Heiner Meemken
Leise flieht die Nacht Roman
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm: www.allitera.de
Originalausgabe Oktober 2014 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2014 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Fotografie von fotolia.com © beerlogoff Printed in Europe · isbn 978-3-86906-684-4
Teil I Eins
D
u gehst schon?« Sie richtet sich träge im Bett auf. Ich betrachte ihre schweren Brüste, die geräuschlos nach unten sinken, und ziehe meine Boxershorts hoch. Ist das nicht seit Jahren unser Deal? Du rufst mich an, sagst, dass du mich treffen willst, ich sage ja, komme und gehe wieder. »Ich habe die Galerie extra früher geschlossen, um ein paar Kleinigkeiten in der Stadt zu besorgen. Und der Chianti ist auch schon geöffnet«, sagt sie schmollend. »Mitten in der Nacht?« Der Reißverschluss meiner Hose klemmt. Sie lacht. Schrill und laut. »Spießer! Wir haben gerade mal elf. Du gehst doch nie früh ins Bett.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Das muss wohl einer deiner anderen Liebhaber gewesen sein.« Sie verzieht das Gesicht, als denke sie angestrengt nach. Dabei tippt sie nacheinander alle fünf Fingerkuppen der rechten Hand an, um bei der letzten zu stutzen. »Ich sollte Buch führen. Vor zwei Wochen habe ich doch tatsächlich den falschen Namen geschrien. Du weißt schon … Ich fürchte, den sehe ich nie wieder.« 5
»Meinen Namen schreist du nie«, murmele ich und knöpfe mir das Hemd zu. »Hast du Chianti gesagt?« Sie nickt. »Teuer?« Die Bettdecke fliegt zur Seite, sie steht nackt vor mir. Ich spüre ihre Wärme, als sie sich an mich drückt und mir einen Kuss auf die Stirn haucht. »Danke«, flüstert sie mir ins Ohr. Ich ziehe meine Jacke zu, kicke einen kleinen Stein von mir weg. Wir haben Mitte Juli, Mittwoch, drei Stunden nach Mitternacht. Es ist still in der Fußgängerzone, in der erst in vier Stunden die Männer der Stadtreinigung ihren Dienst antreten werden. Ich blicke hoch zu ihrem Fenster, hinter dem es gerade dunkel geworden ist. Aus der einen Flasche Chianti wurden zwei, aus der von mir geplanten halben Stunde vier. Beim Essen trug sie einen Kimono, den ihr ein Freund aus Japan mitgebracht hat, eine Rarität, wie sie stolz erzählte und auf meine Frage, warum er keinen Gürtel habe, hinzufügte, dass man manche Dinge nur trage, um sie auszuziehen. Die Fliesen in der Küche waren kalt. Ich hätte meine Strümpfe anbehalten sollen. Später schwärmte sie erneut von ihrem Urlaub, in den sie in wenigen Stunden nach Frankreich aufbrechen werde. Ein Apartment am Meer, groß genug für zwei, verriet sie mir. Wer mitkäme, fragte ich. Du?, fragte sie zurück. Ich schüttelte erstaunt den Kopf und riet ihr, genügend Bücher einzupacken, woraufhin sie den Kimono überzog und die Küche verließ. 6
Wir haben danach noch nie bei ihr gegessen. Als ich sie nach dem Warum fragte, meinte sie, dass sich alles im Leben ändern könne, und fügte grinsend hinzu: »Fünf gute Jahre noch – mindestens.« Seit einigen Monaten spricht sie von diesem Datum, und die fünfzig klingt aus ihrem Munde wie das Ende von allem. Ihre Mutter sei in den Wechseljahren durchgedreht, beteuert sie dann und beklagt sich darüber, wie viel Platz die unzähligen Cremedosen auf ihrem eigenen Schminktisch inzwischen einnehmen würden. Während ich die Straße überquere, stelle ich mir vor, wie ich bei ihrem nächsten Anruf fluchtartig meine Wohnung verlasse, wie ich leise die Tür zuziehe, aus Angst, sie könne mich trotz aufgelegtem Hörer entdecken. Das Klingeln wird in meinen Ohren dröhnen, selbst auf der Straße werde ich es noch hören. Ich will das alles nicht mehr. Keine Treffen, keine Gourmetrestaurants, keine Vernissagen, keine Cocktailpartys, keine Wochenendausflüge nach Hamburg oder Sylt. Sie ist mir zu viel geworden, denke ich, und dass es einmal anders war in den vergangenen sechs Jahren. Irgendetwas muss passiert sein, wann und was, weiß ich nicht mehr oder will es nicht wissen. Die letzten Monate haben mich aufgefressen und unverdaut wieder ausgespien. Ich will zurück und von vorne anfangen, auch wenn ich nicht weiß, wo dieser Punkt sein soll, an dem ich ganz offensichtlich falsch abgebogen bin. Ich setze einen Fuß vor den anderen. Tripple wie ein Model in den abendlichen Fernsehshows, tor7
kele betrunken daher, um im nächsten Augenblick über die Straße zu hüpfen, als sei ich ein achtjähriges Mädchen. In diesen Stunden gehört die Stadt mir. Niemand stört mich, und die Häuser erzählen mir die Geschichten, die sie in Jahrhunderten aufgesogen haben. Manche scheinen zu weinen, während andere lauthals lachen. Vor einigen verneige ich mich, vor ihrer Erfahrung, ihrer Gelassenheit, mit der sie den menschlichen Wahnsinn ertragen, während ich vor anderen ängstlich zurückschrecke, da in ihnen scheinbar die dunklen Gedanken ganzer Generationen widerhallen, hin und her geworfen zwischen kalten Wänden und dunklen Möbeln. Ich bleibe vor einem Schaufenster stehen, hinter dem eine weibliche Puppe im Hochzeitskleid einen schwarzbefrackten Mann umarmt. Neben den beiden steht ein Kind im Anzug und schaut der Szene zu. Im Schein der Straßenlaterne wirken die drei wie eine in Ultrazeitlupe agierende Schauspielertruppe. Nur das große Schild mit den Preisen stört die Idylle. Ein langsam fahrendes Polizeifahrzeug kommt aus der Seitenstraße auf mich zu. Der blausilberne Passat bleibt neben mir stehen, während sich die Seitenscheibe langsam senkt und den Blick auf einen jungen Mann Mitte zwanzig freigibt. »Alles in Ordnung bei Ihnen?« Ich nicke und konzentriere mich erneut auf das Schaufenster, in dem der kleine Anzug-Junge mir den Kopf zuwendet. Als sich seine rechte Hand hebt, blinzele ich ihm zu, aber er starrt bereits wieder das Brautpaar an. Meine Gedanken wandern zurück in 8
die Wohnung der Galeristin. Vielleicht sollte ich zu ihr gehen, mich in ihr Bett legen und morgen mit ihr verreisen: drei Wochen Frankreich, zwanzig Jahre alter Bordeaux, Austern zum Frühstück, zum Mittagessen und vor dem Zubettgehen. Unsere Jahre waren eigentlich gute Jahre. Niemand von uns hat den anderen erdrückt, bedrängt, nein, wir haben uns die Luft zum Atmen gelassen, uns gegenseitig gestützt in dieser Welt der Heuchler und Menschendiebe. Wir haben gemeinsam über die anderen gelacht, wenn wir ihre hämischen Blicke bemerkten, die verrieten, was sie über uns dachten, über dieses ungleiche Paar, dessen Ende doch vorprogrammiert sein muss. Aber es hat uns nichts ausgemacht, für diese ein oder zwei Sekunden angestarrt zu werden, im Gegenteil: Wir haben sie genossen, vielleicht sogar gebraucht, um fühlen zu können, dass wir zusammengehören. Ja, ich gebe zu, dass ich die Galeristin mag. Sie ist zugleich klug und arrogant, abweisend und herzlich, stolz und von Selbstmitleid zerfressen. Sie hasst das Leben, und sie liebt es. Sie kauft unbezahlbaren Wein und steht mit mir in der Nacht an der Currybude, um ein letztes Bier aus der Flasche zu trinken. Aber über eine Reise für Wochen haben wir nie gesprochen, fast so, als sei es uns zu gefährlich, so lange aufeinanderzuhocken. An meinen letzten Urlaub kann ich mich nicht erinnern, aber vermutlich hielt ich mich damals an einem Ort auf, an dem alle Menschen die schönsten Wochen des Jahres verbringen. Und das nur, um diese Tage so schnell wie möglich zu vergessen und sie 9
durch Urlaubsfotos ersetzen zu können, auf denen die scheinbar glückliche Zeit für alle Ewigkeit eingefroren wurde. Ich verstehe das nicht. Sind das nicht die Tage, an denen Väter endlich Väter sein dürfen, Mütter die ersehnte Aufmerksamkeit und Bewunderung bekommen und Kinder mit Familienglück zugeschüttet werden? Der Himmel ist blau, das Meer erfrischend, die Abende lang und das Frühstück im Garten neben dem wunderschönen Ferienhaus eine Wucht. Unser Fotoarchiv in der Agentur ist voll mit diesem Glück: lachende Gesichter, der Mann und die Frau, die zwei Kinder, immer sind es zwei Kinder, und neuerdings kommen die noch glücklicheren Großeltern mit ins Bild. Ich schreibe dazu die Texte und plane die Kampagnen. Das ist mein Job. Glückliche Texte über glückliche Menschen, damit die noch nicht glücklichen Menschen ihr Glück finden können, wie die beiden hinter dem Schaufenster, vor dem ich noch immer stehe und hinter dem die Braut plötzlich dem Bräutigam einen Kuss auf die Wange haucht. Der erwacht aus seiner Erstarrung und lächelt, als wolle er sich für die zärtliche Geste bedanken. Sein rechter Arm schnellt um ihre Taille, während seine Hand die ihre greift. Im gleichen Augenblick ertönt Walzermusik und begleitet die beiden Puppen beim Hochzeitstanz. Ich bin glücklich und klatsche im Dreivierteltakt in die Hände, bis die Glocke der Thomaskirche mich aus meinem Spiel reißt. Es ist drei Uhr. Das Licht der Laterne über mir fängt an zu flackern, setzt für Sekundenbruchteile aus, um kurz heller zu werden und dann ganz zu er10
löschen. Das Brautpaar taucht unter im Dunkel des Schaufensters. Ich schaue an mir herunter. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, schwarze Schuhe. Alles ist schwarz. Nur meine Haare werden langsam grau. Die Galeristin meinte, ich solle sie färben lassen, das würde mir fünf Jahre bringen, mindestens. Als ich fragte, ob das Mittel eine Zeitmaschine sei, lachte sie und legte sich auf mich. Ich liebe schwarz, und ich hasse die Agentur. Seitdem ich für die Agentur nur noch freiberuflich tätig bin, arbeite ich von zu Hause aus und lasse eine Art Stoppuhr laufen, die mit einem speziellen Mechanismus ausgestattet ist, der nicht die Zeit, sondern einen einprogrammierten Stundenlohn anzeigt. Wenn ich den Schreibtisch verlasse, schlage ich auf den großen Knopf der Stundenlohnmaschine. Das Ergebnis ist eindrucksvoll, und es wäre noch beeindruckender, wenn dieser angezeigte Betrag automatisch auf mein Konto fließen würde. Leider werde ich nicht nach Stunden bezahlt, sondern nach Einfällen. Pro Einfall zehn Euro scherzt Ferdinand Alexander von Bodewitsch gerne und schlägt mir dabei auf den Rücken. Eines Tages werde ich ihm seine gesammelten Brutalitäten sortiert und gebündelt zurückzahlen, wenn er nicht vorher an seinem viel zu hohen Blutdruck stirbt. Anna aus der Grafik erzählte mir, dass es in seiner Familie Tradition sei, mit fünfzig den ersten und mit sechzig den letzten Schlaganfall zu bekommen. Zum Glück begegne ich ihm nur selten, da ich die Agentur kaum noch betrete. Stattdessen verbringe ich den 11
größten Teil des Tages in meiner Wohnung: ein Flur, ein Toilettenbadezimmer, eine Küche und der Raum. Ich nenne ihn so: den Raum. Hier halte ich mich auf, arbeite, schlafe, trinke und esse. Wenn ich mir vorstelle, dass sich diese Reihenfolge täglich ändert, ergibt das sechzehn unterschiedliche Varianten, was es mir erlauben würde, nur zwei Mal im Monat dem gleichen Tagesablauf nachkommen zu müssen. Das Licht der Laterne über mir scheint dunkel zu bleiben. Ich sollte nach Hause gehen und mich ins Bett legen oder gleich anfangen zu arbeiten. »Geht es Ihnen gut?«, fragt eine leise, brüchige Stimme hinter mir. Schon wieder, denke ich, und dass es die Nacht der Fürsorge sein muss. Ich wende mich vom dunklen Brautpaarfenster ab und stehe vor einer alten Frau, die zwei Köpfe kleiner ist als ich und ein kariertes Kopftuch trägt. In der Hand hält sie eine Leine, an deren Ende ein schwanzwedelnder Dackel befestigt ist. Sind eigentlich alle Dackel braun, will ich fragen. Das Gesicht unter dem Tuch lächelt mich an. »Sie haben doch ein Zuhause?« Einen Raum, will ich sagen, ich habe nur einen Raum, aber sie lächelt weiter, und ich nicke. Sie greift nach meiner Hand, die sie einen Augenblick in ihrer hält, als wolle sie mir diskret einen Geldschein zustecken. »Das ist gut, junger Mann«. Ich suche nach Worten und finde keine, die zu dieser frühen Stunde vor diesem dunklen Schaufenster zu dieser alten Frau mit ihrem braunen Dackel zu sagen wären. 12
»Wenn man alt ist, braucht man nicht mehr viel Schlaf«, antwortet sie auf meine nicht gestellte Frage. »Ich bin allein«, höre ich mich sagen. Meine Worte hallen von den kalten Mauern auf der anderen Straßenseite zu mir zurück. Es klingt wie fein, fein, fein. »Und Ihre Familie?« Die Augen der Frau sind größer geworden, der Mund ist leicht geöffnet. Ich verneine mit einem Kopfschütteln. »Oh, ich dachte schon …«, flüstert sie. Nein, schreie ich innerlich, ich brauche keinen Dackel mit alter Frau an der Leine, die mir gute Ratschläge erteilt. Und der Dackel ist braun, sieht denn keiner, dass dieser Dackel braun ist? »Ihr Dackel ist braun«, sage ich. Sie schaut mich erstaunt an und dann ihren Hund und wieder mich, als wolle sie sagen, dass es ihr bis jetzt noch nicht aufgefallen sei und sie mir herzlich für diese Information danke. »Das ist Hektor.« Ich nicke unwillkürlich. »Scheint ein netter Kerl zu sein.« Ich wundere mich über meine Worte, die unvertraut herzlich klingen. »Der vierte Hektor«, fügt sie hinzu. »Ich glaube, es ist der letzte.« Also der letzte Hektor, will ich sagen. »Sie werden sehr alt, müssen Sie wissen.« »Ja«, antworte ich, ohne zu ahnen, wie alt Dackel werden können. »Er ist erst zwei Jahre alt.« »Wow.« Sie nickt und schaut auf Hektor IV hinunter. 13
Dieses Buch bestellen: per Telefon: 089-13 92 90 46 per Fax: 089-13 92 9065 per Mail: info@allitera.de
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:
www.allitera.de www.facebook.com/AlliteraVerlag
Allitera Verlag Allitera Verlag • Merianstraße 24 • 80637 München info@allitera.de • fon 089-13 92 90 46 • fax 089-13 92 90 65 www.allitera.de • www.facebook.de/AlliteraVerlag
•