LYRIKEDITION 2000 begründet von Heinz Ludwig Arnold † herausgegeben von Florian Voß
Allitera Verlag
Georg Heym (oben) und Ernst Balcke (rechts), vermutlich im September 1910
Georg Heym
Ich bin von dem grauen Elend zerfressen Gedichte und Erwiderungen
Herausgegeben von Florian VoĂ&#x;
LYRIK EDITION 2000
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de Weitere Informationen über die Lyrikedition 2000 unter www.lyrikedition-2000.de
Juli 2012 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2012 Buch&media GmbH, München © 2012 Texte bei den AutorInnen Umschlaggestaltung: Alexander Strathern, München Printed in Germany · isbn 978-3-86906-373-7
Vorwort
K
ein Platz ist nach ihm benannt in Berlin, in der Stadt, in der er fast sein halbes Leben verbrachte, keine Straße und keine Gasse. Der Dichter Georg Heym ist ins Hintertreffen geraten in den letzten Jahren. Zwar werden immer noch die drei, vier geläufigen Gedichte aus seiner Feder in den Schulbüchern und Anthologien abgedruckt, aber schon in den Sechziger-Jahren blieb die Gesamtausgabe seiner Werke unvollendet, für den Apparat nebst Lesarten war offenbar kein Geld mehr aufzutreiben. Selbst zu seinem hundertsten Todestag, der sich am 16. Januar 2012 jährte, ist kein einziges Buch über ihn publiziert worden, auch keines mit seinen Gedichten oder der Prosa. (Allerdings erschien schon im Herbst 2011 eine lesenswerte Biografie Heyms, geschrieben von dem Berliner Publizist Gunnar Decker.) Und immerhin hatte sein »Faust«-Fragment in einer Inszenierung von Karge am Berliner Ensemble Premiere. Ein Fragment, das, so kurz es auch ist, richtungsweisend für das expressionistische Theater hätte werden können, wäre Heym nicht zusammen mit seinem Freund Balcke im Januar 1912 auf der Havel Schlittschuh gelaufen. Die beiden Freunde schossen in voller Fahrt über die fest zugefrorene Havel, das Wetter war diesig, die Sicht nicht optimal. So kam es, dass der schmächtigere Balcke zuerst in einem Loch in der Eisfläche versank, das für Wintervögel aufgehackt worden war. Georg Heym eilte ihm zur Hilfe, wie man später an seinen zurückgelassenen Handschuhen und seiner Mütze erkennen konnte, und rutschte selbst ins eiskalte Wasser. Was weiter geschah, wissen wir nicht, nur die Schreie sind dokumentiert, die ein paar Waldarbeiter hörten, eine ewige halbe Stunde lang, bis dann schließlich die beiden Dichter ertrunken waren. Die Waldarbeiter gaben später zu Protokoll, sie hätten nicht auf das Eis hinaus gewollt, sie waren zu feige oder zu träge gewesen, die Dichter zu retten. 5
Georg Heym Florian Voß Am nächsten Tag veröffentlichte die Berliner Zeitung eine Notiz: »Der 24 Jahre alte Referendar Dr. jur. Georg Heym, der Sohn des früheren Militäranwalts Heym in Charlottenburg, Königsweg 31, und der 25 Jahre alte Kandidat Ernst Balcke, der Sohn des Bankiers Balcke, sind beim Schlittschuhlaufen auf dem Wannsee ertrunken.« Und Heym konnte ihn dann also doch nicht mehr schreiben, seinen »Faust«, in dem der Titelheld auf das Überirdischste mit einem leichten Mädchen poussiert, in dem er mit dem Teufel durch einen Lunapark stapft, in dem alle Akteure zuletzt mit einem Fahrstuhl in die Hölle fahren, die rot tapeziert ist. Auch weitere Gedichte konnte er nicht schreiben, konnte seinem Werk keine neue Richtung geben, sodass wir nie erfahren werden (wenn wir es auch manchmal ahnen können), ob Heym ein magischer Realist geworden wäre, oder eher ein Neuer Sachlicher. Er wird immer dieser junge Mann bleiben, der uns von wenigen Fotografien entgegenblickt, in sich gewandt, aber doch auch welterfahren. Ein Poète maudit in der Maske des Naturkerls. Ein im Unfertigen Vollendeter. Ein Dichter. Diese Anthologie soll eine Lücke schließen, die die großen Verlage in diesem Jahr gelassen haben, soll eine Einladung sein, Heym erneut zu lesen. Seine Gedichte neu wirken zu lassen. Gedichte, die von knapp 30 zeitgenössischen Dichtern und Dichterinnen ausgewählt und erwidert worden sind, und die nun hier vorliegen. Gedichte, die den meisten Lesern in der Schule verleidet worden sind, durch die ewige Wiederkehr der immer gleichen drei, vier Texte. Dabei gibt es kaum ein größeres, ein mannigfaltigeres Werk im deutschen Expressionismus. Mehr als 500 Gedichte, knapp zwei Dutzend Prosaarbeiten, drei vollendete Theaterstücke sowie 17 Fragmente; das alles in der Hauptsache geschrieben in den sechs Jahren zwischen 1906 und 1911. Das ausufernde Werk eines kaum erwachsenen Mannes, das durch das breite Publikum nicht annähernd erschlossen ist. Doch wie sollte es sich dem breiten Publikum auch erschließen, wenn keine neuen Ausgaben auf den Markt kommen? Dies ist also der Versuch Georg Heyms Gedichte mit neuen Augen zu sehen, sie im Spiegel der aktuellen Dichter und Dichterinnen wahrzunehmen, oder reflektiert auf den Bildschirmen ihrer Notebooks. 6
Vorwort Heym schrieb am 3. November 1911 in sein Tagebuch: »Einem Literaturhistoriker muss es von großem Interesse sein, später einmal meinen Wegen nachzugehen. Ich glaube, er wird da viel interessantes finden.« Ich hoffe Georg Heym behält recht, nicht nur in Bezug auf die Literaturhistoriker.
Florian Voß, Berlin im Mai 2012
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Georg Heym
Die Irren (1) Papierne Kronen zieren sie. Sie tragen Holzstöcke aufrecht auf den spitzen Knien. Und ihre langen, weißen Hemden schlagen Um ihren Bauch wie Königshermelin. Ein Volk von Christussen, das leise schwebt Wie große Schmetterlinge durch die Gänge, Und das wie große Lilien rankt und klebt Um ihres Käfigs schmerzliches Gestänge. Der Abend tritt herein mit roten Sohlen, Zwei Lichtern gleich entbrennt sein goldner Bart. In dunklen Winkeln hocken sie verstohlen Wie Kinder einst, in Dämmerung geschart. Er leuchtet tief hinein in alle Ecken, Aus allen Zellen grüßt ihn Lachen froh, Wenn sie die roten, feisten Zungen blecken Hinauf zu ihm aus ihres Lagers Stroh. Dann kriechen sie wie Mäuse eng zusammen Und schlafen unter leisem Singen ein. Des fernen Abendrotes rote Flammen Verglühen sanft auf ihrer Schläfen Pein. Auf ihrem Schlummer kreist der blaue Mond, Der langsam durch die stillen Säle fliegt. Ihr Mund ist schmal, darauf ein Lächeln thront, Das sich, wie Lotos weiß, im Schatten wiegt. Bis leise Stimmen tief im Dunkel singen Vor ihrer Herzen Purpur-Baldachin, Und aus dem Äthermeer auf roten Schwingen Träume, wie Sonnen groß, ihr Blut durchziehn.
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Max Czollek
Herzberge I. fest steht: der käptn ist ein hinkender potentat mit kognitiver störung vom tablettenturm aus befehligt seine stimme blonde schmetterlinge käptn, der käptn singt abends vom walfisch schlägt schlafglocken morphin in den augen zündet er schließlich die traummaschine II. ich gehe auf dem kopf ich habe den himmel als einen abgrund darunter draht befestigt die tiere ein gleichgewicht kühlt ihre flatternden herzen bei tag wird das wasser zerbrechlich man spürt diese angst hat freigang einer will fragen: wohin fallen vögel wenn sie sterben wir bitten ihn zu schweigen 9
Georg Heym
Der Garten der Irren Am roten Teiche stehen viele Schatten Bei dünner Bäume schwächlichem Gesichte, In Stille fort. Nur selten daß sich einer Herunter zu dem trüben Wasser bücket. Und manche gehn in den entleerten Hecken In kühlen Gängen, die schon voller Lichte, Und schleifen mit den Füßen in dem Laube, Und sitzen wieder sanft in den Verstecken. Der Strom ist weit hinab im blanken Scheine Bei Erlen und den krumm gebornen Weiden Und wer mit leichtem Kahn ihn überbrücket, Er wird im Licht die gelben Blumen pflücken.
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Linus Westheuser
gelb und rot mit dem wasser liegen, im streit, das wasser ist dereguliert. wie hier im schilf, das ist eigentlich alles metall, eigentlich augen, die auf ein buch lauern. die farben sind auch dereguliert, nur eine wird überleben. sie sehen schnurrbärte, unruhige nager im unterholz steht ein junge, er verweigert sich der konstruktion. das ist der gesang der gruppe, ein antropomorphismus, der seine arbeit macht, wie jeder andere auch. darüber in den kämmen spielt die wohnungslosigkeit, aber in einem schönen sinn: für immer expression, für immer sixteen. durch die finger das versiegelte, glückliche gesicht. einmal am tag kommt einer und sagt: ihr habt ein problem. ein zufälliger kampf gegen den zufall, die kleine schwester der gewalt. der garten der irren und der garten der irren. alles, aber auch alles reflektiert sich im wasser, geht durch. die farben, kinderkrankheit des kapitals, eine art präoperative familiengeschichte. man kann sie immer besuchen.
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Georg Heym
Frühjahr (2. Hälfte Oktober 1911)
Die Winde bringen einen schwarzen Abend. Die Wege zittern mit den kalten Bäumen Und in der leeren Flächen später Öde Die Wolken rollen auf die Horizonte. Der Wind und Sturm ist ewig in der Weite, Nur spärlich, daß ein Sämann schon beschreitet Das ferne Land, und schwer den Samen streuet, Den keine Frucht in toten Sommern freuet. Die Wälder aber müssen sich zerbrechen Mit grauen Wipfeln in den Wind gehoben, Die quellenlosen, in der langen Schwäche Und nicht mehr steigt das Blut in ihren Ästen. Der März ist traurig. Und die Tage schwanken Voll Licht und Dunkel auf der stummen Erde. Die Ströme aber und die Berge decket Der Regenschild. Und alles ist verhangen. Die Vögel aber werden nicht mehr kommen. Leer wird das Schilf und seine Ufer bleiben, Und große Kähne in der Sommerstille In grüner Hügel toten Schatten treiben.
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Richard Duraj
frühjahr, 3. hälfte die winde bringen einen schwarzen abend. die wege zittern mit den kalten bäumen und in der leere flächen wie vorhergesagt, erneuerbar ein neuer autobahnabschnitt, das ferne land, schwer von samen, säenden saisonarbeitern, ehrlich wahr. die wälder aber müssen sich zerbrechen, meint der mann vom wetterdienst, von grauen wipfeln in den wind gehoben, fortgeschleudert und zerschnitten, an rotoren, später öde, spärlich eingesetzt. der märz ist traurig, ewig in der weite. die tage schwanken so, bei solcher straßenraumgestaltung, da stürzen bäume auf die wege, den wald durchkämmen hundestaffeln. und alles ist verhangen. vögel aber werden nicht mehr kommen. auch die sommerstillen schwächen ziehen runter. in toter hügelchen grüne schatten, hypermaskulin die form. eine brise, die nicht auffrischt, und so weiter und so fort.
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Georg Heym
Umbra Vitae Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen Und sehen auf die großen Himmelszeichen, Wo die Kometen mit den Feuernasen Um die gezackten Türme drohend schleichen. Und alle Dächer sind voll Sternedeuter, Die in den Himmel stecken große Röhren. Und Zaubrer, wachsend aus den Bodenlöchern, In Dunkel schräg, die einen Stern beschwören. [Krankheit und Mißwachs durch die Tore kriechen In schwarzen Tüchern. Und die Betten tragen Das Wälzen und das Jammern vieler Siechen, Und welche rennen mit den Totenschragen.] Selbstmörder gehen nachts in großen Horden, Die suchen vor sich ihr verlornes Wesen, Gebückt in Süd und West, und Ost und Norden, Den Staub zerfegend mit den Armen-Besen. Sie sind wie Staub, der hält noch eine Weile, Die Haare fallen schon auf ihren Wegen, Sie springen, daß sie sterben, nun in Eile, Und sind mit totem Haupt im Feld gelegen. Noch manchmal zappelnd. Und der Felder Tiere Stehn um sie blind, und stoßen mit dem Horne In ihren Bauch. Sie strecken alle viere Begraben unter Salbei und dem Dorne.
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Georg Heym
[Das Jahr ist tot und leer von seinen Winden, Das wie ein Mantel hängt voll Wassertriefen, Und ewig Wetter, die sich klagend winden Aus Tiefen wolkig wieder zu den Tiefen.] Die Meere aber stocken. In den Wogen Die Schiffe hängen modernd und verdrossen, Zerstreut, und keine Strömung wird gezogen Und aller Himmel Höfe sind verschlossen. Die Bäume wechseln nicht die Zeiten Und bleiben ewig tot in ihrem Ende Und über die verfallnen Wege spreiten Sie hölzern ihre langen Finger-Hände. Wer stirbt, der setzt sich auf, sich zu erheben, Und eben hat er noch ein Wort gesprochen. Auf einmal ist er fort. Wo ist sein Leben? Und seine Augen sind wie Glas zerbrochen. Schatten sind viele. Trübe und verborgen. Und Träume, die an stummen Türen schleifen, Und der erwacht, bedrückt von andern Morgen, Muß schweren Schlaf von grauen Lidern streifen.
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