Allitera Verlag
Bayerische Staatsbibliothek. Schriftenreihe. Band 5
Diese Publikation wurde mit freundlicher Unterstützung der Förderer und Freunde der Bayerischen StaatsBibliothek e. V. realisiert.
Waldemar Fromm und Stephan Kellner (Hg.) unter Mitarbeit von Laura Mokrohs
ÂťDarf ich Ihnen meinen Wunschzettel mitteilen?ÂŤ Die Bayerische Staatsbibliothek in der Literatur
Allitera Verlag
Weitere Informationen 端ber den Verlag und sein Programm unter www.allitera.de
November 2014 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, M端nchen 息 2014 Buch&media GmbH, M端nchen Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von H.-R. Schulz Printed in Germany ISBN 978-3-86906-691-2
Inhalt 9
Vorwort
10
Einleitung: Von Bibliotheken und Bibliothekaren
27
Aufbruch und Platzprobleme (1806 –1836)
Johann Christoph von Aretin
28
Die neue Zeit
August Wilhelm Schlegel
29
Eine Handschrift geht auf Reisen
Martin Schrettinger
30
Überall Bücherchaos
33
Das neue Haus (1836 –1890)
Johann Andreas Schmeller
34
Leiden eines Bibliothekars und Freuden seines Königs
François-Joseph Fétis
38
In der Totenstadt
Joseph Victor von Scheffel
39
Hauptquartier im Lesesaal
Ludwig Aub
40
Das Schweigen der Bücher
Paul Heyse
41
Der wahre Besitzer der Bibliothek
43
In der Münchener Moderne (1890 –1919)
Oskar Panizza
44
Schwierige Geisteszustände
Ludwig Ganghofer
47
Übungsgelände für Bergsteiger
Ludwig Thoma
49
Raritätenkabinett?
Peter Jerusalem (Benedix)
50
Geldsegen durch einen Bibliothekar
Hermann Hesse, Klabund
52
Unkatalogisierte Sinica!
Erich Mühsam
54
Der Notgroschen
Ludwig Derleth
56
Kopistentätigkeit
Joachim Ringelnatz
58
Informationsüberfluss
Friedrich von der Leyen
59
Einst waren Bibliothekare Gelehrte
Elya Maria Nevar
62
Auf der Suche für Rilke
63
Die wilden 1920er Jahre (1919 –1933)
Hermann Heimpel
64
Treiben im Büchermeer
Annette Kolb
65
Anregung für ein Traumarchiv
Hugo Ball
67
Unter feinen Leuten
Oskar Maria Graf
69
Ein unruhiger Bohemien
Ernst Penzoldt
73
Die Herkunft Chattertons
Lion Feuchtwanger
74
Dichterklause
Thomas Mann
77
Dienstleistung für Dichterfürsten
Alexander Mitscherlich
79
Berufsentscheidend
81
Drittes Reich (1933 –1945)
Rudolf Buttmann
82
Der Führer kommt!
Eric Lucas
84
Lebensgefahr im Lesesaal
Christoph Probst
85
Weiße Rose
Else Behrend-Rosenfeld / Siegfried Rosenfeld
86
Widerstand im Kleinen
Wilhelm Hausenstein
88
Zerstörte Maxvorstadt
Hans Halm
90
Die Katastrophe
Edda Gisela Neumann
93
Bücherbergung
99
Von 1945 bis zur Gegenwart
Hans Carossa
100
Elegie gegen die Gewalt
Dieter Hildebrandt
102
Schmerzhafte Lücken
Gustav (»Gusto«) Gräser
103
Zuflucht für den Kohlrabi-Apostel
Fritz Fenzl
105
Im Wissenslabyrinth
Rainer Werner Fassbinder
107
Rio das Mortes
Hermann Lenz
111
Aus dem inneren Bezirk
Horst Bienek
113
In Gesichtern lesen
Rudolf Riedler
114
Drinnen und Draußen
R. W. B. McCormack
115
Feldforschung
Marion Peschel
117
Kärrner der Wissenschaft
Hans Fischach
122
Die vier Heiligen Drei Könige
Ulrike Draesner
124
Weißwurstdunst und Wissensgeruch
Andreas Erhard
126
Der stille Sportfreund
Andreas Bernard
128
Die Geliebte des Oligarchen
Fridolin Schley
131
Stadt im Stadtteil Anhang
135
Literaturverzeichnis
138
Bildunterschriften
140
Register
142
Danksagung
Vorwort
Das vorliegende Buch versammelt literarische Blicke auf die Bayerische Staatsbibliothek aus mehr als 200 Jahren, die prägnant und pointiert ihre Rolle im kulturellen Leben Münchens beschreiben. Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich erscheinen, dass eine Bibliothek als Wissensspeicher und Gedächtnisinstitution zum Gegenstand der Literatur wird. Als Ort geistigen Lebens und intellektuellen Austausches, als Sphäre des gedanklichen Zwiegesprächs mit den geistigen Größen vieler Jahrhunderte ist eine Universalbibliothek wie die Bayerische Staatsbibliothek jedoch immer auch weit mehr als ein Dienstleister oder – modern gesprochen – eine Einrichtung der »Informationsinfrastruktur«. Sie ist zu allen Zeiten stets auch die geistige Heimat der in ihr arbeitenden Literaten, Schriftsteller und Gelehrten gewesen, und damit auch immer einmal wieder selbst Objekt von Literatur. Der Band präsentiert eine Sammlung von Texten, die zuerst 2008 im Jahr der Feiern zur 450. Wiederkehr der Gründung der Bayerischen Staatsbibliothek als Hofbibliothek der Wittelsbacher in einer Lesung mit dem Schriftsteller und Literaturkritiker Albert von Schirnding und dem Schauspieler Udo Wachtveitl, bekannt als Münchener »Tatort«-Kommissar, am 12. Juni 2008 unter dem Titel »Von der Magie der Archive. Die Bayerische Staatsbibliothek im Spiegel der Literatur« vorgetragen wurden. Seitdem konnte die Sammlung durch zahlreiche Funde der Herausgeber und viele Hinweise von Mitarbeitern, Freunden und Nutzern des Hauses wesentlich erweitert werden. Den Hauptteil des Bandes bilden Ausschnitte aus Tagebüchern, Briefen, Romanen, Erzählungen sowie Gedichte vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur heutigen Zeit. Literarische und zeitgeschichtliche Texte zur Bayerischen Staatsbibliothek sind in erstaunlicher Fülle vorhanden: Der Bogen spannt sich von Johann Christoph von Aretin über Ludwig Ganghofer und Ludwig Thoma, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf und Thomas Mann, Wilhelm Hausenstein und Hermann Lenz bis hin zu aktuellen Texten von Ulrike Draesner und Fridolin Schley. Die Texte sind chronologisch angeordnet und mit Porträts, historischem und aktuellem Bildmaterial sowie biografischen Abrissen angereichert. Thematisiert werden beispielsweise der zwischen 1832 und 1844 entstandene Neubau der Bibliothek, die unruhigen 1920er Jahre, die NS-Zeit findet Erwähnung durch Hitlers Besuch 1936, aber auch durch die tolerante Haltung der Bibliothek gegenüber jüdischen Benutzern. Verschiedentlich werden auch die verheerenden Zerstörungen
Vorwort 9
durch die Bombenangriffe, besonders im März 1943, angesprochen. Interessant sind auch die aktuellen Texte, die widerspiegeln, wie »angesagt« das Haus als Ort des Lernens, Forschens und des intellektuellen Gesprächs nicht nur in jüngster Zeit geworden ist. Mein herzlicher Dank geht an die Herausgeber des Bandes. Waldemar Fromm ist Professor für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt auf der Literaturgeschichte Bayerns an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Stephan Kellner ist Landeshistoriker, BavaricaReferent der Bayerischen Staatsbibliothek und ein intimer Kenner aller spezifisch »bayerischen« Aspekte unseres Hauses. Unterstützt wurden die Herausgeber von Laura Mokrohs M. A., die die biografischen Hinweise verfasst, den Band umsichtig betreut, vielfältige Bildrecherchen durchgeführt und auch die aufwändige Klärung der Rechte zuverlässig übernommen hat. Weiterhin möchte ich dem Allitera Verlag danken, vor allem Verlagsleiter Alexander Strathern und Lektorin Dietlind Pedarnig, die dieses Buchprojekt in ihr Programm aufgenommen und mit großem Engagement betreut haben. Schließlich gilt mein Dank dem Verein der Förderer und Freunde der Bayerischen Staatsbibliothek für die vielfältige Unterstützung des Vorhabens. Der Band wird den Vereinsmitgliedern auch als Jahresgabe 2014 überreicht werden. Allen Leserinnen und Lesern des vorliegenden Bändchens, das gewiss eine ganz neue Perspektive auf die Bayerische Staatsbibliothek eröffnen wird, wünsche ich eine unterhaltsame Lektüre.
München, im November 2014 Dr. Rolf Griebel Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek
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Einleitung
Von Bibliotheken und Bibliothekaren I Bibliotheken werden in der Literatur nicht selten ambivalent dargestellt. In Jorge Luis Borges Erzählung »Die Bibliothek zu Babel« und Umberto Ecos Roman »Der Name der Rose« zum Beispiel sind sie zugleich magische und dämonische Schauplätze der Handlung. Bei Borges wird die Bibliothek zwar zu einem Universum im Kleinen, in dem alle denkbaren Bücher sowohl einmalig sind als auch in ihrer Gesamtheit die Welt restlos abbilden. Diese Bücher aber sind nur dann hilfreich, wenn der Bibliothekar ihre Ordnung verstehen und sich in ihr nicht wie in einem Sinnlabyrinth verlieren würde.1 Die Ordnung der abgebildeten Welt im Archiv bleibt daher im Kern ein Rätsel. In Umberto Ecos Roman ist die Bibliothek von vorneherein labyrinthisch angelegt, nicht zufällig heißt der Bibliothekar, der zudem noch blind ist, »Jorge von Burgos«. Er maßt sich an, das archivierte Wissen steuern zu können, und geht am Schluss mitsamt den Büchern in einem verheerenden Brand unter. Die Schaltstelle zwischen Bibliothekar und Benutzer einerseits und der Bibliothek andererseits gerät schnell in Unordnung. Es stehen sich zwei Parteien gegenüber, die nicht leicht zueinander finden. Dies gilt auch für den Fall einer kleinen Bibliothek mit einer überschaubaren Ordnung, wie sie zum Beispiel in Elias Canettis »Die Blendung« dargestellt wird: Sie karikiert ihren Benutzer und ist Ort eines Kauzes mit eigentümlichen Normen, der die Sinnfrage scheinbar an die Staub wischende Haushälterin abgeben hat. Die Bibliothek mischt sich durch das Archiv in die symbolische Ordnung ein und bringt sie ins Wanken. Die Geschichte der Bibliothek als einem Ensemble von Menschen, Apparaturen und Artefakten ist aufgrund der konflikthaften Lage zwischen den Partizipanten reich an kleineren und größeren Geschichten.2 Eine Bibliothek ist nicht nur ein Archiv der kulturellen Erinnerung, mit dem der Benutzer ringen muss, sie ist im öffentlichen Raum immer zugleich auch Gedächtnisort, der in das Alltagsleben integriert ist. Sie bewahrt Texte und ist in die Textur der Stadt als Erinnerungsort eingeschrieben.3 Insofern ist sie in der Stadt ein Produkt individueller und sozialer Einbildungskraft und unterliegt einer kulturellen Kodierung. 4 Städte enthalten, so Karl Schlögel in einer Publikation zu ihrer Lesbarkeit, ein »Nebeneinander der Zeiten«.5 Wie bei
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einem Korallenstock bilden sich verschiedene Schichten des städtischen Lebens in ihr ab. Diese Schichten oder Texturen können, so Schlögel, wie eine Collage gelesen werden. Will man die Schichten des Korallenstocks der Bibliothek lesen, lässt sich an zwei Perspektiven denken, die notwendig aufeinander bezogen sind: die Stein gewordene Vergangenheit des kulturellen Lebens im öffentlichen Raum und das kulturelle Gedächtnis, das über die Stadt hinausragt. Blickt man auf das moderne München und die Bayerische Staatsbibliothek, dann sind beide ein Produkt des Willens der bayerischen Könige, die Stadt zu einem kulturellen Zentrum auszubauen.6 Dazu hat man sich konkreter räumlicher Verdichtungen bedient. Orte solcher symbolischen Verdichtungen sind zum Beispiel Straßen, Museen oder Gebäude wie das Künstlerhaus. Das Bibliotheks- und Archivgebäude ist ein weiterer wichtiger Ort, dessen symbolische Bedeutung schon vor der Einweihung des Neubaus im Jahr 1843 sichtbar wird. Der Bau des neuen Gebäudes durch Friedrich Wilhelm von Gärtner wird jedoch auch aus praktischen Gründen nötig. Die enorme Erweiterung der Bestände durch die Säkularisation schafft für die Hofbibliothek wie für das Reichsarchiv ein Raumproblem, das es zu lösen gilt. Ohne die Säkularisation ist der Neubau nicht vorstellbar. 1802 beruft man den bibliophilen Juristen Johann Christoph von Aretin (1772–1824) an die Hofbibliothek, im Jahr darauf wird er Oberhofbibliothekar und Vorstand. Als dominanter Teil der Bibliothekskommission, die 1803 die Bibliotheken der säkularisierten Klöster bereiste und gründlich inspizierte (vgl. Abb. rechts), wählt er tausende von Handschriften, Inkunabeln und Drucke für die Hofbibliothek aus. Insgesamt versechsfacht sich dadurch der Bestand auf über 450 000 Bände, die Zahl der Handschriften steigt von knapp 2000 auf über 22 000.7 Damit wird die Münchener Hofbibliothek »im 19. Jahrhundert zur größten Bibliothek im deutschen Sprachraum«. Das Pathos einer neuen Zeit, die auch die Bibliotheken erfasst, wird in Aretins »Briefen über meine literarische Geschäftsreise in die baierischen Abteyen« deutlich (vgl. S. 28). Die Gestalt des ganzen Landes soll durch seine Sammeltätigkeit verändert, das öffentliche Leben durch die Archivschätze belebt werden. Mit dieser Sammel- und Verstaatlichungstätigkeit der Hofbibliothek gehen nicht nur Raum-, sondern auch Ordnungsschwierigkeiten einher. Die große Zahl an eingesammelten Büchern schafft zunächst Systematisierungsprobleme. Bibliotheken sind Aufbewahrungsorte und wie bei allen Aufbewahrungsorten ist die Frage nach der Ordnung von entscheidender Bedeutung. Der erste Vorbote des neuen Hauses allerdings, Johann Christoph von Aretin, ist von einer Großzügigkeit, die vieles durcheinander bringt. Um 1806 leiht er etwa August Wilhelm Schlegel, einer der Galionsfiguren der deutschen Romantik, die Nibelungenhandschrift aus, sozusagen auf Ehrenwort, und Schlegel wird mit der Handschrift im Gepäck durch Deutschland reisen (vgl. S. 29). Die Geschichte der Katalogisierung gerät zum Abenteuerparcours: »Wie man bei den Ordnungsarbeiten vorging«, heißt es in einer Bibliotheksgeschichte, »hat Martin Schrettinger –
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Reiserouten der Bücherkommissare, 1802 –1810 Entwurf Florian Raff
Einleitung 13
ein Bibliothekar der ersten Stunde und Untergebener Aretins – anschaulich überliefert. Eine kaum überschaubare Zahl von Büchern hatte man im ehemaligen Jesuitengebäude untergebracht. Die Malztennen waren mit Büchern angefüllt, und in allen Speichern standen die Büchergestelle aus ungehobelten Brettern so dicht, daß man kaum dazwischen herumgehen konnte.«8 Schrettinger (1772–1851) beschreibt den besorgniserregenden Zustand und die Dringlichkeit, Ordnung, Räume und qualifiziertes Personal zu finden (vgl. S. 30). Zunächst hatte Aretin versucht, die Büchermassen in einem Gewaltakt zu ordnen und zu katalogisieren, machte damit aber alles nur noch viel schlimmer. Das Durcheinander wurde in München zum Tagesgespräch: »In allen Gesellschaften und auf allen Bierbänken wurde über die Unordnung in der Bibliothek räsonniert. […] In der Verzweiflung über das durch einen bibliothekarischen Dilettanten hervorgerufene Chaos wurde […] im März 1808 der Hofrat Julius Wilhelm Hamberger aus Gotha gerufen und dem Baron von Aretin mit gleicher Vollmacht an die Seite gestellt. […] In sechs täglichen Dienststunden wurde mit dem größten Eifer gearbeitet, und Hamberger war fast Tag und Nacht auf der Bibliothek, um die ungeheure Aufgabe zu bewältigen. 1811 lagen bereits 47 systematische Katalogbände mit mehr als 20.000 Seiten vor, auf denen gegen 120.000 Bände katalogisiert waren; der Gesamtumfang des Katalogs wurde auf 180 Bände geschätzt. Dann brach Hamberger im Dezember 1811 zusammen und mußte in eine Irrenanstalt verbracht werden; Aretin aber wurde an eine hohe Gerichtsstelle in die Provinz versetzt.«9 Damit waren in sieben Jahren zwei mit großem Aufwand unternommene Ordnungsversuche komplett gescheitert. Erst Aretins Nachfolger Joseph von Scherer (1776–1826) ließ sich überzeugen, jenes Aufstellungs- und Katalogisierungssystem einzusetzen, das Martin Schrettinger schon Jahre zuvor entwickelt hatte. Innerhalb von drei Jahren waren die Bücher geordnet und katalogisiert – nach 1817 herrschte wieder Ordnung. Dieses System bewährte sich weit über 100 Jahre und wurde erst 1936 abgelöst. Allerdings wird Scherer ebenfalls wahnsinnig. Sein Kollege, der berühmte Sprach- und Handschriftenforscher Johann Andreas Schmeller (1785–1852) vermutet, dass dies nicht nur wegen Überarbeitung, sondern aufgrund von Scherers intensiver Beschäftigung mit einer Erotica-Sammlung geschehen sei (vgl. S. 37). Sie war von Franz von Krenner (1762–1819) – einem hohen bayerischen Finanzbeamten – angelegt worden. Nach dessen Tod sorgte Max I. Joseph für den Ankauf: »Der König hatte […] genaue Anordnungen für die Aufstellung und Benutzung der Sammlung gegeben, die bereits einen Tag später […] dem Bibliothekar Joseph Scherer übermittelt wurden. Die Sammlung sollte in ›mit doppelten Schlössern zu versperrenden Kästen aufgestellt werden.‹«10 Ausdrücklich in den Ankauf mit einbezogen waren auch die von Krenner gesammelten erotischen Kupferstiche und Zeichnungen. Im Gegensatz zu den Büchern gelangten diese Bilder nicht sogleich in die Hofbibliothek, sondern wurden erst nach dem Tod Max I. Josephs bei der
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Auflösung seiner Privatbibliothek 1826 abgegeben. Auch nach der Neuordnung sind die Platzprobleme keineswegs gelöst. Die Bibliothek im Wilhelminum in der Neuhauserstraße kann den Bestand von 500 000 Bänden nicht mehr fassen. Die Bücher sind in dem verwinkelten Gebäude auf 56 Räume verteilt und mehrfach hintereinander aufgestellt. Ähnliche Platznöte plagen auch das ebenfalls im ehemaligen Jesuitenkolleg untergebrachte Reichsarchiv. Ludwig I. überlegt deshalb schon 1826, einen Neubau für Archiv und Bibliothek zu veranlassen.11 Den Plänen zu einem Neu-
Friedrich von Gärtner, Gemälde von Clemens Zimmermann
Treppenhaus der Staatsbibliothek nach einem Plan von Friedrich von Gärtner
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bau vorgearbeitet hat wiederum Martin Schrettinger. Er entwirft in seinem »Versuch eines vollständigen Lehrbuches der Bibliothekswissenschaften« von 1827 unter anderem Ideen zu einem idealen Bibliotheksbau. Den Grundrissentwurf übergibt der damalige Bibliotheksdirektor Philipp von Lichtenthaler (1778–1857) im März 1827 an Ludwig I., doch der König lässt sich vom Plan nicht sonderlich beeindrucken. Er sucht aber schon bald nach einem Architekten, der seinem dominanten Hofbauintendanten Leo von Klenze gewachsen sein könnte und findet ihn in dem Münchener Akademieprofessor Friedrich Wilhelm von Gärtner (1791–1847). Bis nun der endgültige Standort gefunden und der Grundriss genehmigt wird, vergehen Jahre. Gärtner muss ein Grundstück finden, das die praktischen Aspekte, also die Größe, ebenso berücksichtigt, wie die symbolische Dimension. Von den ersten Planungen an war dabei für das Reichsarchiv das Parterre vorgesehen, während die Hofbibliothek im Hauptgeschoss und im
Urkunde zur Grundsteinlegung des neuen Bibliotheksgebäudes am 5. Juni 1832
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Philipp von Lichtenthaler, Fotografie nach einem Gemälde von Joseph Karl Stieler
zweiten Stock angesiedelt werden sollte. Diese Pläne werden auch umgesetzt: Bis zum Zweiten Weltkrieg ist die Ludwigstraße 16 Heimat für das Reichsarchiv und die Bayerische Staatsbibliothek. Erst nach 1945 zieht das Archiv in das frühere Kriegsministerium an der Schönfeldstraße um. Gärtner entwirft zunächst Pläne für den Königsplatz – die Hofbibliothek soll zum Pendant der Glyptothek werden. Dieser Plan wird verworfen, das Grundstück ist nicht groß genug. Dann wird ein Bau in der Luisenstraße erwogen, aber wohl aus symbolischen Gründen abgeTreppenhaus vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg lehnt. Schließlich findet man den heutigen Standort in der Ludwigstraße zwischen dem Kriegsministerium und der Ludwigskirche. Der Grundstein kann 1832 gelegt werden. Damit ist der öffentliche Streit um Praktikabilität und Symbolik entschieden. Die Fertigstellung des Hauses zieht sich allerdings noch zehn Jahre hin. Im Mai 1842 kann Gärtner den Schlüssel zu einem Haus überreichen, das Ludwig I. zufolge »für Jahrhunderte« gedacht ist. Die Geschichte des Baus wird vielfältig kommentiert, skeptisch aus der Innensicht wie in den Tagebüchern von Schmeller. Er denkt praktisch, nicht repräsentativ. Die Architektur ist Schmeller zufolge nicht funktional, bildet nicht die Zwecke und Inhalte des Gebäudes ab. Daher ist die Bibliothek für ihn ein »toter Speicher«. Für den Erbauer steht aber nicht die Funktionalität im Vordergrund, das Gebäude soll das Selbstverständnis des bayerischen Königs zum Ausdruck bringen. Dies zeigt auch die Innenausstattung: An der Decke über dem Treppenhaus wird eine al fresco gemalte Allegorie auf die Vereinigung von Religion, Wissenschaft und Kunst des vielfach an Bauten dieser Zeit tätigen Friedrich Christoph Nielson (1811–1879) angebracht.12 Die Allegorie entspricht dem kultur- und volkserzieherischen Programm Ludwigs I. Das Gebäude, klassizistisch in der Fassade, ist inhaltlich ein genuin spätromantischer Ort, verbunden mit der Absicht, Glauben und Wissen miteinander zu verbinden. Nielson sucht das allegorisch darzustellen. Das
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Bibliotheks- und Archivgebäude ist damit auch Teil des Versuchs, eine bayerische Identität zu stiften. Der Bau ist von Beginn an als Ort der Macht und der Repräsentation von Macht geplant, so dass er im Zusammenhang mit der Entstehung der Maxvorstadt und der Ludwigstraße gelesen werden muss. Eine Kritik an der Konzeption des neuen Stadtteils gibt es auch bei dem Kulturhistoriker und Novellisten Wilhelm Heinrich Riehl. Über die Ludwigstraße heißt es in »Die Familie« 1855: »Man hat in unserer Zeit wieder ganze Musterstraßen mit großem Aufwande von Kunst und Geld gebaut […]. Es sind aber doch nur Paradestraßen geworden, keine wirklichen Straßen und auch keine eigentlich neuen Straßen. Das glänzendste und großartigste Beispiel der Art ist wohl die Ludwigstraße in München. Sie nimmt sich bei aller Schönheit im Einzelnen dennoch aus wie ein totes akademisches Modell, nicht wie eine natürliche Straße. […] Sie symbolisirt die Zeit ihrer Entstehung: das Nivellement der modernen Bildung und der modernen Geldwirthschaft.«13 Diese Symbolik des Ortes ist auch Schmeller präsent, wenn er im ersten Führer durch die Hof- und Staatsbibliothek ein Gedicht voranstellt, das den funktionellen Aspekt anmahnt (vgl. S. 37). Das Gebäude steht, die Innenausstattung ist programmgemäß durchgeführt, die Bücher werden aufgestellt, und nun setzt der Bibliothekstourismus verstärkt ein. Die Liste berühmter Benutzer ist schon vor der Eröffnung des Gebäudes lang: Alexander von Humboldt, Henriette Herz, Friedrich Schleiermacher, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Arthur Schopenhauer, Heinrich Heine, Joseph Freiherr von Eichendorff und andere werden von den besuchergeplagten Mitarbeitern geführt.14 Nach der Eröffnung des Neubaus 1843 nimmt die Zahl der Besucher zu, nicht nur aus Deutschland, auch aus Europa und Übersee. Im Jahr 1846 haben sich zum Beispiel fast 2000 Besucher in das Gästebuch eingetragen, bis dahin waren etwa schon Jacob Grimm, Bettine von Arnim, Franz Liszt, der preußische König Friedrich Wilhelm IV. zur Besichtigung. Verbürgt ist auch der Besuch von Lola Montez, der Geliebten von König Ludwig I., die sich anscheinend besonders für erotische Literatur interessierte (vgl. S. 37). Schmeller versucht, in einer Ordnung das Schlimmste zu verhindern. Er hält in der »Allgemeinen Auskunft über die K. Hof- und Staatsbibliothek zu München« aus dem Jahr 1851 unter den »Gesetzen«, die für die Bibliothek gelten, im Paragraf 1 fest: »Der Zutritt zu der königlichen Hofund Staatsbibliothek steht nur zum Zwecke gelehrter Forschungen und Bearbeitungen, nicht aber für Lesen zur Unterhaltung offen.«15 Damit ist ein Standpunkt formuliert, der das Bild in der Öffentlichkeit prägen wird: einerseits eine großartige Sammlung von Büchern und Handschriften zu beherbergen, andererseits für den ›gewöhnlichen‹ Benutzer schwer erreichbar zu sein.
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II Die folgende Auswahl umfasst Texte aus der Vorgeschichte des Neubaus der Hof- und Staatsbibliothek im 19. Jahrhundert bis zur Literatur der Gegenwart. Ihr liegt ein erweiterter Literaturbegriff zugrunde: Tagebücher werden ebenso herangezogen wie Berichte, Briefe, Romane, Erzählungen oder Gedichte. Die Bibliothek ist darin zum einen ein Ort der Inspiration, in und an dem sich fiktionale Prozesse entzünden, in deren Folge sie manchmal Teil der Fiktion wird.16 Sie ist zum anderen auch ein lebensweltlich ausgewiesener Ort, an dem das städtische Leben oder der literarische Umgang mit Wissens- und Ordnungssystemen deutlich werden. Das reicht von der schieren Masse des Wissens, die zur Verzweiflung führen kann, weil sie kaum zu bewältigen ist (vgl. etwa S. 58, 64), über Langzeitversuche, diesem Wissen mit exzessivem Exzerpieren Herr zu werden (vgl. S. 56) bis zur Umdeutung des Ortes zu einem Biotop, in dem im Kleinen die Stadt im Großen nachgebildet erscheint (vgl. S. 132). Mit der Übergabe des Neubaus zur öffentlichen Nutzung im Januar 1844 beginnt auch die verstärkte Auseinandersetzung der Literaten mit dem Ort, sei es konkret, sei es symbolisch. Paul Heyse spottet in einem Brief vom 19. Oktober 1871 über den hohen Anspruch der Bibliothek, der dazu führe, dass man nicht systematisch sammle.17 Diese Spannung zwischen elitärem Selbstverständnis und Benutzererwartung wird die erste Phase der Darstellung der Bibliothek durch die Literaten prägen. Nach öffentlichen Protesten in Zeitungen und Publikationen öffnet sich die Bibliothek verstärkt für den Publikumsverkehr. In der 1894 anonym erschienenen Broschüre »Das Bedürfnis nach Reformen an der Hof- und Staatsbibliothek in München« werden die Mängel im Vergleich zu anderen großen Bibliotheken in Europa, vor allem aber zur Berliner Staatsbibliothek aufgelistet: dazu zählen die fehlende elektrische Beleuchtung (an wolkenreichen Tagen wird es vor den Fenstern eng), das umständliche Bestell- und Ausleihverfahren (zum Beispiel werden Bücher nach Signaturen, nicht nach Benutzernamen bereitgestellt), den weit auseinanderliegenden Katalogen und undurchschaubaren Aufstellungen (»[i]n einem verschlossenen Schrank sollen, wie eine Sage geht, einige Nachschlagewerke stehen«):18 »Wir wollen also nicht schablonisiren und von der Münchener Bibliothek verlangen, sie müsse auch 72 Stunden wöchentlich, d. h. täglich 12 Stunden geöffnet sein; aber wir werden ihr doch vorhalten dürfen, dass der Unterschied zwischen 72 und 35 oder gar 29 Stunden ein gar zu grosser ist und dass sie auch hinter anderen grossen europäischen Bibliotheken sehr weit zurückgeblieben ist. Das Lesezimmer des British Museum ist täglich von 9–7 Uhr, die Pariser Bibliothek, wenn ich mich recht erinnere, von 9–6 oder 9–5 Uhr, die Vittorio Emanuele in Rom von 9–3 und während der Arbeitssaison auch Abends von 7–10 Uhr geöffnet.
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Gehen wir aber ohne jede Vergleichung mit auswärts von den hiesigen Verhältnissen und Bedürfnissen aus, so werden wir ebenfalls dahin gelangen, eine erhebliche Vermehrung der Benützungsstunden zu fordern. Es gibt auch hier eine Menge Menschen, die regelmässig oder auch nur gelegentlich eine grosse Bibliothek zu benutzen haben, d.h. vielleicht nicht wirklich benutzen, sondern nur benutzen möchten oder benutzen sollten und die dazu nur ausserhalb der eigentlichen Geschäftsstunden im Stande sind. Die Zahl dieser Personen wächst unaufhaltsam, sowohl der absoluten Zahl nach wie auch im Verhältniss zu der Gesammtziffer, je weitere Massen an der Gestaltung unserer nationalen Bildung thätigen Antheil nehmen, je mehr unser höchstes Bild ungsleben in die Breite und das Bildungsstreben der breiten Massen in die Tiefe geht. Der einen Seite dieses Bedürfnisses kommen in den beiden Ländern englischer Zunge, die auf diesem Gebiete wieder einmal voranschreiten, in England und ganz besonders in den Vereinigten Staaten, die grossen öffentlichen Volksbibliotheken, die Free Libraries entgegen, an deren grossartige Einrichtung uns in Deutschland noch gar nichts erinnert. Der anderen Seite des Bedürfnisses aber müssen unsere bestehenden wissenschaftlichen Bibliotheken Rechnung tragen. Daher überall die Ausdehnung der Benutzungszeit, die an manchen Anstalten ja eine staunenerregende Entwicklung durchgemacht hat. Wer möchte leugnen, dass dieses Bedürfniss auch in München besteht, wenn auch vielleicht nicht so dringend wie mancherwärts sonst. Auch hier gibt es Leute genug, die durch ihre Thätigkeit oder Interessen auf Benutzung wissenschaftlicher Literatur an gewiesen sind und die sich doch nicht in der glücklichen Lage des Professors oder des Studenten befinden, Vormittags zwischen 8 und 1 Uhr die Bibliothek zu besuchen. Man ist diesem Bedürfniss hier einigermassen entgegengekommen, indem man an drei Nachmittagen je zwei Stunden öffnete, aber diese zwei Stunden verschwinden während zweier Sommermonate ganz, schmelzen im Herbst (bei sichtlich zunehmender Dunkelheit) immer mehr zusammen, werden im tiefen Winter fast ganz aufgegeben, um dann bei besserer Jahreszeit wieder aus dem Winterschlaf zu erwachen. Dabei sind es eben nur drei Nachmittage in der Woche und wer sich in dem Tag irrt, kommt zwischen 3 und 5 Uhr auch bei guter Beleuchtung vergebens. Der Samstag Nachmittag, der für viele Leute die freieste Zeit der Arbeitswoche bedeutet, ist unter den begünstigten Tagen leider nicht zu finden (am Samstag wird sogar Vormittags eine Stunde früher geschlossen); und Abendstunden, an denen die Bibliothek geöffnet wäre, gibt es überhaupt nicht.«19 In München hat man um 1900 versucht, die Kritik der Nutzer aufzugreifen und Veränderungen herbeigeführt. So wird die Einrichtung neuer Arbeitsplätze im Lesesaal aus wissenschaftlichem Interesse begrüßt, doch von manchen werden Leseplätze auch dazu verwendet, in der kalten
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Lesesaal, um 1910
Jahreszeit einen warmen Platz zur Verfügung zu haben (vgl. etwa S. 103). Andere Autoren scheinen gar so intensiv in der Bibliothek gearbeitet zu haben, dass die Sage entsteht, sie seien in der Staatsbibliothek angestellt, wie im Fall von Regina Ullmann.20 Mitunter kommt der Impuls für eine Erzählung aus einem Lektüreerlebnis im Lesesaal, wie im Fall von Ernst Penzoldt, der seinen Stoff für den Roman »Der arme Chatterton« aus Lektüreeindrücken erhält.21 Einprägsam ist auch die Geschichte von Annette Kolb, die ein Traumbuch aus dem 16. Jahrhundert einsieht und daraufhin beginnt, ihre Träume zu archivieren und die Traumbilder zu deuten. Selbst im Exil bleibt diese Erinnerung an den tiefen Lektüreeindruck bestehen (vgl. S. 65).22 Auch das Gebäude im städtischen Raum wird genutzt. Für manchen bieten die Stufen vor dem Haus die Möglichkeit, die Verbundenheit mit München zu dokumentieren: Max Halbe berichtet, dass Julius Hillebrand, dessen Pseudonym als Autor Julius Brand war, auf den Stufen der Staatsbibliothek sein Abendessen zu sich genommen habe, um den Makel der preußischen Herkunft loszuwerden.23 In der Revolutionszeit 1918 / 19 dienen die vier »Heiligen« als Plakatsäulen24 und das
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Gebäude gerät zum fiktionalen Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen.25 Die Bayerische Staatsbibliothek wird von Literaten jedoch nicht nur konkret erfahren, sondern auch in ihre Werke eingearbeitet. Ein gutes Beispiel ist Lion Feuchtwangers Roman »Erfolg«, ein Schlüsselroman für das München der 1920er Jahre inmitten des aufkeimenden Nationalsozialismus (vgl. S. 74). Die Bibliothek wird zum Flucht- und Ruhepunkt. Nach der Machtübernahme besucht Adolf Hitler am 7. Januar 1936 auf Einladung des damaligen Generaldirektors Rudolf Buttmann die Bibliothek. Es ist ein überraschender Freundschafts- oder Gefälligkeitsbesuch anlässlich der Erwerbung einer Handschrift der Weltchronik des Heinrich von München aus Staatsmitteln. Buttmanns NSDAP-Parteibuch trägt die Nummer vier, woran man erkennen kann, wie lange die Bekanntschaft mit Hitler schon währte.26 Hitlers Besuch ist in mehreren Quellen festgehalten, zunächst in den Tagebüchern von Buttmanns Ehefrau Karoline und dann in den Erinnerungen des jüdischen Benutzers Eric Lucas, der zufällig im Lesesaal sitzt, als Hitler zu Besuch kommt (vgl. S. 84). In der Nacht vom 9. auf den 10. März 1943 fallen erstmals Bomben auf die Staatsbibliothek. Es ist der zehnte Luftangriff auf München, dabei fallen 567 Tonnen Spreng- und Brandbomben.27 Durch diesen und drei weitere Luftangriffe auf München werden 85 Prozent des Gebäudes zerstört, über 400 000 Bücher verbrennen im Feuer. Die Tagebücher Buttmanns zeigen, dass man sich bereits zu Kriegsbeginn bemüht hat, die wichtigsten Schätze auf das Land zu verbringen, wobei vor allem Schlösser und Klöster bevorzugt werden. Dieser Schritt wird nicht zuletzt deshalb notwendig, weil bereits 1941 und 1942 die Bibliotheken von Berlin, Kassel, Kiel und Karlsruhe von Bomben getroffen werden. Nach dem ersten Angriff muss der Ausleihbetrieb eingestellt werden, die Mitarbeiter waren gänzlich mit Bergungs-, Räumungsund Ordnungsarbeiten beschäftigt. 28 Ein Münchener Autor steht vor der geschlossenen Bibliothek – fast symbolisch hat eine Sprengbombe den Eingang getroffen, der nur über einen Schutthaufen zu erreichen ist. »Ich trauere tief um das schöne München«, schreibt Gertrud von Le Fort am 14. März 1943 in einem Brief an Arthur Maximilian Miller, »vor allem auch um die geliebte Staatsbibliothek, die mir viele Jahre meine Arbeit fördern half, und wo ich so daheim war wie im eigenen Hause«.29 Le Fort hatte die Staatsbibliothek intensiv zur Recherche benutzt.30 Der Wiederaufbau des Hauses und der Neuaufbau der Bibliothek ziehen sich bis zum Ende der 1960er Jahre. Nach dem Krieg wird in der Arcisstraße eine Zweigstelle eröffnet, von der man erst 1952 wieder provisorisch in die Ludwigstraße ziehen kann. Dennoch wird die Staatsbibliothek schnell wieder zum Ort von Literaten und ihren Protagonisten.31 Bis heute ist sie für viele Autoren der Ort, der ihnen die Recherchen zu ihren Werken ermöglicht.32 Andere Autoren lassen auch ihre Protagonisten dort recherchieren.33
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In den 1960er und 1970er Jahren eröffnet eine veränderte Bildungspolitik einem wachsenden Teil der Bevölkerung den Zugang zu universitärer Ausbildung. Gefördert wurde dies durch die Neugründung zahlreicher Gymnasien und mehrerer Universitäten und Fachhochschulen in Bayern. Auch in München steigt die Zahl der Studierenden stark an. Vor diesem Hintergrund wird es für die Bayerische Staatsbibliothek zunehmend schwieriger, ihr Selbstverständnis als Anlaufstelle vor allem für die Spitzenforschung zu vertreten sowie auf ihren Charakter als Archivbibliothek zu verweisen, deren Aufgabe es sei, das Gesammelte für künftige Generationen zu bewahren. Die lang gepflegte Haltung gerät auch deswegen immer stärker in die Kritik von Presse und Benützern, weil die Bibliothek der Universität nicht entsprechend gut ausgestattet ist.34 Dabei arbeitet man in der Staatsbibliothek in dieser Zeit hinter den Kulissen bereits mit großem Innovationsgeist und Aufwand an Mitteln daran, die EDV dem Einsatz im Bibliotheks alltag dienstbar zu machen: So werden seit 1982 die Monografien elektronisch katalogisiert. Ab Anfang der 1990er Jahre erweiterte sich das Leitbild des Hauses, es wandelt sich immer stärker zu einem allgemeinen Wissens- und Informationsdienstleister. Im allerjüngsten Selbstverständnis sieht sich das Haus ausdrücklich als Gedächtnisinstitution von Weltrang und Informations infrastruktur für den Wissensschaftsstandort Bayern. Der Nutzer ist ein gerngesehener Gast, ja ein ›Kunde‹ geworden, und die Bibliothek zum Teil des alltäglichen Lebens ihrer Nutzer. Die Literaten spiegeln das wider, wie etwa der Text des jungen Münchener Autors Fridolin Schley zeigt (vgl. S. 131). Die Bayerische Staatsbibliothek ist nicht nur Rückzugsraum für eines jeden Spleen, sie fungiert auch als Kontaktzone und verdichtet das Wissen mit einem Hauch von Erotik, eingebunden in das alltägliche Leben. Man möchte meinen, die Bayerische Staatsbibliothek sei endlich dort angekommen, wo sie hingehört: Sie ist ein Stadtteil im Stadtteil geworden. Mehr noch: Sie hat Richtfest beim Wiederaufbau, November 1949
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sich auch im digitalen Zeitalter als Vorreiter etabliert. Seit 2007 werden die älteren Bestände – mehr als eine Million Bücher – in einer Partnerschaft mit Google digitalisiert und wie viele Handschriften und Inkunabeln online bereitgestellt. Eine Reihe von Internetportalen betreut das Haus ebenso wie es die sozialen Medien nutzt: Die Bibliothek postet etwa auf Facebook, twittert fleißig und produziert mobile Apps sowie Filme, die sie in einem eigenen YouTube-Kanal präsentiert. München, im Oktober 2014
Waldemar Fromm, Stephan Kellner
Die vier »Heiligen«: »Vor der Staatsbibliothek, früher schämte ich mich dieser vier Hanswurste, wie überhaupt dieser Ludwigstraße, stand ich einige Zeit und dachte an mein Schaf. Gehört Ihnen das Schaf? Oriste? Das Schaf? Ich wußte nicht, was Schaf auf griechisch heißt.« Herbert Achternbusch
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Anmerkungen 1 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Lesen und Schreiben nach Babel – Über das Modell der labyrinthischen Bibliothek bei Jorge Luis Borges und Umberto Eco. Arcadia, 27, H. 1 / 2 1992, S. 106–125. 2 Vgl. Knut Ebeling, Stephan Günzel: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin 2009, S. 9, 14. 3 Zu weiteren Bildern der Bibliothek im öffentlichen Raum vgl. Hans-Christoph Hobohm: Bibliothek – Mythos, Metapher, Maschine. Oder: Der Ort der Bibliothek in der Lebenswelt der Stadt. In: Civitas. Geometrie und Lebenswelt. Eine Ringvorlesung zur Stadt. Hg. von H. Kleine. Potsdam 2001, S. 58–65. 4 Vgl. Michaela Ott: Raum. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart / Weimar 2000ff., Band 5, S. 113–149. 5 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. München / Wien 2003, S. 307. 6 Vgl. Karl-Heinz Fallbacher: Literarische Kultur in München zur Zeit Ludwigs I. und Maximilians II. München 1992. 7 Vgl. dazu Cornelia Jahn: Mühsam erworbene Schätze – Der Ablauf der Büchersäkularisation. In: Dieter Kudorfer (Red.): Lebendiges Büchererbe. Säkularisation, Mediatisierung und die Bayerische Staatsbibliothek (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge 74). München 2003, S. 21–46, hier S. 28–33, Zitat S. 31. 8 Im Folgenden zitiert nach: Handbuch der Bibliothekswissenschaft. Hg. von Georg Leyh. Band 3: Geschichte der Bibliotheken. Wiesbaden 1955, S. 178f. Zu diesem Thema vgl. auch Stephan Kellner: Vom »künstlichen Chaos« zur Ordnung »in Reih und Glied« – der schwierige Weg zur Katalogisierung der Druckschriften. In: Kudorfer: Büchererbe (wie Anm. 7), S. 72–79. 9 Ebd. 10 Zitiert nach Stephan Kellner: Bibliotheca erotica Krenneriana – eine bürgerliche Privatsammlung um 1800. Bibliotheksforum Bayern 1994, 22, S. 64–86, hier S. 79f. 11 Vgl. dazu und zum Folgenden Annemarie Kaindl: »Nicht nur für den gegenwärtigen Bedarf, sondern für den von Jahrhunderten« – Der Bibliotheksbau in der Ludwigstraße. In: Kudorfer, Büchererbe (wie Anm. 7), S. 214–227. 12 Carolyn Krebber: Der Bau der Bayerischen Staatsbibliothek in München von Friedrich Gärtner. München 1987, S. 35ff. 13 Wilhelm Heinrich Riehl: Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik. Band 3: Die Familie. Stuttgart / Augsburg 1855, S. 185. 14 Zitiert nach: Franz Georg Kaltwasser: Die Bibliothek als Museum. Von der Renaissance bis heute, dargestellt am Beispiel der Bayerischen Staatsbibliothek. Wiesbaden 1999, S. 165. 15 Allgemeine Auskunft über die K. Hof- und Staatsbibliothek zu München aus dem Jahr 1851, S. 8. 16 Vgl. dazu Mirko Gemmel, Margrit Vogt (Hg.): Wissensräume. Bibliotheken in der Literatur. Berlin 2013, bes. S. 7–13 die Einleitung von Margrit Vogt. 17 Georg J. Plotke: Der Briefwechsel zwischen Paul Heyse und Theodor Storm. München 1917, 1. Band: 1854–1881, S. 27. 18 Das Bedürfnis nach Reformen an der Hof- und Staatsbibliothek in München. Beobachtungen eines Besuchers zugleich als Motivierung für einen Nachtragsetat. München 1894. 19 Ebd. S. 6f. 20 Regina Ullmann: Ich bin den Umweg statt den Weg gegangen. Ein Lesebuch. Hg. von Charles Linsmayer. Frauenfeld 2000, S. 281, 306. 21 Vgl. den Hinweis bei Christian Klein: Ernst Penzoldt. Harmonie aus Widersprüchen. Leben und Werk. Köln, Weimar 2006, S. 279.
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22 Annette Kolb: Wege und Umwege. 2. u. 3. Aufl. Berlin 1919 (zuerst 1914), S. 133, vgl. Annette Kolb: René Schickele. Briefe im Exil 1933–1940, in Zusammenarbeit mit Heidemarie Gruppe. Hg. von Hans Bender, Mainz 1987, S. 106 und den Kommentar auf S. 396, vgl. auch Annette Kolb: Blätter in den Wind. Frankfurt am Main 1954, S. 20. 23 Max Halbe: Scholle und Schicksal München. Die Geschichte meiner Jugend. München 1933, S. 335. 24 Josef Hofmiller: Revolutionstagebuch 1918 / 19. Aus den Tagen der Münchner Revolution. Leipzig 1939, S. 74. 25 Johannes R. Becher: Gesammelte Werke, Band 2. Berlin / Weimar 1975, S. 304. 26 Angaben nach Fridolin Dressler: Die Bayerische Staatsbibliothek im Dritten Reich. Eine historische Skizze. In: Peter Vodosek, Manfred Komorowski (Hg.): Bibliotheken während des Nationalsozialismus, Teil 1, Wiesbaden 1989, S. 49–79. Zur Amtsführung Buttmanns vgl. auch Susanne Wanninger: Die Bayerische Staatsbibliothek unter Rudolf Buttmann. In: Michael Knoche, Wolfgang Schmitz (Hg.): Wissenschaftliche Bibliothekare im Nationalsozialismus. Handlungsspielräume, Kontinuitäten, Deutungsmuster. Wiesbaden 2011, S. 165–177. 27 Im Folgenden nach: Fridolin Dressler: Bomben auf die Bayerische Staatsbibliothek. Eine Dokumentation und kritische Betrachtung der Ereignisse vor 50 Jahren. Bibliotheksforum Bayern 21, 1993, 3, S. 223–249. 28 Vgl. dazu Susanne Wanninger: »Wie gering wäre der Schaden, wenn Medizin und Jus verbrannt wären« – Die Bayerische Staatsbibliothek im Zweiten Weltkrieg. In: Monika Fenn, Gregor Meilchen (Hg.): Bayerische Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. München 2011, S. 207–227. 29 Arthur Maximilian Miller: Briefe der Freundschaft mit Gertrud von Le Fort. Memmingen 1976, S. 47. 30 Gertrud von Le Fort: Aufzeichnungen und Erinnerungen. Einsiedeln 1951, S. 84. 31 Hugo Hartung: Wir Wunderkinder. Olten 1957, S. 96; Wolfgang Hildesheimer: Lieblose Legenden. Frankfurt am Main 1962, S. 60; Horst Bienek: Beschreibung einer Provinz. München 1983, S. 16, 36. 32 Aus den zahllosen Beispielen seien nur einzelne erwähnt: Carl Amery: An den Feuern der Leyermark. München / Leipzig 1979, S. 6, S. 33; zu Tankred Dorst vgl. Günther Erken (Hg.): Tankred Dorst. Frankfurt am Main 1989, S. 141. 33 Auch hier können die Beispiele den Umfang nur andeuten: Hermann Lenz: Ein Fremdling. Frankfurt am Main 1983, S. 149; Carl Amery: Das Geheimnis der Krypta. München / Leipzig 1990, S. 103; Thomas Meinecke: The church of John F. Kennedy. Frankfurt am Main 1996, S. 168f., 184. 34 Vgl. zum Beispiel Ulrike Henrichs: Mangel im Überfluß. Vom Versuch, die Bayerische Staatsbibliothek zu benutzen. Süddeutsche Zeitung. München 22. Februar 1996, S. 11.
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Aufbruch und Platzprobleme (1806 –1836)
Die neue Zeit Johann Christoph von Aretin (1773 –1824)
Johann Christoph von Aretin, Publizist, Jurist und Historiker, wurde 1802 an die Bibliothek berufen. Auf Reisen sammelte er Bücher aus den säkularisierten Klosterbibliotheken in ganz Bayern. Da eine Neuordnung der Bibliothek nicht gelang und er zudem in wissenschaftliche Streitigkeiten verwickelt war, wurde er 1811 nach Neuburg an der Donau versetzt. In seinem Reisebericht »Briefe über meine literarische Geschäftsreise in die baierischen Abteyen« (1806) informierte er die Öffentlichkeit über die Zustände in den Klosterbibliotheken.
Schäftlarn 1. April 1803 Zwischen gestern und heute stand eine Kluft von tausend Jahren: Heute ist der Riesenschritt über diese unermeßliche Kluft gewagt. Von heute an datiert sich eine Epoche der bayerischen Geschichte, so wichtig, als in derselben bisher noch keine zu finden war. Von heute an wird die sittliche, geistige und physische Kultur des Landes eine ganz veränderte Gestalt gewinnen. Nach tausend Jahren noch wird man die Folgen dieses Schrittes empfinden. Die philosophischen Geschichtsschreiber werden von Auflösung der Klöster, wie sie es von der Aufhebung des Faustrechts taten, eine neue Zeitrechnung anfangen, und man wird sich dann den Ruinen der Abteien ungefähr mit eben dem gemischten Gefühle nähern, mit welchem wir jetzt die Trümmer der alten Raubschlösser betrachten. Glauben Sie nicht, lieber Freund, daß mich hier der Enthusiasmus zu weit hinreiße. Wenn Sie den bisherigen Einfluß unserer Klöster, die das Dritteil des Landes inne hatten, näher kennen lernen, so bin ich überzeugt, Sie werden mit mir die Wichtigkeit der Änderung einsehen, die den Zeitgenossen nie oder nur selten im wahren Lichte erscheinen kann. Nur nach solchen Epochen muß man Geschichte studieren und schreiben. Nicht an einzelne Regenten, noch seltner an ganze Fürstenhäuser knüpft sich der Faden der philosophischen Geschichte an. Große Begebenheiten allein, die auf den Charakter, auf die Kultur des Volks
28 Aufbruch und Platzprobleme (1806 –1836)
mächtig wirken, müssen dem echten Historiker die Leitsterne in seinem Studium sein. Nicht wahr, Sie wünschen eine solche Geschichte von Bayern? Ich auch, aber hier ist der Ort nicht, mich näher hierüber zu erklären. Vielleicht geschieht es einmal in einer akademischen Vorlesung. (Johann Christoph von Aretin: Briefe über meine literarische Geschäftsreise in die baierischen Abteyen. In: Beyträge zur Geschichte und Literatur, vorzüglich aus den Schätzen der Königl. Hof- und Centralbibliothek zu München. Band 1. München 1803, S. 98.)
Eine Handschrift geht auf Reisen August Wilhelm Schlegel (1767 –1845)
August Wilhelm von Schlegel ist neben seinem Bruder Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis) ein wichtiger Vertreter der Jenaer Romantik. Sein Interesse für alte Handschriften ist auf die Mittelalterbegeisterung der Romantiker zurückzuführen. August Wilhelm von Schlegel stand in brieflichem Kontakt mit dem Bibliothekar Johann Christoph von Aretin. Die Ausleihe von Handschriften bildete damals eine noch allgemein übliche Praxis in der Gelehrtenwelt.
Genf d. 4ten April 1809 Diese Zeilen bringt Ihnen, mein hochgeehrtester Herr Freyherr, ein sehr werther Freund von mir und ein vortrefflicher Künstler, Hr. Friedrich Tieck, ein Bruder des Dichters, und wie dieser mit herrlicher Erfindungskraft begabt. Sein Name wird Ihnen gewiß bekannt seyn, sollten Sie auch noch nichts von seinen Arbeiten gesehen haben. Sie werden ihn sehr verbinden, wenn Sie mit eben der Gefälligkeit wie gegen mich, ihn die auf Ihrer Bibliothek befindlichen Schätze altdeutscher Kunst wollen sehen lassen.
August Wilhelm Schlegel 29
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