T. A. Wilrode – unter diesem Pseudonym sind Texte des Autors bisher in unterschiedlichen Lyrikpublikationen erschienen. Bei Buch&media erschien 2007 der Gedichtband »Allerlei Rauch«, der ein breites Spektrum von Wilrodes oft angriffslustigen, auch nachdenklichen, experimentellen und mitunter parodistischen Gedichten entfaltet. »Das Segantini-Projekt« ist sein Debütroman.
T. A. Wilrode
Das Segantini-Projekt Roman
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Abgesehen vom begnadeten Maler Segantini, der in seinen Bildern fortlebt, gab und gibt es die hier angedeuteten Landschaften und Gegenden tatsächlich (wenn auch mit veränderten Namen), und wahrscheinlich auch noch immer einige Künstlerkolonien und exklusive Internate in den Bergen. Die erzählte Geschichte mit ihren Personen und anderen Details ist dagegen frei erfunden, Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit wären rein zufälliger Art.
November 2013 © 2013 Buch&media GmbH, München Umschlagmotiv: Giovanni Segantini, »Die bösen Mütter« (1894) Printed in Germany ISBN 978-3-86520-484-4
Allen, die zum Entstehen des Romans beigetragen haben, herzlichen Dank, besonders aber Marianne H. f端r Geduld, Rat, Beistand und Zuspruch.
Inhalt
TEIL I 1. Schneefall in den Alpen – Don Alberto erhält Nachrichten . . . 15 2. Die belletristische Kollegin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Jiris Begegnung im Zug – die Macht der Vorstellungen . . . . . . . 29 4. Am Bahnhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 5. Heimliches Gastmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 6. Frühstück mit schöner Aussicht. Möbelrücken . . . . . . . . . . . . . 47 7. Oona und die Nachhilfestunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 8. Abendessen bei Konrad – Ansichten des Direktoriums . . . . . . 58 9. Die Fahrt zum »amerikanischen« Hotel. Das Telephon und die metaphysische Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 10. Festakt auf der Burg – Don Alberto hält einen Vortrag . . . . . . 74 11. Skifahren – fremde Männer – Abschiedsversprechen . . . . . . . . 79 12. Die Eisprinzessin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 13. Karen. Fiebertraum. Das Gipsbein und darüber hinaus . . . . . . 104 14. Das Segantini-Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
TEIL II 15. Komfortable Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 16. Filmaufnahmen. »Die Frau in Schnee«. Suche nach der authentischen amerikanischen Studentin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 17. Die echte amerikanische Studentin – live . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 18. Sprachen lernen – wieder im Internat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 19. Literaturkonvent. Seltsamer Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 20. Was heißt hier Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 21. Reflexe und Reflexionen. Ein literarischer Ansatz . . . . . . . . . . . 177
22. Seminar Spielpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 23. Die Italienerinnen und der große spanische Auftritt . . . . . . . . . 204 24. Sturmsonate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 25. »Alcina« und die toskanische Prinzessin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
TEIL III 26. Der Tag der Abreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 27. Venus am Nachmittag, am Abend, tagsüber, nachts . . . . . . . . . 240 28. M. C. verreist plötzlich. Aussicht auf Wiedersehen und Vorbereitungen aufs Fest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 29. Einweihung und Wahrheit. Wie gewinnt man Abstand? . . . . . 251 30. Gedanken an Abenteuerflucht in den Nahostkrieg . . . . . . . . . . 263
TEIL IV 31. Das englische Au-pair-Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 32. Absturz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 33. Jenny wird flügge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 34. Albertos Ausflug nach Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 35. Sommeranfang. Wieder auf der Insel. Zwischenzeit . . . . . . . . . . 300 36. Bei der Ahnin im Kunstkabinett. Isola taucht auf . . . . . . . . . . . 303 37. Jiri erzählt von seiner Entdeckung. Das Duell mit dem Pianisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 38. Wieder Karen, aber nur kurz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 39. Fondue. Ausgeflogen ins Reich des Weltbürgertums . . . . . . . . . 325 40. Höhenluft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 41. Zwischenzeit. Wie man ein Stück umschreibt . . . . . . . . . . . . . . 343
TEIL V 42. Halbzahme Pythons. Späte Wanderungen. Wechselwetter. Literatur und Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 43. Alya . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 44. Alya und der Turm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 45. Herbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 46. Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 47. »Die Frau in Schnee« auf der Bühne. Krokodilstränen . . . . . . . 391 48. Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Daher kommt es, daß … die plötzliche Erinnerung an Scenen der Vergangenheit und der Entfernung wie ein verlorenes Paradies an uns vorüberfliegt. Arthur Schopenhauer
TEIL I
1. Schneefall in den Alpen – Don Alberto erhält Nachrichten »Telegramm an mich? Von wem?« »Von Ihrem Sohn natürlich.« »Der kommt doch heute abend, hoffe ich?« »Ja, und hier gibt er die genaue Uhrzeit an.« Frau Mattlikofer, Empfangsdame und stundenweise Sekretärin, eigentlich aber Faktotum des Internats und verantwortlich für die Postverteilung, übergab Don Alberto strahlend den amtlichen Zettel. Sie hatte aus Diensteifer das Kuvert bereits aufgerissen und die Nachricht als erste gelesen – offenbar ganz ohne schlechtes Gewissen. Sie mußte ja schließlich für alles sorgen. »Lassen Sie mal sehen.« Don Alberto nahm das Papier an sich und zog die Brille aus dem Etui. »Heute, natürlich, das steht fest, aber schon um sechs? Das wäre ja ganz neu.« »Nein, es heißt hier ja 18.59 Uhr, also kurz vor sieben.« »Na also. Und wer wird mich zum Bahnhof fahren?« »Der Herr Doktor sicher«, sie deutete mit dem Kopf etwas ungenau in Richtung des etwas abseits liegenden Direktoratsgebäudes. »Wo ist er?« »Im Bungalow. Soll ich Sie durchstellen?« »Nein danke, er hat jetzt sicher zu tun. Später. Außerdem weiß er, glaube ich, bescheid.«
Don Alberto steckte das Telegramm ein und ging, um etwas frische Luft zu schöpfen, zunächst ein paar Schritte in den Park. Draußen schneite es. Schon den ganzen Tag über waren Schauer feuchter Flocken herabgefegt worden. Nun hatte der Wind sich beruhigt, und der Schnee sank regelmäßig wie eine dämpfende Matte auf alle Konturen der Umgebung. Man mußte die Mütze aufsetzen und den Mantel zuknöpfen. Auch die Wege waren schon weiß.
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Die Villa des Internats mit ihren drei, vier Nebengebäuden bekam in der winterlichen Dämmerung allmählich das vielversprechende Aussehen eines schloßähnlichen Anwesens, vor allem, wenn jetzt ein Fenster nach dem anderen zu leuchten begann und die Laternen am Tor ein einladendes Licht über Eingang und Hof ausgossen, das die fallenden Flocken aufblitzen ließ, bevor sie alle Stufen und Kanten langsam in weiche Wellen verwandelten. Vor dem Tannenwald im Hintergrund wirkte das Ganze wie eine von alten Laubbäumen umgebene Insel der Wohnlichkeit und entsprach damit vollkommen der offiziellen Darstellung in den Fachblättern. »Für werdende Damen«, hieß es da in den Annoncen; »internationale Atmosphäre«, betonte die Unterzeile; »Privatschule in repräsentativer Anlage und großartiger Naturumgebung«, war in bescheidener Schriftgröße hinzugefügt, und Letzteres entsprach unzweifelhaft der Wahrheit. Nun wurden in der ersten Etage zur Lüftung ein paar Scheiben geöffnet, und Mädchen mit schriller Stimme wiesen gestikulierend auf den Schnee. Don Alberto, der wieder aus dem Park zurückkam, nahm den Seiteneingang. Er hatte noch einiges vor heute abend und wollte daher niemandem begegnen, auch den Schülerinnen nicht, außerdem wußte er, daß ihn gleich ein Anruf seines ehemaligen Kollegen Erretz im Büro erreichen würde. Es ging um einen Ratschlag für eine anstehende Theaterproduktion, die Erretz zu begleiten hatte. Solche kollegialen Anfragen wie in früheren Zeiten gab es also selbst noch hier, in diesem abgelegenen »Töchternheim« und dem Anonymität versprechenden Abseits der Provinz, das er ja für eine gewisse Zeit so gerne aufgesucht hatte, wie er sich immer wieder selbst vorhielt. Und jetzt, wenn er sich nicht täuschte, klingelte es auch schon. »Don Alberto, gehen Sie bitte in die Kabine«, ließ sich folgerichtig die Stimme von Frau Mattlikofer hören, »Professor Erretz am Telephon für Sie!«
»Haben Sie schon einmal eine nackte Frau im Schnee gesehen?« »Ja, natürlich, aber wie kommen Sie auf die Idee? Wollen Sie mich zu sich nach Hause einladen – zu einem gemütlichen Abend mit Sauna?«
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»Bei Gelegenheit sicher, aber hier geht es erst mal um das Bühnenbild für Isola Ittermanns ›Die Frau in Schnee‹. Ich stelle mir etwas Plakatives vor, mit weitem Hintergrund und Atmosphäre und großer Geste, fast Mythologie, aber doch eher wie nebenbei und eher natürlich.« »Aber nicht ausgezogene Damen wie bei Vallotton – es soll doch nicht unfreiwillig komisch sein oder süffisant ironisch? Oder doch eine Annäherung daran als mögliche Interpretationsvariante?« »Nein, ganz anders: Gedacht ist eine Anspielung auf die SegantiniGemälde mit den schwebenden Nymphen im Eiswind der Gletscherregionen.« »Ah‚ Segantinis ›Die bösen Mütter‹ als Märtyrerinnen ihrer Weigerung, Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen? Oder die anderen Frauen von ihm, die somnambul in der eisigen Bergluft schweben und so ihre Wollust büßen?« »Ja, zugegeben, reichlich verschlüsselte Bilder, mit einer etwas abstrusen Legende dahinter. Aber was er auch immer damit sagen wollte, als Maler hat er jedenfalls völlig überzeugend gesehen: Diese Landschaft braucht einen Kontrast, am besten eine weibliche Figur, oder, wie es so schön heißt, einen weiblichen Genius, der dieses Gestein, diese Kälte, diese Schwere ›erlöst‹ oder einfach erträglich macht und verwandelt zu etwas Lebensbeförderndem oder so ähnlich. Das ist jedenfalls summarisch die Idee des ganzen Stücks. Natürlich mit viel Drama zwischen Müttern und Töchtern, Töchtern und Vätern, Vätern und Müttern und so weiter. Das alte Muster, aber eben: Es muß durchbrochen werden, darum geht es der Autorin.« »Na, dann nur zu. Da gibt es genug zu tun. Denken Sie nur an unsere Mädchen hier im Internat – da hat sicher jedes einzelne allerhand zu erzählen, von Vätern und Müttern und vor allem von Stiefmüttern, älteren Schwestern und Brüdern und anderen Bevorzugten. Aber was das Segantini-Bild betrifft: Hoffentlich sträuben sich dem Maler nicht posthum die Haare. Obwohl: Man kann natürlich ganz allgemein sagen: Als Wunschbild schwebt uns so eine weibliche Figur doch immer vor, und wenn es noch so schneit und wintert – oder gerade dann. Aber: etwas symbolistisch überzogen für heutige Verhältnisse, meinen Sie nicht?« »Segantini, ich glaube 1894 – damals hat man so was gemacht, Alberto.« »Aber heute?«
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»Sicher, etwas rätselhaft und skurril, wenn man so will, aber der Text von Isola vermittelt das ziemlich aktuell und überzeugend. Wir müssen das umsetzen, Alberto, und Sie können mir dabei helfen. Also: Haben Sie so etwas in Ihrer Laufbahn schon mal auftauchen sehen oder sogar selbst in einer Aufführung, sagen wir mal, eingearbeitet? Das Symbolistische paßte doch in Ihre damalige Linie, oder?« Das Telephonat wurde unterbrochen. Don Alberto konnte die enge Kabine im Gang sowieso nie sehr gut aushalten und war sofort auf dem Weg nach draußen. Aber es klingelte schon wieder und Frau Mattlikofer hob erneut den Hörer ans Ohr. »Es ist nochmals Professor Erretz, Ihr Kollege«, rief sie, »nehmen Sie bitte wieder in der Kabine ab.« »Ja, wieder am Apparat. Also zu Ihrer Frage: ja, beziehungsweise nein. Auf der Bühne haben wir so etwas nicht gemacht, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Aber wollen Sie so was wirklich? Heute wäre das ja noch nicht einmal eine Provokation. Allenfalls die Vorlage für ein etwas freizügiges Werbeplakat.« »Vorsicht, keine voreilige Diffamierung! Denken Sie daran, daß die Idee von einer Frau stammt.« »So, meinen Sie? Die Autorin weiß also, mit welchen Klischees sie umgeht?« »Ja, aber wie gesagt, mit einer überzeugenden und übrigens aufklärenden Idee dahinter. Und gerade darum bezieht sich der zugrundeliegende Tochter-Mutter-Konflikt des Stücks auf eine zu überwindende elementare, sozusagen legendär-mythische Ebene. Deshalb auch das Segantini nachempfundene Bühnenbild als Hintergrund. Abgesehen davon, Alberto, die Autorin und der Regisseur wollen das, und ich als Bühnenbildner mache das. Nur, wir haben schlechte Karten: Die kleine Werbefilmfirma, die für uns arbeitet, kriegt das irgendwie nicht richtig hin. Der Kameramann war schon unterwegs auf Motivsuche und hat auch ein paar Aufnahmen mit den Models gemacht, aber nochmals: Er kriegt es einfach nicht hin. Er soll eher etwas Schwebendes, Ephemeres in Richtung Segantini machen, aber er macht daraus immer fleischige oder vielmehr knochige Hodler-Damen. Alles zu kantig in den Konturen und zu schwer. Ich versteh das nicht — bei den heutigen technischen Möglichkeiten und den fabelhaft empfindlichen Filmemulsionen.
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Vielleicht liegt es auch an den Models, sie nehmen immer entweder so typische Gogo-Girls oder venusbetonte Silikonfrauen. Der Regieassistent hatte schon den Einfall, lieber so etwas zu nehmen wie eine amerikanische Studentin mit Sommersprossen und Tennissöckchen.« »Wenn Sie an unsere Schützlinge hier denken, Sie wissen doch, die sind sakrosankt.« »Selbstverständlich – kein Gedanke in dieser Richtung! Obwohl, lieber Kollege: Ihnen ist sicher nicht entgangen, daß sich einige schon ganz schön auf die Bühne der erotischen Erfahrungen drängen. Aber wie gesagt, kein Gedanke daran. Ich denke vielmehr an eine unserer Nichten in New York. Eine ist sogar unterwegs zu uns. Aber vielleicht lassen wir sie damit lieber in Ruhe. Es war nur so eine Idee. Also gut, mir ist nebenbei noch eingefallen, Sie hätten vielleicht etwas Historisches, vielleicht sogar aus Ihrer Bergfilmära bei Fanck damals.« »Photos davon habe ich keine mehr. Da gab es übrigens nur ein paar lockere Unterhemden in der Mittagshitze auf dem Firn unter der Gletschersonne. Das war alles von wegen Freikörperkultur.« »Gut. Das ist schon ein Hinweis. Vielleicht versuchen wir es nämlich ganz anders, nämlich mit Aufnahmen wie aus der Stummfilmzeit, also doch hart konturiert, wie Scherenschnitte und so weiter. Mal sehen … Und Sie, mein Lieber, hält es Sie noch im Internat, in unserem Starenkasten der Millionärstöchter? Ich bin übrigens auch bald wieder eingeplant, Sie wissen ja, mit meinem Zeichen- und Designerkurs. Also Gruß an unsere Gastgeber … und dann sehen wir uns ja sicher.« Damit hängte Erretz auf.
»Die Segantini-Idee hat also doch Eindruck gemacht«, nickte Alberto zufrieden. »Wenn er wüßte, daß ich ihr das Sujet geliefert habe – und er ist sogar schon dabei, ein Bühnenbild zu entwerfen. Isola hat ihn offenbar ›hinreißend bezaubert‹, oder sagen wir lieber ›künstlerisch inspiriert‹, und in jedem Fall ihren Part gut gespielt. Wo steckt Erretz eigentlich jetzt? Hat er aus Tel Aviv angerufen oder Berlin?«, meinte er nebenbei zu Frau Mattlikofer. »Das muß ja immens viel kosten.« »Aber nein, er ist doch längst hier – Donnerstag fängt sein Kurs an.« »Das klingt allerdings wesentlich vernünftiger.« Don Alberto lachte. Unter diesen Umständen würde tatsächlich eine Einladung von Familie Erretz unten im Kurort auf ihn warten.
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Auf dem Treppenabsatz überflog Don Alberto nochmals das Telegramm, und als er oben angelangt war und die Tür seines holzgetäfelten Turmzimmers sorgfältig hinter sich verschlossen hatte, begann er Pläne zu schmieden. Wann genau kommt also der Zug an? Kurz vor sieben? Punkt 18.59 Uhr, also noch etwa drei Stunden Zeit. Da muß noch einiges besorgt werden vorher. Der Whisky geht schon zur Neige, und ein paar Büchsen von dem kleinen schwarzen Kaviar könnten auch nicht schaden; den RoséSekt habe ich schon kaltgestellt, die zweite Flasche geht allerdings schwer in den viel zu kleinen Kühlschrank. Draußen schneite es unaufhörlich weiter. Auch der mächtige Ahorn hinter der Villa war bereits von Schnee überzogen und ragte mit seinem unnatürlich hellen Gestänge in den dunkel werdenden Himmel wie eine Art gigantisches Photonegativ, das Alberto unwillkürlich an die Geisterwaldszene im »Nosferatu«-Film erinnerte und daran, wie man über diesen einfachen Trick der Negativbilder damals im Kino staunte, die durch bloße Farbumkehrung alle Bäume gespenstisch weiß erscheinen ließen. Zu diesem Baumriesen vor seinem Fenster jedenfalls hatte Don Alberto von Anfang an eine ganz besondere Zuneigung gefaßt. Er verkörperte für ihn das »im positiven Sinn Seßhafte«, ein Gegenbild zu seiner eigenen Existenz, die er zum größten Teil im Ausland verbracht hatte, keinesfalls entwurzelt, aber streng genommen doch meist »in der Fremde«, wobei ihm das heute eher angenehm erschien. Wenn er Fragen nach seinem Herkommen zuließ, gab er an, aus einer deutsch-tschechischen Familie zu stammen, das heißt, aus der sogenannten alten K.u.k-Monarchie, wobei er sich selbst über das zähe Überleben dieser etwas verstaubten und morbiden Bezeichnung wunderte. Allerdings gab es für ihn keine andere gültige Umschreibung dieser spezifischen Aura von damals und des Lebensgefühls, das seine Kindheit bestimmt hatte. In seiner späteren Laufbahn war er als Theaterfachmann selbstverständlich weit über die Grenzen dieses Staatengebildes hinausgelangt, auch im In- und Ausland tatsächlich mehrfach Intendant gewesen, zudem von verschiedenen Hochschulen zum Professor ernannt worden, wobei er selbst, über so viel Akademismus amüsiert, es jeweils so angetroffen hatte, daß er nach jeder dieser Ernennungen sich bald gezwungen sah, wieder »aus- und aufzubrechen«.
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In seinem Steckbrief würde stehen: Bereits 1933 aus den bekannten politischen Gründen seine Berliner Karriere hingeworfen, regelrecht ausgewandert; erst nach Frankreich, später nach Übersee und dann doch, aufgrund einer merkwürdigen Anhänglichkeit, zurückgekehrt ins Nachkriegs-Europa, wo er nach mehreren Zwischenstadien in Wien wieder dem zeitweilig herrschenden Regime auswich, diesmal also den Besatzungsmächten und ihrem widersprüchlichen Kulturdiktat. Dann: Die folgenden sogenannten Wiederaufbaujahre bei verschiedenen »freien« Engagements in Deutschland verbracht und zwischendurch auch in der Schweiz. Weiterhin: In der letzten Zeit hatte es ihn dann aber eher in den Süden gezogen, zu skandinavischen Freunden aus der Berliner Film- und Theaterzeit der Dreißigerjahre. Sie waren damals auch »geflüchtet« und kurioserweise bei der Dampferfahrt nach Südamerika auf einer südlichen Atlantikinsel hängengeblieben, wo sie es zu einer erstaunlich ruhigen und sogar auskömmlichen Existenz gebracht hatten. Tatsächlich: Alberto wurde nach all den Jahren im alten Freundeskreis mit Vorzug wieder aufgenommen und hatte somit auf der Insel »eine Art Alterssitz« (wie er es selbst nicht ohne Ironie nannte). Und darüberhinaus: Im übrigen zählte Don Alberto seit langem zu jener Sorte von Künstlern, für die Fragen der Zugehörigkeit zu einer Nation und des Wohnorts kaum ins Gewicht fielen, dafür um so mehr das, was er »politisch-soziale Grundanständigkeit« nannte (er zitierte dabei merkwürdigerweise öfter George Sand und ihre unerschütterliche Treue zur Aufklärung, die sie auch im Ausland und auf allen Reisen bewiesen hatte). Weiterhin galten für ihn vor allem künstlerische Disziplin und die Arbeit an der »mentalen Fortentwicklung« – der eigenen und der junger Kollegen. Nun war er ganz in diesem Sinn, aber doch wie durch Zufall hier »auf dem Berg« gelandet, nämlich auf Einladung seines philanthropischen Freundes, der das Internat vor Jahren gegründet hatte.
Das war alles etwas kompliziert für den Mann der Lokalpresse, der ihn erst vor kurzem mit einem Interview »beehrt« hatte. Alberto ließ daher nur das eine oder andere aus der Vergangenheit durchblicken und beschränkte sich bei seinen Angaben auf die unmittelbare Vorgeschichte
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seines Aufenthalts. Sie war, wenn man sie tatsächlich erklären wollte, eigentlich denkbar einfach: Das Internat und zugleich Institut (»als Stätte internationaler Begegnung«) wollte Don Alberto eigentlich nur kurz besuchen, um ein Seminar abzuhalten und ein paar Gastvorträge zu geben, die hier oben allerdings nicht immer vor sachkundigem Publikum stattfanden. Immerhin stellten sich ab und zu einige prominente Kollegen ein, so wie Erretz, der als alter »Freund der Berge« zufällig seit langem auch hier in der Gegend eine Wohnung hatte. Aber abgesehen davon: Die Mädchen im Internat, von denen sich einige sehr interessiert zeigten, mochte er gern. Er hatte, als das Direktorenpaar ihn fragte, auch sogleich versprochen, ihnen vorübergehend Unterricht zu geben. Etwas mehr Sicherheit im Auftreten, Wendigkeit im Ausdruck und Gefühl für Sprache konnte ihnen nicht schaden. Und was den Fächerkanon betraf, war ja hier im Internat alles noch im Fluß, und dieses »vage Arrangement« gab ihm wieder Gelegenheit, frei nach seiner Methode zu unterrichten. Auf der Insel hatte ihm das gefehlt. Und vor allem: Hier oben hätte er sicher nebenher genug Zeit, um auch einiges zu schreiben.
Nach dem Lärm im Haus zu urteilen, war offenbar gerade die Pause angebrochen. Unter seinem Turmfenster sah man jetzt Fußspuren: Janie Amos mit zwei, drei anderen Mädchen. Sie waren dabei, den Weg freizuschaufeln – nicht geradezu ernsthaft, sie machten sich eher einen Spaß daraus und bewarfen sich zwischendurch mit Schnee, duckten sich, gingen zum Gegenangriff über, liefen davon, kamen wieder zurück und versuchten, sich gegenseitig etwas Naßkaltes in den Kragen zu stecken. Aus der senkrechten Sicht sah alles ungewohnt bizarr aus, wie ein kriegerisches Ballett in einem japanischen Film: lauter sich überschneidende, ineinander verschlungene Kreise. Die Wollmützen als blaue Flecken auf den Köpfen, daneben die kleinen graublau- oder rotbestrumpften Beine, die sich unter den rosafarbenen und hellblauen Anoraks hervorarbeiteten und dabei den Mädchen gehörig energische Impulse verliehen, dazwischen ein violetter oder ein dunkelfarbener Mantel und ab und zu ein neugieriges Gesicht, das nach oben blickte und ihm zulachte. Das waren Bilder, wie er sie liebte: Bewegung als Lebenselement, vor allem die leuchtenden Farben und die pointierte Perspektive, es fehlte seltsamerweise auch nicht, was er bei Reinhardts Choreographie von
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Massenszenen immer so bewundert hatte, das geheimnisvolle Zentrum einer paradoxen Exzentrizität. Und die Mädchen selbst? Ein großes, wunderschönes, komplexes Kapitel für sich. Da er sie alle liebenswert fand, war er auch seinerseits beliebt. Natürlich gab es auch hier oben in der glänzenden Alpenlandschaft keine konfliktfreien Zonen. So wie sich die Mädchen jetzt da unten aufführten, waren sie noch die reinen Kinder. Wenn sie allerdings begannen, sich als junge Göttinnen aufzuspielen und für unwiderstehlich zu halten? Da half nur die milde Strenge des weisen Lehrers. Diese Rolle hatte er nun wirklich seit langem überzeugend verkörpert und wußte sie erfolgreich einzusetzen. Also auch hier »wunderschöne Harmonie«, jedenfalls im großen und ganzen (so seine tägliche wiederholte rituelle Beschwörungsformel). Immerhin: über Tag die Abwesenheit von mürrischer Einsamkeit, nachts viele ernste Stunden an der Schreibtischlampe, zwischendurch Blicke aus dem Fenster auf die unverrückbaren ewig weißen Bergriesen, am liebsten bei Mondlicht. Daran war jetzt natürlich nicht zu denken. Aber dafür hatte man endlich den erfrischenden Schnee, der sich lautlos und federleicht auf alles Widerborstige und Struppige legte. Jetzt aber schnell zum Praktischen, ermahnte Alberto sich. Er sollte zum Bahnhof gefahren werden, und genaugenommen war nicht mehr allzuviel Zeit. Also: Konrad mußte helfen und einspringen. Der Freund und Direktor schien tatsächlich drüben im Bungalow zu sein. Alberto sah Licht in den Fenstern. Bis jetzt hatte Konrad ihn noch nicht auf die Autofahrt zum Bahnhof angesprochen. Ich werde ihn lieber nochmals vom Haustelephon aus anrufen und ihn an die Fahrt erinnern. Wenn ich rübergehe, kostet das nur unnötig Zeit. Und da war vor allem auch noch das Problem der festen Schuhe, die man ja jetzt wohl brauchte. Irgendwann werde ich meine Kloben heute wohl noch anziehen müssen, urteilte er, schon um den Whisky zu holen. Also: »… auf, bade, Schüler, unverdrossen …« Er griff also schließlich nach seinen Schnee- und Bergstiefeln. Sie waren eigens für ihn vom Dorfschuster hergestellt worden. Daß er jetzt, nachdem er sie mit einiger Mühe angezogen und zugeschnürt hatte, wie eine Figur aus Dr. Fancks Film »Die Wunder des Schneeschuhs« aussah, ahnte er selbst vielleicht nur ungefähr. Es hätte ihn aber auch nicht gestört. Im Gegenteil. Das Aufkommen der Bergfilme in den Zwanziger-
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jahren war mit seiner zweiten Sturm-und-Drang-Phase verbunden, und Fanck hatte er bei Dreharbeiten sogar persönlich kennengelernt − aber erst später, durch Vermittlung einer seiner bekannt gewordenen Schülerinnen, die damals bei Fanck gastierte. Mit seinen altmodischen Stiefeln, die den Nachweis lieferten, daß die alte Schuhmacherkunst im Tal noch nicht ausgestorben war, kam Don Alberto jedenfalls dem Urteil der Dorfbewohner entgegen, die sofort meinten: »So etwas sieht ihm gleich! Das paßt zu ihm. Noch richtig zünftig, wie damals.« Es war gut, daß man ihn auf diese Weise nicht nur als feingeistiges Exemplar der Dozentenschaft einstufte. Die Dorfbewohner und die Nachbarn hatten sich während seines fast halbjährigen Aufenthalts an seine Erscheinung nicht nur gewöhnt, sondern ihn allmählich sogar zu einer Art Maskottchen des Orts erhoben: »Unser Professor!« war die allgemeine Bezeichnung für ihn geworden, was ihn in eine Art Ausnahmezustand versetzte und ihn immerhin mit einigen Privilegien und Freiheiten versah.
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