Le Corbusier

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INHALT

8 Vorrede ⁄ Alain Seban 10 Vorwort ⁄ Bernard Blistène 12 KONSTANTEN DER EURYTHMIE 14 Die Augen in den Augen. Architektur & Mathesis ⁄ Frédéric Migayrou 26 Purismus & Proportionen ⁄ Roxana Vicovanu 32 Der Pavillon «L’Esprit nouveau». Manifest für ein corbusianisches System ⁄ Maïlis Favre 68 IMMER WIEDER DER KÖRPER 70 Häuser & Villen (1921–1931). Die Eloquenz der Skizzen ⁄ Olivier Cinqualbre 78 Der sportliche Körper nach Le Corbusier ⁄ Rémi Baudouï & Arnaud Dercelles 84 Le Corbusier, das Mobiliar Körper und Seele ⁄ Cloé Pitiot 118 DIE DIMENSIONEN EINER ANTHROPOMETRIE 120 Den Körper berühren. Le Corbusiers Malerei und Grafik ⁄ Genevieve Hendricks 128 Der Modulor, Varianzen einer Invariante ⁄ Frédéric Migayrou 134 Die Offene Hand. Vom politischen Symbol zur Signatur des Künstlers ⁄ Marie-Jeanne Dumont 160 DER UNBESCHREIBLICHE RAUM 162 Genese und Repräsentation des unbeschreiblichen Raums ⁄ Roberto Gargiani 172 Béton brut, akustische Plastik & Cement Gun ⁄ Anna Rosellini 178 Polychromie ⁄ Jan de Heer 204 DER UNIVERSALMENSCH 206 Die entblösste Stadt ⁄ Aurelien Lemonier 212 Ein Raum für die Sommerfrische ⁄ Olivier Cinqualbre 238 Nachwort: Bekenntnisse, Rückschläge, Entwicklungen ... ⁄ Marie-Jeanne Dumont 242 Kommentierte Bibliografie

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VORREDE

Im Jahr 1987 fand im Centre Pompidou die erste grosse Le Corbusier-Retrospektive statt. Le Corbusiers 100. Geburtstag war der Anlass für eine Fülle von Veranstaltungen. Von Bordeaux bis Marseille, von Aubusson bis Strassburg, von Rennes bis Roubaix, aber gleichermassen im Ausland, selbstverständlich in der Schweiz sowie in den meisten Ländern Westeuropas, und nicht zu vergessen in Brasilien und in den Vereinigten Staaten wurde das Publikum zu einem bisher noch nie da gewesenen Ausstellungsfestival geladen.

In diesem gewaltigen Aufgebot war die Ausstellung im Centre Pompidou ein aussergewöhnliches Ereignis. Die Kuratierung übernahmen François Burkhardt, der Direktor des Centre de création industrielle (Zentrum für Industriedesign), einer Abteilung des Centre Pompidou wie das Musée national d’art moderne, und Bruno Reichlin, Architekt und Architekturhistoriker; die Szenografie oblag Vittorio Gregotti, dem grossen italienischen Architekten, dessen äusserst grosszügige Schenkung an unsere Architektursammlung, die er auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn machte, ich nicht unerwähnt lassen möchte. Le Corbusier selbst hatte 1956 das Museum mit einer Schenkung bedacht, dem Gipsmodell der Kapelle Notre-Dame-du-Haut von Ronchamp. Dieses war das erste architektonische Werk der Sammlungen, obwohl das Modell als Skulptur inventarisiert wurde. Die Stiftung folgte einer Schenkung von Plastiken, als im Jahr 1953 das Museum unter seinem damaligen Direktor, Jean Cassou, der Plastik, diesem zusätzlichen Aspekt der schöpferischen Tätigkeit des Architekten eine Ausstellung widmete.

Noch zu Lebzeiten von Le Corbusier fand eine weitere Ausstellung Ende 1962 im Palais de Tokyo statt, dem Bauwerk, für das der Künstler an einem Wettbewerb teilgenommen hatte (sein Entwurf war jedoch wie die Entwürfe seiner Kollegen der Avantgarde abgelehnt worden, ohne auch nur in Betracht gezogen zu werden). Seit damals empfand Le Corbusier eine gewisse Genugtuung, wenn seine Architektur in all ihren zahlreichen, beachtenswerten Ausführungen hier ausgestellt wurde. Vor dem Hintergrund dieser bitteren Erfahrung schlug Jean Cassou Minister André Malraux die Gründung eines Museums des 20. Jahrhunderts vor, für dessen Bau er Le Corbusier als Architekt vorsah. Maurice Besset, damals junger Museumskonservator, teilte diesen Plan beteiligt. Das Projekt wurde aber fallen gelassen. Im Unterschied zu Tokio und Boston, Chandigarh und Ahmedabad sollte Paris kein von Le Corbusier entworfenes Museum erhalten; Maurice Besset widmete sich darum von da an der Errichtung der Fondation Le Corbusier.

Seit 2000 und der Einrichtung des Museums auf zwei Etagen des Centre Pompidou, hat die Fondation Le Corbusier unsere Fragen immer mit der grössten Aufmerksamkeit beantwortet und uns ermöglicht, in unseren Ausstellungen Werke, die sich in ihrem Besitz befinden, zu präsentieren. Wenn das Centre Pompidou stolz darauf sein kann, einige ikonische Stücke von Le Corbusier zu besitzen dank der Grosszügigkeit der Schenker, denen ich die tiefste Dankbarkeit unserer Einrichtung bezeigen möchte – insbesondere der Clarence Westbury Foundation und dem Crédit immobilier de France –, so bewahrt die Fondation Le Corbusier einen Fundus unvergleichlichen Reichtums auf. Wir sind der Stiftung daher ausserordentlich dankbar, dass sie uns durch ihre Unterstützung und ihre Leihgaben die Realisierung dieser Ausstellung ermöglicht hat. Wir möchten darum unseren aufrichtigsten Dank ihrem Präsidenten, Antoine Picon, und ihrem Direktor, Michel Richard, aussprechen. Durch sie möchten wir dem ganzen Team der Fondation unseren sehr herzlichen Dank abstatten. Es sei mir erlaubt, ihren ehemaligen Präsidenten, den Präfekten Jean-Pierre Duport mit einzubeziehen, der ebenfalls unsere Vorhaben und Gesuche mit grösstem Wohlwollen behandelt hat.

Die Fondation und die Association des sites Le Corbusier haben heute zusammen mit sieben Ländern die transnationale Kandidatur zur Aufnahme des architektonischen und stadtplanerischen Werks von Le Corbusier in das UNESCO-Welterbe initiiert. Wir wären besonders stolz darauf, wenn die von uns organisierte Ausstellung, konzipiert von Frédéric Migayrou, dem stellvertretenden Direktor des Musée national d’art moderne zuständig für Industriedesign, und Olivier Cinqualbre, Konservator am Musée national d’art moderne, etwas zu dieser Initiative beitragen würde.

Anlässlich des 50. Todestages des Architekten hielten wir es für unsere Pflicht, in einer retrospektiven Ausstellung sein Gesamtwerk neuen Besuchergenerationen zu zeigen. Le Corbusier ordnet sich somit mit Yves Klein, Henri Matisse, Wassily Kandinsky und Salvador Dalí in den kleinen Kreis jener ein, die ihm viele Jahre nach einer ersten Retrospektive in dem von Renzo Piano und Richard Rogers entworfenen Bau zum zweiten Mal die Ehre erweisen, die seinem Schöpfergeist gebührt.

Präsident des Centre Pompidou

Le Corbusier, Umschlagentwurf (1949) für die Schrift

Der Modulor. Grafit, Wachsstift und Tinte auf Papier, 27,3 x 31 cm. Fondation Le Corbusier, Paris

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DIE AUGEN IN DEN AUGEN ARCHITEKTUR & MATHESIS

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[...] andererseits bedeutet diese Beziehung zur mathesis als allgemeiner Wissenschaft der Ordnung keine Absorption des Wissens durch die Mathematik oder die auf sie gestellte Begründung aller möglichen Erkenntnis, sondern im Gegenteil sieht man in Korrelation zu der Suche nach einer mathesis eine bestimmte Zahl von empirischen Gebieten erscheinen, die bis dahin weder gebildet noch definiert worden waren» Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012, S. 90

FRÉDÉRIC MIGAYROU

War Le Corbusier modern? Verkörperte er wirklich den Architekten, der das von der Aufklärung geerbte rationalistische Projekt realisiert hat, indem er mittels des berühmten Schlagworts «Wohnmaschine» die Entwicklung einer technologischen und rationalistischen Modernität gefördert hat, die in einer tayloristischen Vision von Architektur gründete und sich auf eine Ideologie der reinen Form stützte? Unter diesem Blickwinkel hätte Le Corbusier auch zu einer Ästhetisierung des Endzustands der Industriegesellschaft und der Maschine beigetragen, der in einer unmöglichen Synthese von Kunst, Wissenschaft und Vernunft Gestalt nimmt. Wofür ist Le Corbusier das Symptom? Einige betrachten ihn als einen der Hauptvertreter der Avantgarde-Architektur, der die Fiktion einer mittels Technologie befreiten Urbanität, die Fiktion einer möglichen Emanzipation des Menschen geschaffen hat, wie sie in verschiedenen Werken des Architekten wie beispielsweise in La Ville radieuse (1935), La Maison des hommes (1942), Les Trois Établissements humains (1959) dargestellt wird. Die Kritik wird sich natürlich auf die mit der exzessiven Industrialisierung,

Vermarktung, beschleunigten Entwicklung der Technologien einhergehenden Enteignung konzentrieren, aber unverhohlener auf die totale Abstraktion des Raums, auf die systematische Geometrisierung und Mathematisierung des Raums. Die Reduzierung der Architektursprache auf «Fünf Punkte zu einer neuen Architektur» (1927) scheint die klassischen architektonischen Grundsätze ersetzen zu wollen. Es geht um die Erarbeitung einer Grammatik des Bauens, die den «Prototyp des heutigen Wohnhauses», ein standardisiertes Haus vom Typ Citrohan herausstellen soll. Obwohl er die Radikalität seines Leitsatzes «Ein Haus ist eine Maschine zum Wohnen» 1 betont, prangert Le Corbusier die rein rationalistischen Interpretationen an – «diejenigen, die sich zu einem so überspitzten Rationalismus bekennen, sind selbst am wenigsten rational» − und versichert dann, dass die Architektur «über die Maschine hinausgeht». 2 Bei Le Corbusier stösst man immer wieder auf diesen Widerspruch zwischen dem Positivismus eines Maschinenuniversums, in dem der Ingenieur an einer globalen Mathematisierung arbeitet, und einem gewissen Anthropomorphismus der Architektur, zwischen der Abstraktion einer tabula rasa und dem Lyrismus einer organischen Rematerialisierung. Manfredo Tafuris Standpunkt ist einleuchtend: «Vereinfachung und Wille zur Synthese: Das sind wenig ‹moderne› Mittel. Dennoch

Vorangehende Doppelseite: Le Corbusier neben einer Säule des Parthenon, Athen, 1911. Fotoabzug. Fondation Le Corbusier, Paris 1. Le Corbusier. Foto von André Steiner (Detail), 1937. Silbergelatineabzug, 23,9 x 17,9 cm. Centre Pompidou, Mnam-CCI, Paris. Ankauf dank des Mäzenatentums von Yves Rocher, 2011

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wird Le Corbusier mit ihnen das Abbröckeln der Idee der ‹Organizität› und die Explosion der Beziehungen, die die moderne Metropole auslöst. La Ville radieuse ist kein Vorschlag, der in die Zukunft weist; sie wird eine Idee bleiben, die, losgelöst von Zeit und Raum, in einem Schrein aufbewahrt wird und in den Untiefen um die Insel der Utopie versandet.» 3 Wie ist eine Geometrisierung, die nach der Modellierung des regulierenden Liniennetzes ihren Höhepunkt im Modelor erfährt, der ausschliesslich als Proportionssystem gilt, mit einer «Organizität» in Einklang zu bringen, die in der akustischen Periode zum Ausdruck kommt und mit dem Bau der Kapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp (1950−1955) offenkundig wird? Wie lassen sich die wiederholten Appelle an eine Ingenieurkultur, an eine Normierung der Industrieproduktion mit der Förderung des Gefühls, einer ästhetischen Wahrnehmung, in der die Kunst der Vektor eines absoluten Raumes wird, vereinbaren? Le Corbusier: «Ich glaube, es gibt kein Kunstwerk ohne unergründliche Tiefe, ohne Bezug auf ihren Anhaltspunkt, die Kunst ist Raumwissenschaft par excellence.» 4 Könnte es sein, dass es zwei Le Corbusier gibt, zwei Perioden, so wie man zwei Nietzsche und zwei Wittgenstein in Betracht gezogen hat? Wie soll man den Architekten und den Künstler zusammenbringen, dessen Werk immer abgewertet wurde? Übrigens, schuld daran ist zweifellos Le Corbusier selbst, der sorgfältig die Quellen, die Spuren, die Abstammung gelöscht hat, um eine Geschichte aufzubauen, die, abgesehen vom Erfolg, die historische Verwurzelung verloren zu haben scheint, die ihr die Einheit verliehen hätte. Der geduldig aufgebauten Fiktion der Figur des Architekten, des mehrdimensionalen Werks, das auf die Universalität des Menschen hinweist, hätte eine andere historische Rekonstruktion, eine andere Fiktion gegenübergestellt werden sollen, und zwar die der Quellen und der Herkunft, die Erklärungen geliefert und die kritische und ästhetische Strategie des Architekten zu rekonstruieren erlaubt hätte. Abgesehen von der Schweizer Abstammung und der späteren Verlegung seines Lebensmittelpunkts nach Frankreich, findet sich bei ihm auch Spuren, die nach Deutschland führen, die er offenbar aus historischen Gründen sowie um eine persönliche Fiktion aufzubauen, verschwiegen hat. Pierre Vaisse erklärt das wie folgt: «Le Corbusier scheint sich des Einflusses von Auguste Choisy bedient zu haben, um sich den deutschen Theoretikern gegenüber von seiner Schuld

reinzuwaschen. Nach dem Ersten Weltkrieg war Le Corbusier gezwungen, die Erinnerung an oder den Hinweis auf alles, was er Deutschland verdankte, zu löschen.» 5 Die von der Lebensreformbewegung auf kulturellem, gesellschaftlichem und politischem Gebiet propagierten Anschauungen, die Entstehung einer deutschen Wissenschaftsästhetik, die für die zeitgenössische Baukunst offen war, sowie die Forschungen der Geophysik und der experimentellen Psychologie klingen in allen Texten von Le Corbusier nach. Das ermöglicht, einen anderen, kontextuelleren Aspekt des modernen corbusianischen Menschen zutage zu fördern, der mit seinem rationalistischen und technisierenden Ansatz zusammentrifft. Seiner Ansicht nach ist das Mass des Menschen nie nur metrisch; es ist auch ein Seismograf der lebhaften Debatten über die Einfühlung, die Entwicklungen der Psychophysik und der experimentellen Psychologie, Debatten, in denen Le Corbusier seinen Platz behauptet. «Wir wollen auf die Ästhetik», schreibt er, «die Methoden der experimentellen Psychologie anwenden mit all dem Reichtum und den Untersuchungsmitteln, die ihr heute zur Verfügung stehen: Wir wollen schliesslich in der Architektur auf eine experimentelle Ästhetik hinarbeiten.» 6

FORMALISIERUNG EINER ÄSTHETIK

Das von Carl G. W. Boetticher und dann von Gottfried Semper propagierte tektonische Denken und die konstruktive Rationalität, die die Architekturperioden und -stile definierte, wurden durch das Aufkommen einer Theorie verdrängt, der zufolge dem Raum eine unabhängige referentielle Funktion zukommt und er zu einer grundlegenden Dimension der Wahrnehmung wird. Die Architektur wird zur übergreifenden Raumgestaltung. Die Veröffentlichung von Heinrich Wölfflins Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (1886) besiegelt diesen Paradigmenwechsel, der nicht nur der Architektur, sondern allen visuellen Künsten neue Dimensionen eröffnet, weil sie einen gemeinsamen ontologischen Sockel haben. «Unsere leibliche Organisation ist die Form, unter der wir alles Körperliche erfassen. Ich werde nun zeigen, dass die Grundelemente der Architektur: Stoff und Form, Schwere und Kraft sich bestimmen nach den Erfahrungen, die wir an uns gemacht haben», 7 schreibt Wölfflin. Er legt hier eine psychophysische Lesart des räumlichen Gebildes zugrunde. Die Architektur erlangt

1. «Nous avons formulé, ‹la maison est une machine à habiter›. Et l’expression était si conforme qu’elle fut partout adoptée. Machine à habiter. C’était alors tout mettre en question, tout ramener à zéro, repartir à zéro.» Le Corbusier, «Où en est l’architecture», in: L’Architecture vivante, Bd. V, Nr. 17, Herbst–Winter 1927 S. 9−11. / 2. Ebd. / 3. Manfredo Tafuri, «Machine et mémoire : la ville dans l’œuvre de Le Corbusier», in: Jacques Lucan (Hrsg.), Le Corbusier, une encyclopédie, Paris: Éditions du Centre Pompidou, 1987, S. 463. / 4. Le Corbusier, «L’espace indicible», in: L’Architecture d’aujourd’hui, Sonderheft: Art, April 1946, S. 17. / 5. Pierre Vaisse, «Le Corbusier et le gothique», in: Stanislaus von Moos, Arthur Rüegg (Hrsg.), Le Corbusier before Le Corbusier. Applied Arts. Architecture. Painting. Photography. 1907−1922, New Haven, London: Yale University Press, 2002, S. 49. Erinnert sei auch an die Äusserung von Richard Padovan: «Le Corbusier crée perpétuellement de fausses pistes (parfaitement inutiles) pour apparaître plus innovant et plus original qu’il n’était en réalité. En particulier, il a minimisé sa dette vis-à-vis de Behrens et de son expérience allemande en général.» Proportion: Science, Philosophy, Architecture, London: E. & F.N. Spon, 1999, S. 318. / 6. Amédée Ozenfant, Charles-Édouard Jeanneret [Le Corbusier], Editorial, in: L’Esprit nouveau, Nr. 1, Oktober 1920. / 7. Heinrich Wölfflin, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, Phil. Diss. München 1886; Nachdruck: Berlin: Gebr. Mann, 1999, S. 13. / 8. «Dans la Vienne de la fin du XIXe siècle, la subjectivité pouvait être comprise comme un élément de cohérence de l’individu. Ainsi quand Ernst Mach attirait les foules à l’université, en démontrant que les objets physiques ne sont que des complexes de sensations.» Margaret Olin, «Forms of Respect: Alois Riegl, Concept of Attentiveness», in: Art Bulletin, Juni 1989, Bd. 71, Nr. 2, S. 293. / 9. «Diese Ahnung aber der Ordnung und Gesetzlichkeit über dem Chaos, der Harmonie über den Dissonanzen, der Ruhe über den Bewegungen nennen wir die Stimmung. Ihre Elemente sind Ruhe und Fernsicht.» Alois Riegl, «Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst» (1899), in: Gesammelte Aufsätze, Wien: WUV-Universitätsverlag, 1996, S 28. / 10. «Es ist also ein unbewusstes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektsform. Hieraus ergab sich mir der Begriff, den ich Einfühlung nenne.» Robert Vischer, Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, Leipzig: Hermann Credner, 1873, S. VII. / 11. Im Anschluss an Immanuel Kant, aber auch an Johann Friedrich Herbart (Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung, 1804) und an Robert von Zimmermann ( Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft, 1865), wird die Ästhetik eine Schlüsselrolle für die philosophischen Systeme haben, die als Matrix der Erkenntnistheorie gelten. Im Hinblick auf eine Kritik des Kant’schen Idealismus wird das Aufkommen der Psychophysik den Weg für zahlreiche Schriften öffnen, die sich einer psychophysiologischen Bewegung verdanken (Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 1857; Rudolf Hermann Lotze, Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens, 1851; ders., Grundzüge der Ästhetik, 1884; Johannes Volkelt, Ästhetische Zeitfragen, 1895) sowie einer psychophysischen Bewegung verpflichtet sind (Gustav Theodor Fechner, Vorschule der Ästhetik, 1876; Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 1874; Theodor Lipps, Ästhetik: Psychologie des Schönen und der Kunst. Bd. 1: Grundlegung der Ästhetik, 1903). / 12. H. Wölfflin, a.a.O., S. 29.

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wieder eine organische Dimension; sie schliesst direkt den Körper mit ein. Das räumliche Gebilde wird in Bezug auf die Bewegung gedeutet, in direktem Zusammenhang mit der Wahrnehmung –«Zählen des Auges», «Spannung des gesamten Organismus» verbunden mit der Stimmung, Unterdrückung der Kluft zwischen Vision, Empfindung und Gefühl, Befreiung der Sicht von einer streng optischen Funktion, von ihrer Reduzierung auf ein geometrisches Schema. Wölfflin stellt eine Analogie zur Musik her, zum evokativen Potenzial des Klangs, um dann eine Theorie über die vom Menschen gestalteten «körperlichen Formen» und das Formgefühl zu entwickeln: «Körperliche Formen können charakteristisch sein nur dadurch, dass wir selbst einen Körper besitzen.» Was die Architektur betrifft, fasst er die Ergebnisse der Forschungen der österreichischen und deutschen Kunsthistoriker über eine «Kunstwissenschaft» zusammen, die durch die Rekonstruktion der Historisierung der Perioden der Kunstgeschichte die Grundlagen für eine autonome Ästhetik geschaffen haben, die bereit war für neue theoretische Grundlagen und die vom postkantianischen Idealismus überlieferten Muster hinter sich liess. Nach Alois Riegl − der mit Johann Friedrich Herbart (Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, 1824) und seinem Lehrer Robert Zimmerman (Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft, 1865) im Einklang war, der die Form von der mimetischen Funktion befreit hatte, um sie quid juris als ästhetischen Bezug festzulegen − konnte sich die Ästhetik der Psychophysik eines Gustav Fechner oder eines Ernst Mach öffnen. 8 Das von Mach gezeichnete Selbstporträt, das

2. Edgar Rubin, Visages ou vase, repr. in: Synsoplevede Figurer: Studier i psykologisk Analyse, Kopenhagen: Gyldendal, Nordisk forlag, 1915 3, 4 und 5. Le Corbusier-Saugnier, «Des yeux qui ne voient pas… », Vers une architecture, Paris: Les Éditions G. Crès et Cie, 1923 : «I. Les paquebots» S. 65; «II. Les avions», S. 81; «III. Les autos», S. 101 6. Ernst Mach, Selbstanschauung Ich, 1886, repr. in: Ernst Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena: G. Fischer 1886

in Beiträge zur Analyse der Empfindungen (1886) veröffentlicht wurde, ist das genaue Gegenstück zu Dürers berühmtem Selbstbildnis. Die zeichnende Hand ist von der Dynamik des Raums ergriffen. Das Perspektivraster, Leon Battista Albertis Fenster, das eine abbildende Funktion des Gesehenen beinhaltet, ist nur noch ein Artefakt im Hintergrund dieses geschlossenen Raums, eines Raums, der mit dem der unmittelbaren Wahrnehmung verschmilzt. Indem er die «Stimmung» als einen Ordnungs- und Harmoniefaktor bezeichnet, 9 verleiht Alois Riegl dem Schauen auch eine haptische Dimension, die Fähigkeit, die Körper als Entitäten wahrzunehmen, ihnen Gestalt zu geben in einem offenen Austausch aller Sinne, da Optik, Akustik und Haptik die gleiche Dynamik der «Gestaltung» innewohnt.» Wenn eine neue Generation von Kunsthistorikern und -theoretikern wie Adolf von Hildebrand und Konrad Fiedler sich diese Psychophysik aneignet, indem sie die neuen Paradigmen der Moderne einführt, oder wie Robert Vischer, der durch seine Schrift Über das optische Formgefühl (1873) den Begriff der «Einfühlung» 10 prägte, finden die Philosophen und die Theoretiker in der Kunst und in der Ästhetik das Mittel, um den alten Kant’schen Konflikt zwischen den Fakultäten beizulegen.11 Diese Ästhetik wird aber auch einen beträchtlichen Einfluss auf eine neue Generation von Kunsthistorikern und Kunstkritikern haben, die sich in der Forschungs- und kreativen Szene bewegen. Wenngleich man in den Texten von Wölfflin die Namen von Wilhelm Wundt, Rudolf Hermann Lotze, Johannes Volkelt und Vischer findet – «Lotze und Vischer haben die Bedeutung erkannt, mit dem Körper zu leben» 12 −, ist sein Architekturansatz noch an die

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HÄUSER & VILLEN (1921–1931)

DIE ELOQUENZ DER SKIZZEN

1923 erschien in den Éditions G. Crès et Cie Vers une architecture (Ausblick auf eine Architektur, Basel: Birkhäuser, 62013) eine Sammlung von Artikeln unter dem Namen «Le Corbusier-Saugnier», die zuvor schon in der Zeitschrift L’Esprit nouveau 1 erschienen waren. Die puristischen Zeichnungen und Gemälde trugen die Unterschrift «Jeanneret». Was nun «Charles Édouard Jeanneret» betraf, so konnte er für sich ein paar realisierte Bauten verbuchen, die Mehrzahl davon in seiner Heimatstadt La Chaux-de-Fonds. 2 Mit diesem Werk trat ein neuer Architekt auf den Plan; es war Schluss mit dem «Architekt-Berater in allen Fragen von Innendekoration, Umbau, Möbelausstattung, Gartenanlage usw.», wie es noch im Briefkopf hiess; Schluss auch mit «Architekt der Ateliers d’art réunis. Konstruktion von Villen, Landhäusern, Miethäusern – Industriebauten – Spezialist für Eisenbeton – Renovierung und Reparaturen – Ladeneinrichtungen – Innenarchitektur – Gartenarchitektur». Von nun an fungiert das Pseudonym des Autors als Künstlername des Architekten.

MASS-REGLER

Vers une architecture versammelt Reflexionen, in denen die Positionen des Kritikers mit dem Programm kombiniert werden, das der Architekt für sich aufstellte. Um seine Vorsätze zu illustrieren, legt der Autor ein paar Skizzen von Projekten sowie von realisierten Bauten vor. Da Letztere noch nicht gerade zahlreich waren, muss sich der «neue Architekt» beim alten bedienen. Deshalb findet man im Kapitel über die regulierenden Linien neben der Porte Saint-Denis von Jacques-François Blondel die Fassade von Notre-Dame in Paris, das Kapitol in Rom und die Villa Petit Trianon

in Versailles 3 (siehe Abb. 7, S. 30). Bei den eigenen Bauten werden weder die Standorte noch die Namen der Auftraggeber aufgeführt. Es handelt sich um die Villa Schwob in La Chaux-de-Fonds (siehe Abb. S. 45). Von ihr nun werden eine Aufrissskizze für die beiden Hauptfassaden sowie eine fotografische Ansicht gezeigt. Die Konstruktion ist auf das Jahr 1916 datiert und mit Le CorbusierSaugnier (oder L.C.-S.) signiert, also nicht mit Ch.-É. Jeanneret. 4 Wichtiger noch als die unpassende Signatur bleiben die Mass-Regler bzw. die regulierenden Linien auf den Fassaden. Sie sind hier auf die Aufrissskizzen und nicht auf die Fotografien des Gebäudes übertragen, was die Vermutung nahelegt, dass der Mass-Regler von Beginn an die Komposition strukturierte. Doch ohne Entwürfe, auf denen die Mass-Regler zu sehen sind, ohne Originalzeichnungen, die den Aufbau der Komposition durch dieses Dispositiv nahelegen, tappt man im Dunkeln und bleibt auf die Vermutung angewiesen, es liege hier eine Erklärung aus der Retrospektive vor. Tatsächlich ist uns das Hauptwerk des jungen Jeanneret nur durch eine relativ beschränkte Anzahl von Zeichnungen bekannt, auf denen man perspektivische Ansichten entdeckt, die mit freier Hand gezeichnet sind, um dem Betrachter – vielleicht dem Auftraggeber – die Lage in der Landschaft, die grobe Anordnung und die äussere sowie innere Atmosphäre zu veranschaulichen. Der Strich ist schnell, kräftig, sicher, grosszügig: Das Resultat ist

Vorangehende Doppelseite: Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Einweihung der Wohnsiedlung Frugès in Pessac, 30. Mai 1926, Fotoabzug, Fondation Le Corbusier, Paris

1. Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Villa Stein, Fotoabzug (Detail), o. J. Fondation Le Corbusier, Paris

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lebendig, bietet aber keinerlei Aufschluss über den Prozess der Konzeption. Der Begleittext ist nicht viel aufschlussreicher: «Der Hauptblock der Vorder- und Rückfassade wird auf dem gleichen Winkel aufgebaut (A) [zwischen der Vertikale und der Diagonale des Vorsprungs der Fassade Richtung Garten]. Dieser legt eine Diagonale fest, deren zahlreiche Parallelen mit ihren Senkrechten die Berichtigungsmasse für die Elemente zweiter Ordnung, wie Türen, Fenster, Füllflächen usw., bis ins kleinste Detail liefern. Diese Villa kleinen Umfangs steht inmitten der ohne Regel aufgeführten Nachbarbauten; sie erschein umso monumentaler, einer anderen Ordnung zugehörig.» 5 Eine Anmerkung schliesst diese Ausführungen ab: «Ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich Beispiele von mir selbst anführe: allein, trotz all meiner Nachforschungen hatte ich noch nicht das Vergnügen, zeitgenössische Architekten kennenzulernen, die sich mit dieser Frage beschäftigt hätten. Ich habe mit diesem Thema lediglich Erstaunen hervorgerufen oder bin gar auf Widerspruch und Skepsis gestossen.» 6

In den späteren Auflagen von Vers une architecture liefert Le Corbusier weitere Beispiele, und zwar die Fassaden der Maison de M. Ozenfant (Paris, 1922), die er zusammen mit seinem Cousin Pierre Jeanneret signiert, der zu ihm gestossen ist und ihn fast die gesamte Karriere als Architekt hindurch begleiten wird,7 sowie diejenigen zweier aneinander grenzender Privathäuser in Auteuil (das von Raoul La Roche und das von Albert Jeanneret-Lotti Raaf, Paris, 1923). 8 In beiden Fällen zeugen Fotografien davon, dass die Werke realisiert wurden, wobei die Aufrisse für ihre Fassaden die Mass-Regler offenlegen. Das ist bei der Villa Schwob nicht der Fall; in den Archiven der Fondation Le Corbusier 9 liegen hingegen die Konzeptionszeichnungen aus dem Atelier von Ozenfant, die das System solcher Linien aufweisen, und falls sie nicht als Grundlage dienten, so haben sie zumindest zur Harmonie beigetragen (siehe Abb.1 und 2, S.58). Das Projekt des Maison-Ateliers für Ozenfant ist komplexer als die Schweizer Villa: Er muss ein doppeltes Programm kombinieren (Wohnraum und Malatelier), zudem umfasst es eine Autogarage und ein Bedienstetenzimmer, und all das auf einer kleinen, unregelmässigen Parzelle. Die beiden Fassaden müssen in einem Winkel angelegt werden, die eine in Richtung Avenue Reille, die andere in Richtung Square de Montsouris. Die Proportionen sind gleich, sie umhüllen dieselben Innenräume und weisen gleichgeartete Öffnungen auf (eine Fensterreihe im ersten Stock, hohe Fensterfronten im zweiten). Aber sie unterscheiden sich durch zwei Elemente: Eine äussere Wendeltreppe und ein aus der Fabrikwelt entliehenes Scheddach, um das Atelier des Malers zu krönen. Diese Elemente stören keineswegs den Mass-Regler der gegenüberliegenden Fassaden Richtung Garten. Die Treppe erscheint als das, was sie ist – ein hinzugefügtes Stück. Was das asymmetrische «Sägedach» betrifft, so werden die Neigungswinkel, die potenziell Mass-Regler generieren könnten, einfach vernachlässigt. Wenn man diese Unterschiede zwischen den Fassaden einmal weglässt, würde man einen gemeinsamen Mass-Regler erwarten: Doch dem ist nicht so. Man findet zwar auf der einen wie der anderen Fassade eine Hauptdiagonale, aber im einen Fall wird das Gitter der Linien durch Senkrechte gebildet, im anderen durch ein Spiel von Parallelen, die von einer Ecke des Hauses ausgehen und die Ordnung begründen.

Zwei extrem ähnliche Fassaden, zwei unterschiedliche Mass-Regler, als ob der Architekt von verschiedenen Ansätzen

ausgehen wollte. Doch das Resultat bleibt etwas approximativ, sodass man zum Schluss kommen mag, dass Le Corbusier noch nicht über jene Meisterschaft verfügte, die aus seinen Gemälden spricht. Dieser Eindruck wird durch das Beispiel der beiden Privathäuser in Auteuil bestätigt: Hier nun weist vor allem der Aufriss des Teils von Jeanneret strukturierende Punkte auf. Die Fassade zeigt eine regelmässige und nüchterne, geometrische und effektive Komposition, auf den Oberflächen wechseln sich Fenster und Wand auf harmonische Weise ab, ohne dass man mit Gewissheit sagen könnte, ob der eingezeichnete Mass-Regler ihnen wirklich zugrunde liegt.

Wie dem auch sei, der Theoretiker hämmert in den «Leitsätzen», die seinem Text vorausgehen, harte Sentenzen in der Art von Befehlen: Sie bilden das Kompendium jenes Programms, das der Praktiker ins Werk setzen soll. «Die Mass-Regler sind Hilfsmittel und kein Rezept. Ihre Wahl und ihre Ausdrucksformen sind integraler Teil der schöpferischen Gestaltung der Architektur. [...] Die Verpflichtung zur Ordnung. Die Mass-Regler sind Selbstversicherung gegen die Willkür. Sie befriedigen den Geist.» 10

Das Werkzeug der Mass-Regler wird von nun an bei allen Villenprojekten Anwendung finden, die den Ausstoss von Le CorbusierJeanneret in den 1920er-Jahren dominieren. Die Mass-Regler tauchen ganz filigran auf den Aufrissen für die Fassaden der Maison-Ateliers Lipchitz-Miestchaninoff (Boulogne-sur-Seine, 1923), Ternisien (Boulogne-sur-Seine, 1926) und Planeix (Paris, 1924) auf, aber auch bei den Villen Cook (Boulogne-sur-Seine, 1926), Stein und Monzie (Garches, 1926).11 Die geometrische Schlagkraft der Mass-Regler verleiht einer Architektur, die auf die Plastizität der Volumina achtet und bei der die Forderung nach glatten Wandoberflächen nur den Kontrast zwischen gemauerten und verglasten Flächen zulässt, einen bestimmten Rhythmus,

1. Le Corbusier-Saugnier ist das Pseudonym für den Doppelnamen Charles-Édouard Jeanneret / Amédée Ozenfant, der in L’Esprit nouveau bei den Beiträgen zur Architektur steht, um sie von denen über die Malerei zu unterscheiden. Die folgenden Editionen von Vers une architecture erwähnen auf dem Umschlag nur noch einen Autor: Le Corbusier. Siehe Françoise Ducros «Ozenfant (Amédée)» in: Le Corbusier, une encyclopédie, Paris: Éditions du Centre Pompidou, 1987, S. 279–281, und Jean-Paul Robert «Pseudonymes», ebd., S. 316f. Titel der deutschen Ausgabe, nach der im Folgenden zitiert wird: Ausblick auf eine Architektur (1963), Basel: Birkhäuser, 62013. / 2. Zu den Anfängen der Karriere als Architekt vgl. Stanislaus von Moos, Arthur Rüegg (Hrsg.), Le Corbusier before Le Corbusier: Applied Arts, Architecture, Painting and Photography, 1907–1922, Ausstell.-Kat., New Haven (Conn.), London: Yale University Press, 2002. / 3. Vgl. Le Corbusier-Saugnier «Les tracés régulateurs» in: L’Esprit nouveau, Nr. 5, Februar 1921, S. 563–572; wieder aufgenommen in: ders., Vers une architecture, Paris: Les Éditions G. Crès et Cie, 1923, S. 49–63. Die Verweise beziehen sich nicht auf die Zeitschrift, sondern auf das Buch; deutsch: Ausblick auf eine Architektur, a. a. O., S. 62–73. / 4. Die Villa Schwob wird in der ausführlichen Präsentation durch Amédée Ozenfant – unter dem Pseudonym Julien Caron – allein Le Corbusier zugeschrieben, vgl. «Une villa de Le Corbusier 1916», in: L’Esprit nouveau, Nr. 6, März 1921, S. 679–704. / 5. Le Corbusier-Saugnier, Vers une architecture, a. a. O., S. 61 / Ausblick auf eine Architektur, a. a. O., S. 71. Etwas deutlicher übersetzt würde der Schlusssatz lauten: «Diese Villa wirkt trotzt ihrer kleinen Dimensionen neben den anderen ohne jede Regel gebauten Konstruktionen viel monumentaler, wie von einer anderen Ordnung.» [Anm. d. Ü.] / 6. Ebenda S. 62 / Ausblick auf eine Architektur, a. a. O., S. 73. / 7. Über die Rolle von Pierre Jeanneret vgl. Hélène Cauquil, «Pierre, l’autre Jeanneret», in: Le Corbusier, l’atelier 35 rue de Sèvres, Supplement Nr. 114 des Bulletin d’informations architecturales, Sommer 1987, S. 4–8. / 8. Vgl. Le Corbusier, Vers une architecture, durchges. u. erw. Aufl., Paris: Les Éditions G. Crès et Cie, 1928, S. 62 und 64 / Ausblick auf eine Architektur, a. a. O., S. 71 und 73. / 9. An dieser Stelle sei es mir gestattet, allen, die mich bei meinen Nachforschungen in der Fondation Le Corbusier unterstützt haben, zu danken, insbesondere Arnaud Dercelles, Bénédicte Gandini, Isabelle Godineau und Delphine Studer. / 10. Le Corbusier-Saugnier, Vers une architecture (1923), a. a. O., S. VIII und 51 / Ausblick auf eine Architektur, a. a. O., S. 21 und 29. / 11. Zu den Namen der Bauten und ihren Datierungen vgl. das Werk von Gilles Ragot und Mathilde Dion, Le Corbusier en France. Projets et réalisations, Paris: Le Moniteur, 1992. / 12. Le Corbusier-Saugnier, Vers une architecture (1923), a. a. O., S. VII und 3 / Ausblick auf eine Architektur, a. a. O., S. 22 und 62. / 13. Hier werden die Entwürfe zu einem Projekt wie ein Komplex behandelt, der vom Atelier ausgeht und von Le Corbusiers oder Pierre Jeannerets Hand stammt, ohne die Handschrift des einen oder anderen eruieren zu wollen bzw. das Dokument bestimmten Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen zuzuweisen.

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2. Le Corbusier, Fassade der Villa Schwob mit Mass-Regler, repr. in: L’Esprit nouveau Nr. 5, Februar 1921

3. Le Corbusier, Cité ouvrière, Saint-Nicolas d’Aliermont, Innenaufriss, 1917, Bleistift auf Transparentpapier, 20,5 x 63,4 cm. Fondation Le Corbusier, Paris

4. Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Élévation de la maison Jeanneret (Detail), Paris 1923.

Grafit und Buntstift auf Transparentpapier. Fondation Le Corbusier, Paris

5. Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Maison Ternisien, Boulogne-sur-Seine, Schnitt, 1923.

Grafit und Buntstift auf Transparentpapier, 43,8 x 104,5 cm. Fondation Le Corbusier, Paris

und sie erlaubt es, mit den Proportionen zu spielen und das richtige Gleichgewicht sowie die bestmögliche Harmonie zu finden. Diese neue «Ordnung», mit welcher der Architekt seine Konstruktionen versehen will, gehört neben der programmatischen Verteilung der Räume und konstruktiven Logik zu den wichtigsten Regeln bei der Ausarbeitung der Projekte. Und auf dieses ordnende Werkzeug wird, falls nötig, auf der nächsten Stufe der Konzeption zurückgegriffen.

EINE MENSCHLICHE PRÄSENZ

In den Augen von Le Corbusier «verwirklicht der Architekt durch seine Handhabung der Formen eine Ordnung, die reine Schöpfung seines Geistes ist; mittels der Formen rührt er intensiv an unsere Sinne und erweckt unser Gefühl für die Gestaltung; die Zusammenhänge [Verhältnisse], die er herstellt, rufen in uns tiefen Widerhall hervor, er zeigt uns den Massstab für eine Ordnung, die man als im Einklang mit der Weltordnung empfindet, er bestimmt mannigfache Bewegungen unseres Geistes und unseres Herzens: so wird [für uns] die Schönheit zum Erlebnis.» 12 Dieses «uns», dieses «wir», das ist der Mensch, der die Architektur wahrnimmt und für den sie auch bestimmt ist. Er wird ihr, auf unmerkliche und heimliche Weise, schon in der Phase der Konzeption auf physische Weise eingeschrieben.

Die Aufrisse der Fassaden für die Villen und Privathäuser weisen also oft schon in der Studienphase die Züge von Mass-Reglern auf. Und wenn vor dem Gebäude die unveränderliche Gestalt eines «grouillot», eines Laufburschen, steht, so vermittelt diese Person durch ihre Grösse eine Vorstellung vom Massstab des Ganzen. Es

ist jeweils nur eine Silhouette, so flüchtig gezeichnet wie die Mass-Regler, entweder von vorne oder von der Seite gesehen, aber stets aufrecht stehend, mal im Erdgeschoss, mal ganz oben. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn sein Einsatz ist bei den Architekten geläufig, auch wenn der herrschende ästhetische Kanon der schönen Künste dazu neigt, jegliche menschliche Präsenz zu eliminieren. Schon bei seinen ersten Projekten greift CharlesÉdouard Jeanneret zu diesen «grouillots». 1917 taucht bei der Arbeitersiedlung Saint-Nicolas-d’Aliermont ein Mann in Pluderhosen und gestreiftem Hemd vor einer Fensternische auf. Ein Vorhang, Grünpflanzen, Kommode und Stuhl möblieren das Interieur, das er beziehen soll. Aber diese Figur gehört eigentlich mehr zu den Höhenmassen, die die Dimensionen der verschiedenen Wandteile angeben. 1921 lehnt jenes Individuum im bürgerlichen Interieur der Villa Berque (Paris) an einer Wand zwischen einer Durchgangstür und einer Flucht von Schränken und liefert so Hinweise auf die Massstäbe. In der Maison-Atelier Ternisien ist der Mensch in einem Längsschnitt präsent, als einziger Referenzpunkt für den Massstab der Räume im Volumenschnitt, der verschiedenen Treppenbreiten, der Deckeneinschnitte. Und aussen vor der Villa beim Eingangstor kann man einen weiteren Mann ausmachen.

Während die Silhouette den Mass-Regler auf der Fassade begleitet oder in den Interieurs auftaucht, um für die Detailstudien und die Gesamtaufteilung einen Massstab zu liefern, verschwindet sie, sobald es um die Reinzeichnung der Aufrisse geht, sei es dass das Dokument im Hinblick auf Vorschriften (Baubewilligung) oder genaue Anweisungen (Pläne zur Ausführung für die Unternehmen bestimmt) erstellt wird.13 Sie verschwindet also, sobald ein Entwurf mit den Massangaben versehen wird, dann

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DEN KÖRPER BERÜHREN. LE CORBUSIERS MALEREI UND GRAFIK

Im Jahr 1926 stellte Le Corbusier unter dem Titel «50 Aquarelles de music-hall ou le ‹Quand-Même› des illusions» eine Sammlung von Zeichnungen fertig, die eine Abkehr von den Stillleben markiert, die seit 1918 im Mittelpunkt seiner Bilder gestanden hatten. Die Folge ist ein Leitfaden durch einen der grossen Themenbereiche, mit dem er sich in seinen Zeichnungen und in seiner Malerei im Lauf der folgenden vier Jahrzehnte auseinandersetzen sollte: die menschliche Gestalt, vor allem die der Frau. Wie von Zauberhand erscheinen Körper in Bewegung und Ruhe, bekleidet und nackt, tanzend und singend, badend und sitzend. Wir sehen Akte im klassischen Stil, bekleidete Frauen nach Art des Triadischen Balletts von Oskar Schlemmer und sogar mehrere Aquarelle, die Josephine Baker auf der Bühne darstellen und auf Le Corbusiers legendäres und geheimnisumwittertes Treffen auf hoher See mit ihr vorausweisen. 1

Besonders aufschlussreich in dieser Folge von Aquarellen ist ein Bild, dessen Blickwinkel über Le Corbusiers Schulter geht. Sein Gesicht bleibt zwar verborgen, doch erkennt man, wie er sich, offenbar verdutzt, am Kopf kratzt, während eine Gruppe halb nackter Damen über seinen Schreibtisch tanzt und zwei vergnügt an den Stiften schweben, die aus einem Tintenfass auf seinem Schreibtisch ragen. Dieses verspielte Aquarell mit Fantasiefiguren, die durch Le Corbusiers Gesichtsfeld hüpfen, steht für die Unzahl

von Werken, in denen er im Lauf seines Lebens Frauen darstellte, in Dutzenden von Bildern auf Leinwand und Tausenden von Zeichnungen, Aquarellen und Gouachen, in denen er immer wieder die weibliche Form studierte. In seinen Frauenzeichnungen fand er einen privaten Raum, in dem er das Sinnliche und das Fantastische als Gegenpol und Ergänzung zu seinem öffentlicheren Schaffen studieren konnte. Seine Konzepte treten deutlicher hervor, wenn man analysiert, wie er in Malerei und Grafik mit dem Körper umgeht, angefangen bei den springlebendigen Gemälden der 1930er-Jahre, als er mit den Verboten des Purismus in Bezug auf den menschlichen Körper brach, bis hin zu den mythologisch inspirierten Motiven der Nachkriegsjahre. Insbesondere erlaubt die Analyse der Faszination vom Körper in seinen Bildern eine genauere Betrachtung der tiefer liegenden psychosexuellen Spannungen. Seine Werke zeigen widersprüchliche Wünsche, Absichten und Handlungen, wobei ihm Malen und Zeichnen den Weg zur Verarbeitung von Sehnsüchten und Fantasien frei räumen. Die menschliche

Vorausgehende Doppelseite: Le Corbusier zeichnet «Modulors» an die Tafel im Atelier in der Rue de Sèvres, Paris, 1957. Fotoabzug. Fondation Le Corbusier, Paris

1. Le Corbusier, Ausschnitt aus Carnet de dessins Music-Hall, o. J. Fondation Le Corbusier, Paris

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Gestalt eröffnete Le Corbusier ein fruchtbares Feld, auf das er seine zahllosen Konzepte von Form und Raum, Natur und Kultur, vom Inneren und Äusseren projizieren konnte. Ausserdem ermöglichte ihm seine Malerei die direkte Auseinandersetzung mit kunstgeschichtlichen Traditionen und zeitgenössischen Kunstrichtungen. Er tauchte ebenso in die Sinnlichkeit des Körpers ein, wie er sich zuvor der Strenge des Purismus unterworfen hatte, und indem er zu figuralen Motiven zurückkehrte, erkundete er Leidenschaft und Verspieltheit, Ehrfurcht und Abscheu.

Einige Fachleute haben Le Corbusiers Einstellung zu Frauen zwar als «hysterisch», «beleidigend» und «fetischistisch» 2 bezeichnen wollen, doch die Wirklichkeit ist viel komplexer. Seine Beziehungen zu beiden Geschlechtern konnten zwar durchaus problematisch sein, aber man hat die Rolle der Frau als passives Opfer überbetont und der dialektischen Spannung zwischen den fortschrittlichen und regressiven Dimensionen in Le Corbusiers Werk zu wenig Beachtung geschenkt. Das gilt sowohl für sein Berufsleben – sein Atelier gehörte zu den ersten französischen Architekturbüros, die von den späten 1920er-Jahren an Frauen beschäftigten (namentlich Charlotte Perriand) – als auch für sein künstlerisches Schaffen. 3 Obwohl seine Bilder bestimmte voyeuristische Elemente in Bezug auf Frauen aufweisen, rühmte er sie doch auch als Akteure und Künstlerinnen an vorderster Front des modernen Lebens. Tausende von Skizzen und Zeichnungen von Frauen, überwiegend als Akte, mit denen er seine Skizzenbücher seit den späten Zwanzigern füllte und die jede andere Thematik in den Hintergrund treten liessen, bezeugen sein leidenschaftliches Interesse an der weiblichen Form ebenso wie Dutzende von Gemälden mit der weiblichen Gestalt im Mittelpunkt. In Bildern wie in Zeichnungen reizen und locken sie, winken und drohen und verraten Le Corbusiers unstillbare Neugier auf den weiblichen Körper.

Darüber hinaus demonstrieren seine energischen und kraftvollen Frauen angesichts der weiblichen Schönheitsideale der 1920er- und 1930er-Jahre eine bewusste Abwandlung genormter Vorstellungen. Dass Le Corbusiers Frauen eher korpulent waren, stellten auch seine Freunde fest, wie ein Brief von Josep Lluis Sert an Sigfried Giedion beweist. Er lädt ihn nach Havanna ein, wo es «wunderschöne Frauen (wie auf Le Corbusiers Bildern, mit tollen Kurven)» gebe. 4 Dennoch sind die weiblichen Gestalten auf seinen Bildern weder Verkörperungen sexualisierter Vorstellungen noch Ausdruck männlichen Verlangens, sondern vielmehr die künstlerische Manifestation eines inneren Drangs und eine neue Verbildlichung geschlechtsbezogener Identitäten. Durch seine paradoxe und fortgesetzte Darstellung von Frauen, und indem er ihre Gestalten zieht, dehnt und verdreht, manchmal so, dass alles gleichzeitig sichtbar ist, behält er die Kontrolle über den figuralen Aspekt seiner Kunst. Wer versucht, Le Corbusiers thematische Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper auf den Aspekt einer Ausbeutung der Frau zu reduzieren, verliert die vielfältigen Verschiebungen aus dem Auge, die seine Konzepte und seine Ideologie im Lauf der künstlerischen Entwicklung erfahren haben und die seine doppelte, nämlich platonische und sexuelle Sicht auf die Welt widerspiegeln.

Die Verlagerung zum Figurativen, die sich 1926 im Carnet MusicHall ankündigte, zeigt sich in seiner Malerei zuerst mit La Guitare et le Mannequin von 1927, einem Ölgemälde, das einerseits allgegenwärtige Objekte des Stilllebens (eine Pfeife, ein gestieltes Glas, Trinkgefässe und eine Gitarre) schwebend in einem Raum mit ständig wechselnden Perspektiven zeigt, andererseits eindeutig neue Objekte enthält: Handschuhe und eine Schneiderpuppe. Diese Gegenstände führen ein menschliches Element im Bild ein, als Pars pro toto für die menschliche Gestalt. Die Handschuhe deuten Berührung an, die Hand des Künstlers Kontakt. Die fleischfarbene Hand fängt den Blick des Betrachters ein; sie ruht auf ihrem dahinter liegenden und alabasterfarbenen Gegenstück. Zusammen befinden sie sich knapp rechts vom Bildmittelpunkt, und sie gehören zu den wenigen Objekten des Stilllebens, die wirklich modelliert und definiert sind. Die kopflose Schneiderpuppe rahmt das Bild auf der rechten Seite und verankert es solide gegenüber der Ansammlung von Gegenständen auf der linken Seite. Der untere Teil der Puppe folgt der Linie der direkt davor liegenden Gitarre und weist auf organischere Überlappungen von Formen voraus, die sich in späteren Werken entwickeln werden. Das erinnert auch an proto-surrealistische Kunstwerke wie Eugène Atgets Fotografien von Pariser Schaufenstern und Giorgio de Chiricos luftgefüllte Handschuhe und Schneiderpuppen, die in metaphysischen Stadtlandschaften schweben und mit denen Le Corbusier wohl durch die Lektüre von La Révolution Surréaliste vertraut war. In dieser Epoche zeigt sich in der Tat ein Anflug von Surrealismus in seinen Bildern, obwohl er sich selbst nie zu dieser Richtung zählte.

Die Fragmentierung des Körpers findet sich auch in dem Stillleben Le Bûcheron (1931), ein Ölbild fast zum Bersten angefüllt mit verschiedenartigen menschengemachten und natürlichen Objekten, Tassen verbunden mit Baumstümpfen, Flaschen mit Baumstämmen. Hier wird die verinnerlichte Landschaft früherer Stillleben von Elementen durchdrungen, die eher an ein Picknick auf dem Land als an ein Café in Paris erinnern. Links im Bild erhebt sich ein schematisiertes Selbstporträt des Künstlers als Bauer, auf seinem Kopf wie eine Krone ein Weinglas, unten die Signatur. Eine stilisierte organische Landschaft tritt in dem Masse hervor, wie sich eine Art Erzählung entwickelt: Eine röhrenartige Wurzel, die die rechte Bildhälfte beherrscht, nimmt die Form und Textur eines glatteren Baumstamms am rechten Bildrand wieder auf. Am Fuss des Stamms liegt ein heruntergefallenes Blatt, das in

1. Zum Treffen zwischen Le Corbusier und Josephine Baker, s. Valerio Casali, «Le Corbusier, Josephine Baker e il Music-Hall», in: Massilia. Annuaire d’études corbuséennes, 2004, Artikel 38. / 2. Siehe z. B. Beatriz Calomina, «Battle Lines: E.1027», in: Interstices, Nr. 4, 1994, S. 1–8, und Luis E. Carranza, «Le Corbusier and the Problems of Representation», in: Journal of Architectural Education, Bd. 48, Nr. 2, November 1994, S. 70–81. / 3. Zu seinen beruflichen Verbindungen zu Charlotte Perriand vor allem Mary McLeod, Charlotte Perriand: An Art of Living, New York: Harry N. Abrams, 2003. / 4. Josep Lluís Sert, Brief an Sigfried Giedion, 10. April 1939, ETH Zürich, CIAM-Archiv. Ich danke Jean-Louis Cohen für den Hinweis auf diese Korrespondenz. / 5. Le Corbusier, Une Maison. Un palais, Paris: Les Éditions G. Crès et Cie, 1928, S. 50. Hervorhebung im Original. / 6. Ders., Entretien avec les étudiants des écoles d’architecture, Paris: Denoël, 1943, S. 50f. Hervorhebung im Original. / 7. Ders., «Unité», L’Architecture d’aujourd’hui, Sondernummer, 1948, S. 39. / 8. Ders., Brief an William Ritter, 12. Mai 1918, FLC R3-19-249.

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einen Stumpf übergeht. Der Holzstoss oben im Bild prophezeit das Schicksal des Baums, der zum Material für die anderen Objekte des Gemäldes werden muss: die Gitarre, den Zollstock, die Streichholzschachtel, die Pfeife. Die Pfeife verweist auf den Künstler selbst, und die Häufung von Gegenständen mit Bezug auf das naturverbundene Landleben verrät seine Begeisterung für die Verwendung örtlicher Materialien beim Bau der provisorischen Hütten entlang der Bucht von Arcachon, einem beliebten Badeort, wo «[die Elemente der grossen Ordnungen] in totaler Wahrheit auseinander hervorgehen, voneinander abhängen, miteinander verknüpft sind, im idealen Zusammenwirken einen Rhythmus ergeben. [... Diese Häuser [...], die einzeln hinter Pinienhainen oder als kleine Weiler am Strand stehen, haben alle ein gemeinsames Mass: das Mass des Menschen. Alles ist massstabsgerecht, man ermisst den Schritt, die Schulter, den Kopf.» 5 Die Einheit entsteht aus dem Verhältnis der Hauselemente untereinander, aber auch in der vereinten Wirkung mit den Massstäben der menschlichen Gestalt und der Landschaft.

Ausserdem verraten die Betrachtungsweisen, die sich in dieser Zeit in seinen Bildern zeigen, Methoden, mit denen er die Konzepte von Raum und Form auszuloten versuchte, indem er die Wechselbeziehungen zwischen dem Organischen und dem Menschengemachten, dem Zwei- und dem Dreidimensionalen, den Gegenständen und den Körpern in den Mittelpunkt rückt. Was sein neues Interesse an menschlichen und natürlichen Formen anregte, war die Auseinandersetzung mit «Objekten, die eine poetische Reaktion hervorrufen»: «Objekte mit poetischer Wirkung [...] die durch ihre Form, ihre Dimension, ihre Substanz, ihre Haltbarkeit geeignet sind, in unseren Häusern Platz zu finden. So z.B. ein vom Meer abgeschliffener Kiesel [...] ganze Muscheln, glatt wie Porzellan oder wie Skulpturen in griechischer oder hinduistischer Manier. [...] Sie sind, von unserer Hand gestreichelt, von unserem Auge gemustert, Gefährten mit evokativer Wirkung.» 6 Er erweiterte so seinen künstlerischen Raum um natürliche

2. Le Corbusier, La Guitare et le Mannequin, 1927. Öl auf Leinwand, 89 x 130 cm. Klischee, Fondation Le Corbusier, Paris

3. Le Corbusier, Figure rouge, 1929. Öl auf Leinwand, 96 x 130 cm. Klischee, Fondation Le Corbusier, Paris

Objekte, oder aber er betonte ihre körperlichen Qualitäten, wenn sie von Menschenhand geformt waren und an alte, durch das Berühren begreifbare künstlerische Verfahren erinnerten. Bezeichnenderweise versucht er, in zahlreichen Skizzen und Zeichnungen die hervorstechenden Details dieser natürlichen Formen einzufangen und ihrer Körperlichkeit nachzuspüren, vor allem ihrer Tastbarkeit, was auf eine Episode in seiner Jugend zurückgeht. Bei seiner prägenden Besichtigung der Akropolis empfand er es nämlich als besonders aufregend, dass er die Steine wirklich berühren konnte: «Es war aussergewöhnlich: Die westliche Kolonnade des Parthenons lag noch am Boden, dort, wohin sie die Explosion zur Zeit der Türken geschleudert hatte. Vier Wochen lang spürten meine Augen, meine Hände, meine Finger den Säulenschäften nach, den Kapitellen, den Architraven, den herumliegenden Gesimsen. Finger und Hände? Gibt es ein besseres Werkzeug für die Sinne, zum Lesen, zum Beurteilen?» 7 Die Berührung ist entscheidend, und in seinen Zeichnungen hat Le Corbusier sich bemüht, das Tastbare durch die Linienführung herzustellen und so zum Wesen der Dinge vorzudringen. Das ist bedeutsam, wenn man bedenkt, dass er die menschliche Gestalt in seine Kunst integrieren wollte; er bezog sich auf dieses Ziel im Hinblick auf seine jugendlichen Zeichnungen von Frauen, besonders die 1917 kurz nach seiner Ankunft in Paris angefertigten erotischen Skizzen, die er seinem Mentor William Ritter mit den folgenden Worten beschreibt: «Meine Frauen sind animalisch lasziv, derb, brünstig. Und ich versage es mir, eine nackte Frau zu berühren, denn ihr Rücken, ihre Brüste, ihr Mund sind aus so reizendem Stoff, dass ich ihn wie ein Traumgespinst mit meinen groben Fingern zerreissen würde.» 8 Er versucht also, zum Tastbaren, das er physisch nicht empfinden kann, durch die Kunst vorzudringen. Der Abstand, den er als Maler zu Frauen einnimmt, sollte sein Werk bis hinein in die 1930er-Jahre kennzeichnen, wobei ihm das Zeichnen den Vorwand lieferte, in der Darstellung des weiblichen Körpers vom Sehen Gebrauch zu machen, als sei es Berühren.

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GENESE UND REPRÄSENTATION DES UNBESCHREIBLICHEN RAUMS

DARLEGUNG DES UNBESCHREIBLICHEN RAUMS

Die Figur des Akrobaten taucht in Le Corbusiers Aufzeichnungen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder auf. Der Architekt identifiziert sich mit dieser Gestalt, die sich durch tägliche Übung in Form hält, um ihre tollkühnen Salti ausführen zu können; er selbst widmet sich jeden Morgen – wenn er nicht gerade um die Welt reist – einer Übung, der Malerei, die den Blick für die Entdeckung neuer plastischer Formen in der Architektur und im Städtebau schärft, um zum «Provokateur neuer Formen» zu werden.1

Im Lauf der 1940er-Jahre treibt Le Corbusier ein kulturelles und künstlerisches Projekt voran, dessen Ursprung er selbst in der Literatur seiner prägenden Jahre sah: das Zusammenwirken der Künste. Dieser Grundsatz bleibt eine Konstante seines Werks und nimmt die Form einer regelrechten «Synthese der grossen Künste – Architektur, Malerei, Bildhauerei» an. Seit 1944 schreibt er regelmässig über dieses Thema; dabei erkennt er dem Kubismus das Verdienst zu, die Kunst in Richtung einer «architektonischen Synthese» geführt zu haben.2 Die «Synthese der grossen Künste» wird für ihn zum Kennzeichen der «zweiten Ära der Maschinenzivilisation»,3 und sie stellte die wesentliche Vorbedingung für die Definition eines neuen Raumbegriffs dar, der weit über ein System funktioneller oder struktureller Elemente hinausgeht. Es ist die Geburt dessen, was er den Unbeschreiblichen Raum nennt, das Ziel eines schöpferischen Prozesses, der sämtliche künstlerischen Ausdrucksformen zusammenführen kann. Es ist kein Zufall, wenn sich die Synthese der Künste zu Anfang der 1940er-Jahre noch auf die «wichtigsten Künste» der akademischen Tradition bezog, 4 während nach der Formulierung des Begriffs des unbeschreiblichen Raums und insbesondere Ende der 1950er-Jahre, diese Synthese durch technische Neuerungen in einen Raum für das elektronische Zeitalter überführt wird. «Nicht die Angehörigen meiner Generation werden die architektonische Synthese vollbringen», schreibt er 1956.5

Die Musik, die dank seiner Mutter und seines Bruders Le Corbusiers Erziehung begleitet, war eine wichtige Inspirationsquelle für die Definition dieses Begriffs und für seine konkreten

künstlerischen Umsetzungen. Weitere grundlegende Aspekte seiner Kunstauffassung haben ebenfalls Eingang gefunden in seinen Begriff des unbeschreiblichen Raums, nachdem sie mehr oder weniger tiefgreifenden Revisionen unterzogen wurden: das Fernbild – die Fernsicht auf Gebäude, die auf die Landschaft reagieren können, etwa die Kuppeln, die er in seiner Jugend sah und deren erste die von Brunelleschi war −, optische Täuschungen, die in den Lehrbüchern, die damals in den Kunstgewerbeschulen in Gebrauch waren, analysiert oder auch direkt beobachtet wurden, und die verschiedenen theoretischen Fragen im Zusammenhang mit der Psychophysiologie der Wahrnehmung, die er während seiner Zusammenarbeit mit Amédée Ozenfant vertiefte, um Gesetze zu formulieren, die die unberechenbaren Grenzen des Raums bestimmen.

Im Zusammenhang mit der subtilen psychologischen Dimension des unbeschreiblichen Raums wird das Werk Antoni Gaudís, das Le Corbusier spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts vertraut ist, für ihn zu einer Offenbarung, während der Surrealismus mehr als nur eine kulturelle und künstlerische Bezugsgrösse wird: Er durchdringt jetzt die theoretischen Grundlagen seiner Poetik. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass Le Corbusier sich bei der Begriffsbestimmung des unbeschreiblichen Raums langsam auf einen Gegenstand mit unscharfen theoretischen Grenzen hin bewegt. Dies macht selbst die Erforschung der Grundlagen eines neuen Sehens unmöglich, obwohl er die Architektur in systematischer Weise auf einige Grundbegriffe zurückgeführt hatte − «Die Fünf Punkte einer neuen Architektur» −, die alle auf dem Struktursystem des Sichtbetons (béton

Vorhergehende Doppelseite: Le Corbuser, Kapelle Notre-Dame-du-Haut, Ronchamp. Foto von Hans Silvester, o. J., Fondation Le Corbusier, Paris 1. Le Corbusier, Le Poème électronique. Foto von Lucien Hervé des Philips-Pavillons anlässlich der Weltausstellung in Brüssel, 1958. Fondation Le Corbusier, Paris

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brut) beruhen. Aber wenn Le Corbusier nicht zuvor mit beinahe wissenschaftlicher Autorität die Prinzipien einer neuen Architektur und ihres Struktursystems definiert und versucht hätte, Gesetze der Wahrnehmung aufzustellen, dann hätte dieses Unbeschreibliche nicht einmal skizziert werden können. Das, was sich jenseits der Fünf Punkte und der fraglichen Gesetze entfaltet, ist die Landschaft, die er jetzt erforschen will.

Der Text «Der unbeschreibliche Raum» − geschrieben im September 1945, 1946 veröffentlicht und später erweitert − ist keine kohärente, von Prinzipien ausgehende Darstellung. 6 Er wendet sich allerdings einem Forschungsfeld zu, das die zeitgenössischen theoretischen Weiterentwicklungen des Raumbegriffs reflektiert, wie sie in Werken wie Raum, Zeit, Architektur von Sigfried Giedion rekapituliert werden, und er nimmt sich vor, die theoretischen Beiträge des Kubismus zum Raumbegriff zu überdenken und sie mit der Relativitätstheorie von Albert Einstein zusammenzuführen. Schon in früheren Schriften und Vorträgen werden die diskutierten Themen deutlich; so bleibt etwa der Vortrag auf dem Volta-Kongress in Rom im Jahr 1936 von grundlegender Bedeutung, wenn man verstehen will, wie akustische Fragestellungen und die Problematik komplexer Oberflächen im unbeschreiblichen Raum aufgetaucht sind. In den 1950er- und 1960er-Jahren hat Le Corbusier nicht nur verschiedene Fassungen des Textes «Der unbeschreibliche Raum» geschrieben, sondern auch eine Reihe von Notizen für ein Buch zu diesem Thema gemacht.

Obgleich er in Après le Cubisme (1918) den Thesen von Albert Gleizes und Jean Metzinger über die vierte Dimension widerspricht, nuanciert der Begriff des unbeschreiblichen Raums, dessen theoretische Grundlagen er Mitte der 1940er-Jahre erarbeitet, diese Position: Le Corbusier erkennt an, dass «den Begründern des Kubismus» eine «Erweiterung» des Raumes gelungen sei, die er selbst in eben jener «vierten Dimension» entdeckt. 7 Auch wenn er sich nicht mehr auf die Psychophysiologie der Wahrnehmung bezieht, stützt er sich immer noch auf seine Kenntnisse der Phänomene des Sehens und vertieft sich weiter in ihre Auswirkungen auf die Psychologie des Individuums und seine Empfindungen – so sehr, dass der Raum keine nach den Massstäben der Theorien Euklids und Newtons zu bemessende Einheit mehr ist. Dadurch wird er unbeschreiblich. Bezeichnenderweise prägen von nun an zwei Wörter die Schriften Le Corbusiers: «Dichtung» und «Gedicht». 8 Die Theoretisierung des unbeschreiblichen Raums in der Architektur, der über die Gewissheiten der Psychophysiologie, auf denen der Purismus aufgebaut wurde, hinausgeht, wurde erst dadurch möglich, dass sich Le Corbusier der Relativitätstheorie Einsteins annäherte. Diese setzt die Existenz einer untrennbaren Einheit, der Raumzeit, voraus, deren veränderliche Dimensionen von unvorhersehbaren Ereignissen bestimmt werden. Das Wort «unbeschreiblich» scheint, auf den Raum bezogen, synonym mit dem von Einstein verwendeten Adjektiv «relativ» zu sein.

Le Corbusier skizziert eine Genealogie des Wortes «unbeschreiblich», dessen Ursprünge in den Werken Rabelais’, Plotins, Anaxagoras’ und anderer antiker Philosophen liegen. 9 In dem Kapitel «Die innere Zeit» seines Essays L’Homme, cet inconnu, der in dieser Genealogie von grundlegender Bedeutung ist, diskutiert Alexis Carrel, angeregt von Einstein, die Relativität der Begriffe Raum und Zeit und das Konzept der physiologischen Zeit, die je nach Alter und Rasse von Mensch zu Mensch verschieden sei.10

Mehrfach definiert Le Corbusier das Wort «unbeschreiblich» in relativistischer Weise als «ein unter günstigen Umständen mögliches Ereignis».11 Im Bereich der Malerei assoziiert er «Raum» mit dem Impressionismus und «Öffnung auf die Volumina und auf den Raum» mit dem Kubismus. 12 Das Unbeschreibliche scheint für ihn gelegentlich eng mit dem Licht verbunden zu sein – «aus Licht gemacht» 13–, auch spricht er oft vom mediterranen Licht − «Athen, sein Licht».14 «Das Funkeln, der Glanz, das Licht, geboren aus Exaktheit, führen zum unbeschreiblichen Raum, der sakraler, nicht magischer Natur ist», schreibt er in seinen Notizen. 15 Auch die Nacht erzeugt Empfindungen, die mit dem unbeschreiblichen Raum zusammenhängen. Von nun an ist er überzeugt davon, dass die Synthese der Künste die Gegenwart am besten zum Ausdruck bringen kann. Dies formuliert er weitaus kategorischer als in den 1920er- und 1930er-Jahren, wenn er schreibt: «Der Raum, das Schlüsselelement der Moderne.» 16

Le Corbusier steht den Kubisten nahe, wenn er, in seinem Text von 1945, die Ansicht vertritt, der unbeschreibliche Raum gehe aus einem Prozess vielfältiger Resonanzen hervor – von Orten, Gebäuden, Objekten −, die der Künstler durch seine geschärfte Sensibilität wahrnehme. Und erst vor dem Hintergrund des unbeschreiblichen Raums kann man die Rolle verstehen, die er in seinen Schriften der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre der Akustik zuerkennt: diejenige eines Systems von Beziehungen zwischen Orten, Gebäuden und Individuen, das komplexer ist als jenes, von dem die Psychophysiologie ausging. Die Akustik sollte in seinen späteren Überlegungen zum unbeschreiblichen Raum die gleiche Rolle spielen, die in der Relativitätstheorie Ereignisse als Auslöser variabler Dimensionen der Raumzeit einnehmen. Während seines ersten Aufenthalts in Athen hatte Le Corbusier dem Parthenon «gelauscht». Die Tempel der Akropolis, schreibt

1. Für die Definitionen vgl. Le Corbusier, «Unité», L’Architecture d’aujourd’hui, Sonderheft, 1948, S. 33 und 45; ders., Notiz über den «unbeschreiblichen Raum», 27. August 1955, FLC, B3.7.537, und ders., Notiz über den «unbeschreiblichen Raum», 28. August 1955, FLC, B3.7.557. Über die im vorliegenden Essay diskutierten Aspekte vgl. Roberto Gargiani / Anna Rosellini, Le Corbusier. Béton Brut und der Unbeschreibliche Raum (1940–1965): Oberflächenmaterialien und die Psychophysiologie des Sehens, München: Edition Detail, 2014. / 2. Le Corbusier, «Vers l’unité. Synthèse des arts majeurs: architecture, peinture, sculpture», in: Volontés de ceux de la Résistance, Jahr I, 13. Dezember 1944, Nr. 3, S. 4. Über die Frage der Synthese der Künste vgl. Stanislaus von Moos, «Art, Spectacle and Permanence. A Rear-Mirror View of the Synthesis of the Arts», in: Le Corbusier: The Art of Architecture, Ausst.-Kat., Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2007, S. 61–99. / 3. Ders., «Unité» (wie Anm. 1), S. 30. / 4. Ders., Notizen, 13. Oktober 1949, FLC, J1.5.271. / 5. Ders., Notizen über «L’espace indicible», 27. Mai 1956, FLC, B3.7.560. / 6. Ders., «L’espace indicible», in: L’Architecture d’aujourd’hui, Sonderheft, 1946, S. 9–17; «L’espace indicible», Manuskript, 13. September 1945, FLC, B3.7.210-224 (vgl. für den maschinenschriftlichen Text FLC, B3.7.239-246); «L’espace indicible», Maschinenschrift, mit handschriftlichen Notizen, FLC, B3.7.507-511; «L’espace indicible», Maschinenschrift, FLC, B3.7.255-274. / 7. Ders., «L’espace indicible», zit. Artikel (wie Anm. 6), S. 9. / 8. Vgl. zum Beispiel, ders., Notizen über den «espace indicible». 25. September 1954, FLC, B3.7.533. «De l’esprit nouveau à l’espace indicible» [«Vom neuen Denken zum unbeschreiblichen Raum»] ist der Titel einer anderen Seite von Notizen aus derselben Serie (FLC, A2.20.192). / 9. Vgl. François Rabelais, Œuvres complètes, Paris: Gallimard 1951, mit handschriftlichen Anmerkungen versehen von Le Corbusier, FLC, J162. / 10. Alexis Carrel, L’Homme, cet inconnu, Paris: Plon 1935, S. 189–228. / 11. Le Corbusier, Notizen, 30. April 1954, FLC, B3.7.541. / 12. Ders., Notizen, 27. August 1955, FLC, B3.7.526. / 13. Ders., Notizen, 30. April 1954, (wie Anm. 11). / 14. Ders., Notizen, 27. August 1955 (wie Anm. 12), zit. Art. / 15. Ders., Notizen, o. J., FLC, E2.5.417. / 16. Ders., Notizen, 27. August 1955 (wie Anm. 12), zit. Art. / 17. Ders., François de Pierrefeu, La Maison des hommes, Paris: Plon, 1942, S. 163. / 18. Le Corbusier, «Le théâtre spontané», in: André Villiers (Hrsg.), Architecture et dramaturgie, Paris: Flammarion 1950, S. 155. / 19. Vgl. ders., New World of Space, Ausst.-Kat., Boston (Mass.):The Institute of Contemporary Art, New York: Reynal & Hitchcock, 1948. / 20. Ders., Notiz, 30. April 1954, FLC, B3.7.541. / 21. Ders., Notizen für die englische Ausgabe von «L’espace indicible», o. J., FLC, D1.15.87. / 22. Vgl. die Seite mit Zeichnungen, die enthalten ist in der Serie von Zeichnungen für den unbeschreiblichen Raum, FLC, B3.7.314. / 23. Ders., «L’espace indicible», (wie Anm. 6) S. 15. / 24. Ders., zitiert in: Antoine Pevsner, Ausst.-Kat., Paris: René Drouin 1947, FLC, Rés. C 54. / 25. Vgl. ders., «Unité» (wie Anm. 1). / 26. Ebd., Abb. 2, S. 7. / 27. Ebd., S. 16. / 28. Ebd., S. 22. / 29. Ebd., S. 53.

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er 1942, seien «wahre Resonatoren der umliegenden Berge».17 Im Rahmen der Aufzeichnungen zum unbeschreiblichen Raum geht er so weit, eine synthetische Sehwahrnehmung zu definieren, die optisch und akustisch zugleich ist, die «visuelle Akustik».18 Wellen, Schreie, Klänge und Resonanzen sind emblematische Wörter für den unbeschreiblichen Raum.

«NEW WORLD OF SPACE», NACHTRÄGLICHE ANALYSE DES UNBESCHREIBLICHEN

Nachdem Le Corbusier die Existenz von Wahrnehmungsphänomenen «jenseits der Sprache» eingeräumt hat, untersucht er deren Effekte auf schöpferische Prozesse, indem er seine eigenen Werke analysiert. Die Manipulation von Fotoabzügen ist das bevorzugte Instrument der Erforschung der allerersten, unbeabsichtigten Spuren eines unbeschreiblichen Raums. Die verwirrenden Zuschnitte von Fotos der Villa La Rotonda von Palladio oder des Pantheons in Rom, die in der Zeitschrift L’Esprit nouveau veröffentlicht wurden, erweisen sich als ein effektives Mittel, um das unausgesprochene Potenzial eines Werks zu enthüllen.

New World of Space, der Katalog zu der Ausstellung im Bostoner Institute of Contemporary Art im Jahr 1948, ist eine Montage von Fotografien von Gebäuden und städtebaulichen Projekten, von Gemälden und Skulpturen, die nahelegen soll, dass die verschiedenen künstlerischen Phänomene bei der Erschaffung des Raums eng zusammenwirken.19 Die Ergebnisse der Untersuchung, die Le Corbusier mithilfe der Fotografie über die Bedeutung seiner eigenen Arbeiten durchführt, werden in einigen Kommentaren festgehalten; der bedeutsamste ist derjenige, der sich auf die Serie von vier Fotografien des Modells des Palasts der Sowjets bezieht, wobei eine davon das an der Wand befestigte Modell zeigt: «These few photographs [...] reveal phenomena of harmony which have a tremendous intensity and which have not yet found a door open before them.» [Diese wenigen Fotografien [...] enthüllen harmonische Phänomene äusserster Intensität, denen die Türen bisher nicht offenstanden.]

Der Titel des Vorworts des Katalogs, «Ineffable Space», ist die englische Übersetzung von espace indicible. Die Tatsache, dass Le Corbusier mit dieser Übersetzung unzufrieden war − «Die Angelsachsen haben das Wort selbst nicht», 20 stellt er in Bezug auf indicible fest – zeigt, wie sehr ihm daran gelegen ist zu verdeutlichen, dass sich die Natur dieses Konzepts nur durch akustisch-visuelle Wahrnehmung erschliesse, da die zeitgenössische Begrifflichkeit noch nicht in der Lage sei, dieses zu definieren. Nicht zufällig schlägt er vor, espace indicible mit «space beyond words» [Raum jenseits der Worte] zu übersetzen. 21 Am Ende

2. Le Corbusier, Coquillages. La leçon du Muséum d’histoire naturelle, wiederabgedruckt in: L’Architecture d’aujourd’hui, Sonderheft: Le Corbusier, April 1948, S. 47

des Vorworts veröffentlicht er eine Strichzeichnung aus zwei Linien: eine stellt das – allerdings offen bleibende − mathematische Unendlichzeichen dar; die andere zeigt den «Schlachtknochen» aus seiner Sammlung von «objets à réaction poétique» [Objekten, die eine poetische Reaktion hervorrufen]. 22 Diese Zeichnung drückt die Notwendigkeit aus, «den Raum zu öffnen», die eins der wichtigsten Anliegen des unbeschreiblichen Raums ist, und lässt sich mit den Skulpturen von Antoine Pevsner, Naum Gabo oder Max Bill vergleichen. 23 Im Übrigen charakterisiert Le Corbusier die Skulpturen Pevsners, die «vom Raum Besitz ergreifen und ihren Glanz (noch) in weiter Ferne entfalten», mit denselben Worten, mit denen er den unbeschreiblichen Raum definiert hat. 24

Gleichfalls im Jahr 1948 ist die Vorbereitung des monografischen Hefts, das die Zeitschrift L’Architecture d’aujourd’hui seinem Schaffen widmet, eine weitere Gelegenheit, um ein nachträgliches Manifest der «Synthese der Künste», der «visuellen Akustik» und des unbeschreiblichen Raums zu unterzeichnen. 25 Einige Werke der 1930er-Jahre, wie etwa die kurvenförmigen Redents von Algier, die durch ihr von oben fotografierte Modell in ein Stillleben verwandelt werden,26 gestatten es ihm, über ein «akustisches Ereignis, in dem alles zusammenklingt», zu schreiben: «Diese kurvenförmigen Gebäude sind wie resonante Muschelschalen; sie senden Klänge (oder Ansichten) aufs offene Meer; vom offenen Meer empfangen sie alle Klänge (oder Ansichten) ...» 27 Zur gleichen Zeit schafft er mit Joseph Savina Holzskulpturen in Form von Tritonshörnern und Schalltrichtern; damit bestätigt er das, was er über die kurvenförmigen Redents geschrieben hat. Der Plan für den Wiederaufbau von Saint-Dié (1945), den er in L’Architecture d’aujourd’hui vorstellt, ist mehr als nur ein Anwendungsbeispiel der Kriterien der «Cité Radieuse», der «Strahlenden Stadt», und der Charte d’Athènes; er ist ein Ausdruck der visuellen Akustik –«eine Klangkomposition: Zeit und Raum, Rhythmus und Melodie».28 Nachdem er seine Werke gemäss den vier Kategorien klassifiziert hat, die er in Précisions sur un état présent de l’architecture et de l’urbanisme (1929; Feststellungen zu Architektur und Städtebau) definierte, entwickelt Le Corbusier, ebenfalls für die Zeitschrift L’Architecture d’aujourd’hui, weitere Einteilungen. Seine Zeichnung einer Folge von Muscheln mit bald verzierter, bald blanker Schale, die er immer kunstvoller plastisch ausarbeitet − «Je markanter das Relief ist, umso monochromer und gleichförmiger ist das Material», stellt er fest 29 –, steht für die biologische,

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CRÉDITS ARTISTIQUES

© ADAGP, Paris 2015 : Fernand Léger, Amédée Ozenfant, Charlotte Perriand

Pour les œuvres de Le Corbusier : © FLC/ADAGP, Paris 2015

Pour les œuvres de collaboration Le Corbusier/Pierre Jeanneret : © ADAGP, Paris 2015

Pour les œuvres de collaboration Le Corbusier/Charlotte Perriand/Pierre Jeanneret : © ADAGP, Paris 2015

© Salvatore Bertocchi

© Estate Brassai-RMN-Grand Palais

© René Burri/Magnum Photos

Pour les œuvres de Lucien Hervé : © J. Paul Getty Trust

© Succession Picasso 2015

© Willy Rizzo

© Guy Rottier

© Hans Silvester/Rapho

DEUTSCH

Pour André Steiner © Nicole Steiner-Bajolet

© Iannis Xenakis

Pour les autres artistes représentés : DR.

CRÉDITS PHOTOGRAPHIQUES

Sauf indications contraires, les œuvres figurant dans ce catalogue portent le crédit photographique suivant : © FLC/ADAGP, Paris

© 2015. Digital image, The Museum of Modern art, New York/Scala, Florence : p. 50 (ill. 1) ; p. 57 (ill. 3) ; p. 62 (ill. 2)

© Archives Charlotte Perriand : p. 84 ; p. 89 (ill. 4) ; p. 107 ; p. 108 (ill. 3) ; p. 110 (ill. 2) ; p. 114 (ill. 1, 2, 3) ; p. 116 (ill. 2, 3)

© Bauhaus Archiv, Berlin : p. 38 (ill. 7)

© Bibliothèque de Genève, Centre d’iconographie genevoise, fonds Institut Émile Jaques-Dalcroze : p. 41 (ill. 9)

© Charles Bueb : p. 197

© Chris Hellier/Science Photo Library/AKG-Images : 1re de couverture

© Collection Centre Pompidou, Mnam-CCI/Dist. RMN-GP [Georges Meguerditchian] : p. 14 ; p. 44 (ill. 1) ; p. 51 ; [Philippe Migeat] : p. 45 (ill. 5) ; [DR] : p. 108 (ill. 1) ; p. 131 (ill. 5) ; p. 139 (ill. 6) ; p. 144 ; p. 150 (ill. 2) ; p. 151 ; p. 185 ; p. 194 (ill. 4) ; p. 218 (ill. 2) ; p. 226 (ill. 1) ; p. 236 (ill. 3)

© Collection Centre Pompidou, Mnam-CCI/Bibliothèque Kandinsky : p. 99 (ill. 6, 7) ; [fonds Cardot-Joly] : p. 225 (ill. 5) ; p. 234 ; p. 235

© Collection François Barberis, Montpellier : p. 215 (ill. 5, 6, 7)

© Taisei Corporation : p. 142 (ill. 1) ; p. 146 (ill. 3)

© FLC, Paris [Jean Collas] : p. 110 (ill. 1, 3, 4) ; [Charles Gérard] : p. 35 (ill. 3) ; [Pierre Jeanneret] : p. 204-205 ; [Marcel Lombard] : p. 196 (ill. 2) ; [Marcel de Renzis] : p. 172 ; [Marcel Roux] : p. 223 (ill. 4, 5) ; [Albin Salaün] : p. 218 (ill. 1, 3) ; p. 219 ; [Louis Sciarli] : p. 222 (ill. 2) ; p. 223 (ill. 6) ; [G.E. Kidder Smith] : p. 222 (ill. 3) ; [Hans Silvester] : p. 160-161 ; [DR] : p. 44 (ill. 2) ; p. 56 (ill. 2) ; p. 59 (ill. 5, 6) ; p. 60 (ill. 1, 4) ; p. 61 (ill. 5, 6, 7, 8) ; p. 67 (ill. 4) ; p. 68-69 ; p. 70 ; p. 78 ; p. 87 (ill. 3) ; p. 97 (ill. 3, 5) ; p. 98 (ill. 1, 4) ; p. 100 (ill. 2) ; p. 101 (ill. 5) ; p. 103 (ill. 4, 5, 6) ; p. 105 (ill. 4, 5, 6, 7) ; p. 118-119 ; p. 155 (ill. 5) ; p. 158 (ill. 1, 2, 3) ; p. 159 ; p. 167 (ill. 4) ; p. 175 (ill. 3) ; p. 182 (ill. 4) ; p. 187 (ill. 4, 5) ; p. 189 (ill. 4) ; p. 191 (ill. 5, 6) ; p. 192 (ill. 3, 4) ; p. 198 (ill. 4) ; p. 199 ; p. 200 (ill. 4) ; p. 201 (ill. 5) ; p. 203 ; p. 216 (ill. 2) ; p. 217 (ill. 5) ; p. 227 (ill. 5) ; p. 237 (ill. 8) ; p. 242

© Kunstmuseum Basel : p. 47 ; p. 49 (ill. 5) ; p. 50 (ill. 2) ; p. 124 (ill. 5)

© Jan De Heer : p. 178

© Moderna Museet, Stockholm : p. 56 (ill. 1)

© Musée d’Art et d’Histoire de la ville de Genève : p. 41 (ill. 8)

© Musée d’Art moderne de Saint-Étienne Métropole, photo Yves Bresson : p. 52

© Photograph by Lucien Hervé. The Getty Research Institute, Los Angeles : p. 24 (ill. 17) ; p. 140 (ill. 8) ; p. 162 ; p. 175 (ill. 2, 4) ; p. 177 (ill. 5) ; p. 198 (ill. 3) ; p. 206 ; p. 212 ; p. 215 (ill. 2, 3, 4) ; p. 222 (ill. 1) ; p. 223 (ill. 7) ; p. 225 (ill. 4) ; p. 238

© Sotheby’s / Art Digital Studio : p. 149 (ill. 2)

© The Art Institute of Chicago : p. 37 (ill. 5)

© Collection Vitra Design Museum : p. 109 (ill. 7) ; p. 113

© Willy Rizzo : 4e de couverture

Courtesy Galerie Zlotowski, Paris : p. 149 (ill. 3)

Courtesy Hachmeister Collection, Münster : p. 55 (ill. 3)

Courtesy Collection Larock-Granoff, Paris : p. 44 (ill. 3) ; p. 63

DR : p. 17 ; p. 18 (ill. 8, 9, 10) ; p. 23 ; p. 26 ; p. 29 ; p. 30 ; p. 32 ; p. 35 (ill. 2) ; p. 38 (ill. 8) ; p. 40 ; p. 45 (ill. 4) ; p. 48 (ill. 2, 3, 4) ; p. 54 (ill. 2) ; p. 55 (ill. 4) ; p. 73 (ill. 2) ; p. 81 (ill. 2) ; p. 83 (ill. 9) ; p. 87 (ill. 4) ; p. 89 (ill. 5, 6) ; p. 106 (ill. 1) ; p. 112 ; p. 116 (ill. 1) ; p. 131 (ill. 3, 4) ; p. 133 (ill. 6, 7) ; p. 134 ; p. 137 (ill. 2, 3, 4) ; p. 139 (ill. 5) ; p. 140 (ill. 7) ; p. 142 (ill. 3) ; p. 145 (ill. 4) ; p. 146 (ill. 1) ; p. 154 (ill. 4) ; p. 165 (ill. 2) ; p. 167 (ill. 3) ; p. 181 (ill. 2, 3) ; p. 209 (ill. 2, 4) ; p. 225 (ill. 6) ; p. 226 (ill. 2)

Cet ouvrage a été composé en Conduit (Mark Van Bronkhorst, 1997), Letter Gothic (Roger Robertson, 1956) et Fakt Slab Stencil (Thomas Thiemich, 2010)

Achevé d’imprimer en avril 2015 sur les presses d’Ingoprint à Barcelone. Imprimé en Espagne Photogravure : IGS-CP, L’Isle d’Espagnac (16)

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