Mechtilde Lichnowsky: Der Lauf der Asdur

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edition monacensia Herausgeber: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek Dr. Elisabeth Tworek

Mechtilde Lichnowsky wurde1879 in Schönburg, Niederbayern geboren. Die erfolgreiche Schriftstellerin und Feuilleton-Journalistin gilt als Autorin von europäischem Rang. Die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg verbrachte sie in Frankreich, bis es ihr nach einem Deutschlandbesuch 1939 nicht mehr erlaubt war auszureisen. Da sie sich nicht bereit erklärte, der Reichsschrifttumskammer beizutreten, wurden ihre Schriften während des NS-Regimes verboten, was sie jedoch nicht daran hinderte unter anderem mit ihrem Werk Worte über Wörter (1949) weiterhin starke Kritik am Nationalsozialismus zu äußern. 1954 erhielt sie den Literaturpreis der Stadt München und verstarb 1958 in London.


Mechtilde Lichnowsky

Der Lauf der Asdur Roman Text der Erstausgabe von 1936


Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

Trotz intensiver Recherche konnten die Rechtsnachfolger der Autorin nicht ermittelt werden. Sollte uns ein Anspruch entgangen sein, bitten wir um Kontaktaufnahme mit dem Verlag.

April 2013 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2013 für diese Ausgabe: Landeshauptstadt München/Kulturreferat Münchner Stadtbibliothek Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek Leitung: Dr. Elisabeth Tworek und Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Alexander Strathern, München Herstellung: Books on Demand, Norderstedt Printed in Germany · isbn 978-3-86906-467-3


Kapitel I

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ar es ein schönes, ein trauriges oder ein dummes Leben? fragte sich Lilia Vinthoff am Ufer der Asdur, die in hellgrünen Wellen vorbeiraste, so lebendig, so zielbewußt; im Schoße der Donau wird sie das Schwarze Meer erreichen und dort zum Schein enden; die Sonne wird sie heraufziehen, in Wolken verwandeln, sie wird in Schnee und Regen niedergehen und wieder hellgrün in ihr Bett niederstürzen, wenn das Eis auf den Bergen schmilzt. Sie wird das einheitlich und fehlerlos tun, und dieses ist eben kein dummes Leben. Freilich, sie weiß nichts davon, ob es gescheit ist oder nicht, nützlich, schön, gut, böse ist oder nicht, während ich zurücksehen kann und in früheren Jahren in die Zukunft zu schauen vermeinte, wie der Komponist Tonfolgen vorausahnt. Er weiß, daß seine H-dur sich in die Gis-moll ergießen kann und von da in unabsehbare Fährnisse und Wonnen. (Ein Schritt, und die Gis-moll könnte die F-dur erwecken, das wird man dann schon machen.) Eine Tonart taucht unter, scheint zu versinken, Knoten musikalischer Bande werden um sie geschlungen, dem Bund entspringen vielfarbige Kaskaden, die nichts und niemand halten kann, sie entwinden sich, schießen vor, aber, wenn sie auch schmal und schneidend wie Schilflaub wo andershin zielen, sie werden wieder gesammelt, sie müssen in den Schoß der H-dur, zur ewigen Ruhe zurückgelangen. Das ist so einfach, so klar, aber auch so ungreifbar wie vierundzwanzig Stunden Tag und Nacht, mal dreihundertfünfundsechzig, mal fünfzig, plus »unendlich« oder plus »X«, minus … ja, das ist der Unterschied: In der Musik gibt es kein Minus, das Leben aber scheint nicht in den Schoß der H-dur zurückzukehren, ein fehlerhafter Schluß, in

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C-dur zum Beispiel, stellt sich ein, die Kräfte sind verbraucht, die Brücken gesprengt, die Stromufer zu weit. Der Abend war friedlich am Himmel über den Bäumen und über der gemähten Wiese, die, in Heuhaufen aufgeteilt, köstlich duftete. Kastanienbaumkronen, dunkelgrün, fast schwarz am Augustabendhimmel entlang gestickt, wie auf einer alten Tapisserie, ließen Ätherdreiecke an den obersten Zweigen durchblinken. Turmschwalben erfüllten die Luft mit ihren aufgeregten »Üih«-Schreien, sonst rührte sich nichts. Auch das gehört zu den Dingen, die man nicht mitnehmen kann, und auf die, beim Gedanken an den Tod, schwerer Verzicht geleistet werden muß; der Duft des Heus auf den Wiesen, den der Atem bis in die letzten Winkel der Lunge einzieht, und ah, dieses »Üih« der Turmschwalben, tödliches Gift ist das, wenn es Erinnerung durchschneidet, und Erinnerung so stark ins Heute dringen läßt, daß man ihrer nicht mehr Herr wird. Als ob man das überhaupt könnte. Kein Abendhimmel, der sie nicht heraufbeschwört. Lilia dachte an den Brief der Konzertagentur, die ihr eine Tournee in Südamerika anbot. Sollte sie annehmen? Wozu? Und für wen? Ja, wenn man das Land kennenlernen könnte; und Tiere, giftige, haarige Spinnen gibt es dort, größer als eine Faust, Schlangen; aber nicht im Konzertsaal. Das Leben der Gauchos kennenlernen? Ich kann doch niemandem davon erzählen. Diese Tourneen, eine furchtbare Anstrengung. Erfolg? Keinen Ehrgeiz mehr. Und doch, im Augenblick, wo man sich dem Flügel nähert (dessen Ton man am Morgen neugierig anschlug, während der Diener nicht weiß, ob er dableiben soll oder sich diskret zurückziehen, um den Künstler nicht zu stören), ist man plötzlich der Umwelt entrückt, es ist, als ob man noch nie so bereit gewesen sei, als wäre es das erstemal, daß man in dem Zaubergarten der Musik wandele, und man spielt, man spielt … Im Hintergrund ringsum tönte die Stadt, die sich in stetem Wachstum an den weit ausgelagerten Park gedrängt hatte, die Stadt der Herzoge von Lohental, im Jahre 1000 gegründet.

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Primeln und Veilchen gab es jetzt keine mehr, aber Amseln weideten aufgeregt auf dem kurzgemähten Gras, wo Insekten keinen Schutz mehr fanden. Lilia Vinthoff stieg die Böschung empor. Ein gut gehaltener, breiter Fußweg wand sich zum jenseitigen Wiesenufer. Er führt todsicher zur Königsallee, wo vor dreißig Jahren Menschen lebten, die sie kannte, und die heute wahrscheinlich nicht mehr unter dem gleichen Dach wohnten; das Haus Königsallee 15 wird noch stehen, das Alban Laudi gehörte, und 19, das Haus der großen Nageler. Lilia schritt lustig aus, die Gehkraft ist einem noch nicht genommen worden, die Schuhe waren angenehm, die Strümpfe saßen richtig, sie spürte wohlgefällig die Elastizität der Fesseln, mit den Fingerspitzen streifte sie den Hüftknochen, über den der Rock fiel, nirgends ist Rheuma, der Hals läuft senkrecht zum Kiefergelenk, unter dem Kinn ist keine Wamme, der Atem geht ruhig und wohltuend, während das, was zwischen Denken und Atmen liegt, von Chopins Ballade op. 47 erfüllt war. Aber, im Fortschreiten der Melodie, konnte Chopin sie nicht am Denken hindern. Ärgerlich erkannte sie, daß man in Worten ziemlich genau ein Bild beschreiben kann, selbst bis zu einem gewissen Grad die Malweise; daß einem für jede Farbe ein vergleichendes Objekt zu Gebote steht, zum Beispiel das Grau der Zigarrenasche, das Rot vom Feldmohn, das Braun der Schilfkolben, daß es aber unmöglich ist, für eine musikalische Tonfolge, für die Färbung der Bässe, für die Art des Rhythmus und der Melodie, zusammen mit der Klangart des jeweiligen Instruments, sprachlichen Ausdruck zu finden, der dem Zuhörer oder Leser genau Melodie und Harmonie vermittelt. Ja, sie kann Chopin so lange vorspielen, bis der andere ihn »hat« oder dem Kundigen die Noten zeigen, und das ist alles; unmöglich bleibt es, durch Worte eine bestimmte Wirkung, die von bestimmter Tonfolge ausgeht, so zu übertragen, daß auf den andern der gewünschte Reiz, und nur dieser, ausgeübt werde. Das ist zu arg, grollte sie, zum Beispiel eine Liebesszene, wo vieles darauf ankommt, daß diese und keine andere Musik, mitverbunden,

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spielt; es nützt nichts, daß man den Komponisten nennt oder den Namen des Stücks. Tolstois Kreutzersonate kann ich mir verfilmt, wirkungsvoll vorstellen, viel mehr als Gott sei’s geklagt, wenn man lesend unter den Bann dieser Novelle fällt. Noch schwerer genau in der Erzählung übermittelbar ist die Wirkung einer heute gehörten Musik, die Vergangenes zurückruft, und den musikalischen Augenblick zu beschreiben, den zwei Menschen, einander unüberwindlich zugetan, gemeinsam erlebten. Man kann über diese Dinge nur lallen: »Es war, weißt du, lieber Zuhörer, der dritte Satz Opus Soundso, wo die Melodie hmhmhm macht und wo gewisse Bässe so schief dissonieren, daß man genau weiß, wann sie wieder in der Achse stehen werden, wo sie hingehören. Danke, das ist heller Blödsinn, sagte sich Lilia, als sie, in der Königsallee angelangt, die Nummer 15 suchte. Sie ging die Häuserreihe entlang, überzeugt, daß sie sich nicht irren könne, gleich werde sie an der niederen, ziemlich flachen Villa vorübergehen und feststellen können, daß die Einfahrts- und Ausfahrtstore, die sich an den Seiten anschmiegten, so daß man in den rückwärts gelegenen Garten gelangen konnte, ihr das Finden erleichtern würden. Das Haus stand, so erinnert sie sich, wie ein Gesicht zwischen den Schultern dieser Tore. Aber keines der Häuser, es waren vielleicht dreißig, glich dem Haus ihrer Erinnerung. Das Haus, wo Alban Laudi wohnte, man muß es niedergerissen und nicht einmal für die Gartentore Verwendung gefunden haben. Gleichviel, Lilia schlenderte weiter, ihr Auge streichelte im Vorübergehen wohlbekannte Linien an Dächern und Kuppeln, jedes Längsmaß und jede Straßenbreite waren ihr bekannt, sie hätte mit geschlossenen Augen ihr Hotel gefunden, obgleich sie in den letzten Jahren nur vorübergehend in den Mauern dieser Stadt, der Stadt ihrer Jugend, gelebt hatte. Das wäre eine schöne Dummheit gewesen, wenn ich Laudi geheiratet hätte, sagte sie sich aus tiefster Überzeugung, mit der Sicherheit eines Menschen, der die Hauptbeweise seiner Theorie in der Hand zu halten und eine unleugbare Gesetzmä-

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ßigkeit zu erkennen glaubt. Sie haben damals einen so heftigen Tornado entfacht, mich aus einer kaum erwachten Seligkeit so jäh herausgewirbelt, daß nur Angst zurückblieb und ein unbändig schlechtes Gewissen. Der Wirbel war sicherlich gut, sagte die eine Stimme in ihr, die die Partei der Zensoren vertrat; die andere, das war die Partei der Intuitiven, der Romantiker, sagte: Nein! Da ist gemogelt worden, nein, da war unlauterer Wettbewerb, nein, und tausendmal nein! Kurz, die Partei der Intuitiven protestierte bei Lilia, der Vorsitzenden, bis sie, um die feindlichen Parteien zu beruhigen, einen tiefen Atemzug tat und sagte: Schließlich sind dreißig Jahre dahingegangen, die Angelegenheit ist bis dort hinaus verjährt. Was kümmert mich Alban Laudi. Hätten wir überhaupt zusammengepaßt? Nein. Wußte sein Ohr, was ein Cis-moll-Dreiklang ist? Nein. Was war ihm König Lear? Nichts. Schubert? Nichts. Kannte er Matthias Claudius? Goethe, Flaubert? Nein. Offenbach? Fürs bequeme Ohr, ja; aber das gilt nicht. Was liebte er denn? Mich; und das gilt. Unsinn, sagten wiederum die Zensoren. Lilia mußte ihnen recht geben, denn es ist wahrhaft ein Unterschied zwischen Liebe und Verliebtsein, und Laudi, nein, wir wollen jetzt nicht an Laudi denken. Im Gegenteil. (Was ist das Gegenteil von Laudi?) Lilia stand vor der Auslage eines Geschäftes, wo Forellen wie Schatten im Marmorbecken schwammen, helle Selleriestengel zusammengebunden auf einem Dutzend tiefvioletter Auberginen lagen, Eierfrucht nennt man sie, aber Aubergine als Wortklang verrät mehr von der Glasur in dem ihnen eigenen Ton von rötlichen Veilchen, während Eierfrucht nur die Form bezeichnet und den falschen Begriff von Obst erweckt. Schier endlose Reihen von Büchsen in Rot und Blechgrau bildeten eine Mauer um die weißen Schüsseln, auf welchen eine kundige Hand Räucherzungen, Schinken, Kalbsbraten, die, man könnte beinahe sagen, Petersiliesträußchen im Knopfloch trugen, verschwenderisch hingelegt hatte. Auf einer schmalen Schüssel streckte ein Salm im Silberpanzer den Unterkiefer kerzengerade vor und riß das Maul schmal auf, als hauchte er eben in tiefster Verachtung seine Fischseele aus. Kardinalrote Hummer mit festgeballten Scheren, die Fühlhörner sittsam zu-

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rückgelegt, waren in der Nähe der Lachsplatte aufgebahrt, ihre Augen, eingesetzte schwarze Perlen, und das flache Auge des Salms, in dunkleren Reifen wie eine eingerahmte Riesenträne, glotzten sich gegenseitig an. Dieser Inbegriff der Taktlosigkeit, dem leider eßbaren Tier gegenüber, nennt sich das Geschäft des Zartgefühls, Delikatessengeschäft. Lilia stand an der Kasse und zahlte. Das Paket, das man ihr ausgehändigt hatte, wog mehr als der tragenden Hand angenehm sein konnte. Einerlei. Ein Taxi wird nicht genommen, das verbilligt den Schinken und die Büchsen. In fünfundzwanzig Minuten wird man dort sein. Das Paket wurde abwechselnd rechts und links getragen, und endlich stand Lilia in der lieblosen Diabellistraße vor dem bösartig häßlichen Haus, in welchem ihre alte Freundin zwei Zimmer des Rückgebäudes bewohnte. Der weiße Knopf der elektrischen Klingel blieb stecken, als er niedergedrückt wurde, und läutete trillernd bis Lilia ihn mit Daumen und Zeigefinger zurückziehen konnte. Frau Resch, die Vermieterin, öffnete, und ein Zugwind blies vermengte Düfte von Schmierseife und Zwiebeleinbrenne Lilia ins Gesicht, während er eine Türe am Ende des finsteren Ganges zuschlug. »Sie wünschen?« »Ist Fräulein Carr …« »Ja, sie ist da.« Frau Resch legte in die vier Silben so viel Verachtung, wie man sie als unbemittelte Zimmervermieterin für eine sicher noch ärmere Mieterin, die noch obendrein anspruchsvoll und vielleicht doch reich war, empfinden mag. Lilia fühlte ein törichtes Bedürfnis, diese Frau durch Liebenswürdigkeit zu entwaffnen; aber es fiel ihr nichts Geeignetes ein. »Es tut mir leid, Frau Resch, Sie bemüht zu haben«, sagte sie, »danke, ich finde meinen Weg, lassen Sie sich bitte nicht stören.« Die Frau warf im Umdrehen über die Schulter einen erbosten Blick auf das schwere Paket, wandte sich ab und schlurfte zum Ende des Ganges.

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Als Lilia in Fräulein Carrs Zimmer stand, auf ihr Klopfen hatte eine krächzende Stimme »herein« gerufen, sagte sie nichts, um ein gegenseitiges Sichaneinandergewöhnen herbeizuführen. Georgina Carr saß zeitunglesend am Fenster auf niedrigem Polsterstuhl und rührte sich auch nicht, nachdem sie das Blatt auf die Knie gelegt hatte. Ihre Augen hinter der eisernen Brille sahen scharf zu Lilia hinüber, der Mund blieb ernst, schien aber etwas zu verbeißen, Lachen oder Ärger. Und Lilia, wie so oft, versuchte, für die auffallende Zusammenstellung von bekannten Merkmalen, die, vereinigt, ein menschliches Gesicht, sicher das einer Persönlichkeit ergaben, den geeigneten Gattungsbegriff zu formen, was heute ebensowenig gelang wie bei anderen Gelegenheiten. Denn so jemand wie Georgina Carr gab es bestimmt nie wieder, weder in der äußeren Erscheinung noch im Wesen; ihre grauen Haare (aber es waren die ihren nicht) trug sie vorne unter einem Netz in flachen Fragezeichen geringelt, das fing bald nach den Brauen an und endete in einem tiefliegenden Knoten (dieser war ihr rechtmäßiges Eigentum). Ihre Stirne, hoch und gewölbt wie ein Kürbis, blieb unter den Haaren nur in der Form sichtbar. Eine kurze, breite Nase saß unter schönen Stahlaugen, in deren Mitte ein schwarzer Punkt wie ein eingetriebenes Nägelchen, dem Blick ungewöhnliche Lebhaftigkeit verlieh. Diese Augen, obgleich siebzig Jahre alt, gehörten einem jungen Menschen. Was den Mund rettete, dessen wulstige Unform um so mehr auffiel, als so gut wie kein Kinn nachfolgte, waren die gesunden Zähne, die weiß und gewölbt, in ebenmäßiger Reihe standen. Der Körper, rundlich und klein, füllte Sitz und Lehne des Polsterstuhls; unter den winzigen Füßen stand ein Schemel, die kleinen Kinderhände, fein wie aus rosa Seidenpapier geschnitten, lagen auf der Zeitung wie zwei Kätzchen, die sich in Rückenlage den Bauch sonnen. Georgina Carr brach das Schweigen mit zwei Worten, die offenbar eine Fortsetzung früherer Gespräche bildete: »Aber immerhin …!« Das sollte heißen: Ihr seid eine Rasselbande, aber du, Lilia,

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zwar auch Mitglied der Rasselbande, mit deinen Tintenaugen, du bist doch immer willkommen. Lilia legte ihr Paket auf den Diwan, dessen Sitz nachts als Bett dienen würde, und beantwortete das »immerhin« mit einem tiefernsten »Buenos dias, Amerigo Vespucci«, denn auf irgend eine Art mußte die Kälte, mit welcher sich beide stets am Anfang eines Wiedersehens schützten, weggespielt werden. Unter keinen Umständen hätte Lilia eine der gewöhnlichen Begrüßungsformeln gewählt, die andere Menschen anzuwenden pflegen. Fräulein Carr war die Erfinderin dieses Systems der abgerissenen Brücken. Oft dauerte es eine Stunde, bis unmerklich wieder ein fester Steg von einer zur andern führte. Lilia fand das so unnötig wie zeitraubend, denn sie kannte die komplizierten Zusammenhänge, die, einmal klargelegt, wenigstens ihr gegenüber keine Folgen zu haben brauchten. Aber Georgina, die prinzipiell nicht an diese Kenntnis glauben wollte, zog es vor, den natürlichen Verlauf ein wenig zu hemmen. Sie stand von ihrem Sessel auf, ihr watschelnder Gang führte sie in vier kleinen Schritten zum Klavier, das sie öffnete. Mit der Linken griff sie ein paar Akkorde, mit einem Finger der Rechten stützte sie sich an der schwarzen Bordschwelle vor den Tasten. Das war die arme Hand, die nicht mehr spielen konnte. Di – di da, da – da do, klang Georginas näselnd krächzende Stimme. »Wie gefällt dir das?« »Köstlich wie immer«, sagte Lilia, »mach weiter.« »Die Stimme, meine ich«, schrie Fräulein Carr, sich hastig umdrehend. Dabei blitzten ihre Stahlaugen, der Mund blieb halb offen. »Die Stimme? Ein heiserer Moskito, der gähnt.« Wie ein Forscher, der nach jahrelangem Bemühen plötzlich das fehlende Glied in der Kette seiner Folgerungen entdeckt, sagte Georgina in ihrer Muttersprache: »Why, that’s exactly what it is. Das ist es, genau das.« Und nach einer Pause: »Is’nt it a pity!« Lilia kam der Gedanke nicht, daß diese Stimme erbarmungswürdig sei.

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»Nein, Gina«, sagte sie, »es ist ja gleichgültig, wie eine künstlerische Idee ausgedrückt wird.« Aber im selben Augenblick mußte sie sich zugeben, daß diese Theorie falsch sei. »Du weißt genau, daß du Unsinn redest«, warf Fräulein Carr heftig ein, und dann, als sie den Klavierdeckel sorgsam über einen Wollstreifen zuklappte, der die Tasten vor Kälte schützte, sagte sie: »Ja, das Thema da, das war gut. Immerhin …« Sie setzte sich. Lilia ergriff den andern Stuhl am Querholz der Lehne, das ihr in der Hand blieb, während die zwei Stangen wie die Hörner einer Ziege in die Luft starrten. »Oh«, sagte sie beschämt über ihre Unachtsamkeit, »das hätte ich sehen müssen, aber ich habe nicht aufgepaßt.« »Ja, ich weiß, dir fehlt diese Gewohnheit. Das ist, weil du gesund bist. Ich nehme die Ziege immer bei den Hörnern. Heben kann ich sie nicht, nur ziehen. Weil ich krank bin. Und weil ich krank bin, nehme ich mich in acht mit den Dingen.« Begütigend fügte sie hinzu: »Beim erstenmal ist mir das mit der Lehne auch passiert.« Lilia stand, einer Eingebung folgend, plötzlich auf, löste die Schnur von dem Paket, das im Schatten des Diwans lag, die Schnur wurde immer länger, sie schnitt sie in der Mitte durch, dann schlang sie die zwei Teile kunstfertig um die schadhaften Stellen an der Stuhllehne in fest aneinandergelegte Achter. »Schön ist es nicht«, sagte Georgina, »aber ich lasse es als Erinnerung. Vielleicht wird Herr Resch, der arme Feigling, einmal mit Leim kommen und den Stuhl zusammenbasteln.« Nun saßen sie einander gegenüber. »Erzähle, wie es dir geht, Georgina.« »Nichts Neues zu erzählen. Von da bis da«, sie zeigte die Magengegend, »ist alles kaputt. Das Essen, das mir die Reschin macht … Aber ich bin im Begriff, sie zu zähmen.« »Wie machst du das?« »Wenn sie mich schlägt, halte ich die andere Backe hin.« »Wie macht man das, praktisch, zum Beispiel mit einem mißglückten Schnitzel?« »Ich sprach nicht mehr vom Essen, sondern von der Zähmung

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ihres Charakters. Aber ich mache mir keine Illusionen, denn der Grund, weshalb sie sich an mir rächt, ist eine Wahnidee: sie hält mich für reich, erstens, weil ich das Klavier gemietet habe, zweitens, weil ich meine Zimmermiete pünktlich am Ersten zahle, drittens, weil ich weder Fragen stelle noch etwas wissen will. Besonders letzteres sieht in ihren Augen ›reich‹ aus, weil ich offenbar nur zum Befehlen geboren sein kann. Seit wann bist du hier?« »Seit heute früh.« »Und dann kommst du gleich zu mir?« »Wie immer.« »Wenn ich nur wüßte, warum du mich nie vorher wissen läßt, wann du kommst.« »Seit dreißig Jahren sagst du mir das.« »Weil ich meine Ideen habe über Freundschaft. Du könntest mir doch eine Karte schreiben: dann und dann treffe ich ein.« »Ja, Georgina.« »Aber du tust es nie.« »Das ist eben mein System. Du stehst immer im Programm, ich bin nie hier ohne dich zu sehen.« Allmählich glätteten sich die aufgeregten Wellen. Ginas Stimme wurde weniger schrill. An der Fensterseite lag ein rötlicher Schimmer, weil die Hauswand gegenüber den letzten Sonnenstrahl auffing und zurückwarf. Selbst die Bildchen, die Fräulein Carr mit Reißnägeln auf die Tapete befestigt hatte, leuchteten rosa. Kubelik hing dort mit seiner Geige, die Sängerin Neruda, eine Rose mit Tautropfen auf dem Blatt, zwei Meisen in Winterlandschaft, Buntdrucke auf Postkarten nach Holbein und Dürer, Zeichnungen aus Witzblättern, ein Bild von Lilia und ihrer Schwester Julia in altmodischen Kleidern. In übersprudelnder Lebhaftigkeit erzählte Georgina, daß sie sich vor nicht langer Zeit zu einer Annonce in der Zeitung entschlossen hätte: »Dame erteilt in ihrer Wohnung Klavierunterricht …« Und was war das Resultat? Ein junger Mann erschien, und am folgenden Tag kam ein älterer …« Georgina preßte die Lippen aufeinander, um nicht zu lachen.

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