Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Gesammelte Vorträge Rotary Jahr 2015 / 2016
Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Gesammelte Vorträge Rotary Jahr 2015 / 2016
Herausgegeben vom Rotary Club München
Dezember 2016 Buch&media GmbH, München © 2016 Rotary Club München © 2016 der Einzelbeiträge bei den Autorinnen und Autoren Satz und Layout: Buch&media GmbH, München Printed in Europe ∙ ISBN 978-3-86906-971-5
Vorwort des Präsidenten 2015 / 2016 »Wenn wir versuchen, die Probleme unserer Zeit zu analysieren, zu begreifen, liegt es auf der Hand, in die Vergangenheit zu schauen, zu sehen, welche Probleme bestanden, was geschah und wie Probleme gelöst wurden – und sie wurden gelöst, so gravierend sie auch waren.« Insoweit behielt der Hölderlin'sche Satz aus der Hymne Patmos: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«, seine Gültigkeit. Wir erlebten zwei furchtbare Weltkriege. Wir erlebten eine sozialistische Verirrung in den Ländern Osteuropas, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden; eine Kulturrevolution in China mit wohl 70 Millionen Toten. Dies nur als wenige Beispiele für Vergangenes – und heute? Wir haben eine Europäische Union mit einer tiefen deutsch-französischen Freundschaft; in Osteuropa, den ehemaligen »Satellitenstaaten« der »UDSSR«, entstanden Demokratien, und China, wirtschaftlich ein Global Player, die Nummer zwei weltweit und mit zunehmender Demokratisierung, auch des Partei-Apparates. Das »Rettende« kam im positiven, konstruktiven Sinne. Wir haben auch in diesem Jahr wieder eine Vortragsreihe unter ein Generalthema stellen wollen und haben das Hölderlin'sche Bild gewählt. Bei der Qualität der Vorträge wollten wir diese aber nicht verhallen lassen, sondern in einem Buch zusammenfassen. Die Frage nach dem »Rettenden«, die auch in der Vergangenheit gestellt wurde, kann heute nicht mit einem klaren »ja« beantwortet werden. Wir leben heute in einer Welt, die durch einen sich ständig beschleunigenden (technischen) Fortschritt, permanente und schnelle Veränderung gekennzeichnet ist. Digitalisierung und Globalisierung prägen und verändern permanent unser Leben; die bipolare Welt von »Ost« und »West« ist passé. Die USA haben ihre Rolle als weltweite Ordnungsmacht – auch militärisch – verändert. Und Russland: Sind Ziele und Reaktionen noch kalkulierbar? Das Ende der Bipolarität, offene Grenzen,
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Vorwort des Präsidenten 2015 / 2016
Globalisierung und Digitalisierung haben eine Vielfalt entstehen lassen, die viele Chancen bietet zur Verbesserung des Wohlstandes, zur Bekämpfung von Armut, zu besserer Bildung; aber auch Möglichkeiten um Kriminalität, Bösartigkeit, Hass in einem breiten Umfeld und regional unbeschränkt zu organisieren. Die Frage stellt sich: Wohin geht, »treibt« die Weltgemeinschaft? Wird sie von ethischen, religiösen Zielen geleitet oder wird Religion pervertiert (IS)? Kann nach dem Ende der Irrungen des Sozialismus der Kapitalismus eine freiheitliche Wirtschaftsordnung mit weltweitem Wohlstand fördern und einen sozialen Ausgleich schaffen – oder stirbt auch er? Werden sich Demokratie und Menschenwürde ausbreiten oder totalitäre Systeme mit Machthabern, für die nicht der Staat, sondern Erhalt und Ausbau der eigenen Macht das Ziel sind? Gefahren genug – kommt das Rettende auch heute? Gerne haben wir uns auch im Jahr meiner Präsidentschaft in vielen Vorträgen diesem Generalthema gewidmet – aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich danke herzlich für alle Beiträge. Prof. Dr Alexander Ehlers für sein hohes Engagement, ohne das die beiden Bücher nicht entstanden wären. Ich wünsche Freude, gepaart mit Nachdenklichkeit, bei der Lektüre. Ihr
Herbert Wörner Präsident RC München 2015 / 16
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Vorwort des Vortragswartes 2015 / 2016 Alexander P. F. Ehlers Im rotarischen Jahr 2014 / 2015 hatte der Rotary Club München erstmals einen Vortrag pro Monat unter ein Generalthema gestellt und diese Vorträge zum Abschluss des rotarischen Jahres als Buch herausgegeben (»Grenzbereiche menschlichen Seins – Mensch / Gott und Leben / Tod«, gesammelte Vorträge, Rotary Jahr 2014 / 2015). Darüber hinaus wurden alle Vortragenden und Vortragsthemen gelistet. Bereits der erste Band stieß auf großes Interesse. Nun liegt der zweite Band vor – »Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«. Um einer breiteren Öffentlichkeit den Zugang zu diesen so besonderen Vorträgen zu ermöglichen, wird dieser Band erstmals mit einer ISB-Nummer erscheinen und damit auch über den Buchhandel beziehbar sein. Im rotarischen Jahr 2015 / 2016 widmeten sich neun rotarische Freunde dem Generalthema. Ihnen und allen anderen Vortragenden, die mit dem Titel ihres Vortrags ebenfalls in diesem Buch gelistet sind, möchte ich hiermit ausdrücklich für Vortrag und Manuskript danken. Das Generalthema des rotarischen Vortragsjahres 2015 / 2016 »Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« stammt aus Friedrich Hölderlins 1803 vollendeter Hymne Patmos. Die Grundidee zu diesem Thema stammte von meinem Bruder und rotarischen Freund, Nikolai Ehlers, Vortragswart des Rotary Clubs München-Mitte. Auch ihm danke ich herzlich für Anregung und intensive Diskussion des Themas. Die Verse (das Generalthema) finden sich in der ersten Strophe. Diese ersten vier Zeilen sind die bekanntesten und am häufigsten zitierten Verse der Hymne. Sie wurden vielfach interpretiert und gedeutet, wobei exemplarisch auf Martin Heidegger und
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Vorwort des Vortragswartes 2015 / 2016
Theodor Adorno verwiesen werden darf. Unabhängig von der Interpretation ergibt sich hieraus eine Volksweisheit, die sprichwörtlich geworden ist: »Wo (auch: wenn) die Not am Größten ist, (die) Hilf am Nächsten.« Diese Verse eigneten sich besonders gut für ein Generalthema, da aus allen beruflichen und privaten Perspektiven hierzu referiert werden kann. Krisensituationen gibt es überall, an jedem Ort und in jedem Beruf. Die Lösung der Krise, die Beseitigung der Not, kann mit unterschiedlichsten Instrumenten herbeigeführt werden. Der jeweils Vortragende konnte verdeutlichen, in welche Krise er persönlich, sein Umfeld, ein Wirtschaftszweig oder Teile der Gesellschaft geraten sind und wie die Rettungsaktion aussah. Damit kann Hilfestellung für diejenigen geleistet werden, die sich selbst in der Krise befinden. Zur Illustration des Themas dienen in diesem Buch Arbeiten des 1953 in Tbilisi, Georgien, geborenen Ausnahmekünstlers Gia Edzgveradze. Seit 1989 lebt und arbeitet Edzgveradze in Deutschland. Sein künstlerisches Schaffen umfasst Malerei, Zeichnung, Skulptur, Performance, Video, Fotografie und Schriftstellerei. Hierbei schöpft Edzgveradze aus einem Kosmos eigener Lebensgeschichte, Kunstgeschichte, Politik, Philosophie und Religion. Er gehört zu den bedeutendsten Vertretern der europäischen Kunst der Gegenwart. Dies zeigt sich auch in der Tatsache, dass er in den wichtigsten Museen und Sammlungen vertreten ist (z.B. Tretyakov Gallery, Moskau; Sprengel Museum Hannover; Suermondt-Ludwig-Museum-Aachen; Daimler Art Collection, Berlin; The Deutsche Bank Collection; Ludwig Museum of Contemporary Art, Budapest; documenta Archiv, Kassel; oder auch Collection Costakis, Athen). Die tiefergehende Auseinandersetzung mit einem Werk, das einen Zeitraum von fast 40 Jahren umspannt, bleibt einem Vorwort verwehrt. Aber der Künstler selbst kann uns an dieser Stelle mit einem Zitat die Tür öffnen: »›Gott ist so offensichtlich, dass man ihn nicht bemerkt.‹ Dies ist eine Zen-Aporie, oder ist es nur ein Wortspiel? Was verstehen
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Vorwort des Vortragswartes 2015 / 2016
die Zen-Mönche unter Offensichtlichkeit, die nicht bemerkbar ist? Die Offensichtlichkeit besteht im Gesetz unseres Daseins, das wir leben; wir atmen, sehen und gewahren das Offensichtliche, sind also selbst diese Offensichtlichkeit. Und hier gibt es, wie es in dem Zen-Spruch heißt, nichts zu suchen. Doch außerhalb dieses Gesetzes verschwindet die Offensichtlichkeit ins Nichts und verharrt, wie man sieht, just an dem Ort, wo das Bemerken, Entdecken dessen anfängt, dass es die Welt als göttliche Realität gibt. Um zu bemerken, müssen wir zunächst das Gesetz entdecken und sodann, wenn wir die Gesetze des Gesetzes verstanden haben, mit der gewissenhaften Arbeit beginnen, sie zu drehen und zu wenden, um vom Offensichtlichen zum Nichtoffensichtlichen zu kommen, also zum Bemerken und Erfassen des Nichts. Das ist Kunst.« (Gia Edzgveradze, welcome foam farewell human, Hrsg. Ulrich Krempel, Sprengel Museum Hannover, 2009, p. 12) Ein besonderer Dank gilt unserer Clubsekretärin, Frau Angelika Leutmayr, für ihr Engagement und ihre unermüdliche Unterstützung bei Vorbereitung, Organisation und Vertrieb dieses Buches. Ebenso möchte ich meiner persönlichen Assistentin, Frau Silvia Scherg, für ihre perfekte Organisation, Koordination und stete Hilfe beim Entstehen dieses Buches von Herzen danken. Auch allen anderen Beteiligten gilt mein Dank. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern dieses Buches eine interessante und anregende Lektüre. München, im Oktober 2016
Alexander P. F. Ehlers Vortragswart RC München 2015 / 16
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Inhalt Vorwort des Präsidenten 2015 / 2016. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Vorwort des Vortragswartes 2015 / 2016. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Auflistung aller gehaltenen Vorträge des Rotary Jahres 2015 / 2016. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Prof. Dr. Friedrich Vollhardt Geist und Buchstabe Einführende Bemerkungen zum historischen Hintergrund von Hölderlins Patmos-Hymne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld Die Krise Europas: ein Lernprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Stefan Kornelius Wo bitte bleibt das Rettende? Der politische Hölderlin und die Krisen unserer Zeit. . . . . . . . . 47
Dr. jur. Henning Schulte-Noelle Der Mensch und das Risiko. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .57
Dr. phil. Erich Vad Internationale Entwicklungen und die Sicherheit Deutschlands 67 Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Hans-Jürgen Möller Wenn die Not am größten ist … Wirksame Hilfe in der suizidalen Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Prof. Dr. jur. Dr. med. Alexander P.F. Ehlers, Dr. jur. Anke Moroder Der Wahnsinn Hölderlins als gesundheitspolitische Herausforderung und das gegenwärtige Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortung für besondere / seltene Krankheiten . . . . . . . . . . . 99
Bildnachweis
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Auflistung aller gehaltenen Vorträge des Rotary Jahres 2015 / 2016 14.07. Dr. Wolfgang 2015 Büchele
Egobericht
28.07. Prof. Dr. 2015 Friedrich Vollhardt
»Geist und Buchstabe. Vortrag im Einführende Bemerkungen Rahmen des zum historischen Generalthemas Hintergrund von Hölderlins PatmosHymne.«
18.08. Brigadegeneral 2015 a.D. Dr. phil. Erich Vad
Egobericht
08.09. Prof. Dr. Dr. 2015 h. c. Werner Weidenfeld
»Die Krise Europas: ein Lernprozess«
15.09. Prof. Dr. med. 2015 Dr. h. c. mult. Hans-Jürgen Möller
»Gibt es den WertherEffekt noch heute? Zur komplexen Verursachung suizidalen Verhaltens.«
Vortrag im Rahmen des Generalthemas
22.09. Dr. Tilman Götte Egobericht 2015 06.10. Prof. Dr. Oliver 2015 Primavesi
»Zu Hölderlins PatmosGedicht«
13.10. Dietrich 2015 Schwarzkopf
»Katechon – Das mögliche Weitergelten einer biblischen Rettungsfigur«
10.11. Prof. Dr. Karl2015 Walter Jauch
Egobericht
17.11. Dipl.-Ing. Rasem 2015 Baban RC MünchenBogenhausen
»Tierpark Hellabrunn, Geozoo der Biodiversität«
Vortrag im Rahmen des Generalthemas*
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Auflistung aller gehaltenen Vorträge des Rotary Jahres 2015 / 2016
24.11. MDirig Dr. 2015 Eugen Turi RC MünchenHofgarten
»Asyl – die politische Herausforderung des 21. Jahrhunderts«
01.12. Univ.-Prof. 2015 Dr. Dr. h. c. mult. Horst Wildemann
»Technologieumbrüche in der Automobilindustrie«
12.01. Dr. Bernhard 2016 Maaz
»Museen und ihre Zukunft«
19.01. Prof. Dr. Martin 2016 Burgi
Egobericht
26.01. Stefan Kornelius 2016
»Wo bitte bleibt das Rettende – Der politische Hölderlin und die Krisen unserer Zeit«
Vortrag im Rahmen des Generalthemas
09.02. Dr. jur. Henning 2016 Schulte-Noelle
»Der Mensch und das Risiko«
Vortrag im Rahmen des Generalthemas
16.02. Prof. Dr. med. 2016 Dr. h. c. mult. Hans-Jürgen Möller
»›Historische‹ oder ›traditionelle‹ Aufführungspraxis der Musik Bachs und Händels. Was berührt emotional mehr?«
23.02. Andreas Steinfatt 2016
»Eine Brauerei zieht um!«
08.03. Dr. Herbert 2016 Wörner
»Eine Reise durch Südamerika«
15.03. Brigadegeneral 2016 a.D. Dr. phil. Erich Vad
»Internationale Entwicklungen und die Sicherheit Deutschlands«
Vortrag im Rahmen des Generalthemas
12.04. Prof. Dr. med. Dr. »Wenn die Not am größten Vortrag im ist … Wirksame Hilfe in Rahmen des 2016 h. c. mult. HansJürgen Möller der suizidalen Krise« Generalthemas 19.04. Prof. Dr. Dr. 2016 h. c. mult. HansWerner Sinn
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»Die neue Völkerwanderung«
Auflistung aller gehaltenen Vorträge des Rotary Jahres 2015 / 2016
26.04. Dr. Louis Hagen 2016
»Die Entwicklung der Hypothekenbanken in Bayern«
10.05. Hans-Peter Rien 2016
»Die Europäische Erbrechtsverordnung – eine Annäherung anhand von vier Fällen«
17.05. Prof. Dr. 2016 med. Milomir Ninkovic
»Humanitäre Tätigkeit eines plastischen Chirurgen«
»Aktuelles zum Diabetes« 24.05. Prof. Dr. med. 2016 Hellmut Mehnert Egobericht 31.05. Professor Dr. 2016 med. Jens Werner, MBA Thema »Windenergie« 07.06. Univ.-Prof. Dr. 2016 Dr. h.c. mult. Horst Wildemann 14.06. Prof. Dr. Walter 2016 Hömberg
»Neues aus der Marginalistik – Das CanisParadigma«
21.06. Prof. Dr. jur. Dr. 2016 med. Alexander P. F. Ehlers, Dr. jur. Anke Moroder
»Der Wahnsinn Hölderlins Vortrag im als gesundheitspolitische Rahmen des Herausforderung und das Generalthemas gegenwärtige Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortung für besondere / seltene Krankheiten«
18.10. Dr. Frank 2016 Mathias
»Überleben um zu leben«
Vortrag im Rahmen des Generalthemas*
*Keine Veröffentlichung.
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Friedrich Vollhardt
Geist und Buchstabe Einführende Bemerkungen zum historischen Hintergrund von Hölderlins Patmos-Hymne Es geht um eine Auslegung der berühmten Eingangsverse der Patmos-Hymne von Friedrich Hölderlin. Hier ist nicht nur der Literaturwissenschaftler gefragt, sondern auch der Philosoph – der über einen Schwerpunkt im deutschen Idealismus verfügen sollte – und der Theologe; da ich diese Fächer studiert habe, hoffe ich, Rede und Auskunft stehen zu können. Worin erkennt Hölderlin eine Gefahr, vor der er warnt? Und was ist für ihn das »Rettende« in dieser Situation? Wer Antwort auf diese Fragen sucht und das Gedicht zu lesen beginnt, sieht sich zunächst enttäuscht: Für heutige Leser stellt sich dem Verstehen unleugbar eine Barriere entgegen. Selbst wer sich den Aufwand zumutet, mithilfe eines guten Kommentars Zeile für Zeile »aufzuschließen«, bleibt doch den vielen Anspielungen und Exkursen ausgesetzt, den argumentativen Überraschungen und plötzlichen Neuansätzen bei den »ersten Gründen« unserer abendländischen, der christlichen, aber auch der pagan-antiken Religionsgeschichte. Ein Zugang erschließt sich, wie ich meine, am besten über den Schluss des Gedichts. Die erste Fassung der Hymne endet nämlich mit den Versen: [...] der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepfleget werde Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.
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Friedrich Vollhardt
Angesprochen wird hier nicht, wie in der vorangehenden Strophe, der himmlische Vater, sondern wohl der Landesherr, dem das Gedicht gewidmet ist: Friedrich V. war von 1751 bis zu seinem Tod 1820 Landgraf von Hessen-Homburg. Isaac von Sinclair, ein Freund Hölderlins und Staatsminister des Landgrafen, wollte für den wieder einmal mittel- und stellenlosen Dichter in den Jahren 1802 / 03 ein Hofamt vermitteln, wozu die Widmung der Hymne den Weg ebnen sollte. Doch wie kam es zu dieser – zunächst aussichtsreichen − Konstellation? (Wenig später zerschlugen sich alle Pläne, da Sinclair, ein Anhänger der Französischen Revolution, wegen politischer Umsturzpläne verhaftet wurde.) Nun: Friedrich V. war ein außerordentlich frommer, dabei auch kunstsinniger Mann, geprägt vom Glauben an die biblische Offenbarung. Aus seinem Briefwechsel wissen wir, dass es sich bei dem Gedicht um eine Auftragsarbeit handelte, und wir wissen zugleich, dass Hölderlin nicht der Wunschautor des Landgrafen gewesen ist. Dieser schrieb im Jahr 1802 an den mit ihm befreundeten Klopstock – und dieser Brief war von größter Bedeutung für Hölderlins spätere Konzeption der PatmosHymne: »Wenn sich höhere Gedanken in mir wecken, wenn ich mich von den Ruinen abwenden will, die mich umgeben (denn Alles ist in Trümmern, Religion, Vaterland, Freundschaft, Gefilde, Vermögensumstände), so lese ich in den Gesängen des Messias [gemeint ist das Bibelepos von Klopstock]. Da fiel mir, der die orientalischen Sprachen nicht kennt, der Gedanke aufs Herz: Die heutigen Philosophen, Aufklärer, Aufräumer verwässern die Schrift und die Theologie unter dem Vorwand der Sprachkenntnis. Ist Jemand unter uns, der diese Sprachen wie die Muttersprache versteht, der sie weit tiefer ergründet hat als die neueren Exegeten, [...] so ist das Klopstock. Er legt die Schrift aber ganz anders aus wie sie, und wenn ich bei ihrem Eise erstarre, so eile ich mich an seiner Glut zu wärmen. Sie müssen Unrecht haben. Dieses ist der Syllogismus, der mich oft gestärkt hat. / Ich wage nun, Sie, als den Homer und Vater unserer heiligen Dichtkunst,
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Geist und Buchstabe
zu bitten, noch in irgendeinem Gedichte, einer Ode, diese neuen Ausleger, sei es auch nur bloß durch Ihr Zeugnis zu beschämen und ihre exegetischen Träume zu Boden zu werfen.« Klopstock ist diesem Wunsch nicht gefolgt. Hölderlin hat von der frommen Bitte gewusst, da er kurz nach einem Treffen mit dem Landgrafen in Regensburg im Herbst 1802 mit der Arbeit an der Hymne beginnt, die eine Reihe von Anklängen an Klopstocks Messias enthält. Das apologetische Anliegen hat er dabei in seiner Weise, also nicht im Sinne seines Landesherrn erfüllt, im Gegenteil. Als Absolvent des Tübinger Stifts gehörte Hölderlin zu der am besten ausgebildeten theologischen Elite des Landes. Er wusste, dass es sich bei der Schriftkritik der »Aufklärer« und »Aufräumer« keineswegs um »exegetische Träume« handelte, wie der Landgraf annahm, sondern um philologische Erkenntnisse, die nicht zu ignorieren waren. Darüber ließ sich mit Friedrich von Hessen-Homburg nicht streiten, der hier nur, und das zu Recht, eine Gefahr für den vom biblischen Pietismus geprägten Glauben erkannte; die Hymne macht mit ihrem großen geschichtsphilosophischen Entwurf gleichwohl das Angebot einer Rettung des religiösen Erbes − es handelt sich um eine Christus-Hymne −, ohne sich dabei jedoch den Wünschen des Aufklärungsgegners zu beugen. In der Tat: Um 1800 war der Gott der christlichen Überlieferung mit dem Verstand nurmehr »schwer zu fassen«, wie es am Anfang heißt. Und doch scheint er »nah«, denn gerade die Erfahrung des Trennenden fordert die verbindenden Energien des Geistes heraus, so wie den Adlern Flügel wachsen und die Alpenbewohner die Fähigkeit entwickeln, Brücken zu bauen. Auf dieser Dialektik von Nähe und Ferne, von Trennung und Verbindung insistiert die Parallelstruktur am Beginn des Gedichts, das in einem langen Gang den geschichtlichen Prozess dieser Trennungen als einen solchen der »Vergeistigung des Religiösen darstellen wird«.1 Doch bevor ich dies an ausgewählten 1
Ich folge hier dem Ansatz von Jochen Schmidt: Hölderlins geschichts-
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Friedrich Vollhardt
philosophische Hymnen. Darmstadt 1990. – Aus der neueren Forschung seien außerdem genannt: André, Robert: ›Und weit, wohin ich nimmer / zu kommen gedacht‹: Hölderlin liest Johannes in Patmos. In: Moog-Grünewald, Maria (Hg.): Apokalypse: der Anfang im Ende. Heidelberg 2003. S. 129–156; Auerochs, Bernd: Offenbarung und Reflexion: Versuch über Hölderlins ›Patmos‹. In: Sprache und Literatur (Bd. 40, Nr. 103). 2009. S. 46–61; Behre, Maria: Mitteilung als Imperativ der Liebe: Johanneisches bei Hölderlin. In: Braungart, Wolfgang (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Paderborn u.a. 1997. S. 127–148; Böschenstein, Bernhard: ›Auf getrenntesten Bergen‹: Mörike und Hölderlin; zwei unvergleichliche schwäbische Dichter. In: Lawitschka, Valérie (Hg.): Hölderlin: Sprache und Raum. Tübingen 2008. S. 248–265; Böschenstein, Bernhard: ›Patmos‹ im Überblick: konzentrierte Rückschau auf die Arbeitsgruppe des 1. Juni 2012. In: Hölderlin-Jahrbuch (38). 2012 / 2013. S. 141–145; De Angelis, Enrico: Einleitung. In: Hölderlin, Friedrich. Fünf Gedichte: Heimath, Mnemosyne, Der Einzige, Brod und Wein, Patmos. Hg.: De Angelis, Enrico. Pisa 2008; Fynsk, Christopher: The place of the friend in Hölderlin’s later hymns. In: Jamme, Christoph; Lemke, Anja (Hg.): ›Es bleibet aber eine Spur – Doch eines Wortes‹: zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins. Paderborn u.a. 2004; Hatakeyama, Hiroshi: Die Vorstellung Christi und Fragmentierung des Gedichts: zu Hölderlins Überarbeitung der Hymne ›Patmos‹. In: Neue Beiträge zur Germanistik (Bd. 11, Nr. 2). 2012. S. 103–118; Hellwig, Marion: ›Alles ist gut‹: zur Bedeutung einer Theodizee-Formel bei Pope, Voltaire und Hölderlin. In: Lauer, Gerhard (Hg.): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008. S. 216–229; Kreuzer, Johann: »Alles ist gut«: Anmerkungen zu einem Satz in Hölderlins ›Patmos‹-Hymne. In: Lühe, Irmela von der; Runge, Anita (Hg.): Wechsel der Orte: Studien zum Wandel des literarischen Geschichtsbewußtseins; Festschrift für Anke Bennholdt-Thomsen. Göttingen 1997. S. 14–22; Kreuzer, Johann: Philosophische Hintergründe der Gesänge ›DER EINZIGE‹ und ›PATMOS‹ von Friedrich Hölderlin. In: Düsing, Edith (Hg.): Geist und Literatur: Modelle in der Weltliteratur von Shakespeare bis Celan. Würzburg 2007. S. 33–46; Lartillot, Françoise: Les horizons de ›Patmos‹ de Friedrich Hölderlin ou l’apprentissage de l’autonomie et la conquête de la liberté. In: Grimberg, M. (Hg.): Recherches sur le monde germanique: regards, approches, objets; en hommage à l’activité de direction de recherché du professeur Jean-Marie Valentin. Paris 2003. S. 67–84; Müller, Ludolf: ›Patmos‹: Hölderlins Gespräch mit dem Landgrafen Friedrich von Homburg über die Bestimmung des Dichtens in der
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Geist und Buchstabe
Stellen andeuten kann, muss danach gefragt werden, wodurch eigentlich das Bewusstsein einer solch tiefgreifenden Gefährdung ausgelöst wurde, die der Landgraf beklagt. Wer waren die von ihm genannten Bibelkritiker und »Aufräumer«, woher nahmen sie ihre Argumente oder, um noch einmal dem konservativen Lager das Wort zu geben, woher bezogen sie ihre destruktive Energie? Hölderlin erwähnt in der vorletzten Zeile den »Buchstaben«und betont sogar dessen Festigkeit, setzt jedoch sofort hinzu, dass Bestehendes »gut gedeutet« werden will – womit den Zeitgenossen das Begriffspaar von Buchstabe und Geist in Erinnerung gerufen wird und damit zugleich der Gegensatz von schriftlichem Zeichen und verstehender Auslegung, verhüllender Darstellung und substanziellem Gehalt. Die frühesten Belege für diese Antithese finden sich im Corpus Paulinum, vor allem im zweiten Korinther-Brief: »Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.« (3, 6) Die wohl heftigsten Auseinandersetzungen über diese paulinische Unterscheidung wurden in der Reformationszeit geführt und hier vor allem zwischen den Wittenberger Theologen, die sich auf das Schriftprinzip beriefen, und den Spiritualisten, die in einem solchen Verständnis des Buchstabens die von Paulus herausgestellte und gegen das Judentum gerichtete Problematik gegenwärtigen Weltenwende. In: Lawitschka, Valérie (Hg.): Hölderlin: Literatur und Politik. Tübingen 2012. S. 195–233; Müllers, Josefine: Die Ehre der Himmlischen: Hölderlins ›Patmos‹-Hymne und die Sprachwerdung des Göttlichen. Frankfurt a.M. u.a. 1997; Roche, Charles de: Friedrich Hölderlin, ›Patmos‹: das scheidende Erscheinen des Gedichts. München 1999; Timm, Hermann: Dichter am dürftigen Ort: Johanneische Christopoetik in Hölderlins ›Patmos‹. In: Hölderlin-Jahrbuch (31). 1998 / 1999. S. 207–221; Turner, Barnard: Hölderlin’s »Deutscher Gesang« over ›Patmos‹: a romantic Pindaric ode in the light of modern criticism. In: Neophilologicus (79, Nr. 1). 1995. S. 119–133; Vivarelli, Vivetta: L’incipit’ di ›Patmos‹ nelle versioni de Jean Jouve, Errante, Traverso e Vigolo. In: Dolfi, Anna (Hg.): Traduzione e poesia nell’Europa del Novecento. Bulzoni 2004. S. 421–431.
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