Geteilte Beobachtungen: ensemble | zusammen

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Geteilte Beobachtungen

Wie wirkt sich die Coronavirus-Pandemie auf konkrete Lebensverhältnisse weltweit aus? Wie wirkt das Globale im Lokalen? Unter dem Titel Geteilte Beobachtungen versammelt die Akademie der Künste der Welt (ADKDW) in Kooperation mit dem Kölner Stadt-Anzeiger Texte von Mitgliedern der ADKDW zur weltweiten Situation seit Frühjahr 2020. Die ADKDW ist eine in Köln ansässige gemeinnützige Kultureinrichtung, die sich jenseits der eurozentristischen Doktrinen der Kulturgeschichte bewegt. Sie initiiert, produziert und organisiert Veranstaltungen in unterschiedlichen künstlerischen und diskursiven Sparten. Die Mitglieder – nationale und internationale Künstler*innen, Kurator*innen, Autor*innen und Wissenschaftler*innen – fungieren als Think-Tank und geben den Orientierungsrahmen für das künstlerische Programm der ADKDW.

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ensemble | zusammen Text: MONIKA GINTERSDORFER

Monika Gintersdorfer mit Gregor Zoch am Flughafen Tegel, Foto: Knut Klaßen

Die Tanz- und Theatergruppe La Fleur entwickelte dieses Jahr ein Stück, das sich mit der Verbindung von sex work, tödlicher Krankheit sowie nationalen und Gendergrenzen beschäftigte. Wir, ein 15-köpfiges transnationales Team, setzten dafür Emile Zolas Nana, Virginie Despentes‘ Les jolies choses und Paul B. Preciados Un appartement sur Uranus in Verbindung und nannten die Aufführung Nana kriegt keine Pocken. Anfang März 2020 haben wir uns nach einer Vorstellungsserie in Paris müde und eher glücklich getrennt und jede*r ist ‚heim‘gefahren. Einige mussten dafür nur die nächste Metro nehmen, andere wiederum bestiegen die Flugzeuge nach Abidjan, Berlin, Bremen, Wien, New York, L.A. und Mexiko City. Wir verabschiedeten uns also – bisou bisou La Fleur – und waren nicht allzu traurig, weil wir vier Wochen später in Bremen die nächsten Nanas spielen sollten. Was dann passiert ist: Absage der Vorstellungsdaten, Ausgangsbeschränkung und Reisestopp. Die Folgen: Aufenthaltsgenehmigungen können nicht rechtzeitig verlängert werden, sie

verfallen genauso wie die schon gebuchten Flüge zu den Vorstellungen. Einfach puff: Einige von uns sind seit April papier- und arbeitslos zugleich. Wo ist die transnationale Gruppe jetzt, die wir seit vier Jahren aufgebaut haben? Sie zerschellt gerade an den national gedachten Regelungen, die sich überall

MONIKA GINTERSDORFER ist Theaterregisseurin. Sie ist Gründungsmitglied der Perfomancekollektive Gintersdorfer/Klaßen und LA FLEUR, deren Arbeit sich sich an der Grenze von Drama und Tanz, Club und Theater, Europa und Afrika bewegt. Die Arbeiten wurden bereits in in über 25 Ländern präsentiert und mit zahlreichen Preisen und Förderungen ausgezeichnet. Foto: Monika Gintersdorfer

zumindest temporär durchsetzen. Die CoronaBestimmungen machen uns unsere Abhängigkeiten und die Fragilität unserer Verhältnisse abermals so richtig bewusst. Wir sind darin geübt, Restriktionen auszuhalten, manche Visa und titre de séjour haben wir nicht rechtzeitig bekommen und mussten die enttäuschten Fehlenden umbesetzen. Nur: Da traf es eine*n oder zwei, nicht alle gleichzeitig. Wenn wir in absehbarer Zeit nicht mehr reisen können, dann fällt das Leben zwischen den Kontinenten zusammen, Kern unserer Arbeit und mittlerweile auch unseres künstlerischen und persönlichen Selbstverständnisses ist. Eine unangenehme Vision, die das Konstrukt, auf dem nicht nur die einzelnen Künstler*innen, sondern auch ihre Familien und Wahlfamilien, ihre Liebesbeziehungen und finanziellen Absicherungen beruhen, zerplatzen lässt. Eine Rückkehr in eine lokale Existenz ist ein Albtraum für uns, wir wollen die transnationale Arbeit fortsetzen, um einer eurozentrischen Welt- und Kulturauffassung etwas Vielstimmiges entgegenzusetzen – nicht nur in der


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Monika Gintersdorfer mit Gregor Zoch am Flughafen Tegel, Foto: Knut Klaßen

Theorie, sondern in jedem Moment unseres Zusammenseins. Wir sind ein Ensemble, ein Ensemble ohne festen Spielort. Niemand ist für uns verantwortlich, keine Stadt, keine Institution. Wir können nur zusammen sein, wenn wir reisen dürfen und wir können nur reisen, wenn wir Arbeit haben und die Grenzen offen sind. Mein Text hört sich bisher wie ein Manifest an, aber so ist wohl mein Lebensstil, manifestartig. Dahinter steckt schon etwas Persönliches: Sehnsucht nach Abwesenden, vielleicht altersbedingte Panikattacken im Halbschlaf, mütterlich-künstlerische Zärtlichkeit für unsere Sache und Lust, noch mal etwas zu reißen, das heißt nicht genau so weiterzumachen, sondern auf eine nächste Stufe zu kommen. Aber eigentlich gibt’s diese Stufe nicht für ein freies transnationales Ensemble. Man muss sie erst erfinden, damit man dorthin kann. In Corona-Zeiten siegt das Formelle und Konforme: Die Verheirateten, die Angestellten, die Steuerzahler*innen, die in Deutschland Gemeldeten, die KSK-Mitglieder können erfasst und damit im besten Falle auch unterstützt werden. Für viele von ihnen immer noch schwierig, aber was ist erst mit denen, die dazwischenliegen, die Doppel- und Dreifachidentitäten ohne ablesbaren Status, die Nichtkategorisierbaren. Sie haben eine Zweitwohnung auf Planet Uranus, wie Paul B. Preciado sagt, denn es gibt keinen Ort weltweit, der nicht rassistisch, sexistisch, homophob ist. Man könnte noch ‚faschistisch‘ und ‚kapitalistisch‘ hinzufügen, verändert sich das gerade? Ohne allerheftigstes Engagement wohl kaum. Paul B. Preciado ist in unseren Köpfen, sein neuestes Buch Un appartement sur Uranus haben wir gemeinsam für Nana auf drei Sprachen gelesen, bevor es eine deutsche Übersetzung gab. Und wie nah ist Preciado uns gekommen mit seiner Kritik der Grenzregime, der nationalen und der

Gendergrenzen. Der Performer Alex Cephus war froh, New York für ein paar Monate entkommen zu sein, für einen Schwarzen queeren Mann, eine butch queen, ist New York in Trumps USA kein guter Ort mehr. Und jetzt ist Alex wieder in New York, in Brooklyn. Und die Pointe: Es gibt keinen Ort, der sicher vor Corona ist, aber es gibt Orte, die besser sind als andere. Alex wollte schnell zurückkommen und jetzt muss ich ihm sagen, dass auch unsere für den Herbst geplante Arbeit auf 2021 verschoben ist. 2021 wird ein großes Jahr für uns, so viel ist schon dorthin verschoben worden. Es fällt mir oft schwer aufzustehen, das Jahr 2020 – verschieben wir es auf später! Wenn es doch nur einen Sommerschlaf gäbe, drei Monate durchpennen und den ganzen Speck verlieren. Und dann kommt Mitte Mai doch Bewegung in die Szene, fast zeitgleich erhalten wir Anfragen für Outdoor-Performances im Juni und Juli 2020 vor den Theatern, da das Außen machbarer ist als das Innen. Es wäre unsere erste praktische Arbeit seit Anfang März. Wir überlegen, wie wir die Performer*innen beider Gruppen von Gintersdorfer | Klaßen und La Fleur, die nicht reisen können, mit Rechercheaufgaben und Liveschaltungen an unseren Performances beteiligen. Wir sind gegen eine Digitalisierung unserer Arbeit, wir wollen im öffentlichen Raum sein, aber wir wollen nicht, dass nur der in Europa anwesende Teil der Gruppe dabei sein kann und von den Jobs profitiert. Nach Nana reiste Arturo Lugo im März nicht wie die anderen back home, er blieb noch sechs Wochen bei seinem Freund in Berlin, dann zurück nach Mexico City, um die Schwierigkeiten, die eine auch noch so kurze Überschreitung bereitet, zu vermeiden. Er hatte sich schon einmal eine zweijährige EU-Sperre eingefangen. Wenn der Flug abgesagt worden wäre, hätte diesmal die

Schuld nicht bei ihm gelegen. Aber der Flug fand statt, danach machte er Quarantäne in trauriger Stimmung. Vorher gab er mir diesen Text:

„El deseo de conectarme con otra personas depende de mi decisión, practica y ejercicio de encontrarme con una diversidad de cuerpos y aprender de su aporte cultural y su reflexion multicultural para organizarnos juntos en un tejidos sociales fuerte y creativo: estar en constante tránsito.“ Das Begehren, mich mit anderen Personen zu verbinden, hängt von meiner Entscheidung, meiner Praxis ab. Ich möchte mich mit einer Diversität von Körpern treffen und von ihrer kulturellen Praxis lernen, damit wir uns zusammen in starken sozialen Verflechtungen organisieren: in ständiger Transition sein. „Desde hace dos años, realcionado a mi problema con la restricción de entrada a la EU, considero de suma importancia defender nuestras afectividades ante un sistema opresor que maneja nuestros cuerpos bajos sus legalidades, esté sistema hace que el amor , la amistad, el cariño , la empatía y el deseo de estar juntos como cuerpos se vea afectado con sus políticas que nos sistematizan y violentan.“ Zwei Jahren lang hatte ich ein Einreiseverbot in die EU, seitdem halte ich es für das Wichtigste, unsere Zuneigungen, unsere Lieben vor einem unterdrückerischen System zu verteidigen, das unsere Körper unter ihre Legalitätsbestimmungen bringt. Dieses System macht, dass die Liebe, die Freundschaft, die Zärtlichkeit, die Empathie und das Begehren, als Körper zusammen zu sein, von Politiken bestimmt werden, die uns systematisieren und uns Gewalt antun.


Geteilte Beobachtungen

Annick Agbadou und Franck E. Yao in der Elfenbeinküste und Chris und Lydia in Kinshasa halten uns auf dem Laufenden über ihre Wahrnehmungen dort: Franck mit einer Malaria und nicht aufgrund von Corona im Krankenhaus, Lydia hat in Kinshasa nur einmal kollektiven Zorn bemerkt, als es hieß, neue Impfstoffe sollten an afrikanischen Personen getestet werden. Die Kontaktsperre ist gerade bis zum 26. Mai verlängert worden. Annick experimentiert gerade mit einer Hausproduktion von leckerem Dégué, ein Joghurt-HirseCouscous, um sich ein kleines Einkommen zu sichern. Die Bars sollen bald wieder aufmachen, bis dahin möchte sie einen neuen Song für Liveauftritte haben. Gut zu wissen, denn in Europa lese ich oft Horrorartikel wie „Corona – Afrika am Rande des Abgrundes“, ganz in der europäischen Tradition, sich Afrika als einheitliches Katastrophengebiet vorzustellen. Da sind wieder die Kategorisierungen, die wir loswerden wollen. Mittlerweile gibt es einen Diskurs darüber: Lesen Sie Felwine Sarr, der sich an Afrikaner*innen richtet, wenn er schreibt, dass es eine Chance bei Corona ist, Europa als Utopie zu verbannen und „innerlich eine Präsenz zu entwickeln und diese sich offenbaren zu lassen, was gewöhnlich abgewürgt wird durch Hyperaktivität und den Lärm draußen. Wir hatten die Begegnung mit uns selbst aufgeschoben.“ ANO Ghana, eine Kunstinstitution in Accra, schreibt: „We have been trying to determine at ANO how we can best contribute to these unprecedented times. In 2018, we did our first tour of the country, meeting people from all walks of life asking them what culture is to them. Many of them spoke of our traditions, our herbs, our ways of knowing that had been cultivated for years, but are now largely disregarded, and have not been contemporised. When we spoke with Knowledge Keepers during this crisis, they spoke of two approaches, one being the importance of self-reliance, of people growing their own food, whether it be in small boxes, or gallons on the side of the road, they stressed again and again the importance of building our immune systems through what we eat. Secondly they spoke of the importance of plant medicine & holistic wellness, which have been used for

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centuries to treat illnesses, viruses & build the immune system. In countries like Madagascar and Zimbabwe, traditional healers have been called on to treat symptoms & find solutions alongside doctors and scientists. Over the coming weeks and months at ANO, we will do our best to draw on local wisdom & knowledge and make this as accessible as possible.“ Wir bei ANO haben versucht zu ermitteln, wie wir am besten etwas beitragen können in diesen beispiellosen Zeiten. 2018 unternahmen wir unsere erste Reise durchs Land und trafen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, um sie zu fragen, was Kultur für sie bedeutet. Viele von ihnen sprachen von unseren Traditionen, unseren Kräutern, unseren Formen des Wissens, die wir seit vielen Jahren gepflegt hatten, aber heute weitgehend ignoriert und nicht vergegenwärtigt werden. Als wir während dieser Krise mit Knowledge Keepers sprachen, führten sie zwei Ansätze aus: Einerseits geht es um die Bedeutung der Eigenständigkeit, der Selbstversorgung, um Menschen, die ihre eigenen Lebensmittel anbauen, sei es in kleinen oder großen Mengen, sie betonten immer und immer wieder die Bedeutung der Stärkung unseres Immunsystems durch unser Essen. Andererseits sprachen sie über die Wichtigkeit der Pflanzenmedizin und einer ganzheitlichen Gesundheit, die schon seit Jahrhunderten zur Behandlung von Krankheiten, Viren und zur Stärkung des Immunsystems eingesetzt werden. In Ländern wir Madagaskar und Simbabwe wurden stets traditionelle Heilende neben Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen aufgesucht, um Symptome zu behandeln und Lösungen zu finden. In den kommenden Wochen und Monaten werden wir bei ANO unser Bestes tun, um Weisheit und Wissen der Einheimischen nutzbar und so zugänglich wie möglich zu machen. Und La Fleur? Wir rufen uns an, gratulieren uns zum Geburtstag, geben uns Sprachklassen am Telefon, Bewegungsklassen per Video, wir möchten bald wieder zusammenkommen an einem Ort, an dem wir die Rastlosigkeit loswerden und ein Ensemble sein können.


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