978 3 86906 597 7 leseprobe issuu

Page 1



Allitera Verlag


edition monacensia Herausgeber: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek Dr. Elisabeth Tworek


Oskar Maria Graf

Einer gegen alle Roman Text der Erstausgabe von 1932

Nachwort von Ulrich Dittmann

Allitera Verlag


Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

April 2014 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München Copyright © by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Deutsche Erstausgabe 1932 erschienen im Verlag Universitas, Berlin © 2014 für diese Ausgabe: Landeshauptstadt München/Kulturreferat Münchner Stadtbibliothek Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek Leitung: Dr. Elisabeth Tworek und Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Dietlind Pedarnig / Alexander Strathern nach dem Siebdruck von Peter Angermann »Der Deserteur« (1983) © Peter Angermann Herstellung: BoD – Books on Demand Printed in Germany · isbn 978-3-86906-597-7


Inhalt I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 VI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 VII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 VIII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 IX. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 X. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 XI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 XII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 XIII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 XIV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 XV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 XVI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 XVII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 XVIII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172



»Die Zeit ist über mich hingegangen; ich weiß nicht mehr, wo ich zu Hause bin.« Strindberg: »Gustav Wasa«, 1. Akt



I.

A

m ersten Mai 1919 frühmorgens kroch der Mann, von dem hier die Rede sein wird, aus einer Torfhütte im Dachauer Moos und schnupperte wie ein Hund in die regenverschleierte Luft. Dumpf und lang donnerten mitunter Kanonenschüsse in der Ferne, und ab und zu konnte man auch dünnes Maschinengewehrgeknatter vernehmen. Die Regierungstruppen kämpften in und um München mit den weichenden Räterepublikanern. Der Mann schien weiter kein Interesse an diesen Geschehnissen zu haben. Er lauschte nicht einmal sonderlich, und sein rotes, stoppelbärtiges, mulattenähnliches Gesicht mit den lefzig aufgeworfenen Lippen blieb völlig gleichgültig. Es war nicht anzunehmen, daß der Mann ein flüchtiger Räterepublikaner sei, viel eher vermutete man in ihm einen gewohnheitsmäßigen Walzbruder, den der pure Zufall hierher verschlagen hatte. Er war ziemlich groß, sah zwar gar nicht ausgehungert, aber sehr verwahrlost aus und hatte ungewöhnlich breite Schultern, wodurch seine Gestalt etwas Viereckiges, grobschlächtig Mächtiges bekam. In seinem Gesicht steckten zwei sonderbar kleine graue, ein wenig stechende Augen, sein kurzes, borstiges Haar war blond, riesige Hände und Füße hatte er und trug einen abgewetzten, verschlampten, schmutzigen Manchesteranzug. Es schüttelte ihn ein paarmal fröstelnd, so ungefähr wie einen naßgeregneten, erwachenden Vogel. Er reckte und streckte sich gähnend, wippte mit seinen Füßen prüfend auf dem nachgiebigen Torfboden hin und her, schlug endlich die dürren Binsen- und Heureste von seinem Anzug und schaute eine Weile griesgrämig in die trostlose, verlassene Gegend. Vom Hüttendach herab fielen schwere, dicke Tropfen auf seinen unbedeckten Kopf und rannen als dünne Rieselbäche aus dem Haar über die Stirn. »Mistwetter verdammtes!« knurrte er ärgerlich und hing dieser Feststellung etliche Flüche an. Er fuhr mit der Hand über die Stirn und wischte die Nässe weg. Alsdann tappte er wieder in die Hütte 9


zurück und baute sich aus einem alten Brett und Torfstücken eine Art Bank unter der Tür. Er zog einen offenen, zerschlissenen Rucksack aus dem Dunkel, nahm eine große Wurst und ein Trumm Kommißbrot daraus, hockte sich hin und fing gemächlich zu essen an. Während er abwechselnd einen Bissen Brot oder Wurst zerkaute, las er aus einem zerknitterten Zeitungsblatt unter anderen kleinen Lokalnachrichten dies: »Bestrafte Eisenbahnmarder. Ingolstadt, 24. April. – Gestern nacht bemerkte das Wachtpersonal des Lebensmittelzuges, den die Reichsregierung für die Münchener Bevölkerung nach Aufhebung der Räteherrschaft bestimmt hat, zwei unbekannte Männer, welche eben aus einem Waggon in den davorliegenden stiegen. In diesem Waggon befanden sich hauptsächlich Wurst- und Fleischwaren, und es war kein Zweifel, daß es sich bei den zwei Verdächtigen um Diebe handelte. Das Personal nahm sofort die Verfolgung auf und gab Schüsse ab. Kurz darauf sprangen die zwei Männer aus dem in voller Fahrt befindlichen Zug, den man leider nicht gleich zum Halten bringen konnte. Nach eiligem Absuchen der Strecke und der Böschung machten die dem Zug zubeorderten Reichswehrsoldaten eine gräßliche Entdeckung. Ungefähr zweihundert Meter von der Stelle, an welcher der Zug stand, lagen zwei abgefahrene Beine und auf halber Höhe der ziemlich steil abfallenden, felsigen Böschung fand man die fast unkenntliche, zerfetzte Leiche des einen der Diebe. Wieder weiter unterhalb lag ein Rucksack, der außer vier Dauerwürsten nur ein Paar gänzlich durchgelaufene Militärschuhe enthielt. Die gründliche Durchsuchung der Kleidung des unbekannten Toten förderte weiter nichts zutage als einen etwa fingerlangen Bleistift, neunzig Pfennige Metallgeld und ein blaugeblumtes Schnupftuch. Von dem anderen Dieb fehlt jede Spur. Sachdienliche Mitteilungen an die Eisenbahndirektion Ingolstadt oder an die zuständige Polizei.« Der Vagabund schaute einige Sekunden dösig vor sich hin und verzog seine Mundwinkel ein wenig. Er zerknüllte das Zeitungsblatt und warf es ins Hütteninnere. Der Tag bleichte mehr und mehr aus und ließ den Torfstich noch trister erscheinen. Da und dort trillerte ein 10


Vogel im zwergigen Gebüsch, mit dem leisen Regenrieseln vermischte sich das plätschernde Rauschen des Gröbenbaches, und immer und immer wieder erdröhnte das ferne Donnern. Als der Vagabund jetzt wiederum die dicke Wurst in sein breites Maul steckte und abbiß, vernahm er plötzlich irgendein anderes Geräusch und hob, im Kauen innehaltend, das Gesicht. Drüben, rechter Hand von der seinigen, schlüpfte ein kleiner Mensch in hellem Sportanzug aus einer schiefen Torfhütte, hielt erschreckt inne, verharrte zögernd in seiner kriechenden Stellung und sah kläglich, ja fast bitthaft auf seinen geruhig beobachtenden Nachbarn. Er wagte nicht aufzustehen, war angstblaß bis auf die Lippen und schaute. »Guten Morgen«, sagte der Vagabund endlich und fing wieder zu kauen an: »Ausgeschlafen, ja?« »Gu – guten Morgen! We – wer bist du denn?« stotterte der andere hastig und richtete sich in die Höhe. Verstört war sein hageres Gesicht, zerlegen und voller Dreck sein Anzug, unruhig flimmerten seine dunklen Augen hinter den hervortretenden Backenknochen. Er stand sprungbereit und zitternd da, so als wolle er schon im nächsten Augenblick auf und davonlaufen. »Hab ich dich vielleicht gefragt, wer du bist, Idiot?!« knurrte der Vagabund sackgrob und winkte dem Wartenden: »Geh her und friß, wenn du willst.« Deutlich entspannte sich der andere und kam lahm und zerschlagen über den holprigen Boden auf den Vagabunden zu. Der furchtsame Ausdruck auf seinem bartlosen Gesicht wich nicht, und als nunmehr die Kanonen in der Ferne heftiger donnerten, erzitterte er kurz, glotzte in die Luft und schluckte. »Da, friß!« rief der Mann in der Torfhütte und hielt ihm ein abgerissenes Stück Wurst hin: »Die da drinnen wollen dir jetzt nichts. Die haben mit den Dummen zu tun, die geblieben sind.« Bei den letzten Worten machte er eine verächtliche Bewegung mit dem Kopf: »Na ja, es gibt ja noch massenhaft Deppen, die mit der Kriegführerei noch nicht genug haben.« Er machte Platz auf seiner Bank, und der andere ließ sich neben ihm nieder. Gierig aß der Bursche. Er erzählte, daß er bei der roten Armee gewesen sei, vorgestern alles liegen und stehen gelassen und sich davon gemacht habe. Von Zeit zu Zeit schnaubte er schwer auf, lauschte und redete nervöser weiter. »Verspielen tun wir ja doch! Weiterkämpfen ist jetzt glatter Unsinn. Rauskommen tut absolut nichts mehr dabei, im Gegenteil«, sagte er 11


und setzte bekümmerter dazu: »Herrgott, Herrgott, wenn ich bloß wüßte, wie ich weiterkomme! Diese weißen Hunde stellen ja jeden an die Wand, den sie erwischen.« Unangerührt kaute der Vagabund weiter. Die fragenden, kindlich angstvollen Blicke, mit welchen ihn der andere ab und zu maß, schien er nicht zu bemerken. Eine kleine Weile stockte der Flüchtling. »Die richten ein furchtbares Blutbad an. Ärger noch wie im Januar in Berlin«, wiederholte er und schaute traurig in die graue Luft. Er schwieg und der Vagabund schwieg. Nur dessen Schmatzen belebte die dunstige Stille zwischen ihnen. »Bist du im Krieg gewesen?« fragte endlich der Vagabund und prüfte den verdatterten Menschen schräg. »Ja«, nickte dieser ein wenig belebter. »Bei den Dreiunddreißigern im Osten und in Flandern. Bis sie mich siebzehn durch die Lunge geschossen haben. Dann haben sie mich zwanzig Wochen in Lazaretten rumgezogen und schließlich garnisondienstfähig auf die Schreibstube getan.« »Und wie’s losgegangen ist, hast du bei der Revolution mitgemacht, was?« erkundigte sich der Vagabund leicht spöttelnd. »Nee mein Lieber, so ein Mitläufer bin ich nicht«, erwachte da der Flüchtling prahlerisch. »Ich? … Ich hab schon beim Kommiß im illegalen Spartakusbund mitgemacht.« Er schielte auf seinen Nebenmann und fragte geschwind: »Wo stehst du denn eigentlich?« »Augenblicklich sitz ich, wie du siehst«, gab dieser plump und witzlos zurück, und ein finsterer Schatten huschte über seine Miene. Der Revolutionär wurde verdutzt. »Warst du im Krieg?« fragte er interessierter. »Auch«, antwortete der Befragte knapp. »An der Front?« »Länger als du … bis zum glorreichen Rückzug.« Das Wort »glorreich« klang höhnisch. »Hm«, schüttelte der Räterepublikaner den Kopf. »Und nachher? Bei der Revolution hast du nicht mitgemacht, oder?« »Auch«, brummte der Vagabund wiederum. »Ist ein Schlamassel wie das andere. Seit vierzehn haben sie uns auf Räuberei und Umbringen dressiert, jetzt sollen wir wieder ordentlich sein und für die anderen rackern. Ich hab rausgebracht, der Dumme bin immer bloß ich gewesen.« Er sagte es grantig hin. Es war aber weder Bitterkeit noch 12


Rebellion in den Worten. Er fletschte dabei gleichgültig und stocherte mit dem Fingernagel in seinen gelben, unregelmäßigen Zähnen. »Was bist du denn für ein Landsmann?« forschte der Revolutionär, wahrscheinlich weil er merkte, daß eine Auseinandersetzung zwecklos sein würde. Doch der Mann neben ihm verzog auf einmal mürrisch sein Gesicht und erwiderte ungut: »Das kann dir doch gleich sein, oder? Du fragst ja fast wie ein Kriminaler!« Er erhob sich und fragte genau so: »Wohin willst du denn abhauen? Hast du denn überhaupt Flebben und Zaster?« Er sah hämisch auf das zerfahrene Männchen hernieder. »Hm, Zaster? Ja so, ja so – Geld? Ja ja, soviel hab ich schon, daß ich von Augsburg mit der Bahn weiterfahren kann … Oder von Ulm aus oder von sonstwo … Aber Flebben?« meinte der Flüchtling und schaute fragend aufwärts: »Flebben? Was meinst du denn da?« »Da! Das! Sowas!« erklärte ihm der Vagabund und zog etliche Pässe und Invalidenkarten aus seiner Brusttasche. Der Sitzende wurde flughaft blaß, schämte sich allem Anschein nach, bog schnell seinen Kopf nach unten und suchte ebenfalls in seiner Brusttasche. »Da, einen einwandfreien Militärpaß hab ich«, sagte er und reichte dem Stehenden den Ausweis. »Ich glaub, der ist am unverdächtigsten. Da komm ich sicher weiter, meinst du nicht?« Ohne zu antworten, ziemlich uninteressiert blätterte der Vagabund in dem blauen Büchlein und gab es zurück: »So so, Lausitzer bist du? Und Student auch noch? Besserer Mensch also? Deine Alten blechen und du kannst Revolutionär spielen, was? … Hm, dann ist das natürlich ganz was anderes!« Der Student stand auf und war schamrot. »Die meisten Studenten sind reaktionär, ja ja, da hast du recht! Ich zähl mich absolut zum Proletariat und hab mit diesem Pack nichts zu tun!« rief er wichtig, aber der Vagabund hörte kaum hin und unterbrach ihn sachlich: »Na ja, kannst ja mit mir tippeln. Ich mach sowieso Augsburg zu, aber ich sag dir, wenn sie uns schnappen, bring mich nicht in Kalamitäten, Mensch! Halt dein Maul mit deinen Sprüchen von wegen Proletariat und so … Wir kennen uns weiter nicht … Du hast mich auf der Landstraße getroffen, basta!« Das letzte klang fast streng. Der im Sportanzug nickte wie geborgen. Der Regen hatte nachgelassen. Der Himmel und das flache Torfland wurden lichter. Der Vagabund band seinen Rucksack zu und warf 13


ihn über seine Schultern. Sie brachen auf und stolperten über die verwachsene, unwegsame Fläche, verschwanden im dichter werdenden Gebüsch und wanderten auf versteckten Wegen westwärts. »Wie heißt du denn?« fragte der Student einmal. »Schon wieder dieses saudumme Ausfragen!« verwahrte sich der Vagabund dagegen. »Kannst mich ja Hans heißen … Hans gibt’s viel, Kindskopf!« Er spähte fort und fort gewiegt und vorsichtig die Strecke ab und kannte anscheinend die Gegend. Sie redeten wenig. Bloß das keuchende Schnaufen des mühselig dahintrottenden Studenten wurde von Mal zu Mal schwerer. Der andere achtete nicht darauf und hielt immer seinen gleichen, erprobten Schritt. Der Tag wurde allgemach sonniger und belebter. Die feuchte Kühle des Waldes wurde dampfig. Die Vögel sangen in den jungbeblätterten Bäumen, hin und wieder sprang ein Hase über den Weg oder ein Reh schoß schlank und glatt ins Gebüsch. Ein würziger Geruch lag in der Luft, und durch die bewegte Stille drang manchmal ein fernes Zugfauchen, ein schrilles Pfeifen oder die verschwommenen Stimmen arbeitender Bauern auf den Feldern. »Wieviel hast du denn Zaster?« erkundigte sich der Vagabund nach langer Zeit ziemlich unvermittelt, und das kam dem Studenten gerade recht. Er hielt erschöpft inne und gab bereitwillig Auskunft. »So an die vierzig Mark ungefähr … Herrgott, du, ich kann nicht Schritt halten mit dir. Wo sind wir denn ungefähr? … Wie weit ist’s noch nach Augsburg?« »Na, so drei, vier Stunden wird’s schon noch hergehen«, meinte der Vagabund. »Aber wenn du meinst, wir können ja auseinandergehen. Mir macht’s nichts aus … Kannst ja vielleicht da drüben von einer Station aus losfahren.« Man hörte unschwer heraus, daß er den Jammerlappen von einem Begleiter los haben wollte. Den aber traf der mitleidslose Vorschlag schwer. Er bekam eine trübselige Miene und wimmerte weinerlich: »Mensch? … Mensch, wir sind doch Genossen! … Hans?! Ich bin doch ein halber Krüppel! Du wirst mich doch nicht einfach stehen lassen wollen!« Er fing zu husten an, spuckte dicken Schleim und schnaubte immer stockender. »Ha, Genossen?« brummte der Vagabund unbewegt. »Genossen? Dafür, daß du krank bist, kann i c h doch nichts! Ich hab mich auch ewig allein durchschlagen müssen und jedesmal, wenn ich mit so einem »Genossen« mitgemacht hab, bin ich reingesaust! Geh mir zu mit 14


diesen Lamentationen! Im Krieg hat man’s ja am besten sehen können! Wer nicht mitgekommen ist, ist liegengeblieben. Keine Sau hat sich drum geschert. Und wer sich durchgefrettet oder wer schlau den Drückeberger gespielt hat, der ist zum Schluß der große Held gewesen. Und jetzt ist’s genau so! Geh zu, geh zu! Mich fängt keiner mehr mit so einer Jammertation!« Es klang dumpf polternd. »Du bist ein merkwürdiger Mensch«, sagte der andere und schüttelte den Kopf. In seine Augen trat eine sonderbare Verwunderung. Er schluckte den Husten hinunter und atmete wieder regelmäßiger. »Du bist – ja, was bist du eigentlich? Ein Anarchist oder ein Spießbürger, ein Vieh oder ein Nihilist?« »Ich? … Gar nichts! Ich bin bloß das, was die andern aus mir gemacht haben«, gab der Vagabund zur Antwort, und ungeduldiger setzte er dazu: »Jetzt red schon nicht so lang! Geh weiter oder tipple allein.« Er trottete weiter. Es war ein unbehagliches, wortkarges Nebeneinandergehen. Eine große Fremdheit, eine verschwiegene Feindschaft stand zwischen den zweien. Der Intelligenzler aus der Räterepublik dachte sicher nur: »Herrgott, wenn er mich bloß bis nach Augsburg bringt, der Kerl! Wenn ich bloß ohne Gefahr davonkomme!« Und er hielt sich wacker. Er klagte nicht mehr, wenngleich sein Atem schon zu pfeifen anfing. Er biß von Zeit zu Zeit die Zähne aufeinander und marschierte mit allen Kräften dahin. Er haßte den Burschen da, aber er brauchte ihn. Wahrscheinlich haderte er insgeheim mit sich selber, wie er denn dazu komme, sich von einem Menschen helfen zu lassen, der im Grunde genommen all seinem Trachten und Fühlen feindlich gegenüberstand. Und der Vagabund? Was ging dem im Kopf herum? Leicht war’s aus seiner Miene zu lesen. »Wart ein bißl oder geh langsam weiter. Ich muß scheißen«, sagte er nach längerer Zeit und drückte sich ins Dickicht. Der Flüchtling nickte nur und wurde betroffen bleich. Er trippelte auf dem Platz hin und her. Er war zum Umfallen müde, aber er setzte sich nicht, lehnte sich nicht an einen Baum. Er hörte das Knacken der Äste, die schlurfenden Schritte des anderen auf dem weichen Waldboden. Dann war es still. Er wartete mit klopfendem Herzen. Er fing auf einmal schüchtern zu pfeifen an, nach und nach aber wurde alles an ihm grenzenlos traurig. »Hans! Hans!« schrie er schmerzlich und bog die Zweige auseinander. »Hans, he! Ha – hans!« wiederholte er, und die Stimme erstarb ihm. 15


Er starrte stumm und hoffnungslos in das verwirrende Grün vor sich, wankte ein wenig und rieb sich die nassen Augen aus. Er setzte sich ermattet auf den feuchten Boden und schaute verlassen geradeaus. Lange. Endlich erhob er sich schwer seufzend und tappte mit bleiigen Gliedern fürbaß … Unten am Hang wandte sich der Vagabund erfrischter südwärts. Lange, straffe Schritte machte er und lächelte ab und zu boshaft. –

16


Dieses Buch bestellen: per Telefon: 089-13 92 90 46 per Fax: 089-13 92 9065 per Mail: info@allitera.de

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:

www.allitera.de www.facebook.com/AlliteraVerlag

Allitera Verlag Allitera Verlag • Merianstraße 24 • 80637 München info@allitera.de • fon 089-13 92 90 46 • fax 089-13 92 90 65 www.allitera.de • www.facebook.de/AlliteraVerlag


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.