Marlene Möller lebte von 2005 bis 2011 in Paris, jetzt wieder in Stuttgart, wo sie geboren ist. Studium: Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaft in Tübingen, Freiburg und Paris. Berufe: Lehrtätigkeit an Hochschule und Gymnasium, wissenschaftliche Redakteurin. Vier erwachsene Töchter. Bisher erschienen: »Paris. Sechs Jahre – sechste Etage – siebter Himmel?« (München 2013, ISBN 978-3-86520-481-3); »Seelenheimweh. Vom kurzen Leben und langen Sterben eines Terroristen« (Hilden 2009, ISBN 978-3-940891-12-9).
Marlene Mรถller
Jakobsland Roman
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September 2013 © 2013 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink Covermotiv: Kathedrale zu Santiago de Compostela mit dem Botafumeíro Printed in Germany · isbn 978-3-86520-466-0
F端r Mirjam Judith Hannah und Eva
Nein! wie die Sterblichen doch die GĂśtter beschuldigen! Von uns her, sagen sie, sei das Schlimme! Und schaffen doch auch selbst durch eigene Freveltaten, Ăźber ihr Teil hinaus, sich Schmerzen! Homer, Odyssee
Ihre Spuren verwischt, die Gräber verweht, die Herzen zerfallen, die Tränen versiegt. Sie wird die Schatten nachfahren, den Staub sammeln und warten, bis sie auftauchen überm Weiher im Nebelreigen. Und wenn sie vergeh’n in der Tiefe des Parks, wird sie warten, bis sie wiederkehren, im Wellenschlag des Meeres, im Glanz des Mondes, im Duft einer Rose, und ihr zuraunen, sie seien beisammen im Balsamduft ferner Gärten, alle beisammen …
Inhalt Der Entschluss · 11 Suche nach dem Anfang · 15 Der dunkle Gast · 23 Der Mächtige steht auf · 30 Das Böse zeigt sein Gesicht · 36 Die Hexe · 48 Der Mönch verlässt das Kloster · 56 Die Ankunft · 65 Zeit der Liebe · 76 Extramuros · 84 Das Tagebuch · 100 Ein stummer Abend · 110 Die Sehnsucht siegt · 121 Die Trennung · 133 Der Nachtmahr · 143 Semana Santa · 151 Im Elternhaus · 162 Die Taufe · 181 Die Nachgeborenen · 196 Der lange Kampf · 210 Das Urteil · 236 Die unschuldigen Kinder · 249 Verstoßen · 261 Abschied · 283
Der Entschluss Mein Sohn! Einsam wie im Grab und verloren wie ein ausgesetztes Kind verbringe ich meine Tage in der von spanischen Eroberern errichteten Stadt hinter Mauern, inmitten der philippinischen Hauptstadt, die mir bestimmt wurde als Ort der Verbannung auf Lebenszeit und aus der kein Entkommen möglich ist, nicht nur, weil es mir durch meinen obersten Aufseher, den Erzbischof von Manila, untersagt ist, mich außerhalb der Festungsmauern von Intramuros zu begeben, sondern weil dahinter, jenseits der Bucht mit dem abendlichen Trost der verglühenden Sonne, das Meer mich bewacht, von Schiffen durchkreuzt, auf denen Piraten ihre Opfer suchen. In den Jahren der Heimatlosigkeit und Erniedrigung ist mein vormals fester Glaube siech geworden, die Zuversicht fahl, und zu Zeiten wird das Gemüt so finster wie der Himmel vor einem Taifun, wenn sich das Schwefelgelb der Zerstörung über das Schwarz der Hölle schiebt. Später dann, wenn heftiger Regen beides weggespült hat und ich mich imstande fühle, die Finsternis in mir für geraume Zeit zurückzudrängen, sinniere ich so manche Stunde darüber nach, ob mir nicht doch eine Art von Flucht möglich wäre, und sei es auch nur für kurze Frist am Tage oder in der Nacht, wenn es mir gelänge, die Verließe meines inneren Gefängnisses zu verlassen, in denen ich ebenso unentrinnbar eingeschlossen bin wie am Ort meiner äußeren Gefangenschaft. Womöglich könnte so mein Leben in der Fremde einen tieferen Sinn erlangen als den der Verbüßung meiner Strafe, die ja nur dann zur Sühne würde, wenn ich sie im rechten Geist ertrüge, statt innerlich Klage zu führen über ihre Grausamkeit und Härte. Über den Rinnsalen solcher Grübeleien taucht gewöhnlich eines der Bilder aus der Vergangenheit auf, das meines Sohnes und seiner Mutter, wie sie einander gegenübersaßen bei jenem Nacht11
mahl im Hause Gayoso, das der Auflösung der Familie vorausging. Ein stummer Abschied, zu schwer für Tränen oder Worte, einer, der verordnet war und durchgeführt werden musste. Der Schmerz jener Stunden flammt mit jedem Gedanken an Dich erneut wieder auf, doch hat er seit meiner Einquartierung in einer Gesindekammer des Klosters San Augustín, neben dem Palais des Erzbischofs, eine gewisse Wandlung erfahren. Wenn anfänglich meine Tage damit erfüllt waren, den Kummer des Verlustes der Heimat ohnmächtig zu erdulden und dumpf dahinzuleben, indem ich des Morgens aufstand von einem Lager, auf dem ich nachts kaum Schlaf gefunden hatte, um mich am Abend in wehrloser Schwäche wieder darauf niederzulassen und abermals die Ruhelosigkeit der Nacht zu erwarten, so habe ich im Laufe der Zeit eine Verfassung erlangt, die mir Kraft gibt, die zugeteilten Arbeiten mit Gleichmut zu verrichten und in den Ruhestunden zurückzuschauen in die Heimat und auf mein dort verbrachtes Leben. So bin ich schließlich dahin gelangt zu erwägen, ob es nicht hilfreich sein könnte für Dein Leben, wenn ich meine Erinnerungen aufzeichnete, denn nur so würdest Du eines Tages Kunde davon bekommen, wie all die Taten begangen werden konnten, die, von außen betrachtet, als so frevlerisch erachtet wurden, dass sich mir, im Schatten des allgemeinen Urteils, vermutlich noch immer die Feder sträuben würde, sie aufzuschreiben. Doch da wir alle, Schuldige und Unschuldige, den Folgen dieser Taten nicht mehr entrinnen können, die Tage unseres Lebens, werde ich versuchen, Dir ein Bild zu malen von der Zeit, als sich durch unsere Schritte die Steine lösten, welche zu jener mächtigen Lawine wurden, die uns später donnernd überrollte. Da ich nicht wissen oder ahnen kann, welchen Gang Dein Schicksal genommen hat, vermag ich auch nicht vorherzusagen, ob Dir diese Schilderungen eines Tages willkommen sein werden. Ich kann nur meiner inneren Stimme folgen und mit der Niederschrift beginnen. Dabei muss ich die Bürde der Ungewissheit tragen, ob Wut oder Unmut in Deiner Seele durch mein Tun noch vergrößert werden, oder ob ich Dich damit stützen kann auf Deinem Weg durch das Leben, an dessen Rand zu stehen mir nicht
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vergönnt ist. Nach langem Prüfen und Wägen habe ich nun also beschlossen, Dir gelegentlich einen Brief zu schreiben, vorläufig ohne ihn abzuschicken, und Dir nach und nach alles zu berichten, was ich aus jener Zeit im Gedächtnis behalten und im Herzen bewahrt habe. Jetzt kann ich nur noch hoffen, es möge ein Segen auf meinem Vorhaben liegen. Es grüßt Dich in respektvoller Zuneigung Dein Vater Manila, den 23. Februar 1845 Post Scriptum: Obgleich es eine zu persönliche Anmerkung sein mag, möchte ich Dir mitteilen, dass mir in den letzten Tagen eine merkwürdige Belebung widerfuhr, die von meiner Absicht, Dir zu schreiben, auszugehen scheint. Fast täglich nahm ich in meiner Kammer eine kleine Veränderung vor, um sie in eine Art Schreibkabinett zu verwandeln. An die Schmalseite, wo unter dem Fenster mein Bett aus Bambusrohr stand, habe ich ein Tischchen samt Hocker gerückt, um mehr Licht zu bekommen, und dort Papier, Tinte und frisch gespitzte Federn zurechtgelegt. Mein Lager steht nunmehr an der Längsseite des Raumes, davor ein Schemel mit Papier für Nachtgedanken. Als Kommode dienen mir zwei Bretter, die über dem Fußende des Bettes von Wand zu Wand verlaufen, denn das Zimmer ist zu klein für ein weiteres Möbelstück. Auf dieser Ablage gedenke ich die Briefe an Dich zu sammeln, neben meinen Büchern, Wäschestücken und Habseligkeiten. Inzwischen bin ich daran gewöhnt, in dieser winzigen Kammer zu leben, sie passt zu meiner Gefangenschaft und hat durchaus Ähnlichkeit mit einer Klosterzelle. Im Übrigen stellen diese äußeren Umstände die weitaus geringere Schmach dar, verglichen mit dem Verlust meiner geistlichen Würde. Jetzt, wo ich mit einem lange nicht gekannten Eifer alles für ein Ziel eingerichtet habe, fühle ich mich wohler in dieser Muschel am Ende der Welt, in der ich mich künftig vielleicht auch lebendiger fühlen werde, weil meiner dort eine heimliche Beschäftigung harrt. Mittlerweile ist auch jene Un-
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entschlossenheit gewichen, ob ich die vergangenen Ereignisse aufschreiben soll. An ihre Stelle trat die leidliche Zuversicht, dass Du, obgleich Du die Geschichte Deiner Familie nicht ohne Schmerzen wirst lesen kรถnnen, vermutlich erkennen wirst, wie sehr ich bestrebt war, Dir mit ihrer Niederschrift etwas Gutes zu tun.
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