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Neue Wege in der Mission finden
Adventgeschichte
Ein bleibendes Vermächtnis von John Nevis Andrews
Vor genau 145 Jahren wurde die erste Missionarsfamilie offiziell aus den USA nach Europa geschickt. Seitdem haben Tausende den Komfort und die Vertrautheit ihrer Heimat verlassen, den Kulturschock überwunden und auf der ganzen Welt gewirkt. Und sie gehen immer noch! – Die Redaktion A ls der geschätzte Pionier unserer Kirche, John Andrews, im September 1874 New York verließ, um mit seiner 13-jährigen Tochter Mary und seinem 16-jährigen Sohn Charles in die Schweiz zu reisen, begann für die Adventgemeinde eine neue Ära, die Ära der weltweiten Mission. Diesen Rubikon zu überschreiten, war keine leichte Entscheidung gewesen. Die Kirchenleiter überlegten über ein Jahr lang hin und her, ob Mission außerhalb der USA notwendig sei, bevor sie sich entschieden voranzugehen.
Andrews war ein wertvoller Mitarbeiter von James White, so ähnlich wie Philipp Melanchthon für Martin Luther. Er war der wissenschaftliche „Systematiker“ der adventistischen Theologie. War er überhaupt entbehrlich? Andererseits sah James White Andrews infolge seines schlechten Gesundheitszustands manchmal als Konkurrent für seine eigene Leitung. War der Witwer Andrews wirklich die beste Person, die man schicken konnte, selbst wenn er Französisch lesen konnte?
George Butler, Präsident der Generalkonferenz, trug mit zur Entscheidungsfindung bei, und die Abreise von Andrews läutete einen strahlend neuen Morgen für unsere Kirche ein, auch wenn dieser neue Morgen noch oft von Nebel und Wolken verdunkelt wurde. Es gab gesundheitliche und finanzielle Probleme und zahlreiche kulturelle Missverständnisse.
Unbe darft im Ausland
Andrews hatte erwartet, dass sich einige Dinge automatisch ergeben würden, sobald er in dem charmanten Schweizer Städtchen Neuenburg ankam, das sein Wohnort in seinem neuen Leben als Missionar werden sollte. Der Plan sah vor, dass die verstreut lebenden Sabbathalter, die ein Jahrzehnt zuvor durch die Arbeit des unabhängigen Predigers Michael Czechowski zum Adventglauben gekommen waren, als Helfer bei der evangelistischen Arbeit dienen und das ganze Unternehmen finanzieren sollten.
Andrews selbst erhielt kein Gehalt von der Generalkonferenz; seine Aufgabe war es, rasch neue Adventgläubige zu gewinnen, die sein Gehalt zahlen würden. Das unmittelbar angestrebte Ziel bestand darin, selbstunterhaltend zu werden.
Die Kirche bezahlte für seine Passage über den Atlantik, aber die Kosten für die Überfahrt seiner Kinder und den Transport seiner Bücher und persönlichen Gegenstände musste Andrews selbst tragen. Es gab damals in unserer Kirche noch keine Richtlinien für die Sendung von Missionaren. Andrews musste tief in die eigene Tasche greifen, um zu überleben.
Bei seiner Ankunft fand Andrews die Dinge ganz anders vor, als er erhofft und erwartet hatte. Schon nach wenigen Tagen setzte ein Kulturschock ein, der ihn wie ein kalter Windstoß fast umblies. Die einheimischen Mitarbeiter, auf die er sich verlassen hatte, gab es nicht, und die sabbathaltenden Familien
hatten selbst große finanzielle Probleme. Die Finanzierung eines Gehalts würde nicht einfach werden.
Und es gab noch so viele andere Dinge, die ganz anders waren: das Essen, die Badezimmer und Toiletten, Haushaltsgegenstände und auch die örtlichen Gepflogenheiten. Seiner Meinung nach waren die USA so viel „besser“ als Europa, so viel fortschrittlicher – und nicht immer behielt er diese Meinung für sich. Er wusste damals natürlich nicht, dass es sich um einen „Kulturschock“ handelte, aber wie für jeden Missionar, der ihm seit 1874 gefolgt ist, bestand darin seine erste Herausforderung. Es dauerte Monate, bis Andrews begriff, dass Unterschiede genau das waren: Unterschiede; nicht besser oder schlechter, sondern einfach anders.
Unve rblümte Aussage n
Eine wichtige Anpassung, die Andrews schon bald vornehmen musste, betraf seine Vorliebe für eine „unverblümte Sprache“. Diese in Neuengland tief verwurzelte Gewohnheit, war von seinen Mentoren James und Ellen White in ihm noch gefördert worden. In dieser Art der Kommunikation werden Ehrlichkeit und Offenheit mehr geschätzt als diplomatische Feinheiten. Bei den Schweizer Gläubigen kam diese unverblümte Sprache nicht gut an. Sie hielten Andrews für unfreundlich, unsensibel und feindselig. Es dauerte einige Zeit, bis Andrews die sozialen Treffen der Adventisten im Stil von Erweckungsveranstaltungen mit ihrem ausgeprägten emotionalen Zugang zur religiösen Erfahrung angepasst hatte und bis die Schweizer Adventgläubigen sie zu schätzen wussten.
Die Sprache der Einheimischen zu lernen, hatte für Andrews hohe Priorität. Er konnte recht gut Französisch lesen, wenn auch ziemlich langsam. Fließend Französisch zu sprechen, war jedoch noch einmal etwas ganz anderes. Er musste sprechen lernen. Die einheimischen Sabbathalter sprachen schnell und zogen die Wörter in einem „leisen, undeutlichen Ton“ zusammen. Andrews konnte sie nicht verstehen und fühlte sich hilflos. Er erlebte in seinem Ringen um das Erlernen der Sprache schmerzliche Frustration. Im Alter von 45 Jahren wollten seine Zunge und sein Gaumen die Töne einfach nicht so herausbringen, wie er es in seinem Gehirn beabsichtigte.
Glücklicherweise lernten seine Kinder mit ihren viel geschmeidigeren Gehirnstrukturen die Sprache leichter. Es dauerte drei Jahre hartnäckiger Entschlossenheit, bis Andrews die französische Sprache so weit meisterte, dass er öffentlich predigen konnte, ohne sich zu blamieren. Er lernte auch, sich in gebrochenem Deutsch zu unterhalten, aber zum Predigen brauchte er immer einen Dolmetscher. Der Sprachspezialist Pietro Copiz hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass sich um die angeblichen Sprachkenntnisse von Andrews im Laufe der Jahre einige Mythen gerankt haben. Er war nicht wirklich ein großes Sprachentalent. Aber er war absolut entschlossen zu lernen, was er brauchte, um in der Mission erfolgreich zu sein.
Mit entschiedener Beharrlichkeit meisterte Andrews schließlich die Feinheiten des geschriebenen Französisch so gut, dass er eine qualitativ hochwertige evangelistische Monatszeitschrift mit dem Titel Les Signes des Temps (Zeichen der Zeit) herausgeben konnte. Durch Versuch und Irrtum konnte man endlich auch das Geheimnis des ungewohnten, komplizierten Postsystems lüften, und schließlich gelangte die Zeitschrift über Landes- und kulturelle Grenzen hinweg in französischsprachige Haushalte in ganz Europa und in Teilen der Welt, in die sich Evangelisten nicht wagen konnten.
Andrews fand heraus, dass Evangelisation im amerikanischen Stil in Europa einfach nicht gut funktionierte. In jeder neuen Ortschaft mussten Prediger eine staatliche Genehmigung beantragen. Versammlungszelte waren nicht sicher genug und auch sonst ungeeignet. Hallen waren teuer, und kleine Dörfer mit starker Dorfgemeinschaft und enger Verbindung zwischen Kirche und Staat standen einer Religion, die aus den USA kam, kulturell ablehnend gegenüber.
Es dauerte einige Zeit, bis die Leiter in Battle Creek einsahen, dass die Dinge so ganz anders sein konnten. Bis es soweit war, stieß Andrews auf Unverständnis und sah sich eine Zeit lang mit Misstrauen und Vertrauensverlust vonseiten der leitenden Brüder konfrontiert. Erst als sie von Battle Creek nach Europa kamen, um sich selbst ein Bild zu machen, erkannten sie, warum Wachstum so lange brauchen konnte und dass Mission an die im Gastland herrschenden kulturellen Gegebenheiten und Lebensumstände angepasst werden musste.
Das gröSSere Vermächt nis
John Andrews war ein begnadeter Gelehrter. Seine ausgesprochen wirksame Verteidigung des biblischen Sabbats in seinem Klassiker History of the Sabbath aus dem Jahr 1861 wurde von Pastoren und Evangelisten ebenso hochgeschätzt wie seine Schriften über andere charakteristische adventistische Lehren.
Auch mit seiner Rolle als Präsident der Generalkonferenz während der Erkrankung von James White und durch sein Wirken als Herausgeber des Advent Review und Sabbath Herald in schwierigen Zeiten leistete Andrews einen bleibenden Beitrag.
Aber sein bemerkenswertestes Vermächtnis hinterließ er in der Feuerprobe im Zusammenhang mit den ersten Bestrebungen unserer Kirche in Übersee. Andrews lernte in der Mission erfolgreich zu sein, indem er immer wieder neue Versuche unternahm, und indem er lernte, sich an andere Kulturen anzupassen. Und indem er lernte, half er auch der Kirche zu lernen. Im Laufe der Zeit machte ein angemessenes Regelwerk von Richtlinien das Leben für Missionare finanziell leichter. Neue Wege für die Mission zu finden, war ein Beitrag, für den unsere Kirche Andrews – unserem ersten offiziellen ausländischen Evangelisten – immer zu Dank verpflichtet sein wird.
Dr. Gilbert M. Valentine ist Professor und Leiter der Fakultät für Verwaltung und Leadership an der La Sierra University in den USA. Vor kurzem wurde seine Biographie von John Nevins Andrews beim adventistischen Verlag Pacific Press veröffentlicht, die ein neues Licht auf diesen wichtigen Pionier unserer Kirche wirft.