978 3 95780 017 6 leseprobe issuu

Page 1





Cornelia Klaila und Tilmann Kleinjung

Liebe Schwester Trauern nach einem plรถtzlichen Tod

Interview mit Prof. Dr. Markos Maragkos, Traumatherapeut


Mehr über den Verlag und sein Programm unter www.buchmedia.de

Originalausgabe Oktober 2014 © 2014 Buch&media GmbH Umschlaggestaltung: Keller Maurer Design, München Printed in Europe isbn 978-3-95780-017-6


Vorwort Zweiter Weihnachtsfeiertag 2004 – eine Flutwelle über­ schwemmt weite Teile Asiens, tötet mehr als 200 000 Menschen und verändert das Leben der Menschen in den betroffenen Regionen wie auch das der Angehöri­ gen. Die Flutwelle zerstört Lebenspläne und stellt das Leben an sich in Frage. »Niemand hat mir gesagt, dass es so weh tut – Weiter­ leben nach dem Tsunami« – so hatten wir ein Radio­ feature überschrieben, das wir 2005 für den Baye­ rischen Rundfunk produziert haben.* Wir wollten hören, was Menschen empfinden, wenn sie ein solcher Schicksalsschlag trifft. Was unternehmen sie, um ihr Leben zu bewältigen? Vielleicht sogar wieder Freude am Leben zu haben? Um das zu erfahren, haben wir mit Betroffenen und Helfern gesprochen. Und wir haben Auszüge aus dem Tagebuch einer Angehörigen zitiert. In ihren Einträ­ gen schreibt sie an die verstorbene Schwester. Sie ist verzweifelt und traurig, sie ist dankbar für die gemein­ same Zeit und zugleich fassungslos angesichts des Ver­ lustes. Sie dokumentiert, wie hilfreich oder überfordert Bekannte, Kollegen und Freunde sind. Sie reflektiert ihre ersten eigenen Gehversuche in die Zukunft. *

Sendetermin 26. Dezember 2005, Bayern 2

5


Die Sendung wurde mit dem Katholischen Medi­ enpreis 2006 ausgezeichnet. Sie habe das Bild einer existenziellen Erschütterung gezeichnet, die nicht nur lähme sondern auch Hilfsbereitschaft herausfor­ dere. »Umgangsformen mit dem Leiden zu finden und Dankbarkeit sind Brücken zum Weiterleben, Rituale geben Halt bei der Frage nach dem Warum«, so der Laudator Professor Ernst Elitz. Viele Hörer sagten uns, die Sendung habe sie be­ rührt. Sei es, dass sie die Trauererfahrung selbst erlebt hatten oder Trauernde und ihre eigene Hilflosigkeit kannten. Denn es ist nicht nur das Ereignis, der Unfall oder die plötzliche Krankheit, das Menschen zu schaf­ fen macht. Es sind der unerwartete, schnelle Verlust, der Schmerz und die Trauer. Mit der Veröffentlichung aller Tagebucheinträge wollen wir trauernde Men­ schen, ihre Freunde und Bekannten unterstützen in einer Situation, die extrem schwierig und meist ohne Orientierung ist. Dieses Buch vereint die Tagebucheinträge und ein Interview mit dem Traumaforscher Markos Maragkos. Er antwortet auf Fragen, die sich bei Trauerfällen im­ mer wieder stellen. Und weil das Erleben eines Verlus­ tes auch eine intime Erfahrung ist, verzichten wir, wie in der Sendung auch, auf den Namen der Tagebuch­ schreiberin. Möge dieses Buch dazu beitragen, dem Schmerz einen Raum und dem Leben eine Chance zu geben. Cornelia Klaila und Tilmann Kleinjung September 2014

6


8. Januar 2005, Samstag, 22 Uhr Wo soll ich anfangen? Es gibt vieles, was ich dir sagen möchte. Ich weiß nicht, wie das Leben ohne dich sein wird. Deine Fürsorge, deine Freude, dein Erzählen und dein Lachen. All das machte mir Freude und half mir über manches Zaudern im Leben hinweg. Ich sorge mich, dass du Angst hattest, in deinen letzten Atemzügen. Ich möchte nicht, dass dein ma­ kelloser Körper geschunden zwischen anderen liegt. Und ich bitte innigst darum, dass du nicht das Sterben deines geliebten Kindes oder Mannes erleben musstest. In den vergangenen Tagen habe ich viel mit Freun­ den über den Tod gesprochen. So er unausweichlich ist, soll das Schicksal sanft mit dir gewesen sein. Ich kämpfe mit diesem Schlag, weil ich nicht weiß, warum es dich und deine Lieben aus dem Leben gerissen hat. So glücklich wie seit der Geburt von Frederik habe ich dich vorher nicht erlebt. Lass uns unsere Telefonate fortsetzen. Dann kön­ nen wir wie kürzlich über Gartenmöbel beratschla­ gen, unseren nächsten gemeinsamen Urlaub planen. Du berichtest, welche Fortschritte der kleine Frederik macht. Und ich frage: »Wie geht es der Ehe?« 7


10. Januar 2005, Montag, 22 Uhr Wir haben am Wochenende nicht mehr miteinander ge­ sprochen. Ich drücke mich ein wenig davor. Nicht, dass ich dir nichts erzählen wollte. Nein, es ist mehr, dass ich spüre, wie sehr du mir fehlst. Du hast mir einmal eine Ja­ nosch-Tasse geschenkt mit dem Aufdruck »Jemand liebt dich«. Wir haben nicht darüber gesprochen, was wir uns bedeuten. Wir sind Zwillinge. Es ist, es war keine Frage, dass wir zusammengehören. Habe ich etwas versäumt? Lass mich von meinem Gespräch mit einer Freundin erzählen. Sie war die Erste, die nicht von Ablenkung gesprochen hat. Ich müsse in die Trauer hinein. Das sei schwer. Das war Samstag. Sonntag fühlte ich mich aufgedunsen. So, als ob sich jede Pore mit Trauer ge­ füllt hätte. Ich war mit Anna in der Kirche und habe den Nachmittag verschlafen. Abends habe ich Briefe geschrieben. Ich bin müde. Innerlich unruhig. Es rufen immer wieder Leute an, oder ich melde mich beim ein oder anderen. Dann wollen sie wissen, was ich über dein Schicksal weiß, wie es mir geht und, und, und … Zum Geschehen kann ich nichts sagen. Ich will keine Radioberichte über DNA-Analysen hören. Ich will mir nicht vorstellen, dass du irgendwo an einem Strand liegst wie die Körper, die ich in einem Nach­ richtenmagazin gesehen habe. Was soll oder was will dieses Leben, wenn es einem das Liebste raubt? Nach dem Tod unserer Mutter habe ich gesagt, ich könne mir nichts Schrecklicheres vor­ stellen. Momentan erfahre ich, dass es Unvorstellbares 8


gibt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich den Rest meines Lebens ohne deine Heiterkeit verbringen soll. Auf meinem Anrufbeantworter sind noch zwei Nach­ richten von dir. Ich fürchte mich, sie zu hören. Eine klingt mir ohnehin im Ohr: »Dicke, wo bist du?« Beim Schreiben tränen die Augen. Ich weiß nicht, wo­ hin mit meiner Verzweiflung. Wie soll ich dir nah sein, wenn nicht so? Deine Schwiegermutter schrieb, ob ich Freunde um mich hätte: »Denn ohne Deinen Zwilling bist du doch sehr allein.« Sie macht deutlich, was ich verdränge. Ich bin allein. Nie wieder wird es einen Menschen geben, mit dem ich wie mit dir Zeit verbrin­ gen kann. Ohne große Worte. Der Pfarrer sprach Sonntag von einer größeren Macht. Deren Wille geschehe. Verdammt. Ich akzeptiere das. Nur komm bitte, bitte zurück. Kü meinte heute, wir seien zwei eigenständige Persönlichkeiten. Lernen müsse man immer im Leben, sagt er. Nur in unter­ schiedlichen Intensitäten. Und ich könne jetzt ent­ scheiden, was und wie ich lerne. Er rät, auf mein In­ neres zu hören, mich zu Hause zurückzuziehen und noch nicht ins Büro zu gehen. Mein Inneres? Mein In­ neres ist schockiert, lässt sich kaum berühren. Ich habe keine Idee, wie es sich behandeln oder gar heilen lässt.

14. Januar 2005, Freitag, 8.50 Uhr Was sich in der Zwischenzeit ereignet hat? Ich war beim Pfarrer. Er würde dir gefallen. Ein Mann mit klarem, 9


scharfem Verstand und einem guten Zorn. Wir wollen zu einer Andacht für euch einladen. Knapp drei Wo­ chen sind erst seit dem Unglück vergangen. Ich habe die Nachricht bekommen, dass ihr nicht überlebt habt. Doch noch seid ihr nicht identifiziert. Ich möchte kei­ ne klassische Totenmesse. Ich hoffe noch. Ich möchte, dass es eine sehr klare, ruhige Andacht für euch und alle anderen Opfer wird. Sie soll mich trösten.

23 Uhr Wenn ich mit dem Pfarrer spreche, bin ich aufgewühlt und unruhig. Getrieben von der Frage, ob ich alles richtig mache. Werde ich euch mit der Andacht ge­ recht? Sind die Karten wirklich schön? Passt der Text? Zweifelt jemand an meinen Vorbereitungen, bin ich leicht zu erschüttern. Dann suche ich Menschen, die mich bestätigen. Alles soll so liebevoll und sorgsam gestaltet sein, wie du das auch gemacht hättest. Die Andacht wird an Frederiks Geburtstag sein. Oder an dessen Vorabend. Ich fürchte mich vor dem Anrufbeantworter. Heute habe ich beim Löschen der anderen Nachrichten ei­ nen Kieks von Frederik und eine Silbe von dir gehört. Da steckt so viel Leben drin. Vor vier Wochen wa­ ren wir zusammen an dem Strand, an dem ihr verun­ glückt seid. Ich sehe dich, wie du mit Frederik im Arm zum Frühstück gehst. Wie ihr gemeinsam duscht, weil Frederik voller Sand ist. Ich nehme ihn dir ab und hülle ihn in ein Handtuch. Meine Vorsicht, wenn wir am Pool sind und der Wind weht. Frederik muss ein T-Shirt tragen, weil der kleine Spatz noch erkältet 10


ist. Ich sehe, wie du im Pool tauchst und mit einem »Po­ kawuuh« hochspringst. Frederik verzieht das Gesicht, wenn du verschwindest und strahlt, wenn du auftauchst. Ich liebe auch die Momente, wenn er am Pool der Hotel­ anlage zwischen meinen gekreuzten Beinen sitzt.

Omi Omi geht es gut für ihr Alter. Sie muss regelmäßig Herz und Nieren untersuchen lassen. Etwa zweimal im Jahr stürzt sie wegen ihrer kaputten Knie. Zuletzt ist sie im Garten gefallen. Sie erzählt, dass sie ganz grün und blau war. »Was soll schon sein, alt bin ich halt.« Ja, Omi bäckt noch Brot. Es duftet wie damals, als wir sieben waren, im Stall standen und die Kälb­ chen fütterten oder uns rückwärts in das dicke Feder­ bett plumpsen ließen, das dann ein Schiff war. Wenn ich von Omi erzähle, spreche ich von unserer »NennOmi« und erkläre dann, dass sie nicht unsere richtige Omi ist – eben nicht verwandt. Aber das macht nichts, sage ich, weil sie eben doch unsere Omi ist. Ihr 80. war vor drei oder vier Jahren. Opi ist vor fünf Jahren ge­ storben, mit 96. Wenn es trocken und warm war, saß er Stunde um Stunde auf einem Stuhl unter dem Walnuss­ baum bei der Einfahrt zum Heustadel. Er saß, als ob er in diesen stillen Stunden die Jahre im Krieg, die Arbeit auf dem Hof, in der Mühle und in dem kleinen Säge­ werk hinter sich lassen würde. Ich kann mich an kein böses Wort von ihm erinnern. Lieber machte er Blöd­ sinn, Unfug, der uns Kinder begeisterte. Unerhört war es, Omi im Vorbeigehen auf den Po zu klatschen. »Da­ mischer Kund**, du«, kam es unwirsch zurück und wir **

Bayerischer Ausdruck für Bursche, Kerl

11


lachten. Im Sägewerk durften wir auf dem sich langsam vorwärts rüttelnden Baumstamm sitzen, um kurz vor den Sägeblättern abzuspringen. Opi erzählte, dass im selbst gemachten Johannisbeerwein der Nachbarin eine Maus ertrunken sei. Genau in dem Wein, den sie uns gab, wenn wir sie besuchten. Mit dem Alter wurde er stiller, als er es ohnehin war. Manchmal war er plötzlich verschwunden. Dann suchten sie ihn auf dem Weg zum Nachbarhof entlang der großen Wiese. Oder sie gingen in den Wald, gegenüber der Einfahrt. Uns Kindern war der Wald unheimlich gewesen. Aber ihn fanden sie dort oft. »Man kann ihn nicht aus den Augen lassen«, klagte Omi dann. Die letzten Jahre war er verwirrt und sein Tod war, wie er sein soll nach einem langen Leben: Er ist eingeschlafen, zu Hause in seinem Bett. Wir spre­ chen oft über ihn. Es gibt ein Bild von ihm unter dem Walnussbaum. Es steht in Omis Stube auf der Anrichte neben ihrem Hochzeitsbild. Da ist auch ein Foto von euch. An eurem Todestag wird eine Messe gelesen. Und wenn es Schweinebraten gibt, fragen wir uns, wie viele Knödel du wohl gegessen hättest.

16. Januar 2005, Sonntag, 20.20 Uhr Erinnerst du dich an unser Gespräch über das Le­ ben? Ich sagte, es gehe nicht darum, dass das Leben bequem sei. Es gehe darum, dass es lebendig sei. Und Frederik sei das Leben. Du hattest Sorge, das Zusam­ mensein könnte mich anstrengen. Ich möchte es nicht missen. Wir waren uns sehr nah. Ich erinnere mich an deine Frage, ob du Frederik verwöhnst. Kü sagte, im 12


ersten Jahr könne man ein Baby – gar ein Frühchen – nicht verwöhnen. Ich ergänzte, als Mutter würdest du am besten wissen, was dein Kind braucht. Jetzt weiß ich, es war ganz wichtig, dass Frederik in seinem kur­ zen Leben so viel Liebe und Zuneigung bekommen hat. Du hättest es nicht besser machen können. In einer Nacht träumte ich, ihr hättet überlebt. Be­ wusstlos, in einem Auto. Dein Mann war verärgert über die Todesanzeige. Ich hatte ein schlechtes Gewis­ sen, weil ich auch an ein Nicht-Überleben gedacht und entsprechend gehandelt hatte. Ich überlegte im Schlaf, wie ich das unauffällig rückgängig machen könnte. Als ich wach wurde, brauchte ich einen Moment, um zu begreifen, dass das mit dem Auto so nicht sein wird. Zu Anfang, als das Unglück gerade geschehen war, hatte ich euch immer zu dritt vor Augen, glücklich und unversehrt. Inzwischen frage ich mich: Wo seid ihr? Es gibt Nachrichten über Massengräber und Bil­ der von Körpern mit verdrehten Gliedmaßen. Da ist von »nicht mehr identifizierbar« die Rede und von DNA-Proben. Erinnerst du dich, wie schnell du nach der Schwangerschaft wieder deine gute Figur hattest? Ich will nicht, dass dein Körper oder Frederiks ver­ sehrt ist. Dann soll euch das Meer zu sich genommen haben. Ich will Kü fragen, wie das ist. Ob man gleich stirbt? Ihr sollt keine Schmerzen oder Angst gehabt haben. Ein Freund sagte heute, Beziehungen seien zerbrechlich. Wenn man sich dies jederzeit bewusst machen würde, könne man nicht leben. Ja, Beziehun­ gen sind zerbrechlich, aber warum zerbrechen sie so plötzlich, so brutal? 13


In der Andacht wird zugunsten der von der Flutwelle betroffenen Kinder gesammelt. Kü denkt, dies sei ei­ ne Verbindung zum Leben. Vielleicht kann man sich viele dieser kleinen Verbindungen schaffen, damit sie das Leben tragen. Denn das ist die Frage, die ich stelle. Nun noch dringlicher als zuvor. Was trägt im Leben? Menschen tragen. Die Idee, viele Verbindungen zu euch zu suchen, hat mich zu einem Buch über den Konstruktivismus geführt. Danach würden Probleme auch dadurch ge­ löst, dass es eine Umdeutung der Wirklichkeit gebe. Grundlage dafür ist, dass es keine objektive Realität gibt. Jeder schafft sich seine Wirklichkeit selbst. Zum Beispiel, wenn man feststellt, ob das Glas Wasser halb voll oder halb leer ist. Mein Glas Wasser war die Yo­ gahose – ein Geschenk von dir. Ich hatte Angst, sie an­ zuziehen. Solche Geschenke wird es nie wieder geben. Dann war ich dankbar, dass ich so vieles habe, was an dich erinnert. Mache ich mir etwas vor? Rede ich mir die Realität schön? Ist das echt, was konstruktiv ge­ deutet wird? Was Kü wohl dazu sagt? Omis Tochter hat geschrieben, du wolltest sicher nicht, dass ich so leide. Wie würde es dir ohne mich ergehen? Wahrscheinlich wie mir. Irgendeine Reli­ gion glaubt, traurige Gefühle belasten die Verstor­ benen. Das will ich nicht. Ich achte darauf, dass ich schlafe und esse. Ich versuche, dankbar zu sein, dass wir ein so enges Verhältnis hatten. Wie viel Mühe hast du dir gegeben, wenn ich nach dem Tod unserer Mut­ ter bedrückt war. Weihnachten danach sagtest du, sie würde nicht wollen, dass ich traurig bin. Du willst es jetzt sicher auch nicht. 14


Dieses Buch bestellen: per Telefon: 089-13 92 90 46 per Fax: 089-13 92 9065 per Mail: info@allitera.de

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:

www.allitera.de www.facebook.com/AlliteraVerlag

Allitera Verlag Allitera Verlag • Merianstraße 24 • 80637 München info@allitera.de • fon 089-13 92 90 46 • fax 089-13 92 90 65 www.allitera.de • www.facebook.de/AlliteraVerlag


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.