänger- und / oder Radverkehr sollte das Straßenbild bestimmen bzw. zumindest in einer Größenordnung zu verzeichnen sein, die den Wunsch nach einem „Gaststatus“ des KfzVerkehrs rechtfertigt. Die Randnutzungen sollten in diesen Bereichen einen hohen Überquerungsbedarf bedingen, so dass Fußgänger und Radfahrer den gesamten Straßenraum potenziell in Anspruch nehmen. Es wird empfohlen, die Belastungsgrenze von 8 000 Kfz / Tag nicht zu überschreiten, um eine Dominanz des Kfz Verkehrs zu vermeiden. Bei einem niedrigen Geschwindigkeitsniveau kann die Belastung bis zu 14 000 Kfz / Tag betragen. In Knotenpunkten kann im Einzelfall auch eine höhere Belastung noch verträglich sein. Verkehrsrecht / Regelwerke Shared Space Prinzipien sind grundsätzlich mit dem deutschen Verkehrsrecht und Regelwerk vereinbar. Mit Shared Space vergleichbare Prinzipien lassen sich in Deutschland bereits seit den 1970er Jahren finden. Zu dieser Zeit wurden Voraussetzungen zur Einrichtung von Verkehrsberuhigten Bereichen (Z 325 StVO) geschaffen. Dabei wurden wenig befahrene Straßenabschnitte in Mischverkehrsflächen umgewandelt, um insbesondere die Aufenthaltsfunktion wieder in den Vordergrund zu rücken (vgl. VwV-StVO zu § 42 StVO zu den Zeichen 325 und 326 Abs 3 Satz 2). Ein Verkehrsberuhigter Bereich kommt nach der Neuregelung der VwV-StVO zum 01.09.2009 ­jedoch nur noch für einzelne Straßen oder für Bereiche mit überwiegender Aufenthaltsfunktion und sehr geringem Verkehr in Betracht. Die so gekennzeichneten Straßen müssen durch ihre besondere Gestaltung den Eindruck vermitteln, dass die Aufenthaltsfunktion überwiegt und der Fahrzeugverkehr eine untergeordnete Bedeutung hat. Andererseits kann nur bei der Ausweisung als Verkehrsberuhigter Bereich (Zeichen 325) rechtlich sichergestellt werden: – dass Fußgänger die Straße in ihrer ganzen Breite benutzen dürfen, – der Fahrzeugverkehr eine angepasste Geschwindigkeit einhalten muss, – die Fahrzeugführer die Fußgänger weder gefährden noch behindern dürfen und wenn nötig warten müssen, – dass das Parken (ausgenommen zum Ein oder Aussteigen und zum Be- oder Entladen) außerhalb der dafür gekennzeichneten Flächen unzulässig ist. In Anbetracht der rechtlichen Voraussetzungen handelt es sich bei Shared Space Bereichen um solche Abschnitte, die von der Straßenverkehrsbehörde nach geltendem Recht mit Zeichen 325 (Verkehrsberuhigter Bereich) ausgeschildert werden können. Konfliktträchtig ist allerdings die Voraussetzung, dass es sich um einzelne Straßen oder um „Bereiche mit sehr geringem Verkehr“ handeln muss. Hier wird im Einzelfall zu entscheiden sein, ob unter den gegebenen Rahmenbedingungen die Ausweisung als Verkehrsberuhigter Bereich erfolgen kann. Alternativ könnten solche Bereiche auch mit Zeichen 274.1 als „Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich“ (Tempo 20 / 10-Zone) ausgewiesen werden. Der gewollte Gaststatus des Kfz-Verkehrs in Shared Space Bereichen ist bei einem Verzicht auf Beschilderung mit Zeichen 325 rechtlich nicht gegeben – faktisch hat dann der Kfz-Verkehr Vorfahrt. Insofern hätte selbst die Ausweisung mit Zeichen 274.1 in Verbindung mit einem eingeschränkten Haltverbot für eine Zone (Zeichen 290) nur die rechtliche Absicherung niedriger Geschwindigkeiten und die Vermeidung von Parkvorgängen zur Folge – es herrscht aber weiterhin Rechtsfahr- und Rechtsgehgebot. Welche der genannten ­Beschilderungsvarianten gewählt wird, ist daher in erster Linie davon abhängig, ob der Abschnitt hohe Kfz-Belastungen mit hohen Durchgangsverkehrsanteilen und vergleichsweise geringem Fußgängerverkehr aufweist (dann tendenziell Zeichen 274.1 mit Tempo 20 / 10 und Zeichen 290) oder dem Fußgängerverkehr Vorrang eingeräumt werden soll (dann tendenziell Zeichen 325). StVO Neuregelung In verkehrsberuhigten Bereichen ist allerdings das Spielen auf der Straße nach StVO ausdrücklich erlaubt. In Hauptgeschäftsstraßen, örtlichen Geschäftsstraßen oder dörflichen Hauptstraßen wird es in der Regel nicht beabsichtigt sein, das Spielen auf der Straße rechtlich zuzulassen. Insofern wäre es wünschenswert, dass in Form einer StVO Neuregelung ein neues Verkehrszeichen eingeführt wird, das sich an der Schweizer „Begegnungszone“ orientiert und Shared Space Bereiche auch bei höheren Belastungen entsprechend ausweist. Die „Begegnungszone“ entspricht weitgehend dem „Verkehrsberuhigten Bereich“, jedoch mit dem Unterschied, dass hier eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km / h zulässig ist und Spielen auf der Straße nicht ­ausdrücklich erlaubt wird. Es wird davon abgeraten, Shared Space Bereiche nicht auszuschildern. Nur mit einer verkehrsrechtlich eindeutigen Anordnung kann auch rechtlich gegen ein Fehlverhalten vorgegangen werden.

KAPITEL FÜNF Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Voraussetzungen zum Einsatz von Shared Space in Deutschland

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Abbau des Schilderwaldes Der „Abbau des Schilderwaldes“ ist ein Ansatz, der in Deutschland schon lange bekannt ist. Die Straßenverkehrsordnung (StVO) listet eine Vielzahl von Verkehrszeichen auf. Die Städte und Landkreise sind aber seit der StVO-Novelle 1997 verpflichtet, „bei der Anordnung von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen restriktiv zu verfahren und stets [...] zu prüfen, ob die vorgesehene Regelung [...] zwingend erforderlich ist.“ In den Paragrafen 39 und 45 der StVO heißt es: Verkehrszeichen dürfen nur dort stehen, „wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend geboten ist.“ Zusätzliche Vorschriften für den fließenden Verkehr dürfen nur noch dann angeordnet werden, wenn die Gefahrenlage „das allgemeine Risiko [...] erheblich übersteigt.“ Die dazugehörige Verwaltungsvorschrift fordert, „so wenig Verkehrszeichen wie möglich anzuordnen.“ Im Zusammenhang mit Shared Space ist der Zusatz unter Abschnitt V zu Zeichen 325 und 326 (Verkehrsberuhigte Bereiche) interessant: „Innerhalb der [...] gekennzeichneten Bereiche sind weitere Zeichen [...] in der Regel entbehrlich.“ Mischungsprinzip Im deutschen Regelwerk lassen sich selbst für Hauptverkehrsstraßen ähnliche Grundsätze wie bei Shared Space spätestens seit den 90er Jahren entdecken. So waren bereits in den Empfehlungen für die Anlage von Hauptverkehrsstraßen (EAHV 93)10 als generelle Ziele und Grundsätze […] Prinzipien enthalten, die aus heutiger Sicht als Shared Space bezeichnet werden könnten. Im Kapitel 4 der EAHV 93 wird dabei auch auf die Möglichkeit der Überlagerung von Nutzungsansprüchen auf gemischt oder mehrfach genutzten Flächen (Mischungsprinzip) explizit hingewiesen. Die EAHV 93 ließen höhengleiche Ausbildungen mit keiner oder weicher Separation („lange Materialwechsel“) in städtebaulich und denkmalpflegerisch bedeutsamen Bereichen (z. B. über Stadt- und Dorfplätze) zu und wiesen darauf hin, dass bis zu Verkehrsstärken von 1 200 Kfz / h positive Erfahrungen mit langen Materialwechseln vorliegen. Dieses kommt den heutigen Einsatzbereichen von Shared Space schon sehr nahe. RASt 06 Raum für die Umsetzung vergleichbarer Konzepte bieten auch die neuen Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06)11, die mit der Einführung Ende Mai 2007 die EAHV 93 abgelöst hat. Die RASt 06 nennen als Entwurfsgrundsatz für Fahrbahnen im Mischungsprinzip oder mit weicher Trennung eine Verkehrsstärke von 400 Kfz / h als Höchstgrenze. Zudem sollte die zulässige Höchstgeschwindigkeit 30 km / h nicht überschreiten. Dabei wird nach RASt 06 beim Mischungsprinzip „versucht, durch intensive Entwurfs- und Gestaltungsmaßnahmen mehrere Nutzungen möglichst weitgehend miteinander verträglich zu machen. Dies wird durch eine höhengleiche Ausbildung des gesamten Straßenraumes oder – insbesondere bei Umbauten unter Beibehaltung der Borde – durch eine dichte Folge geschwindigkeitsdämpfender Entwurfselemente (z. B. Teilaufpflasterungen) angestrebt.“ Das Mischungsprinzip ist somit auch nach deutschem Regelwerk nicht zwingend mit einer höhengleichen Ausbildung verbunden – die Gleichsetzung des Mischungsprinzips mit einer höhengleichen Ausbildung ist eine ebensolche Fehlinterpretation wie die Vorstellung, dass Shared Space Bereiche keine separierenden Elemente aufweisen dürfen. Die Beispielsammlung zeigt zudem, dass alle umgesetzten Shared Space Projekte durchaus mit Elementen, zum Teil auch Borden, arbeiten, die die Geh- von den Fahrflächen separieren. Zudem lassen sich für die örtliche Geschäftsstraße (Kap. 5.2.7 RASt) oder Hauptgeschäftsstraße (Kap. 5.2.8 RASt) städtebaulich ähnlich gestaltete Straßenräume erkennen, wie sie z. B. in Haren oder Kevelaer zu finden sind. Darüber hinaus sind nach RASt 06 in verkehrsberuhigten Geschäftsbereichen mit einer zulässigen Geschwindigkeit von 30 km / h Maßnahmen geeignet, „wie sie in Erschließungsstraßen üblich sind (Teilaufpflasterungen, Plateaupflasterungen).“ Demnach ist Shared Space in zentralen Bereichen von städtischen Hauptverkehrsstraßen und von Ortsdurchfahrten durchaus mit den Grundsätzen der RASt 06 vereinbar. Modellvorhaben Da Shared Space Bereiche mit dem Mischungsprinzip nach RASt 06 vergleichbar sind, werden bei höheren Belastungen als 400 Kfz / h die Einsatzgrenzen des Mischungsprinzips nach deutschem Regelwerk sowie nach VwV-StVO überschritten. Die Umsetzung des Shared Space Prinzips bei höheren Belastungen sollte daher nur im Rahmen von Modellvorhaben erfolgen. Dabei sind die Wirkungen der einzelnen Elemente wissenschaftlich qualifiziert zu dokumentieren und zu analysieren. Die Umsetzung sollte zudem mit qualifizierten Vorher- / Nachheruntersuchungen begleitet, ausgewertet und hinsichtlich der Zielerreichung bewertet werden. Zu untersuchen sind mindestens: – Verkehrsstärken, – Wirkungen auf Geschwindigkeiten, – Unfallgeschehen, – Parkraumauslastungen, – Verhaltensänderungen im Straßenraum, – Auswirkungen auf städtebauliche Nutzungen. Emotionale Elemente Die Diskussion über Shared Space Bereiche wird auch von emotionalen Elementen der Anwohner und Verkehrsteilnehmer beeinflusst, z. B. hinsichtlich des subjektiven Sicherheitsgefühls. Im Fokus stehen hier insbesondere Kinder, Eltern, Senioren und mobilitätseingeschränkte Personen. Es sollten daher im Rahmen der Vorher- / Nachheruntersuchungen Befragungen durchgeführt werden, um Erkenntnisse zum Mobilitätsverhalten, zum Sicherheitsempfinden und zur „subjektiven Zielerreichung“ zu erhalten. Erscheinungsbild der Straßenräume Bei allen Shared Space Projekten war oder ist das negative Erscheinungsbild der Straßenräume der wesentliche Auslöser der Umgestaltung. Es handelt sich somit um städtebauliche Verbesserungen, die die jeweiligen Straßen und Plätze aufwerten sollen. Es geht nicht in erster Linie darum, zu verzeichnende Leis-

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KAPITEL FÜNF Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte?

Voraussetzungen zum Einsatz von Shared Space in Deutschland


tungsfähigkeitsengpässe oder Unfallhäufungsstellen zu beseitigen. Es sollen vielmehr alle Funktionen in ein Gleichgewicht gebracht werden – dieses selbstverständlich auch mit leistungsfähigen und sicheren Varianten. Da andererseits z. T. erhebliche Finanzierungsmittel in die Hand genommen werden, sollten detaillierte Mängelanalysen zunächst den Bedarf an einer Umgestaltung ableiten. Leistungsfähigkeit Bei den umgesetzten Shared Space Projekten war es immer eine Voraussetzung, dass die Leistungsfähigkeit erhalten bleibt. Dabei muss bedacht werden, dass lange Wartezeiten in untergeordneten Knotenpunktarmen dazu führen können, dass geringe Zeitlücken im Hauptstrom zum Einbiegen oder Kreuzen in Kauf genommen werden und damit die Verkehrssicherheit beeinträchtigt werden kann. Das Mischungsprinzip und „Rechts-vor-links“-Regelungen stoßen somit auf Grenzen, die mittels Leistungsfähigkeitsuntersuchungen zu ermitteln sind. Kein ruhender Verkehr Der ruhende Verkehr wird meist mittels Poller oder Gitter aus den umgestalteten Bereichen verdrängt – insofern sind keinerlei Verkehrszeichen zum ruhenden Verkehr wie Park- oder Halteverbote angeordnet (Ausnahme: Beschilderung von Behindertenparkständen in Haren). In Bohmte wird darauf gesetzt, dass die Bewohner und Besucher aufgrund des umfangreichen Kommunikationsprozesses in dem betreffenden Bereich nicht parken. Erste Beobachtungen zeigen aber, dass das Parken nicht durchgängig vermieden werden kann – Haltevorgänge auch über längere Zeiträume sind durchaus oft zu verzeichnen. Um die erforderlichen optimalen Sichtbeziehungen herzustellen und die Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern zu ermöglichen wird empfohlen, das Parken in Shared Space Bereichen durch entsprechende Beschilderung (Zeichen 325 oder 290) grundsätzlich zu vermeiden. Gerade in Hauptgeschäftsstraßen wird die Einführung derartiger Regelungen zumindest zu Diskussionen, wenn nicht zu ­Widerständen führen. Kurze Abschnitte Kompromissfähig werden daher Lösungen sein, bei denen die Shared Space Bereiche auf einen überschaubaren Abschnitt begrenzt werden. Hinzu kommt, dass erfahrungsgemäß Fahrzeugführer niedrige Geschwindigkeiten nur über kurze Abschnitte einhalten. Aus diesen Gründen ist es zu empfehlen, Shared Space Bereiche auf eine Länge von 300 m bis maximal 800 m zu begrenzen. Die bisher umgesetzten Shared Space Projekte liegen allesamt in diesem Längenintervall. Fußgängerüberwege Die Anlage von Fußgängerüberwegen kann insbesondere bei hoher Frequentierung von Blinden, Sehbehinderten, älteren Menschen und Kindern hilfreich sein, steht jedoch im Widerspruch zur Ausweisung als „Verkehrsberuhigte Bereiche.“ Eindeutige Gestaltung Ein eherner Grundsatz der Verkehrsraumgestaltung ist die Einheit von Bau und Betrieb. Das bedeutet, dass die Gestaltung allen Verkehrsteilnehmern die vorhandene Verkehrsregelung verdeutlicht. Der Verzicht auf jegliche Beschilderung eines Kreisverkehres, wie es in Bohmte der Fall ist, ist daher kritisch zu sehen. Sollten derartige Regelungen weiter verbreitet werden, gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Regelungsarten von Kreisverkehren: – die Regellösung mit vorgeschriebener Fahrtrichtung und Vorfahrt des Verkehrs auf der Kreisfahrbahn, – den Schein-Kreisverkehr mit „Rechts-vor-Links“ Regelung und keiner vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Dieses widerspricht aber den generellen Forderungen nach Reduzierung der Komplexität und Vereinheitlichung der Verkehrsanlagen zur Verbesserung der Begreifbarkeit und Verkehrssicherheit. Blinde und Sehbehinderte Aus der Sicht Blinder und Sehbehinderter stellt sich die Fortbewegung innerhalb von Shared Space Bereichen schwierig dar, insbesondere, wenn es sich um eine Mischverkehrsfläche mit höhengleicher Ausbildung handelt. Derartige Abschnitte sollten aus der Sicht dieser Personengruppe daher so geplant und umgesetzt werden, dass sich für Blinde und Sehbehinderte keine Nachteile bei der Mobilität ergeben und diese Räume nicht zu Vermeidungsräumen werden. Blinde und Sehbehinderte können aufgrund Ihrer Beeinträchtigung nur stark eingeschränkt bzw. gar nicht mit anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere dem Kraftfahrzeugverkehr, kommunizieren. Daher erscheint es auch aus Sicht Blinder und Sehbehinderter notwendig, den ruhenden Verkehr inkl. Liefern und Laden weitestgehend aus derartigen Abschnitten herauszuhalten. Somit wird die uneingeschränkte Sicht der Kraftfahrer auf die Fußgänger ermöglicht und Kraftfahrer können der Rücksichtspflicht gegenüber Blinden und Sehbehinderten nachkommen. Die überwiegend von den Fußgängern benutzten Seitenbereiche müssen eine ausreichend breite Gehbahn bieten, die frei von jeglichen Einbauten bleibt. Die Gehbahn sollte taktil erkennbar (z. B. durch Borde oder Leitstreifen) und kontrastreich gestaltet sein, so dass blinde und sehbehinderte Menschen dem Straßenverlauf gut folgen können. Auch unvermeidbare Einbauten und Möblierungselemente sind kontrastreich zu gestalten und mit dem Langstock frühzeitig ertastbar sein. Eine unstrukturierte Mischverkehrsfläche ohne Kontraste ist grundsätzlich zu vermeiden.

KAPITEL FÜNF Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Voraussetzungen zum Einsatz von Shared Space in Deutschland

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10 Punkte zu Shared Space Generell sollten folgende Punkte bei Shared Space Projekten beachtet werden, die dann im Einzelfall in Gestaltungsvarianten umzusetzen sind: 1 Planungsphilosophie Shared Space ist kein Planungsinstrument, sondern eine Haltung mit dem Ziel der gegenseitigen Rücksichtnahme, die in Bezug auf die Straßengestaltung als Planungsphilosophie bezeichnet werden kann. Shared Space will städtische Räume mit Menschen für Menschen schaffen. Dabei setzt Shared Space auf eine Kommunikation der Verkehrsteilnehmer und auf gegenseitige Rücksichtnahme. Anzustreben ist eine Gestaltung, bei der sich Autofahrer als Gast fühlen und geringe Geschwindigkeiten wählen. 2 Aufenthaltsqualität Shared Space hat das Ziel, die Aufenthaltsqualität und Funktionalität von Hauptgeschäftsstraßen – und ggf. auch anderer städtischer Straßen – städtebaulich zu stärken. Gefragt sind neue Gestaltungen, die einzelne Abschnitte und Plätze durch eine wohltuende Atmosphäre vom übrigen Straßennetz spürbar abheben. 3 Partizipation Shared Space wird mit den Bürgern vor Ort konzipiert. Die Partizipation geht über die sonst üblichen Formen der Bürgerinformation hinaus und beteiligt die Bürger mit aufwendigen Instrumenten an der Planung. 4 Raum für alle Shared Space berücksichtigt die Ansprüche aller Personen- und Nutzergruppen. Die entsprechenden Abschnitte werden barrierefrei und mit Rücksichtnahme auf die Anforderungen spezieller Gruppen, wie Kinder, ältere Menschen oder auch öffentlicher Verkehr, Service, Lieferverkehr und Feuerwehr gestaltet. 5 Mischungsprinzip Shared Space arbeitet abschnittsweise mit dem Mischungsprinzip. Soweit eben möglich sollte versucht werden, das Mischungsprinzip umzusetzen. Dieses muss sich nicht zwangsläufig auf alle Verkehrsarten beziehen. Eine Trennung der Fahrbahn vom Seitenraum und / oder eine Kanalisierung des fließenden Verkehrs können notwendig sein. Gleichwohl werden auch diese Abschnitte nach dem Prinzip Shared Space gestaltet. 6 Klare Regelung Shared Space kommt ohne Lichtsignalanlagen und weitgehend ohne Beschilderung und Markierung aus. Shared Space Bereiche sollten jedoch bei geringen Verkehrsbelastungen als Verkehrsberuhigter Bereich ausgewiesen werden, um dem Fußgängerverkehr auch rechtlich Vorrang zu geben, geringe Geschwindigkeiten abzusichern und das Parken zu regeln. Alternativ kann bei vorrangiger Verbindungsfunktion auch die Ausweisung als Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich („Tempo-20 / 10-Zone“) in Verbindung mit einem eingeschränkten Haltverbot für eine Zone in Frage kommen. 7 Leistungsfähigkeit Shared Space setzt eine leistungsfähige und sichere Verkehrsabwicklung voraus. Leistungsfähigkeit und Sicherheit werden im Rahmen der Planung mit entsprechenden Verfahren nachgewiesen. 8 Sichtbeziehung Shared Space setzt hervorragende Sichtbeziehungen voraus, um gegenseitige Rücksichtnahme und Kommunikation der Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten. Der ruhende Verkehr ist daher aus ausgewählten Abschnitten weitgehend zu verlagern und die Parkraumnachfrage ist durch Angebote im nahen Umfeld zu befriedigen. 9 Erfolgskontrolle Shared Space wird Erfolgskontrollen unterzogen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Da das Mischungsprinzip nach deutschem Regelwerk nur bei geringen Belastungen angewendet werden sollte, haben Shared Space Projekte in Abschnitten mit höheren ­Belastungen (größer 400 Kfz / h) Pilotcharakter und sind entsprechend zu behandeln und zu begleiten. 10 Verkehrssicherheit Bei allen Planungen muss die Verkehrssicherheit eine übergeordnete Rolle einnehmen. Dazu sind zunächst detaillierte Analysen des Unfallgeschehens schon vor der Umgestaltung erforderlich, um mögliche Gefahrenpunkte bereits bei der Planung berücksichtigen zu können. Die Planung selbst ist in allen Planungsphasen durch ausgebildete Sicherheitsauditoren zu auditieren. Nach der Verkehrsfreigabe ist eine ständige Beobachtung und Analyse, möglichst durch einen externen neutralen Gutachter, sicher zu stellen, um schnell auf mögliche Sicherheitsdefizite reagieren zu können. Werden diese 10 Punkte konsequent beachtet, kann Shared Space für bestimmte Straßenabschnitte und Plätze dazu beitragen, dass eine gegenseitige Rücksichtnahme im Verkehr gefördert wird. […] Zusammenfassende Empfehlungen Werden Shared Space Projekte ins Auge gefasst, sollte ein umfassender und interdisziplinärer Prozess beginnen, der darauf setzt, sämtliche Beteiligten (insbesondere auch die Bürger) zu befähigen, sich bei der Erarbeitung einer optimalen Lösung mit eigenen Vorschlägen einzubringen. Im Rahmen der Beteiligungsprozesse sind darüber hinaus auch die Anforderungen der Träger öffentlicher Belange zu beachten. Geeignet sind in erster Linie kleinere Hauptgeschäftsstraßen, örtliche Geschäftsstraßen oder dörfliche Hauptstraßen, die hohe Frequenzen des Fußgänger- und / oder Radverkehrs und einen hohen Überquerungsbedarf aufweisen. Zu empfehlen ist, Belastungen in der Größenordnung von maximal 14 000 Kfz / 24 h einzuhalten, um eine Dominanz des Kfz-Verkehrs in ausgewählten Shared Space Bereichen zu vermeiden.

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KAPITEL FÜNF Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte?

10 Punkte zu Shared Space, Zusammenfassende Empfehlungen


Shared Space Bereiche in Deutschland sollten: auf eine Länge von 300 m bis maximal 800 m begrenzt sein, um ein möglichst geringes Geschwindigkeitsniveau zu erreichen, – bei einer Belastung von mehr als 400 Kfz / h als Modellprojekte durchgeführt werden, weitgehend niveaugleich gestaltet sein, wobei einzelne Elemente wie Begrünung oder Einbauten den Verkehr kanalisieren können, – frei von parkenden Fahrzeugen sein, wobei ausreichende Angebote zum Parken im Umfeld zu schaffen sind, – leistungsfähig gestaltet sein und somit je nach Verkehrsstärke in Knotenpunkten „Rechts-vorLinks“ Regelungen, Mini-Kreisverkehre oder kleine Kreisverkehre aufweisen, – für Blinde und Sehbehinderte barrierefrei gestaltet werden, – uneingeschränkte Sichtbeziehungen zwischen allen Verkehrsteilnehmer gewährleisten. Unter besonderer Berücksichtigung der verkehrsrechtlichen Aspekte und der Anforderungen an die Verkehrssicherheitsaspekte sollten Shared Space Bereiche: – als Verkehrsberuhigte Bereiche, oder – Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche straßenverkehrsrechtlich ausgewiesen werden. Die Umsetzung des Shared Space Gedankens erfordert: – einen planerischen und politischen Vorbereitungs- und Umsetzungsprozess, bei dem einzelne Belange oder Gruppen nicht ausgegrenzt sondern alle Betroffenen und Beteiligten aktiv angesprochen und ihre Anliegen ernst genommen werden, – eine Umgestaltung des öffentlichen Raumes hin zur Stärkung der Aufenthaltsfunktion und -qualität mit den Elementen, die die gegenseitige Rücksichtnahme und angemessene Geschwindigkeiten unterstützen, – eine Vorgehensweise, bei der die gegebenen rechtlichen Rahmenbedingungen akzeptiert und die bestehenden Verantwortlichkeiten respektiert werden, – eine Begleitung und Evaluierung durch eine zentrale, wissenschaftliche Vorher- / Nachheruntersuchung. –

KAPITEL FÜNF Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Zusammenfassende Empfehlungen

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Literaturverzeichnis Seite

Quelle

VerfasserIn

Ort

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Amt für Stadtplanung und ­Stadterneuerung Abteilung Verkehrsplanung und ­Stadtgestaltung Verfasser: Stephan Oehler, Arne Seyboth, Susanne Scherz, Marietta Wortmann Verband Region Stuttgart

Stuttgart

Johannes Eggs, infas, DLR, IVT und infas 360 (im Auftrag des BMVI) Johannes Eggs, infas, DLR, IVT und infas 360 (im Auftrag des BMVI) Ursula Bauer-Hailer, Dr. Ulrike Winkelmann, Statistisches ­Landesamt ­Baden‑Württemberg Dr. Ulrike Winkelmann, Statistisches Landesamt ­Baden‑Württemberg

Bonn

2019

8

Bonn

2019

10 – 30

Stuttgart

2015

3 – 7

Stuttgart

2008

35 – 40

Statistisches Landesamt ­Baden‑Württemberg

Stuttgart

2019

Statistisches Landesamt ­Baden‑Württemberg

Stuttgart

2019

Landeshauptstadt Stuttgart, Amt für Umweltschutz, Abt. Stadtklimatologie Dipl.-Umweltwissenschaftlerin Katharina Schmidt, S ­ tatistisches Landesamt ­Baden‑Württemberg

Stuttgart

Stuttgart

2014

34 – 39

­Statistisches Landesamt ­Baden‑Württemberg

Stuttgart

2017

Regierungspräsidium Stuttgart Referat 54.1 – Industrie Schwerpunkt Luftreinhaltung

Stuttgart

2020

11 – 17

Europäisches Parlament, Rat der Europäischen Union

2008

1 – 39

Europäisches Parlament, Rat der Europäischen Union

2016

1 – 20

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Mobilität in Deutschland, Kurzreport ­Europäische Metropolregion ­Stuttgart.

23 – 24

Über 3 Millionen Berufspendler täglich ­unterwegs, in Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 10/2015. Berufspendler in Baden-Württemberg – Wo sind die Arbeitswege am längsten?, in Statistisches Monatsheft Baden-­ Württemberg 8/2008. Verkehrsmittelwahl im Berufsverkehr 2016, Datenquelle: Mikrozensus 2016, Hochrechnung auf Basis Zensus 2011. URL: https://t1p.de/rt0q, zuletzt abgerufen am 17.06.2020. Berufspendlersaldo in den Gemeinden Baden-Württembergs 2017, Datenquelle: Berufspendlerrechnung 2019. URL: https://t1p.de/3xvd , zuletzt abgerufen am 21.05.2020. Luftverunreinigungen: Entstehungen und ­Wirkungen, URL: https://t1p.de/6x1z (zuletzt abgerufen am 02.06.2020). Revision der regionalen CO2-Bilanzen für B ­ aden-Württemberg“, in „Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 4/2014. Website des Statistisches Landesamts ­Baden‑Württemberg, Glossar: Stickoxide, URL: https://t1p.de/jobr, zuletzt abgerufen am 02.06.2020. Luftreinhalteplan für den ­Regierungsbezirk Stuttgart, Teilplan Landeshauptstadt Stuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans zur Minderung der NO2-Belastung, Stand: März 2020, URL: https://t1p.de/ru6a, zuletzt abgerufen am 21.05.2020. Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und ­saubere Luft für ­Europa Richtlinie (EU) 2016/2284 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 über die Reduktion der nationalen Emissionen bestimmter Luftschadstoffe, zur Änderung der Richtlinie 2003/35/EG und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/81/EG

24 – 27

27

27

30

34

37

38, 39

44 – 61

62 – 72

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Anhang

Literaturverzeichnis


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2013

1 – 37

88 – 99

Luftreinhalteplan für den ­ egierungsbezirk Stuttgart, Teilplan R Landeshauptstadt S ­ tuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans zur Minderung der NO2-Belastung, Stand: März 2020, URL: https://t1p.de/ru6a, zuletzt abgerufen am 21.05.2020. „The Good City“ –  Visionen für eine Stadt in Bewegung, URL: https://t1p.de/nxsm, zuletzt abgerufen am 02.06.2020). Forschung Radverkehr – Organisation O-3/2012, URL: https://t1p.de/uvnv, zuletzt abgerufen am 18.06.2020. Forschung Radverkehr –  Analysen A-3/2011, URL: https://t1p.de/m8lp, zuletzt abgerufen am 18.06.2020. Velorouten in Hamburg – Grundlagen und Leitlinien, URL: https://t1p.de/6z4j, zuletzt abgerufen am 18.06.2020. ADFC Hamburg, ADFC-Position: Velorouten, URL: https://t1p.de/gyaw, zuletzt abgerufen am 18.06.2020. Die Gestaltung des Erfolgsmodells ­Fahrradstraße – Weiterentwicklung für ­Tempo-30-Zonen, URL: https://t1p.de/6fi1, zuletzt abgerufen am 18.06.2020. Schubumkehr – Die Zukunft der Mobilität FISCHER Taschenbuch 2014, ­Herausgegeben von Harald Welzer und Klaus Wiegandt. Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Beispiele und Empfehlungen für die Praxis, URL: https://t1p.de/txvv, zuletzt abgerufen am 18.06.2020.

Landeshauptstadt Stuttgart, ­ eferat Strategische Planung und R Nachhaltige Mobilität in Verbindung mit der Abteilung Kommunikation Amt für Stadtplanung und ­Stadterneuerung Abteilung Verkehrsplanung und ­Stadtgestaltung Verfasser: Stephan Oehler, Arne Seyboth, Susanne Scherz, Marietta Wortmann Regierungspräsidium Stuttgart Referat 54.1 – Industrie Schwerpunkt Luftreinhaltung

Stuttgart

2020

10 – 45

Bicycle Innovation Lab ­Kopenhagen

Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) gGmbH

Berlin

2012

2 – 4

Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) gGmbH

Berlin

2011

1 – 4

Freie und Hansestadt Hamburg, Amt Verkehr und Straßenwesen, Arbeitsstelle Radverkehr ADFC Hamburg

Hamburg

2017

4 – 6

Hamburg

2015

Thilo Becker, veröffentlicht in:Straßen­ verkehrstechnik – Mai 2019, Seiten 332 – 340

Offenburg

2019

1 – 14

Stephan Rammler

Frankfurt (Main)

2014

21 – 54     73 – 88 220 – 272

Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V., Unfallforschung der Versicherer, Shared Space, Jürgen Gerlach, Jörg Ortlepp, Heiko Voß

Berlin

2009

4 – 32

102 – 104

105

105 – 107

108

108

109 – 113

116 – 138

139 – 147

Anhang Literaturverzeichnis

149


Abbildungsverzeichnis Seite

Titel

Quelle / Urheber

4    6    8 – 9

— — Kapiteltrennerseite 1

10

28 – 29

Die Lage der Landeshauptstadt Stuttgart, des Verbands Region Stuttgart und der Europäischen Metropolregion Stuttgart im Bundesland Baden-Württemberg in der ­Bundesrepublik Deutschland. Das Bundesland Baden-Württemberg mit der Europäischen M ­ etropolregion Stuttgart, dem Verband Region Stuttgart und der Landeshauptstadt Stuttgart. Kapiteltrennerseite 2

Eigenes Bildmaterial. Bildbearbeitung /-verfremdung: Robert Wenzel Eigenes Bildmaterial. Bildbearbeitung /-verfremdung: Robert Wenzel Screenshot: https://t1p.de/6gn3, zuletzt abgerufen am 19.06.2020, Bildbearbeitung /-verfremdung: Robert Wenzel Karte nach Mobilität in Deutschland, Kurzreport E ­ uropäische ­Metropolregion ­Stuttgart und OpenStreetMap.

40 – 41

Lage der Messstellen für die ­Luftqualität in Stuttgart

42 – 43

Kapiteltrennerseite 3

73 87 92

— — Beschilderung der Umweltzone (Zeichen 270.1 StVO)

92

Beschilderung des Endes der ­Umweltzone (Zeichen 270.2 StVO)

92

Das Zusatzzeichen zum Zeichen 270.1 StVO nimmt ­ ahrzeuge vom Verkehrsverbot aus, die mit einer F grünen Plakette nach § 3 der 35. BImSchV ausgestattet sind.

93

Darstellung der Umweltzone Stuttgart

93

Darstellung der kleinen Umweltzone

94

100 – 101

NO2-Jahresimmissionen 2020 (μg / m³) –  Verkehrsverbot in der kleinen Umweltzone (Szenario 2 Variante 1) NO2-Jahresimmissionen 2020 (μg / m³) Verkehrsverbot ganze Umweltzone (Szenario 3 Variante 1) Kapiteltrennerseite 4

114 – 115

Kapiteltrennerseite 5

11

95

150

Karte nach Mobilität in Deutschland, Kurzreport E ­ uropäische ­Metropolregion ­Stuttgart, Seite 8 und OpenStreetMap. Screenshot: https://t1p.de/98ni, zuletzt abgerufen am 19.06.2020, Bildbearbeitung /-verfremdung: Robert Wenzel Karte nach Stadtklima Stuttgart (URL: https://t1p.de/soly, zuletzt abgerufen am 22.06.2020) und OpenStreetMap. Fotomontage: Bild 1 Der Halbkreis des Europäischen Parlaments in Straßburg während einer Plenarsitzung. Fotograf: David Iliff. Lizenz: CC BY-SA 3.0, URL: https://t1p.de/dbhc, zuletzt abgerufen am 20.06.2020. Bild 2 Stuttgarter Rathaus, Fotograf: Artadict, Lizenz: CC BY-SA 3.0, URL: https://t1p.de/ptxi, zuletzt abgerufen am 20.06.2020. Bildbearbeitung /-verfremdung: Robert Wenzel Eigenes Bildmaterial. Bildbearbeitung /-verfremdung: Robert Wenzel Eigenes Bildmaterial. Bildbearbeitung /-verfremdung: Robert Wenzel Diese Abbildung eines Verkehrszeichens ist gemeinfrei, da es Teil des deutschen Verkehrszeichenkatalogs (VzKat), der Straßenverkehrsordnung (StVO) oder eines anderen Gesetzes, einer Verordnung oder einer amtlichen Veröffentlichung ist, die im Verkehrsblatt bekannt gemacht wurde (§ 5 Abs. 1 UrhG). https://t1p.de/t0vm, zuletzt abgerufen am 21.05.2020, Diese Abbildung eines Verkehrszeichens ist gemeinfrei, da es Teil des deutschen Verkehrszeichenkatalogs (VzKat), der Straßenverkehrsordnung (StVO) oder eines anderen Gesetzes, einer Verordnung oder einer amtlichen Veröffentlichung ist, die im Verkehrsblatt bekannt gemacht wurde (§ 5 Abs. 1 UrhG). https://t1p.de/s75j, zuletzt abgerufen am 21.05.2020, Diese Abbildung eines Verkehrszeichens ist gemeinfrei, da es Teil des deutschen Verkehrszeichenkatalogs (VzKat), der Straßenverkehrsordnung (StVO) oder eines anderen Gesetzes, einer Verordnung oder einer amtlichen Veröffentlichung ist, die im Verkehrsblatt bekannt gemacht wurde (§ 5 Abs. 1 UrhG). https://t1p.de/lufc, zuletzt abgerufen am 21.05.2020, Karte nach Luftreinhalteplan für den R ­ egierungsbezirk Stuttgart, […] Stand: März 2020, Seite 28 (URL: https://t1p.de/8xeh, zuletzt abgerufen am 21.05.2020.) und OpenStreetMap. Karte nach Luftreinhalteplan für den R ­ egierungsbezirk Stuttgart, […] Stand: März 2020, Seite 29 (URL: https://t1p.de/8xeh, zuletzt abgerufen am 21.05.2020.) und OpenStreetMap. Karte nach Luftreinhalteplan für den R ­ egierungsbezirk Stuttgart, […] Stand: März 2020, Seite 30 (URL: https://t1p.de/8xeh, zuletzt abgerufen am 21.05.2020.) und OpenStreetMap. Karte nach Luftreinhalteplan für den R ­ egierungsbezirk Stuttgart, […] Stand: März 2020, Seite 30 (URL: https://t1p.de/8xeh, zuletzt abgerufen am 21.05.2020.) und OpenStreetMap. Critical Mass on the bridge over Nusle, 22nd September 2007, Prague, Czechia. Fotograf: Hynek Moravec, Lizenz: GNU Free Documentation License, URL: https://t1p.de/423t, zuletzt abgerufen am 22.06.2020. Bildbearbeitung /-verfremdung: Robert Wenzel Eigenes Bildmaterial. Bildbearbeitung /-verfremdung: Robert Wenzel

Anhang

Abbildungsverzeichnis


Impressum Dieses Buch ist zwischen Oktober 2019 und Juli 2020 als eines von vier parallel ­angelegten Projekten während dem dritten und vierten Semester Kommunikationsdesign unter der Leitung von Professor Gerwin Schmidt an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart entstanden. Meinen besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle vor allem meiner Familie, meinen Freunden und Kommilitonen aussprechen, die mich während des gesamten Arbeitsprozesses unterstützt, motiviert und in den richtigen Momenten ermutigt und auf andere Gedanken gebracht haben. Die betroffenen Personen wissen hoffentlich auch ohne die explizite Nennung ihrer Namen von ihrem großen Anteil an diesem Projekt. Außerdem vielen Dank an Professor ­Gerwin Schmidt, für seine Lehre und die unzähligen Besprechungen und Korrekturen in den letzten beiden Semestern. Wie bereits im Vorwort erwähnt und im Quellenverzeichnis ersichtlich, stammen die textlichen und wissenschaftlichen Inhalte dieses Werks allesamt aus externen Quellen. Ich möchte hier erneut betonen, dass es sich bei dem vorliegenden Werk rein inhaltlich demnach keineswegs um mein geistiges Eigentum handelt. Meinen Teil der Arbeit umfasste ausschließlich die Recherche, Aufarbeitung und Gestaltung der Texte und Informationen. Gestaltung Text Bilder / Illustrationen Verwendete Schriften Druck Weiterverarbeitung

Anhang Impressum

Robert Wenzel Siehe Quellenverzeichnis Siehe Abbildungsverzeichnis Neue Haas Grotesk Le Monde Journal — —

151


„Der wesentliche Unterschied einer Politik des „Weiter wie bisher“ zu einer Politik der Entschleunigung ist, dass die Politik der Entschleunigung auf freiwilliger Basis Verhältnisse herbeiführt, wie sie im ersteren Fall auftreten werden, allerdings plötzlich. Um im Bild des Ver­kehrs zu bleiben: Man kann am Ende einer Straße ein Fahrzeug dadurch zum Stehen bringen, dass man es mit voller Kraft auf eine Mauer auffahren lässt, oder dadurch, dass man rechtzeitig abbremst. Abbremsen bedarf der Voraussicht. Den Ereignissen freien Lauf zu lassen zeugt nicht von Intelligenz. Tollkühnheit kann sich ein Indivi­duum leisten, aber nicht eine Gemeinschaft von Men­schen. Das Ergebnis ist in beiden Fällen gleich: Das Fahr­zeug kommt letztendlich zum Stehen.“ Walter Molt, 1992



Was ist mein Problem in Stuttgart? „Urban Utopia“ war zu Beginn nicht mehr als eine Art Platzhalter oder Arbeitstitel für dieses Projekt, welches ausgehend von der Vorgabe „Ein Problem in Stuttgart“ entstanden ist. Der Titel war ein erster, spontaner Versuch, dem Thema rund um die Utopie der autofreien Stadt Stuttgart und der alternativen Mobilität einen aussagekräftigen und modernen Namen zu geben und um für anfängliche Plakat- und Filmentwürfe eine Art Startpunkt oder Aufhänger zu haben. Aus dem ehemaligen Arbeitstitel ist nun letztlich der Titel dieses Buchs geworden – ein Werk, welches ohne detailliertes Vorwissen im Bezug auf die Themen Umwelt, Verkehr und Mobilität ­erarbeitet wurde. Da ich erst seit dem Beginn meines Studiums im Oktober 2018 in Stuttgart lebe, entschied ich mich bei der Auswahl „meines“ Problems in Stuttgart für eines der in meinen Augen auffälligsten: Die problematische Situation des Autoverkehrs in der Landeshauptstadt. Tag für Tag beobachtete ich aus der UBahn und dem Bus heraus, wie sich der Berufsverkehr zu den Stoßzeiten staute. Ich fragte mich oft, wieso es so vielen Menschen lieber war, vor Arbeitsbeginn und nach Feierabend im zähfließenden Verkehr zu stecken, anstatt – zumindest den letzten Teil der Strecke im Bereich der Innenstadt – mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Mir war klar, dass ein Großteil der PendlerInnen eine weitere Distanz zu überwinden hatte als ich oder aus Gebieten einpendelte, die nicht ausreichend an den öffentlichen Personenahnverkehr angebunden sind. Doch war es mir trotzdem schleierhaft, wieso so viele Berufstätige täglich ausschließlich ihren PKW für den Weg zur Arbeit und zurück nutzten – in einem Großteil der Fälle auch noch ohne MitfahrerInnen. Die Antwort darauf ist nicht ganz so leicht, wie man es vielleicht auf den ersten Blick vermuten könnte. Die Gründe für dieses Verhalten sind vielfältiger Natur, nur den PendlerInnen einen Vorwurf zu machen, wäre falsch. Es erfordert Maßnahmen und ein generelles Umdenken der Bevölkerung, der ArbeitgeberInnen, der Regierung und der Verkehrsgesellschaften, um einen gemeinsamen Weg in Richtung alternative Mobiliät und Umweltschutz einzuschlagen. Dieses Buch gibt zunächst eine Einsicht in die aktuelle Ausgangssituation, sowohl in Baden-Württemberg, als auch in der Landeshauptstadt Stuttgart. Der besondere Fokus liegt hierbei natürlich auf dem Mobilitätsverhalten der Bevölkerung, dem generellen Verkehrsaufkommen und dem Pendlerverhalten. Einen wichtigen Teil nimmt außerdem das Thema Luftverunreinigung sowie deren Entstehung und Überwachung ein. Anschließend werden Gesetze und Richlinien genannt, die auf europaweiter und regionaler Ebene die Bereiche Umwelt und Verkehr betreffen. Des Weiteren wird darüber berichtet, wie der Fahrradverkehr die Verkehrssituation vor allem im Stadtgebiet verbessern kann und welche Umstände erfüllt und Anpassungen getroffen werden müssen, um diese Entwicklung zu ermöglichen. Den Schlussteil des Buchs bilden verschiedene Gedanken und Ideen, die sich in erster ­Linie mit dem Bereich der alternativen Mobilität beschäftigen und Szenarien beschreiben, wie der Verkehr der Zukunft gestaltet werden könnte.


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