Ja c qu e s Her z o g Pi er re d e Me uron
T RÜ G E R I S C H E T R A N SPA R E N Z
T RĂœ G E R I S C H E T R A N S PA R E N Z Beobachtungen und Reflexionen, angeregt von einem Besuch des F a r n s w o r t h Ho u s e B r u n o Ta u t Iv a n L e o n i d o v Marcel Duchamp Mies van der Rohe Dan Graham Gerhard Richter
Ko n z e p t u n d Te x t Ja c q u e s He r z o g F o t o g r a f i e n F a r n s w o r t h Ho u s e P i e r r e d e Me u r o n
I N HA LT Einleitung 7
Glas und Spiegel 11
Architektur und Kunst zeichnen zwei unterschiedliche, ja entgegengesetzte Entwicklungslinien 13
Bruno Taut Die Stadtkrone 17
Ivan Leonidov CittĂ del Sole 21
Marcel Duchamp Le Grand Verre 27
Ludwig Mies van der Rohe Farnsworth House 35
Dan Graham Alteration to a Suburban House 65
Gerhard Richter Acht Grau 71
Mies van der Rohe, Farnsworth House, Plano, Illinois, 1945–1951 Herbst 2014
Trügerische Transparenz
EINLEITUNG Im Herbst 2014 besuchten Pierre de Meuron und ich mit einer kleinen Gruppe befreundeter Architekten und Lehrender des IIT Chicago Mies van der Rohes legendäres Farnsworth House. Im Anschluss an diesen Besuch ist dieser Essay entstanden und mit ihm die Bildauswahl. Das wahrhaftig ikonische Werk von Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969), das von 1945 bis 1951 entstand, präsentierte sich an jenem schönen Tag im Oktober in seiner ganzen kristallinen Reinheit, umgeben von jener herbstlich gefärbten Natur, welche zum anhaltenden Ruhm des Gebäudes beigetragen hat. Die Voraussetzungen konnten kaum besser sein, um auf diesen Ort einzugehen und bereichert mit einer jener Architekturerfahrungen wieder zu verlassen, die einem dann und wann widerfahren, die zwar selten sind, aber gerade deshalb so wunderbar, weil man sich gegen sie gar nicht wehren kann. An jenem Herbsttag geschah dies jedoch nicht. Im Gegenteil: Es schlichen sich Zweifel ein, je länger Pierre und ich das Gebäude betrachteten, zuerst von innen, dann wieder von aussen, Details der konstruktiven Verbindungen untersuchten, die Proportionen und vor allem die Positionierung im Grundstück und die eigenartige, „unentschiedene“ Höhe über dem Boden besprachen. Was hatte sich der Architekt überlegt? Was war ihm wichtig? Die Natur? Der Mensch? Oder bloss die Architektur? Wie funktioniert das Zusammenspiel von Mensch – Natur – Architektur hier in diesem speziellen Fall? Wie gestaltet sich dieses Dreieck der wesentlichen Wirkkräfte, das jedes Architekturprojekt ausmacht? Der Text „Trügerische Transparenz“ versucht, Transparenz als Ausdrucksmittel in Architektur und Kunst näher zu betrachten 7
Michelangelo Merisi da Caravaggio (Caravaggio), Narziss, 1597–1598 Öl auf Leinwand, 111,3 × 95 cm Galleria Nazionale d’Arte Antica di Palazzo Barberini, Rom
Trügerische Transparenz
G L A S U N D SP I E G E L Glas und Spiegel sind heute überall anzutreffen, in allen Städten der Welt. Es gibt diese Materialien in allen Schattierungen von Transparenz und Spiegelung, in allen Formen und Farben, für Büro- und Geschäftshäuser, Wohnen und Gewerbe, Industriegebäude und Flugplätze und natürlich für die verführerischen Fronten von Ladengeschäften und Shopping Malls. Glas und Spiegel sind alltäglich geworden, unspezifisch, ja banal. Sie haben ihre Ausstrahlung und die magische Wirkung von einst verloren. Glas hatte aber seit Urzeiten und bis vor nicht allzu langer Zeit eine magische Wirkung. Ungläubig fragte sich der Mensch: Wie ist es möglich, ein Material herzustellen, das zugleich unsichtbar oder kaum sichtbar und dennoch physisch vorhanden ist? Wie kann eine Fläche oder gar ein Volumen durchsichtig sein und fest, ohne zu schmelzen wie Eis? Wieso spiegelt sich gar das eigene Gesicht auf der Glasoberfläche? In noch früherer Zeit konnte man sich selbst doch lediglich in der spiegelnden Wasseroberfläche eines Sees oder einer Pfütze ins Gesicht schauen!
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Mies van der Rohe, Farnsworth House, Plano, Illinois, 1945–1951 Frühling 2016
Trügerische Transparenz
LU D W I G M I E S VA N D E R R O H E FA R N S WO RT H H O U S E Mehr noch als es heute erfahrbar ist, war die Landschaft um das Farnsworth House in den späten 1940er-Jahren eine wilde, romantische und einsame Gegend mit einem nahen Fluss, dessen Hochwasser den Ort immer mal wieder überflutete. Heute überbrückt eine Strasse ganz in der Nähe des Hauses den Fluss, und ausserdem gibt es diverse Zubauten des späteren Eigentümers, Lord Palumbo, die den Ort alltagstauglicher machen. Noch immer ist es aber ein abgelegener und einsamer Ort in einem Wald. Ein Wochenendhaus, für eine alleinstehende Person, eine Frau, eine Ärztin aus Chicago: Was für ein Haus sollte das werden? Hier der Versuch einer spontanen, hypothetischen Auslegeordnung: ein Haus als Zufluchtsort, das Schutz bietet gegen aussen, mit einer Privatsphäre im Innern. Das Haus müsste also unterteilbar sein oder zumindest einen kleinen Rückzugsort irgendwo im Hausinnern haben. Der Blick sollte ungehindert von innen nach aussen gelangen, von aussen nach innen hingegen sollte optimaler Sichtschutz gegeben sein. Das Haus sollte eins sein mit der Natur, Ausdruck des spezifischen Klimas, des Lichts und des Wetters an diesem Ort. Es könnte in der Natur verschwinden, wie ein getarntes Objekt, wodurch es etwas Bescheidenes erhielte, das den Autor/Architekten und die Zeit, in der es gebaut wurde, nicht verrät, oder jedenfalls nicht unmittelbar preisgibt. Vielleicht wäre es sogar aus den Materialien vor Ort gebaut? Es sollte ein „gemütliches“ Haus sein, gemütlich, weil es mit einer gewissen Nonchalance daherkommt und deshalb auch zu ungezwungenem Verweilen einlädt mit einem Raum, der flexibel gestalt- und nutzbar sein sollte, wo die Anordnung und die Auswahl der Möbel nicht nach festem Drehbuch, sondern nach den 35
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Gerhard Richter, Acht Grau, 2002 Grau emailliertes Glas und Stahl, je 500 × 270 × 50 cm (W 878/1–8) Installationsansicht (Deutsche Guggenheim Berlin, 11. Oktober 2002 – 5. Januar 2003)
Trügerische Transparenz
G E R HA R D R I C H T E R AC H T G R AU Unsere Betrachtungen von ausgesuchten künstlerischen und architektonischen Positionen legen ein spezielles Augenmerk auf „Treacherous Transparencies“, das in deutscher Sprache am ehesten „trügerische Transparenz“, „täuschende Klarheit“ oder „scheinbarer Durchblick” meint. Natürlich lässt sich kein künstlerisches oder architektonisches Werk, das wir hier beleuchten, durch „Trügerische Transparenz“ gültig oder gar abgeschlossen beurteilen. Auch nicht das Werk von Gerhard Richter (geb. 1932). Und doch ist der Titel „Trügerische Transparenz“ – obwohl zunächst keineswegs auf Gerhard Richters Acht Grau zielend – hier besonders angemessen. Richters Arbeit faszinierte uns schon sehr früh, gerade wegen ihrer Ambivalenz, wegen ihrer fragenden, suchenden, zugleich aber auch traditionellen Haltung. Richter ist Maler. Am Anfang seiner Karriere – in den 1960er-Jahren – konnte er aber nicht einfach drauf los malen, sondern er musste zuerst einen neuen Weg finden, um malen zu können, wie auch andere Künstler zu jener Zeit. Malerei war eigentlich tabu. Unserer Architektengeneration ging es in den 1970er- und zu Beginn der 1980er-Jahre nicht anders. Architektur zu machen, war eigentlich tabu: Die architektonische Moderne war in ihrem Anspruch, eine universelle Sprache zu etablieren, welche die unterschiedlichen Bedingungen und Anforderungen dieser Welt ausdrückt, gescheitert. Ebenso gab es in der Malerei immer wieder Versuche, Malerei abzuschaffen oder „letzte Bilder“ zu ma71
IMPRESSUM Herausgegeber: IITAC Press College of Architecture 3360, South State Street Chicago, IL 60616-3793, USA Tel. +1 312 567 3230 www.arch.iit.edu Actar Publishers 355, Lexington Avenue, 8th Floor New York, NY 10017, USA Phone +1 212 966 2207 salesnewyork@actar-d.com eurosales@actar-d.com www.actar.com Konzept und Text: Jacques Herzog Fotografien Farnsworth House: Pierre de Meuron Gestaltung und Recherche: Jacques Herzog, Donald Mak, Stefanie Manthey Lektorat (Text Jacques Herzog): Catherine Hürzeler Übersetzung: Tarcisius Schelbert Deutsches Korrektorat: Anja Breloh Lektorat: Moisés Puente Bildbearbeitung: Ricardo Devesa Design: Edwin van Gelder (Mainstudio) und Ramon Prat (Actar) Druck: Unicum, Tilburg, Niederlande
Illinois Institute of Technology Präsident des MCHAP und Dekan der Architekturfakultät: Wiel Arets Direktor des MCHAP: Dirk S. Denison Verlagsdirektor: Daniel O’Connell MCHAP-Koordinator: Sasha Zanko IITAC Press-Herausgeber: Lluís Ortega Direktor für Forschung: Vedran Mimica © Publikation, IITAC und Actar, 2016 © Texte, bei den Autoren © Bilder, bei den Autoren Urheberrechtlich geschützt Printed in The Netherlands ISBN 978-1-945150-12-8 Ein CIP-Katalogdatensatz für diese Publikation ist erhältlich bei der Library of Congress, Washington, D. C., USA
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