Tango Global  Band 2
Tango Global Herausgegeben von Ralf Sartori
Bislang erschienen: Tango Global Band 1 Tango in Berlin. Geschichten zur Pionierzeit, Tango am Rio de la Plata, Buenos Aires und Montevideo Tango Global Erster Themen-Sonderband Tango – die Essenz. Eine Annäherung mit 49 Maximen für den tanzenden Eros
Tango Global Die Buchreihe zu einem weltweiten Phänomen Herausgegeben von Ralf Sartori
Band 2 Lokale Themen-Schwerpunkte Tango in Berlin – Die Pionierinnen – weitere Streiflichter durch die Berliner Tangoszene und Tango am Rio de la Plata
Allitera Verlag
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de sowie zur Tangoreihe unter www.tango-a-la-carte.de
April 2016 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2016 Buch&media GmbH, München Umschlagmotiv Vorderseite: Lilia (Lili Keller) und Jens-Christian (Rawn) auf dem Dach des Tangoloft, Foto: Julian Kazmierczak, © Hildebrandt Film Umschlagmotiv Rückseite: Die Momentaufnahme eines Tangofests in Clärchens Ballhaus, Foto: © Marco Nieschka issn 2363-8095 isbn 978-3-86906-885-5 Printed in Germany
Inhalt Grußwort des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller, für Band 2 der Tango-Berlin Buch-Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin
Prolog Tango in Berlin – Band 2 der Buchreihe Tango Global . . . . . . . . . . . . . . . . 13 In dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Ralf Sartori
Die Berliner Tango-Pionierinnen und noch ein -Pionier Ein Koffer voller Tango – Wege im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach Italien und wieder weiter… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ana Bayer
Interview mit Angelika Fischer, TangoArt, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Sophie Charlotte Fischer und Claudia Lenk
Ein Leben für das Bandoneón – Interview mit Klaus Gutjahr . . . . . . . . . . . . . 48 Ralf Sartori
Interview mit Annette Lange (Tango Vivo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Ralf Sartori
Tango in Berlin Ein weiterer Streifzug durch die Berliner Tangoszene Ohne »Tango Pasión« wäre ich keine Filmemacherin geworden . . . . . . . . . . . 82 Kordula Hildebrandt (Autorin, Regisseurin, Produzentin) über ihren Kinofilm »Tango Pasión«
Interview mit Kordula Hildebrandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Ralf Sartori
Interview mit Lilia und Jens-Christian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Lilia und Jens-Christian über sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Das Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Ralf Sartori
Monas Geschichte mit dem Tango . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Mona Katzenberger
Mona Katzenberger im Gespräch mit Ralf Sartori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Ralf Sartori
TANGONALE – das Sommerfest der Tangokunst Ein Interview mit Hans-Henner Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Cafetín del Sur – Ein TangoTheaterProjekt aus Berlin von Hans-Henner Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Fortsetzung des Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Ralf Sartori
Tango am Rio de la Plata Interview mit German Kral über seinen neuen Film »Ein letzter Tango« . . . . 133 Ralf Sartori
Tango Solidario – hier und dort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Ute Neumaier, Buenos Aires
Redaktion und Herausgabe sowie das Verzeichnis der 15 Text- und 16 Bild-AutorInnen Redaktion und Herausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Die 15 Text- und 16 Bild-AutorInnen dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
»Tango Global« – bislang erschienene Bände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Weitere Tango-Literatur von Ralf Sartori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Mona Katzenberger und Carlos
Foto: Stefan Rรถhl
Grußwort
des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller, für Band 2 der Tango-Berlin Buch-Trilogie
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erlin ist Hauptstadt, auch – und der Hinweis darf in diesem Zusammenhang nicht fehlen – Tango-Hauptstadt. Freunde dieses argentinischen Tanzes haben keine Mühe, jeden Abend in wechselnder Lokalität auf ihre Kosten zu kommen: ob im gediegenen Tanzsaal, im Hinterzimmer einer der vielen Kneipen der Stadt oder im Sommer unter dem Sternenhimmel mit Blick auf die Museumsinsel. Die Wurzeln der Berliner Tango-Begeisterung sind vielfältig. Eine wichtige liegt in der engen Verbindung zu unserer Partnerstadt Buenos Aires. Auch und besonders der Tanz bildet die kulturelle Brücke, die Berlin mit der Welthauptstadt des Tango verbindet und dieser Städtepartnerschaft ihren besonderen Rhythmus und Ausdruck verleiht. Wer mehr über die Berliner Tango-Szene wissen will, dem sei die Lektüre dieses Buches empfohlen, dem ich viele interessierte Leserinnen und Leser wünsche.
Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin
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Prolog Tango in Berlin – Band 2 der Buchreihe Tango Global
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ie Konzeption dieser Buch-Trilogie über Entstehung, Entwicklung und Gegenwart der Berliner Tangoszene, mit besonderem Fokus auf Berlins tragende Rolle bei der zweiten Globalisierungswelle des Tango, die Ende der 1970er Jahre entscheidend durch die Militär-Putsche in Uruguay, Argentinien und Chile ausgelöst wurde, beziehungsweise die im Zuge dessen überwiegend ins europäische Exil Abgewanderten, wurde bereits in Band 1 ausführlich beschrieben. Viele der meist jungen Exilanten trugen den Tango im Gepäck und entdeckten ihn oft erst nach Jahren in der Fremde als Bindeglied zu der Heimat, den eigenen Wurzeln und den gewohnten aber bald schon entbehrten sozialen Umgangsformen, deren zwischenmenschliche Nähe und Wärme sich auch im Tango ausdrücken, und deren Verlust in einer von anderen Mentalitäten und Einflüssen geprägten Gesellschaft zunehmend schmerzte. Daneben behandeln diese drei Bände mit dem lokalen Schwerpunkt des Berliner Tango in geringerem Umfang noch weitere tangospezifische ortsunabhängige Themenfelder. Wenngleich die Versuchung groß ist, auch hierüber noch einmal zu schreiben, enthalte ich mich ihrer und verweise stattdessen auf die Vorworte des ersten Bandes der Reihe »Tango Global«. Beide, das zur gesamten Buchreiche als auch jenes zum Berliner Tango, können ganz einfach nachgelesen werden. Dahinter verbirgt sich keine Verkaufs-Strategie für Band 1, denn diese Grundsatztexte stehen auch auf unserer Homepage, die mit dem Suchbegriff »Tango-Buchreihe« leicht zu finden ist. Und hier berühren wir einen weiteren Aspekt dieser Publikation, jenen der interaktiven Bücher. Sie können diese – wie auch einzelne Artikel daraus – kommentieren, dazu Stellung beziehen sowie mit anderen LeserInnen oder den AutorInnen über deren Inhalte auf unserem Blog diskutieren, zu dem Sie unter dem Suchbegriff »Tango Blog Berlin« gelangen. Darüber hinaus freuen wir uns über viele weitere Kooperationspartner und Autorenbeiträge für die nächsten Bände. Bei Interesse wenden Sie sich einfach an die Redaktion. Nun ähnelt die Vorgehensweise bei der redaktionellen Arbeit an dieser Trilogie jener im Hinblick auf die Anforderungen beim Tanzen während einer Milonga: Man entwirft aus der gegenwärtigen Sicht eine Struktur und einen Plan, diese ins Werk 13
zu setzen, wird dabei aber sogleich wieder auf die Forderung verwiesen, im Dialog mit allen immer wieder neu hinzukommenden Aspekten und Perspektiven zu improvisieren, sich permanent auf ein nicht vorhersehbares Geschehen und dessen Fortgang zu beziehen und spontan einzustellen – ein lebendiger Prozess, der für mein Empfinden die Sphäre einer spielerisch-improvisatorischen Verbundenheit zwischen allen Beteiligten schafft und in dynamischer Weise aufrecht erhält. So auch mit den Themenfeldern des jeweiligen Buches, seiner wachsenden und sich ausgestaltenden inhaltlichen Zusammenstellung: ein magischer Prozess, der mich bei der Arbeit daran fortwährend inspiriert und trägt – wie bei einem gut getanzten Tango. Aufgrund dieses improvisatorischen Vorgehens weiche ich bereits hier von meinem ursprünglichen Vorhaben ab, in jedem der drei Bände hauptsächlich nur jeweils eine der drei Entwicklungsphasen des Berliner Tango darzustellen. Zum einen, da in dieser Trilogie die Berliner Protagonisten der letzten 35 Jahre vor allem in Eigenbeiträgen zu Wort kommen und die Pioniere unter ihnen (nur mit Ausnahme von Ana Bayer) bis in die Gegenwart des Berliner Tango hinein wirken, ihn immer noch aktiv mitgestalten. Aufgrund dessen ziehen sich die Fäden ihrer Biografien (dementsprechend inhaltlich auch ihre Texte) durch das Gesamtgewebe des Berliner Tango und seiner vielfältigen Sedimente, Zeiten und Ereignisse. Eine andere mögliche Vorgehensweise wäre gewesen, das recherchierte und von den AutorInnen erhaltene Material erst einmal zu sammeln, dann soweit zu zerstücken und zu verändern, um es einem solchen Drei-Phasen-Strukturmodell unterwerfen zu können. Ein mehr zentral und von außen gesteuerter Gestaltungsprozess, ähnlich wie bei der Erstellung einer Choreografie. Dabei wären allerdings viel an authentischem Erzählfluss, Text-Zusammenhang und Originalität aller Beteiligten auf der Strecke geblieben. Zudem bin ich ein oft ungeduldiger Mensch und wollte nicht noch Jahre damit zuwarten, den ersten Band dieser Trilogie, als eine Art Flaschenpost, deren Empfänger in wundersamer Weise unvorhersehbar sind, in die Gewässer des Tango zu schicken, welche nun so auch weitere interessante potenzielle AutorInnen auf das Projekt aufmerksam werden lässt. Das spannende Moment daran, immer zuerst nur einen Band fertigzustellen und ihn daraufhin gleich auf die Reise zu schicken, bevor man sich an die Arbeit mit dem nächsten macht, zeigt sich darin, dass der dialogische Rückfluss aus der Wahrnehmung eines jeden Bandes die Teilnahme weiterer AutorInnen, erweiterte Einblicke in die Berliner Tangoszene sowie neue Ideen und Perspektiven eröffnet, die den Strukturen und Inhalten jedes nächsten Bandes zugutekommen können: dialogisches Arbeiten versus vorgefasster Planumsetzung. Und meine Vorgehensweise, die maßgeblichen ProtagonistInnen des Berliner Tango in dieser Trilogie größtenteils selbst zu Wort kommen und diese auch darüber reflektieren zu lassen, was für sie das Wesentliche, die Essenz des Tango ausmacht, 14
und wie dieser die eigene Biografie durchwirkt, die persönliche Entwicklung beeinflusst (hat), zeigt einmal mehr – und facettenreich –, was wir eigentlich schon immer wussten oder zumindest erahnten: Jede, jeder erlebt den Tango, bei allem gemeinsamen Empfinden, gemäß seiner Persönlichkeit und des eigenen Werdegangs anders und schafft damit seine ganz individuelle Wirklichkeitskonstruktion.
In dieser Ausgabe So wie die Beiträge der Berliner Tango-Pioniere Juan Dietrich Lange und Michael Rühl im ersten Band eine lange Zeitspanne von Anfang der 1980er Jahre bis in die Gegenwart hinein durchmessen, widmet sich Band 2 eingehend einer Rückschau auf die Anfangsjahre aus Sicht der Pionierinnen. Kamen in Band 1 die Tangueros der ersten Stunde zu Wort, gehört diese Bühne nun hauptsächlich den ersten Tangueras in Berlin, die die Szene aktiv mitaufbauten und -formten, Frauen, die von Anfang an auch in der Männerrolle führten. Die Rede ist von den Berliner Tango-Pionierinnen, Annette Lange (Tango Vivo), Angelika Fischer mit Brigitta Winkler (TanzArt/aktuell bei Angelika TangoArt) und Ana Bayer, die, nur mit Ausnahme letzterer, bis heute in der Berliner Tangoszene aktiv sind. Und es gibt in dieser Zusammenstellung auch noch einen weiteren Tango-Pionier, Klaus Gutjahr, der als Bandoneonist und weltweit erster Bandoneón-Bauer beim Festival »Horizonte 82« mitwirkte – sowohl im Hintergrund als auch mit zwei Berliner Musikerkollegen im Trio (als die einzigen deutschen Tango-Interpreten dort) auf der Bühne. Sie alle erzählen von ihrer Anfangszeit mit dem Tango, spannen dabei aber ebenfalls den Bogen bis in die Gegenwart hinein – und stellen ihre aktuellen Projekte vor. Weitere Gegenwartsbezüge ergeben sich aus dem Dokumentarfilm über die Berliner Tangoszene »Tango Pasión« von Kordula Hildebrandt, in dessen Entstehungsgeschichte, Inhalte und Dreharbeiten die Filmemacherin in ihrem Artikel Einblicke gewährt. Dadurch wiederum angeregt, enthält dieser Band auch Eigenbeiträge einiger ProtagonistInnen aus dem Film, wie Lilia und Jens-Christian oder Mona Katzenberger. Und Hans-Henner (Hannes) Becker spricht darin über das von ihm gegründete Tangokunst-Festival Tangonale, welches er auch leitet, sowie über seine Tango-Theaterprojekte. Im Kapitel »Tango am Rio de la Plata« stellt Ute Neumaier dann Tango Solidario vor, ein Projekt zugunsten von Straßenkindern in Buenos Aires, mit bisher drei Kinderheimen, die durch Spenden von TangotänzerInnen aus aller Welt unterstützt werden. 15
In Band 1 hatten wir eigens ein Kapitel »Tango im Dokumentar- und Spielfilm«, welches in diesem zweiten Band nicht gesondert in Erscheinung tritt, da sich Kordula Hildebrandts Filmbeschreibung bestens in das Kapitel »Ein weiterer Streifzug durch die Berliner Tangoszene« einfügt. Der zweite Tangofilm – Ein letzter Tango –, um den es hier in Form eines Interviews mit dem Filmemacher German Kral geht, konnte wiederum sehr stimmig in das Kapitel »Tango am Rio de la Plata« eingebunden werden. Und die drei Schwerpunkt-Kapitel »Tango in Asien«, »Impressionen, Reflexionen und Erzählerisches« sowie »Tango in der sozial-therapeutischen Arbeit« setzen wir in diesem Band ebenfalls aus und nehmen diese in den weiteren Ausgaben der Reihe nach und nach wieder auf. Zum Schluss noch ein paar Worte über meine persönliche Motivation zu der Arbeit an dieser Trilogie: Die Geschichte des Berliner Tango, des Wachstums, der Ausgestaltung und Veränderung seiner Milieus und Subkulturen, der Szene, reicht nun etwa 35 Jahre zurück. Tango ist seitdem zu einem globalen Phänomen geworden. Seine beiden Welt-Metropolen sind Buenos Aires, gefolgt von Berlin. Allein die unüberschaubare Fülle an Berliner Tango-Angeboten, die große Zahl von Anbietern mit ihren unterschiedlichen Auffassungen und Zugängen zwingt mittlerweile schon zur Auswahl. Was dabei als wichtig oder repräsentativ bewertet wird, ist nicht zuletzt eine Frage subjektiver Betrachtung. Der Berliner Tango-Kosmos ist heute zu groß, die Geschichten seiner Verbindungen allzu komplex, um ihn hier vollends abzubilden. Was mir jedoch besonders am Herzen liegt mit dieser Publikation, ist der Versuch, die Wurzeln des Berliner Tango der Mit- und Nachwelt so weitgehend als möglich zu überliefern, mit all den persönlichen Geschichten und Erinnerungen ihrer Protagonisten an die Pionier- und Anfangszeit. Dass dabei einige darunter in manchen Punkten nicht immer ganz deckungsgleich sind, ist nicht nur deren Gegenspieler, dem Vergessen, geschuldet, sondern entspricht ganz einfach dem oszillierend-subjektiven Charakter jeglicher menschlichen Erinnerungsleistung (oft sind es gerade die Widersprüchlichkeiten und Unterschiede in der Wahrnehmung, die ein Gesamtbild erst seiner Vollständigkeit näherbringen, die letztlich nie ganz erreicht werden kann). So kristallisiert sich in eben diesen Widersprüchlichkeiten und Übereinstimmungen erst so etwas wie eine gemeinsame Erzählung und ein Bild, das einen deutlichen Geschmack dieser Zeit vermittelt. Die Szene war damals noch in keiner Weise professionalisiert, sie war familiär, hoch individualistisch geprägt und vor allem überschaubarer. Daher lässt sie sich hier, in diesen ersten beiden Bänden, auch vollständiger erfassen. Dasselbe gilt natürlich für deren Verästelungen, Querverbindungen und Differenzierungen, was im weiteren Verlauf der Darstellungen umso schwieriger wird, je weiter wir uns von dieser Anfangszeit entfernen. 16
Die, welche sich heute noch an die Anfänge erinnern, stehen nicht ewig zur Verfügung, ihre Geschichten werden auch zu ihren Lebzeiten weiter verblassen und verwehen, wenn wir sie nicht jetzt endlich festhalten. Die Berliner Tangoszene wird gewiss weiter wachsen und sich verändern, in einem Tempo, das für Berlin so typisch ist. Insofern ist es absehbar, dass uns und künftigen Generationen von Tangueras und Tangueros die gemeinsame Erinnerung daran, wie alles begonnen hatte und es dann nach und nach weiterging, abhandenkommen wird, ohne die Bemühung, unsere Geschichte möglichst lebendig, getreu und ausgiebig festzuhalten und dabei auch die vielen kleinen Geschichten zu bewahren, die Wesentliches erzählen. In Band 1 steht der deutschstämmige Uruguayer Juan Dietrich Lange mit seinen Eigenbeiträgen im Zentrum der Zusammenschau, da ihm eine herausragende Rolle als Motor der Berliner Tangoszene zukommt, aber auch weil seine Geschichte als Exilant, der nach dem Militärputsch in Uruguay auf Umwegen nach Berlin gekommen war, so prototypisch ist für die Wiederverbreitung des Tango in Europa und letztlich weltweit. Als Pendant dazu beginnen wir diesen Band nun mit einem ausführlichen Eigenbeitrag von Ana Bayer, die, als deutschstämmige Argentinierin, mit ihrer Familie vor den Militärs nach Europa fliehen musste und ebenso in Berlin landete. Ana Bayer und Juan Dietrich Lange repräsentieren damit nicht nur, aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft (Uruguay/Argentinien), die Herkunft des Tango an sich, sie stehen beide auch für dessen neuerliche Rückkehr nach Europa und globale Wiederverbreitung aufgrund der besonderen historischen Gegebenheiten dieser Zeit, ihrer inneren Motivation, Initiative und ihren Aktivitäten. Und, woraus sich noch ein weiteres reizvolles erzählerisches Moment ergibt, sie hatten sich im Zuge des Festivals »Horizonte 82« kennengelernt und dabei beschlossen, im damaligen West-Berlin gemeinsam mit Tango etwas auf die Beine zu stellen. Ralf Sartori
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Die Berliner Tango-Pionierinnen und noch ein -Pionier
Brigitta Winkler (links) und Angelika Fischer (rechts) in einer Tango-Show vor dem Hamburger Bahnhof, 19 Museum für Gegenwart – Berlin-Mitte, 1986 Foto: © Stefan Wiesner
Ein Koffer voller Tango – Wege im Exil Berlin
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ie eigene Geschichte aufzuschreiben kann viele Seiten füllen oder nur wenige, je nachdem, wie viel man davon erzählen möchte oder wie weit das eigene Erinnerungsvermögen noch mitspielt. Wo liegt der Beginn, wenn dieser wiederum noch einen anderen Anfang hat und so weiter? In diesem Fall wähle ich dafür einen Augenblick, einen kurzen Moment, an den ich mich ganz gut erinnere. Das war in Berlin 1982, während eines Tango-Konzertes, unter anderem mit dem Sexteto Mayor und mit Juan José Mosalini; ich, Ana Bayer – aus Argentinien – und andere Exilierte aus Lateinamerika in Berlin, darunter Juan Dietrich Lange – aus Uruguay – saßen gemeinsam an einem Tisch: Juan Dietrich schaute mich an, ich schaute ihn an und wir beide fragten uns: wie schön! Tango-Musik, aber wo bleibt der Tanz? Wieso wird nicht mehr Tango getanzt? Für mich markierte dieser Moment den Anfang des Tango in Berlin, welcher dann auch mein Leben verändert hat. Wahrscheinlich war dies für andere, die daran beteiligt waren, ein ganz anderer Augenblick als für mich. Deswegen will ich meinen Augenblick auch nicht als den wahren Beginn dieser Geschichte festlegen. Aber vielleicht fing auch bei mir alles schon viel früher an: Meine Familie und ich lebten in Buenos Aires, bis mein Vater, ein engagierter Journalist und Schriftsteller, der wegen seines literarischen Werkes und eines Drehbuches 1976 von der Militär-Junta verfolgt wurde, mit uns ins Exil flüchten musste – nach Deutschland. Damals war ich 15 Jahre alt und bis dahin hatte ich schon eine lange Tanzausbildung hinter mir, war in der Staatlichen Tanzschule und im letzten Jahr sogar am Teatro Colón (dem größten Theater in Buenos Aires) als Ballett-Schülerin. Wir sind eine deutschstämmige Familie, zu Hause mit meiner Mutter und den drei Brüdern – Udo, der heute als Architekt in Linz am Rhein lebt, Cristian als SchiffsIngenieur in Hamburg und Stefan als Journalist in Berlin – sprachen wir deutsch und gingen in Buenos Aires auch auf eine deutsche Schule. Man fühlte sich zudem sehr deutsch und deswegen gab es bei uns zu Hause auch keinerlei Tangokultur, wir hörten nie Tango im Radio; für mich war Tango etwas für alte Leute, vor allem für alte Argentinier, die in La Boca (Viertel in Buenos Aires) wohnten. Und in all den Tanzschulen, die ich bis dahin besuchte, hatte ich als Fächer, abgesehen von Ballett, höchstens spanischen Tanz (Flamenco) oder argentinische Folklore (z.B. Chacarera). Es hätte dort auch keinen Tango gegeben. In den 1960er bis -70er Jahren war er ein20
fach nicht mehr populär, außer bei älteren Argentiniern, die aus Nostalgie TangoMusik hörten. Wir, die Familie und ich, mussten also ins Exil. Von einem Tag auf den anderen mussten wir fliehen. Als meine Mutter das Haus abschloss, dachte sie, wir würden schon nach kurzer Zeit wieder zurückkehren, aber sie hat ihr Haus nie wieder gesehen. Ich durfte nur wenig mitnehmen. Ohne groß zu überlegen, nahm ich meinen roten Tanzbeutel. Wir fuhren mit dem Schiff – das war ungefähr das letzte Passagierschiff aus der Zeit der »Eugenio C« –, mittlerweile sind das alles Kreuzfahrtenschiffe geworden –, wer jetzt mit den Schiff nach Argentinien reisen will, muss, soweit ich weiß, mit einem Frachter fahren. Beim Abschied am Hafen standen nur wenige Freunde und Bekannte am Kai und winkten. Dann wurde Buenos Aires immer kleiner: Das war alles so viel spannender als mit dem Flugzeug, wie jetzt üblich. Damals waren Flugreisen auch noch viel zu teuer. Nach zehn Tagen Überfahrt kamen wir, über Genua, 1974 in Essen an. Meine deutsche Großmutter – aus Nürnberg – war in ihrer Jugend, in den 1920er Jahren, Kunstfotografin, fotografierte auch bekannte Ausdrucktänzer in Deutschland, bevor sie auswanderte; sie liebte den Tanz und hatte diese Leidenschaft an meine Mutter weitergegeben. Deswegen kannte sie die »Folkwang-Hochschule« in Essen, wo ich mein Tanzstudium fortsetzen sollte. Dort kam ich in eine Klasse mit Susanne Linke, die jetzt Solo-Tänzerin, Choreografin und Hochschul-Professorin ist, mit dem bekannten Tänzer Lutz Förster und Reinhild Hoffman, die später ihre eigene Tanz-Compagnie leitete. Mit diesen und vielen anderen studierten wir dort Modern Dance. Und ab und zu kam natürlich auch Pina Bausch als Lehrerin zu uns. Danach setzte ich das Studium in der Hamburger »Lola-Rogge-Schule« fort, da ich nicht Tänzerin werden, sondern mich mit Tanzpädagogik beschäftigen wollte. Schließlich kam ich nach Berlin. Von diesem Zeitpunkt an gab ich nur noch Tanzunterricht und choreografierte für Tanz- und Theatergruppen. Ende der 1970er Jahre unterrichtete ich an der TU und der FU in Berlin Tanz; und gleichzeitig hatte ich, zusammen mit Ulla von Fersen und Michiko Hachisuka, ein eignes Tanzstudio in Kreuzberg, das wir von Daniel Sander übernommen hatten. Dort unterrichtete ich Modern Dance, Tanztheater und Flamenco. Da ich mich im Exil befand, hatte ich auch ständig mit andere Exilierten aus Lateinamerika Kontakt; es wurden Solidaritätsfeiern organisiert, man hörte damals von den vielen Verschwundenen, das alles war für mich nie einfach, da ich eigentlich diese zwei Welten nicht in mir verbinden konnte: die des Tanzes, der so ätherisch und mit Schönheit verbunden ist, und auf der anderen Seite die der Grausamkeit einer Diktatur, des Exils, von Verfolgung, Politik und Verschwundenen. Wie sollte ich das dauerhaft in mir zusammenbringen? 21
1984 – Tango-Choreografie »Die ohne Abschied gingen« von Ana Bayer, Tänzer: Michiko Hachisuka, Lars Jänchen, Foto: © privat
Nun brach 1982 der Malwinen-Falkland-Krieg zwischen Argentinien und England aus. Während dieser Zeit wurde in Berlin eines der größten Kultur-Festivals organisiert: das »Horizonte 82«. Das Beste der lateinamerikanischen Kultur kam nun nach Berlin – aus den Bereichen Musik, Theater, Tanz, Film, Literatur. Aus Argentinien unter anderem Tango-Musik mit dem Sexteto Mayor, Astor Piazzolla, Mercedes Sosa, Juan José Mosalini, Dino Saluzzi, dem Cuarteto Cedron, aber kein Tango-Tanz. Es kamen kolumbianische, mexikanische, brasilianische Tänzer et cetera, aber es gab keinen Tanz aus Argentinien. Als ich dann unter den Exilierten Juan D. Lange kennengelernt hatte, da wir zufällig zusammen an einem Tisch saßen, waren wir uns schnell in der Frage einig: Wo bleibt der Tango als Tanz? Und wieso konnten wir, ich, als gebürtige Argentinierin, und Juan Dietrich, als Uruguayer, ihn nicht tanzen? Das sehe ich noch heute vor 22
mir. Und das war für mich ganz eindeutig der Anfang. Wir beschlossen also, uns gemeinsam dem Tangotanz zu widmen. Es wird oft behauptet – und es steht so auch in vielen Quellen –, dass die Wiederauferstehung des Tango in Europa durch eine Show initiiert worden war, namens »Tango Argentino«, kreiert von den Argentiniern Claudio Segovia und Héctor Orezzoli, welche in den 1980er Jahren in Paris – und nicht nur dort – für Furore sorgte. Von dem Journalisten und Schriftsteller Tomas Barna, der 25 Jahre in Frankreich lebte und dort 20 Jahre für »Radio Francia Internacional« als Redakteur und ProgrammAutor arbeitete, stammt der Ausspruch, dass es in Paris eine Bar der lateinamerikanischen Exilierten gab, das »Trottoirs de Buenos Aires« – in der unter anderem die Gruppe Sexteto Mayor spielte –, wo der Tangotanz durch die hintere Tür hereinkam und durch die vordere wieder heraus, zuerst Europa, dann Amerika eroberte; und erst in den 1990er Jahren schließlich nach Buenos Aires zurückkehrte. Mein persönliches Erlebnis war anderer Art, ich kannte diese Show zu dieser Zeit noch gar nicht. Der Tango wird von jedem, und überall in den 1980er Jahren, anders (wieder-) entdeckt, was natürlich nicht bedeutet, dass der Tanz dieser Show uns nicht eventuell alle in der einen oder anderen Weise, direkt oder indirekt auch beeinflusst haben mag. Juan Dietrich Lange war seit diesem Zeitpunkt sehr ambitioniert, voller Enthusiasmus und Flugblatt für Konzert-Ankündigung im Metropol Berlin, Foto: Energie. Man muss bedenken, © privat 23
dass damals fast noch niemand einen Computer besaß: Wie kam man also an Informationen, wie ließ sich werben, kommunizieren, wie konnte man Handzettel gestalten und drucken? Er kam jeden Tag mit etwas Neuem, hatte immer eine neue Idee, dann rief er mich an, um mir das sofort mitzuteilen. Es war eine schöne Zeit, da ja förmlich aus dem Nichts plötzlich etwas entstand. Von Anfang an stand für Dietrich fest, der Tango sollte nicht »Tango Argentino« heißen, sondern »Tango vom Rio de la Plata«, er selbst stammte ja aus Uruguay und wusste genau, dass sein Heimatland ebenso an der Entstehung und Entwicklung des Tango beteiligt ist und dieser eben nicht nur aus Argentinien kommt. Juan Dietrich nahm alles sehr ernst und deswegen forschte er mit Eifer weiter. Ich war noch mit meinem anderen Tanz beschäftigt, half ihm aber, obwohl ich zwar mehr vom allgemeinen Tanz verstand, dafür aber schon Tanzunterrichts-Erfahrung insgesamt mitbrachte. Meine Ballettausbildung gab mir auch eine gute Grundlage, um mit Leichtigkeit die Schritte zu erlernen und so meinen Beitrag zu leisten. Ich konnte Juan Dietrich darin unterstützen, die Bewegungen und ihre Interaktionen pädagogisch umzusetzen; und zusammen inspirierten wir einander zu weiteren Ideen. Doch der Anstoß und der unbedingte Wille, den Tango zu erlernen, ging typischerweise von ihm aus. 1982 kam aus Paris eine argentinische Tanzgruppe nach Berlin, mit zwei Argentiniern und einer Französin: Juan Saavedra, Alejandro Sedano und Valia. Sie waren in erster Linie Tänzer argentinischer Folklore, das heißt, sie tanzten Chacarera und Malambo. Dazu benutzten sie die »Boleadoras« – das ist ein Seil, an dessen Enden zwei runde Steine befestigt sind. Ursprünglich verwendet, um vom Pferd aus Tiere einzufangen. Die Tänzer schlagen beim Malambo diese Steine auf den Boden, wobei sie einen besonderen Rhythmus erzeugen, den sie mit einer Art Gaucho-Stepptanz untermalen und komplex erweitern. Sie zeigten ihre Show und zu dieser Zeit boten sie auch einen Tango-Workshop in einem Tanztheater-Raum am Schlesischen Tor, in Kreuzberg 36, an. Das war sozusagen unser erster Tangotanz-Workshop in Berlin, an dem Juan Dietrich und ich als Schüler teilnahmen. Damals gestalteten sich aber solche Kurse ganz anders als heute. Zwei Tage lang lernten wir den »Ocho«. Und wieder und wieder, die ganze Zeit, nur den »Ocho«, mit ganz weitem Schritt zur Seite getanzt … und dabei fühlten wir uns schon wie die besten Tangotänzer der Welt. Der eine Tänzer, Juan Saavedra, war ein wahrer Frauenschwarm, die Kurse waren überfüllt von jungen deutschen Frauen, die sich mühevoll am Malambo versuchten, obwohl diese Art von Tanz ursprünglich nur Männern vorbehalten war. Und beim Tango tanzten die vielen Frauen – aus Männermangel – dann untereinander und lernten dabei auch die männliche Rolle, das Führen. Daran hatte natürlich auch ich mich sofort beteiligt. 24
1982 – Gruppe Malambo, Tänzer: Juan Saavedra und Valia, die ersten, die ein Tango-Seminar in Berlin gaben, Foto: © privat
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Dietrich kam ständig mit weiteren VHS-Tango-Kassetten an und wir rekonstruieren immer neue Schritte, wobei ich ebenso da die Männerrolle immer gleich mit lernte, die ich alsbald schon gut gebrauchen konnte: Denn in meiner langen TangoKarriere war ich als Lehrerin beim Unterrichten fast ausschließlich auf mich allein gestellt. Daher musste ich beide Parts beherrschen. Die ersten VHS-Kassetten waren von El Mayoral und Elsa Maria, Juan Dietrich schwärmte von ihnen! Wir schauten uns stundenlang den Tanz an und kopierten ihre Schritte. Wir beide waren aber auch sehr erfinderisch und haben viele Schritte selbst ausfindig gemacht. Jeder neue Schritt war eine neue Freude; und wir zeigten sie mit viel Stolz und etwas Angeberei! Das heißt, wir haben uns den Tango in der Anfangszeit eigentlich von Tango-Showeinlagen abgeschaut, deshalb standen dabei auch spektakuläre und kompliziertere Bühnenfiguren im Vordergrund. Später in den 1990er Jahren kam die Kritik! Das sollte nun nicht mehr der wahre Tango sein! Das neue Credo hieß »Tango ist eine Umarmung«, es wurde auf einmal nur noch im Tango-Takt gelaufen, usw. Juan Dietrich Lange ging mit der Zeit dazu über, sich regelmäßig bei Vertretern der damals älteren Generation von Tänzern weiterzubilden, vor allem bei Antonio Todaro und Pepito Avellaneda. Bei mir war das anders: Ich setzte meinen Weg autodidaktisch und sehr erfindungsreich fort, was oft von den sogenannten TangoExperten kritisiert worden war, blieb aber trotzdem stets meiner Version des Tango beim Unterrichten treu – da war ich sehr eigensinnig. Die eigentliche Faszination dieses Tanzes lag für mich immer in der Bewegung an sich, in den unendlichen Kombinationsmöglichkeiten, die sich vier Beinen in diesem Tanz bieten, und nicht so sehr im schnulzigen Umarmen eines »Abrazo«. Ich hatte auch nie einen festen Tanzpartner, was vor allem daran lag, dass ich nie länger an einem festen Platz blieb. Und wenn ich mal einen guten Tänzer fand, dann war er mit Sicherheit schon besetzt. Doch ich war auch daran gewöhnt, alleine zu tanzen – nicht zuletzt vom Flamenco her und dem Modernen Tanz. Dass ich auf einmal mit einem Partner zusammen unterrichten sollte, ging mir nicht in den Sinn. Juan D. Lange und ich haben uns aus den Augen verloren. Wir waren nie ein Tanzpaar. Soweit ich mich erinnere, war Juans erste Tangotanzpartnerin die Ilse, ihren Nachnamen weiß ich nicht mehr. Sie war sehr hübsch, hatte ganz kurze dunkle Haare und tanzte sehr elegant. Ich erinnere mich, dass wir gerade einen neuen Schritt gefunden hatten, den nannten wir »Susto«. Der war der Hit: eine Art Gancho, wobei sich der Mann mit einem Bein zwischen die Beine der Frau einfädelt und dann mit einen ›Stoß‹, eines ihrer Beine weghebelt. Das sah sehr sexy aus und Ilse tanzte das unglaublich elegant. Kurz danach wurde Annette Lange für eine lange Zeit Dietrichs Partnerin, sie nannte sich Aneta, war auch sehr hübsch, aber in blond. Ich hingegen war, wie 26
gesagt, nur eine sehr gute Freundin oder Kollegin vom Dietrich, und wir haben zusammen die ersten Tangokurse in Berlin gegeben. Dabei trat er immer auffallend elegant in Erscheinung. Einmal kam er mit gestreifter Hose und er kämmte sich von da an sein Haar mit Pomade zurück. Wir lachten immer viel, wenn er, wie so oft, im Tanz neue Sachen entdeckte. Und er kritisierte mich häufig; hatte damit auch recht, denn ich tanzte einfach nicht elegant genug, um mich damit vor Publikum zu zeigen. Irgendwie fand ich es auch absurd: Bis dahin liefen wir auf Birkenstock-Sandalen und auf einmal sollten wir Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen tragen? Bis dahin liefen wir mit weitem Hippie-Rock herum und jetzt sollten wir uns sexy anziehen? Gerade hatten wir erst unsere Zeit der Frauenbewegungen hinter uns, überall hieß es Emanzipation! Und auf einmal sollten wir Männer umarmen und uns von ihnen führen lassen? Es war wie verrückt. Mittlerweile organisierte Juan Dietrich seine ersten Milonga-Nächte, ganz langsam wuchs die Tangoszene in Berlin. Aus dieser Zeit ist mir auch Brigitte Winkler noch in Erinnerung. Ihren Tango-Anfang habe ich nicht mitbekommen, sie war für mich auf einmal da, es gab Partys in Berlin, wo sie zusammen mit einer anderen Frau wunderbar tanzte. Vor kurzem, bei meinem letzten Aufenthalt in Buenos Aires, habe ich Gloria und Eduardo (Aquimbao) getroffen, das sind auch Tango-Dinosaurier – aus Argentinien … die erinnern sich noch lebhaft an Brigitte Winkler und an sehr viele Schüler in Berlin, die mit ihnen ihre ersten Schritte gemacht hatten. Es gab um diese Zeit noch keine große Auswahl an Literatur über Tango. Wer mehr darüber erfahren wollte, konnte das entweder von der musiksoziologischen Seite aus, mit dem Buch »Tango« von Dieter Reichardt oder über »Melancholie der Vorstadt«, den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, die im Künstlerhaus Bethanien zu sehen war, einem externen Veranstaltungsort des Horizonte-82-Festivals. Beide Bücher waren in dieser Zeit sehr gefragt. 1984 habe ich begonnen, in Berlin Tango mit Tanztheater zu verbinden, so konnte ich darin auch politische oder sozialkritische Aspekte im Tanz verweben. Mit meinen beiden Tanz-Kolleginnen Ulla von Fersen und Michiko Hachisuka choreografierten wir in der Tanzfabrik in Berlin ein Stück und führten es auf. Inhalt war der Kampf der Mütter der Playa de Mayo in Argentinien und die Suche nach den verschwundenen Kindern. Das war eines der ersten politisch sozialkritischen Tanztheaterstücke in Deutschland. Die Geschichte wurde in drei Teilen dargestellt: Eine Mutter, die aus dem reichen Bürgertum stammt, verliert ihren Sohn – dargestellt durch klassisches Ballett –, die arme Mutter, die zum Kampf aufruft, zeigten wir mit argentinischer Folklore, und die junge Mutter, welche frisch verliebt ist, mit einem Tango. Das war meine erste Tango-Choreografie, auf Musik des Cuarteto Cedron, von der Schallplatte »Trottoirs de Buenos Aires«, für damalige Maßstäbe sehr revolutionärer, moderner Tango. 27
1984 – Flugblatt für das Tango-Festival in Aachen u. a. mit Ankündigungs-Text für Ana Bayers Tanztheaterstück »Die ohne Abschied gingen«, Foto: © privat
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Ich glaube schon, dass auch ich meinen Teil zum Aufbau des Berliner Tango beitrug. Vielleicht hatte mich das anarchistische Denken meines Vaters dahingehend geprägt, dass ich selbst nie einen Tango-Lehrer haben wollte, und wenn ich unterrichtete, sollte es auch immer alleine sein. Für mich war Tango in dieser Zeit aber auch mit den Themen Exil, Nostalgie und Neubeginn verbunden. Sie markierte den Anfang einer Reihe unzähliger Kurse und Schüler … bis heute – in 35 Jahren Tango! Und ich packte ihn über lange Zeit ständig wieder in den Koffer und fuhr damit zur nächsten Stadt …
Hamburg Auf einer Party in Berlin lernte ich den argentinischen Schauspieler Norberto Presta kennen, der gerade zusammen mit seiner Theatergruppe »Fliegende Bauten« in Berlin war. Diese Gruppe, die ihre Art von Musicals in einem riesigen Theaterzelt aufführte, hatte damals, Anfang der 1980er Jahre, riesigen Erfolg, so fuhren sie durch ganz Deutschland. Norberto war begeistert, dass ich Tango tanzen konnte, deshalb rief mich die Gruppe kurz darauf nach Hamburg, wo sie ihren festen Sitz hatte, auf dem Gelände der Kampnagelfabrik. Das war noch in der Entstehungszeit, in der man die Fabrik nicht wirklich als bewohnbar bezeichnen konnte: Ich schlief auf einer geliehenen Matratze, auf feuchtem Boden – alles andere war ebenfalls sehr improvisiert. Ich sollte für die ganze Gruppe im Musical einen Tango choreografieren. Das Stück hieß »Entführung«. So kam ich nach Hamburg. Dort hatte das »Monsun-Theater« von mir gehört und angerufen, worauf ich dann oft Tango-Workshops in diesem Theater gab. Sie waren sehr gut organisiert und ich kann mich erinnern, dass es die bestbezahlten Tango-workshops waren, die ich je hatte. Für die damalige Zeit bedeutete das eine so große Ausnahme, da wir ständig von nur sehr wenig Geld lebten.
1985 – Tango-Choreografie »Entführt« von Ana Bayer, Kompagnie »Fliegende Bauten«, Foto: © privat
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