Bettina Robertson, eidg. dipl. Immobilienverwalterin, wurde 1970 in Zürich geboren und liebte es schon als Kind, Geschichten zu erfinden. Über zehn Jahre arbeitete sie in der Immobilienbranche, bevor sie 2001 ihren Job aufgab, um mit ihrem Mann nach Hongkong auszureisen. Erst dort fand sie endlich wieder Zeit und Muse zu schreiben. Sie blieben fünf Jahre in Hongkong, danach ein Jahr in Singapur. Nach der Geburt ihrer zwei Töchter lebt Bettina Robertson heute wieder mit ihrer Familie in der Schweiz. »Schmuckstück sucht Schatulle« ist ihr dritter Roman. Von ihr sind bereits die Krimis »Gefährliches Damenspiel« (2004) und »Tödliche Safari« (2008) erschienen.
Bettina Robertson
Schmuckst端ck sucht Schatulle Roman
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Dezember 2013 © 2013 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink Printed in Europe ISBN 978-3-86520-489-9
Wer lebt, liebt, wo er lebt, Wer liebt, lebt, wo er liebt …
Für Mira und Samantha
Inhalt
Kapitel 1
Singapur – ein ganz normaler Abend im September · 9 Kapitel 2
Der Tag seiner Beichte · 22 Kapitel 3
Zurück in der Schweiz – November · 36 Kapitel 4
Der Malkurs · 49 Kapitel 5
Leonie · 61 Kapitel 6
Ein Traumprinz auf Bestellung · 71 Kapitel 7
Passende Schatulle für Schmuckstück gesucht · 88 Kapitel 8
Der Heilungsprozess beginnt · 99 Kapitel 9
MERRY XMAS! · 111 Kapitel 10
Der Prinz schreibt zurück – und entpuppt sich als Frosch · 121 Kapitel 11
Next! · 133
Kapitel 12
Pub-Gespräche · 139 Kapitel 13
Philip … oder Mike? · 151 Kapitel 14
Männer! · 175 Kapitel 15
Mutter und Stiefgroßmutter zu vergeben · 194 Kapitel 16
Endspurt · 213 Kapitel 17
Das Interview · 231 Kapitel 18
Letztes Pub-Gespräch – an einem heißen Sommertag · 249
»Soundtrack zum Buch« · 269 Rezept gegen Liebeskummer für die Frau · 270 Danksagung · 271
Kapitel 1
Singapur – ein ganz normaler Abend im September
D
raußen war es stockfinster. Die Grillen zirpten laut um die Wette, als ob es ihre Aufgabe sei, die Happy Hour einzuläuten. Alexa liebte dieses Geräusch, es erinnerte sie an längst vergangene Sommernächte am Mittelmeer. Sie betrachtete sich kritisch vor dem Spiegel ihres Wandschranks. Der Stoff ihres seidenen Abendkleides klebte an einzelnen Stellen ihres Körpers wie die Saugnapffüße eines Frosches an der Wand eines Terrariums. Vorsichtig löste sie den hauchzarten Stoff an den betroffenen Stellen von ihrer Haut und zupfte das Kleid wieder in Position. Sie wusste, dass ihr Freund ungeduldig auf sie wartete, sah ihn vom Fenster aus in der Garageneinfahrt stehen und mit seinem Handy spielen. Hastig zog sie den Kamm durch ihr Haar, versuchte, ihre blonden Locken zu ordnen. Vor einer halben Stunde hatte sie ihre Haare frisch gewaschen, doch die hohe Luftfeuchtigkeit hatte die sorgfältig glatt geföhnten Haare unvorteilhaft krausen lassen, sodass sie sich jetzt genervt dazu entschied, einen Pferdeschwanz zu binden. Alexa hatte sich in den vergangenen Jahren an das tropische Klima Singapurs gewöhnt – sie liebte es, abends ohne Jacke und in hochhackigen Peeptoes in die laue Nacht einzutauchen – , aber an diesem Abend störte sie die Feuchtigkeit, sie fühlte sich eingeengt. Sie freute sich auf die bevorstehende Party, aber die wassergeschwängerte, schwere Luft umhüllte sie wie eine Wolldecke, ließ sie bereits wieder schwitzen. Fast jeden Tag war es um die dreiunddreißig Grad warm und so feucht, dass es sich kaum lohnte, den Duschhahn abzudrehen. Schließlich lebten sie in den Tropen. Alexa betrachtete ihren Freund Lars durch die Fensterscheibe von oben, anscheinend telefonierte er gerade mit jemandem, wahrscheinlich etwas Geschäftliches. In seinem dunkelblauen Anzug sah er unverschämt gut aus. Er hat sich verändert, wirkt in letzter Zeit viel selbstsicherer, dachte sie. Seit sie im Ausland lebten, war er zusehends aufgeblüht. 9
War es das ungewohnte Klima? Oder stieg ihm der berufliche Erfolg ein wenig zu Kopf? Jedenfalls fand Alexa sein neues Ich sexy. Als Lars sie vor fünf Jahren gefragt hatte, ob sie mit ihm nach Singapur auswandern würde, hatte sie sofort begeistert zugestimmt. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, gab Alexa ihre geliebte Stelle als Werbeassistentin in Zürich auf, um ihm ins unbekannte Abenteuer zu folgen. Sie hatte diesen Schritt nie bereut, denn obwohl es normalerweise schwierig war, als Partnerin eines Expat ebenfalls eine Arbeitsbewilligung zu erhalten, hatte sie es geschafft: Lars’ Firma hatte ihr zu einer Aushilfsstelle verholfen, die ihr immerhin ein bescheidenes Einkommen ermöglichte. Es war aufregend, mit Lars an ihrer Seite neuartige Eindrücke zu gewinnen, neue Freunde zu finden und ganz andere Lebenserfahrungen zu schöpfen. Nein, das Expatleben in Singapur war nicht zu verachten. Ein völlig anderes Leben, verpackt in schillerndes, luxuriöses Glanzpapier. Firmenauto: Audi. Dreistöckiges Haus inklusive Maid. Gepflegter Garten samt Gärtner und eigenem Swimmingpool. Dieses nicht zu verachtende Gesamtpaket war durchaus üblich bei Expats, die jeweilige Firma übernahm praktisch alle Kosten. Schließlich musste der Angestellte für die Firma seine Heimat verlassen und sich von Familie und Freunden auf unbestimmte Zeit verabschieden. Klar, Singapur ist nicht bekannt dafür, der interessanteste Platz auf Erden zu sein. Ein wenig steril vielleicht, aber durchaus angenehm zum Leben; sicher, sauber, klein und übersichtlich. Der Inselstaat beherbergt einen außergewöhnlich bunten Mix von verschiedenen Kulturen und Rassen, ein wahres Multi-Kulti-Schlaraffenland. Jeder kann sich wie zu Hause fühlen: Köche aus allen Ecken der Welt zelebrieren nach Lust und Gaumen ihre Kochkünste, und dabei gibt es wohl keine Nationalität, die nicht vertreten wäre. Neben den Expats und Touristen gehören hauptsächlich Chinesen, Inder und Malaien zum einheimischen Volk und leben erstaunlich friedlich nebeneinander. Die Expatriates wollen mit Aufenthalten wie diesen ihre Lebensläufe aufpeppen: Amerikaner, Europäer, Australier sind in jeder größeren Firma vertreten. Die meisten von ihnen genießen diese Freiheit, sich weit weg in warmer Ferne neu zu erfinden, tagsüber zu arbeiten, abends zu schlemmen und sich selbst zu feiern. Auch bei Lars und Alexa war alles perfekt. Beide hatten ihre Jobs, genossen die Weekends am Strand und trafen sich abends mit 10
Freunden. Bis diese … diese Person in Lars’ Firma eintraf. Diese Hexe. Ihr Name war Karen. An diesem besagten Abend schlüpfte Alexa also in ihr feinstes Seidenkleid. »Alexa! Das Taxi ist jeden Moment da!«, rief Lars nun ziemlich ungeduldig. »Ja, ich komme gleich!«, rief sie zurück und betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Toll geschminkt. Dezent und doch sexy, in der richtigen rauchblauen Farbe, die ihre strahlenden Augen noch stärker hervorhob. Freudig erregt trug sie noch ein wenig Lipgloss auf und hüpfte dann die Treppe hinunter, um mit Lars kurze Zeit später in ein Taxi zu steigen. Zu dieser Stunde wusste sie noch nicht, dass das Märchen vom Prinzen, der sein liebes süßes Aschenputtel eigentlich heiraten sollte, gnadenlos von irgendeiner üblen Hand, genannt Schicksal, umgeschrieben würde. Das MASI war ein edles Outdoor-Lounge-Restaurant mit gemütlichen Korbstühlen und Sofas, die überall verteilt zwischen Palmen und Büschen standen. Krächzende Vögel aller Art, die in einiger Entfernung in einer riesigen Voliere eingesperrt waren, sorgten für Urwaldstimmung. Das Servierpersonal war in Saris gewickelt, allesamt hübsche junge asiatische Frauen, die einen freundlich anlächelten. Das Ingenieurteam von »Shipping Ltd.« feierte den gewonnenen Auftrag für das bevorstehende Hafenprojekt. Lars hatte ihr erzählt, dass dafür eine neue Angestellte ins Team aufgenommen worden war, um ihnen die Projekt arbeit zu erleichtern. Eine Engländerin. Alexa kannte bereits sämtliche Kollegen aus Lars’ Firma, darum fiel ihr Karen sofort auf, insbesondere ihr großzügiges Dekolleté: ein »Sieben-Zentimeter-StudentengässchenAusschnitt« mit garantiertem Erfolgspotenzial. Alexa runzelte die Stirn. Auch eine Art, auf sich aufmerksam zu machen, dachte sie. Doch sie fand sie attraktiv, wie sie sich eingestehen musste. Sexy Figur, groß, schwarze lange Haare, elegant angezogen. Jedenfalls für eine Ingenieurin, die sie sich eigentlich ganz anders vorgestellt hatte, wie sie beunruhigt feststellte. Karen war zweifellos eine faszinierende Persönlichkeit, aber das war sie selbst ja schließlich auch. Selbstbewusst sprach Alexa die neue Mitarbeiterin an, um mit ihr ein paar freundliche Worte auszutauschen und sie in Singapur willkommen zu heißen. »Hi, ich bin Alexa, Lars’ Freundin. Wie gefällt es dir in Singapur? Herrlich, diese warmen Abende, was?« 11
Karen blickte auf sie hinunter, sagte fast verächtlich: »Ehrlich gesagt fühle ich mich ziemlich eingeengt. Sobald das Projekt beendet sein wird, reise ich zurück nach Vietnam.« Alexa war perplex, fühlte sich sofort verunsichert. Verwundert fragte sie: »Oh. Du lebst in Vietnam?« Karen ließ für einen kurzen Moment ihren Blick schweifen, in Lars’ Richtung, der mit zwei Gläsern in der Hand auf dem Weg zu ihnen war. Gedehnt sagte sie: »Ich lebe schon seit zehn Jahren nicht mehr in London. Zuerst waten wir in Shanghai, dann Hongkong und schließlich Hanoi. Ich vermisse die Stadt richtig, sie hat viel mehr Atmosphäre als Singapur, gar kein Vergleich!« Dabei lächelte sie Alexa entschuldigend an. Alexa fühlte sich unwohl, auch ihr Seidenkleid erschien ihr plötzlich zu brav, sie fühlte sich »underdressed«, wenn sie sich mit dieser Frau verglich. Sie dachte für sich, dass man Hanoi auch nicht unbedingt mit Singapur vergleichen konnte. Wie dumm von dieser Karen. Eingebildete Kuh! Lars platzte fröhlich in ihre Gedanken und ließ sie zusammenzucken. »Sie ist unsere neue Projektleiterin, Honey.« Dabei reichte er zuerst Karen, dann ihr ein Glas Champagner. Nochmals Oh. Lars hatte ihr erzählt, dass eine neue Arbeitskollegin ins Team aufgenommen worden war, warum hatte er ihr verschwiegen, dass sie die Gruppe leitete? Insgeheim musterte sie die Hände der Frau. Wie alt sie wohl war? Verstohlen betrachtete sie Karens Gesicht von der Seite. Ihre Augen waren dunkel und lebendig, und sie hatte sehr markante, dichte Augenbrauen, die sie dominant wirken ließen. Sie schätzte die Frau auf mindestens vierzig. Leicht irritiert stellte sie fest, dass Karen keinen Ehering trug. Später – als dann endlich die Katze aus dem Sack war – erfuhr Alexa, dass Karen geschieden war und zwei fast erwachsene Kinder hatte. Ihr Exmann – angeblich die rechte Hand des französischen Botschafters – lebte mit den Kindern ebenfalls in Hanoi. Eigentlich hätte sie es merken müssen, dass sich zwischen Lars und Karen etwas anbahnte, denn Lars hatte plötzlich morgens keine Probleme mehr, früh aufzustehen. Er hüpfte fast aus dem Bett, und seine Augen glänzten, wenn er von der Arbeit sprach. Alexa ließ in Gedanken die Zeit der letzten Wochen ih12
rer Beziehung zurückspulen, versuchte, sie ganz objektiv zu betrachten. Tatsächlich, kleine, schmerzliche Details fielen ihr auf, wie schwarze, störende Flecken auf der Filmleinwand: Waren sie für alle anderen die ganze Zeit schon ersichtlich gewesen? Zum Beispiel hatte er irgendwann einmal begonnen, sie zum Abschied nur ganz flüchtig, ja oberflächlich zu küssen. Tschüß. Und weg war er. Kein »Ich liebe dich, Schatz«. Grimmig dachte Alexa darüber nach, dass es sie nicht wunderte, dass diese Hexe geschieden war. Sie war eine übertrieben selbstbewusste Frau, die bestimmt nicht einfach zu halten war. Alexa schüttelte den Kopf. Umso schlimmer war es, dass ausgerechnet Lars sich in ein solches Wesen verliebt hatte. Eine ehrgeizige Karrierefrau, die sich wahrscheinlich mit Ellenbogen und kurzem Rock durch die Chefetage gekämpft und gemogelt hatte. Dabei hatte sie nebenbei auch noch zwei Kinder! Lars hatte nie Kinder gewollt. Das war ja der Witz an der Sache – jetzt stand sie selbst dumm da, kinderlos, mit neununddreißig! Eigentlich hätte sie sehr gerne eine Familie gegründet, hatte es aber verdrängt und dank Lars gar nicht zugelassen, weiter darüber nachzudenken. War es jetzt zu spät? War sie dazu verurteilt, »nur« als Frau zu sterben und nicht als Frau und Mutter? Nie zu wissen, wie es ist, ein Lebewesen zu gebären, Verantwortung für ein anderes Leben zu übernehmen? Panik ergriff sie. Ja. Außer, sie würde in den nächsten dreihundertfünfundsechzig Tagen einen Mann finden, der bereit wäre, sie sofort zu schwängern. Ja, so schnell ging das: Willkommen im Klub der Verlassenen. Sie dachte an all die Abende, als sie und Lars mit ihren neu gefundenen, interessanten Freunden gelacht, gesungen, getanzt hatten. Sie hatte eine kleine Familie gefunden, Menschen, die sie selbst ausgesucht hatten, und sich in diesem Kreis wohlgefühlt wie nie zuvor. Freunde, die eigentlich Fremde waren, die aber alle im selben Boot saßen. Mehrmals die Woche hatten sie sich getroffen, um zu trinken, zu feiern, zu lachen und sich der Illusion hinzugeben, weit weg von der Heimat ein weit aufregenderes Leben zu führen. Doch es blieb eine Illusion. Es war so vergänglich. Es war keine Familie. Die Freunde hatten sich nicht mehr gemeldet. Sie trank noch einen Schluck Rotwein. Den achtundzwanzigsten Schluck an diesem Abend, den sie allein vor dem Fernseher verbrachte. Als die Folge von »Desperate Housewives« beendet war – Lynette erfuhr gerade, dass sie Großmutter wurde –, schaltete sie den Fernse13
her aus und stellte ihren Lieblingskanal im Radio ein. You didn’t had to cut me out! lief passenderweise, Gotye schrie seinen Liebesfrust mit Inbrunst ins Mikrofon. Sie hatte dieses Lied des Australiers schon tausendmal gehört – doch erst jetzt nahm sie die genauen Worte wahr, fühlte seinen Schmerz und sang sogleich mit: »Somebody that I used to know!« Die Melodie riss sie aus ihrer Gefühlsstarre, und sie hüpfte wie wild im Wohnzimmer herum. Wie aufmerksam von dem Typen im Radiosender … woher wusste der, wie beschissen sie sich fühlte? Das Lied bewirkte bei ihr, dass sie sich nicht mehr so allein mit ihrem Kummer fühlte. Konnte man diese Melodie als Klingelton fürs Handy runterladen? Als der Song endete, folgte Don’t speak von No doubt, und Alexa sackte aufs Sofa zurück. Sie liebte dieses melancholische Lied, wieso wurde es ausgerechnet jetzt gespielt – hatte das etwa eine Bedeutung? Ohne es zu merken, wippte sie mit dem Oberkörper hin und her, sang leise, aber hingebungsvoll zur Melodie mit, während ihr die Tränen die Wange hinunterliefen: You and me … we used to be together, everyday together a-l-w-a-y-s I really fee-eel that I’m losing my best friend I can’t believe this could be – the end … … don’t tell me cause it hurts! Alexa konnte das Lied auswendig singen, hatte in den letzten Jahren immer wieder dazu gesummt, ohne zu ahnen, dass sie schon sehr bald auch so fühlen würde. Ob Lars jetzt auch mithörte? Sie hatten diesen Sender praktisch jeden Abend eingestellt. Sie starrte aufs Telefon, hoffte, dass es jeden Moment klingeln würde. Doch es klingelte nicht. Auch ihre gemeinsamen Freunde riefen nicht an. Niemand rief an, denn sie wussten nicht, wie sie mit ihr umgehen sollten. Mit einer frustrierten Plötzlich-Single-Frau auszugehen, war ja schließlich alles andere als unterhaltsam. Sie schnäuzte sich in das dreizehnte Taschentuch und betrachtete voller Selbstmitleid den Tisch, der unterdessen mit unappetitlichen, achtlos dahingeworfenen Papiertaschentüchern übersät war. 14
Sie warf sich wieder zurück aufs Sofa und schluchzte. Wenn Lars sie doch nur heimlich betrogen hätte, dann würde sie ihn jetzt wenigstens richtig hassen können! Aber dummerweise hatte er ihr seine Gefühle auf ehrliche Art gebeichtet, bevor da etwas lief. Sie glaubte ihm, sie hatte es in seinen Augen gelesen, er sagte die Wahrheit. Es war alles Karens Schuld. Diese Hexe hatte Lars ohne Rücksicht auf Gefühle der »Fast-Verlobten« in ihren Bann gezogen (sprich Hexenzauber), dem er sich einfach nicht entziehen konnte. Sie konnte nur noch beten und hoffen, dass er bald zu Vernunft kommen würde. Insgeheim stellte sie sich vor, wie Karen sich richtig zickig benahm und zu Hause in zerbeulten Leggins rumlief, sodass er entsetzt und reumütig zu ihr zurückkommen würde. Jawohl. Bald würde es klingeln. Der Musikstil änderte sich, es folgte Funkmusik, wahrscheinlich hatten sie dem Typen vom Radio gedroht, ihn vom Stuhl zu schmeißen. Aber er hatte sie alle getäuscht, es war wieder ein Liebeslied, wenn auch ein rockiges: Mother’s finest schrie Baby Love durch den Lautsprecher, die emotionsgeladene Musik verwandelte das Wohnzimmer in eine Disko. Burning for your love, o baby love, all I do is think about you baby love … Alexa starrte auf die Hifi-Anlage und schüttelte immer wieder den Kopf. Lars war weg. Abgetaucht ins Meer der tausend anderen Möglichkeiten. Neue Frau, neues Gefühl der Verliebtheit. Und wenn dieser abnorme, pinkfarbene Zustand der Vernarrtheit vorüber war? Würde er dann aufwachen? Würde er zur Vernunft kommen und seine Dummheit einsehen? Denn der Alltag war doch ausschlaggebend. Nicht die Ferienzeit, die bekanntlich die Sinne berauschte und somit ja auch täuschte. Oder die aufregende Zeit während eines Hochs, wie vielleicht ein äußerst erfolgreicher Geschäftsabschluss in Millionenhöhe. Der banale Alltag sagte doch erst aus, ob man sich als Paar wirklich ergänzte oder eben nicht. Ob man auch während eines regnerischen langweiligen Sonntagnachmittags zusammen lachen und reden konnte. Angenommen, es blitzte und donnerte während eines für Singapur typischen Tropengewitters; der Fernseher gab seinen Geist auf, oder sämtliche Laptops, iPads, Computer und Mobiltelefone funktionierten aus unerfindlichen Gründen plötzlich nicht mehr. Würde er sich ihrer dann auf einmal erinnern und sich nach ihr sehnen? Oder würde er 15
mit Karen im Schlafzimmer verschwinden und alles andere verdrängen? Sehr wahrscheinlich. Der Fisch wollte wohl nicht reden. Er wollte lieber herumschwimmen, im feuchten Teich seiner neuen Angebeteten mit ungewöhnlich großer Körbchengröße. Trotz all der Verschmutzung in diesem Tümpel. Sie musste es endlich einsehen: Der Fisch war ihr entschlüpft. Sie konnte ihn nicht mehr einfangen, denn ein Wal hatte ihn bereits verschluckt. Fragte sich nur, ob der Wal den Fisch wieder ausspeien würde … Immer wieder fragte sie sich, was wohl gewesen wäre, wenn diese Karen nicht aufgetaucht wäre. Irgendwann hätten sie geheiratet. In Weiß. Alexa trank nochmals einen Schluck Wein und sinnierte weiter: Wie stellte man seine Gefühle auf Kommando ab? Gab es da ein Rezept? Es brauchte Wochen, wenn nicht Monate, bis sich die Schmetterlinge im Bauch beruhigten und sich dieser Zustand des Verliebtseins in tiefe, innige Liebe verwandelte! Die Emotionen und die Erinnerungen der letzten Jahre waren in ihrem Herzen eingebrannt wie ein Tattoo. Wie also sollte sie von einem Tag auf den anderen diese aus Seele und Kopf wieder verbannen? Wie, bitte schön? Gab es irgendwo einen ominösen, versteckten Laden, wo sie diese Tattoos wieder entfernten? Einmal Gefühle weglasern bitte! Die Worte »Ich liebe dich, Lars« galten zwar noch, waren aber nicht mehr erwünscht. Wenn es mit den eigenen Gefühlen doch so einfach wäre wie auf Facebook … Aktueller Beziehungsstatus: Single! Lediglich anklicken, und schon war alles wieder neu geordnet und abgespeichert. Die Schmetterlinge waren immerhin entflogen. Lars hatte den Käfig selbst geöffnet. Aber statt sich in Rachegedanken zu üben, merkte sie, wie sie die Schuld bei sich suchte. Was hatte sie nur falsch gemacht? War sie zu nett? War sie ihm etwa zu langweilig? Hätte sie mehr auf den Tisch hauen müssen? Sie haute auf den Tisch. Verdammt! Einzelne Chips fielen zu Boden. Jetzt wurde ihr auch noch schlecht: Paprikachips mit Wein runterzuspülen, war anscheinend schlecht verdaubar. Sie hatte diesen Menschen geliebt! Er war ein liebevoller Partner gewesen, und sie hätte keinen anderen gewollt. Ihre Gedanken wanderten immer mehr im Kreis, bis ihr davon schwindlig wurde. Sie massierte ihre Schläfen und hatte plötzlich eine Idee: Klone! Gab es da nicht diese 16
Firma in den Staaten, bei welcher man menschliche Klone bestellen konnte? Top secret natürlich. Oder war das ein Film gewesen? Jedenfalls könnte sie im Haus einige Haare von Lars einsammeln und mit seiner DNA und einem Foto ein paar Monate später einen gefügigen Lars bekommen. Frisch aus dem Labor. Natürlich mit einigen Schönheitsoptimierungen versehen, wie Waschbrettbauch und schneeweißen Zähnen. Kostenpunkt: hunderttausend Dollar. Mindestens. Sie dachte an Lars’ Gesicht, wenn er sein eigenes Hochzeitsbild in der Zeitung erkennen würde, und prustete los, dabei den Rotwein unfreiwillig auf den Tisch speiend. Sie kniff die Lippen zusammen und versuchte, auf Lars so richtig wütend zu sein. Das hatte ihr jedenfalls ihre Mutter geraten, als sie vorhin widerwillig in der Schweiz angerufen hatte, um ihr die Neuigkeiten zu beichten. »Ma, mein Leben ist zu Ende!«, hatte sie am Telefon geklagt. »Schatz, was ist denn passiert, wurde dir etwa gekündigt?«, rief ihre Mutter Lieselotte besorgt. »Schlimmer. Lars wurde entführt!« »Was?« Ihre Mutter war noch nie in Singapur gewesen und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie man da lebte. Sofort war sie alarmiert. »Du meinst, diese Einheimischen, diese Singapurer haben ihn verschleppt? Gegen Lösegeld? Mit vermummten Gesichtern und Waffen und dergleichen?« Alexa meinte, eine gewisse sensationslüsterne Aufgeregtheit in der Stimme ihrer Mutter herauszuhören. Bestimmt täuschte sie sich. »Quatsch. Es war die Hexe.« »Wie bitte?« Unterdessen bemerkte Lieselotte den lallenden Tonfall ihrer Tochter und wurde hellhörig. »Die Hexe, die andere Frau eben. Diese Tussi. Entschuldige.« Alexa heulte los. Ihre Mutter schwieg betroffen. Sie hatte schon allen Freundinnen in Oberlunkhofen erzählt, dass ihre Tochter bald heiraten würde. Einen erfolgreichen Geschäftsmann im Ausland. Außerdem hatte sie im Dorfladen voller Vorfreude heimlich ein gelbes Babyjäckchen gekauft. Es war so ein günstiges Angebot gewesen, und man wusste ja, wie schnell so was ging. Das war jetzt ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt. »Aber, Schatz, was hast du denn angestellt? Hast du etwa zugenommen?« 17
Nach kurzem Schweigen am anderen Ende der Leitung heulte Alexa wieder los. Diesmal noch lauter. Aber wenigstens war sie jetzt endlich auch wütend. »Ich habe gar nichts falsch gemacht! Es war die Hexe, die hat ihn mit ihrem fett-fleischigen Doppel-D-Busen verblendet! Ich kann auch nichts dafür, dass ich nur Körbchengröße A vorweisen kann! Oder? Und er wird auch sehr bald zu mir zurückkommen! Reumütig und … und mit einem Ring in der Tasche!« »Meinst du? Na dann ist es ja gut. Es tut mir so leid, Kleines. Du wirst sehen, es wird sich bestimmt alles wieder richten. Ich denke an dich.« »Danke.« »Das ist wirklich nicht nett von Lars«, fand ihre Mutter. »Das hätte ich nicht von ihm erwartet. Aber so sind die Männer manchmal. Du nimmst jetzt am besten ein heißes Bad. Obwohl, lieber nicht, du hörst dich leicht beschwipst an, warte besser bis morgen. Sonst schläfst du noch ein!« »Das wäre vielleicht für alle das Beste«, sagte Alexa leise. »Sei doch nicht so kindisch! Versuche einfach, die Wut sinnvoll zu nutzen, indem du den ganzen Fußboden schrubbst. Das hilft, glaub mir.« »Ja, genau.« Alexa fühlte den Drang, wieder aufzulegen, und verabschiedete sich kurzerhand von ihrer Mutter. Das war ja mal wieder äußerst hilfreich gewesen. Sie fühlte sich jetzt noch schlechter. Das Schlimmste war die Einsicht, dass sie ihre besten, fruchtbaren Jahre vergeudet hatte. Jedenfalls in Bezug auf ihre innere Uhr, die gnadenlos tickte. Ticktack, ticktack, ticktack. Mit jedem Tag ein paar Eier weg … Bald würde der Eierladen geschlossen sein. Bio hin oder her. Aber sie wusste, dass nicht nur Lars daran schuld war. Sie selbst hatte sich dazu entschieden, ihm ins Ausland zu folgen, und hatte schließlich auch jede Minute genossen. Jedenfalls bis vor Kurzem. Sie hatte sich alles so schön ausgemalt: Sie würden glücklich sein, mit Haus und Garten, einem Haufen Freunde, einem knuddeligen Hund. Sie wären erfolgreich, würden die tollsten Reisen unternehmen, nach Neuseeland oder gar Bora Bora. Schließlich hatten sie schon viele Trips genossen und waren immer sehr gut miteinander ausgekommen – eine Tatsache, die er doch sicher geschätzt hatte! Aber es war nun mal schiefgegangen, und jetzt saß sie allein in Singapur in ihrem leeren Haus mit 18
Garten, Pool und Hausmädchen, und alles war plötzlich anders. Es war kein angenehmer Luxus mehr. Das Haus war viel zu groß für sie allein, und nachts war es unheimlich. Aus Rücksicht ihr gegenüber war Lars vorübergehend zu Karen gezogen und hatte ihr gleichzeitig vorsichtig mitgeteilt, dass die Firma die Miete nur noch bis Ende des nächsten Monats bezahlen würde. Danach müsse sie ausziehen. Sorry. Alexa wusste natürlich, was das bedeutete. Ihre Tage in Singapur waren gezählt. Es gab zwar schon günstigere Wohnungen, die sie sich vielleicht hätte leisten können, aber das wäre dann doch unter ihrer Würde gewesen. Ein Studio in der Nähe des Flughafens: zwölf Quadratmeter groß und eine Stunde vom Zentrum entfernt. Nein, danke. Mit ihrem bescheidenen Salär als Aushilfsassistentin würde sie sich höchstens ein Zelt in Singapur mieten können, schließlich war sie nur das Anhängsel von Lars gewesen. Der Status »girlfriend« war eben nicht zu vergleichen mit »the wife«. Sie war nur halbherzig irgendwo untergebracht worden, ohne bindenden Festvertrag. Einfach wieder zu ersetzen, falls Lars, der Expat mit dem wichtigen Job, sie entweder schwängern oder verlassen würde. So lief das. Alexa fragte sich, wie oft so etwas schon vorgekommen war. Die Asiatinnen hatten schließlich nicht den Ruf, hässliche, wurstfingrige oder plattfüßige und somit gefahrlose Konkurrentinnen für die Expat-Partnerinnen zu sein. Im Gegenteil. Zierlichkeit und Anmut war unter »extrem anziehend« in den männlichen Gehirnen abgespeichert – die Aufmerksamkeit war ihnen gewiss. Alexa seufzte. Wenn diese Karen wenigstens eine hübsche Asiatin wäre, dann könnte sie es ja eher verstehen! Aber nein, eine Domina mit zornigen Augenbrauen! Sie konnte es einfach nicht begreifen. Betrübt betrachtete sie ihre Sammlung von Schatullen im Gestell an der Wand. Lars hatte ihre Leidenschaft für außergewöhnliche Boxen, Schachteln oder Schatullen nie verstanden. Ständig hatte er gemeckert, dass sie zu viel Platz einnahmen. Dabei waren sie ja so exquisit. Sie hatte eine wunderschöne Sammlung in allen Formen und Größen, Materialien und Farben. Es waren erst einhundertsechsundzwanzig. Es brauchte lediglich ein Regal dazu, er hatte schließlich auch seine DVD- und CDSammlung. Da war ihre Kollektion doch wenigstens hübsch anzusehen! Lars hatte tatsächlich verlangt, dass sie einzelne Boxen ineinander stellte, um so Platz zu sparen! Dabei war jede einzelne Schachtel doch auch zu 19
was zu gebrauchen. Man konnte sie mit kleinen Dingen füllen. Zahnstochern zum Beispiel, oder Ohrringen, Visitenkarten und solchen Dingen. Keine ordinäre Schmuckschatullen, sondern lederbezogene Edelstücke, handbemalte Boxen, kunstvolle, antike Stücke oder moderne, kalte Lackexemplare, die alle eine Geschichte erzählten, wenn man sie hören wollte. Von Zündholzschachtel- bis Kosmetikkoffergröße. Vorsichtig stand sie auf und befühlte ehrfurchtsvoll ihr Lieblingsstück. Eine schuhschachtelgroße, chinesische Schmuckschatulle, die – gemäß dem Verkäufer auf dem Nachtmarkt – Glück bringen sollte. Sie zeigte einen Drachen und einen Phönix in verblichener goldener Farbe. In die Innenseite der hölzernen Schatulle waren winzige, dunkelrote Abbildungen von chinesischen Sujets gepinselt; Feng-Shui-Zeichen und geheimnisvolle Zahlen. Wo war ihr Glück geblieben? Hatte sie die Schatulle zu oft geöffnet, sodass ihr persönliches Glück entschwinden konnte? Sie erinnerte sich wehmütig an den Kauf dieser Schachtel. Der schlaue chinesische Verkäufer hatte sich Zeit genommen für sie und ihr erklärt, dass man in jeder Schachtel ein Gefühl unterbringen sollte. Darum müsse sie möglichst viele Schatullen kaufen. Natürlich nur von ihm, denn er sei der beste von allen Lieferanten. Dabei hatte er sie listig von der Seite her angegrinst. Sie überlegte, ob sie nun damit beginnen sollte: dem Verteilen und Ordnen ihrer Gefühle in die entsprechenden Boxen. Ihre Lieblingsschachtel stand also für das Glück. Sie nahm die allererste Schachtel in die Hand – ganz oben links auf dem Regal und fast unsichtbar – und erinnerte sich zurück. Ein Geschenk einer sehr guten Freundin aus der Schulzeit: • Schatulle Nr. 1 Mitbringsel aus Afrika, gefälschtes Elfenbein, zündholzschachtelwinzig, verziert mit Blüten: steht für Dankbarkeit • Schatulle Nr. 2 Einfache Holzschatulle aus der Schweiz, ovalförmig, schlicht und schön: steht für Schlichtheit, Bescheidenheit • Schatulle Nr. 3 Hellblaues Wildleder mit Elefantensujet. Wunderschöne Qualität. Aus Shanghai. Nein, das stimmte nicht. Der Name des Geschäfts war Shanghai Tang, vom London Airport: steht für Reiselust, Lust auf Exotisches, Lust im Allgemeinen 20
• Schatulle Nr. 4 Große Lackschatulle aus Vietnam. Bronzefarben glänzend, kitschig und aufregend: steht für Aufregung und Leidenschaft Leidenschaft. Womit sie wieder beim Thema war. Sie hatte Lars leidenschaftlich geliebt. Dabei kam ihr die dunkelblaue, samtbezogene Pillendose in den Sinn, die er ihr einmal von einem Geschäftstrip mitgebracht hatte. Hatte er sie je geliebt? Kannte er den Unterschied denn nicht zwischen einer flachen Dose (Raum für einen Zahn oder eine Pille) und einer Schachtel, in die mindestens ein Radiergummi passen musste? Hatte er ihr einfach nicht zugehört oder sie nie richtig ernst genommen? Das war hier die Frage. Sie knallte die Pillendose in den Abfalleimer.
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