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Achim Bröger ist 1944 in Erlangen geboren und arbeitete einige Jahre teilzeitbeschäftigt in einem Verlag. Seit 1980 ist er freiberuflicher Schriftsteller. Seine Geschichten können witzig, fantasievoll und spannend sein. Er schreibt auch Alltagsgeschichten und Sachbücher, außerdem Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher für Fernsehfilme. Seine Bücher wurden in 28 Sprachen übersetzt und bekamen etliche Auszeichnungen, u. a. den Deutschen Jugendliteraturpreis. Er lebt mit seiner Frau und zwei Border Collies in Sereetz, zwischen Lübeck und der Ostsee. Mehr Informationen unter www.achim-broeger.de


Achim Brรถger

Hand in Hand


November 2012 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2012 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink Printed in Germany · ISBN 978-3-86906-471-0


1 20.00 Uhr. Zwei Tage vor der Abfahrt.

I

ch liebe dich. Mensch, Judith, vor ein paar Wochen hast du mir das in einem Brief geschrieben. Unter deinem Namen stand es, als letzte Zeile. Ich weiß es noch genau, ich hab die Wörter hier in meinem Zimmer gelesen und noch mal gelesen. Dabei hab ich sie vor mich hin gemurmelt. Und die drei Wörter haben sich in Freude verwandelt, die in mir aufgeplatzt ist und mich ganz warm überschwemmt hat, ein tolles Gefühl. Zauberwörter waren das, Verzauberwörter. Sie haben mich durchs Zimmer hüpfen lassen. Ich hab den Brief angeguckt und durch den Brief irgendwie dich gesehen und gespürt. Dein Lächeln. Deine Bewegungen. Deine Umarmungen. Wahrscheinlich hab ich mich von einem Ohr bis zum anderen gefreut, über das ganze Gesicht, wie ein Breitmaulfrosch. Schön war das. Aber die Freude ist in den letzten Wochen immer weniger geworden, Judith. Du bist anders, kommst selten zu mir und, wenn du kommst, nur kurz. Ich hab das wohl nicht merken wollen, so richtig klar wird mir das jedenfalls erst jetzt. 5


Heute hast du gesagt: „Vielleicht rufe ich dich abends an, so ab halb acht.“ Außerdem hast du gesagt: „Kann aber auch sein, dass ich mich mit Simon treffe. Dann wird‘s später oder ich ruf nicht mehr an.“ Jetzt warte ich hier in meinem Zimmer auf das Klingeln und denke an dich. Vor dem Fenster wird es langsam Abend. Seltsam, wie die Farben draußen gerade aussehen, irgendwie … stark und leuchtend, ja … genau so. Das Rot der Ziegel auf den Hausdächern, ein Wahnsinnsrot. Dazu das Grün und Weiß der zwei Birken im Garten drüben und ein Riesenbusch gelber Rosen. Außerdem blüht da etwas sehr blau. In meinem Zimmer wird es dunkler. Und ich gucke auf das orangefarbene Telefon, das andauernd vor sich hin schweigt. Vorhin hab ich es vom Flur reingeholt und auf meinen Schreibtisch gestellt. Es hängt an einer langen Schnur, damit man es in der Wohnung überallhin mitnehmen kann. Die Eltern brauchen es heute sowieso nicht, die sind bei Freunden. Bestimmt kommen sie erst spät nach Hause. Und die Katja, meine kleine Schwester, feiert irgendwo eine Fete. Das Haus ist leer, ich bin alleine. Mensch, Judith, besuch mich, komm! Ich möchte dich sehen, spüren und berühren. Du, der Gedanke regt mich auf. Ich mag nicht wegfahren, ohne noch einmal mit dir geredet zu haben. Und eigentlich will ich überhaupt nicht mehr wegfahren. Nur nicht an die Reise denken. Ich starre das tote 6


Mistding von Telefon an und rede mit mir und mit dir, Judith. Obwohl du gar nicht da bist, bist du doch irgendwie da, in mir, hast dich breit gemacht, schon lange. Oh, meine idiotischen Selbstgespräche mit dir. Da fällt mir ein: Wo steckt eigentlich mein Tagebuch? Ich hab schon Wochen nichts mehr reingeschrieben. Eigentlich könnte ich es mit einpacken. Ist das eine Unordnung hier. Der Koffer steht halb gepackt auf dem Fußboden, genau wie die Tasche. Daneben liegen die Papiere und Unterlagen, die ich für die Reise brauche. Da ist das Tagebuch. Ich habe es in meinem Regal unter Büchern vor meinen Eltern versteckt. Die würden nämlich gerne mehr über mich wissen, denen bin ich zurzeit viel zu schweigsam. Früher konnten wir eigentlich meistens ganz normal miteinander reden, fällt mir ein. Heute … ne … das Reden klappt seit einiger Zeit oft nicht mehr. Klingt alles so gereizt und ich weiß gar nicht, was ich mit den Eltern reden möchte. Das Tagebuch könnte ihnen wirklich einiges über mich erzählen, was ich ihnen nicht erzähle. Würden sie es lesen, wenn sie es fänden? Ja, ich glaube schon, genau wie damals den Brief von Judith, vielleicht lesen sie mit schlechtem Gewissen, aber trotzdem. Sie möchten in mich reinsehen können und wissen, was mit mir ist. Ach, sie sollen mich in Ruhe lassen, mein Tagebuch und meine Briefe auch. Es war ein richtiger Kumpel für mich, das Tage7


buch. Ich unterhielt mich gut mit ihm. Na ja, das Unterhalten war ja mehr eine Einbahnstraße. Aber es hörte sozusagen zu und ich hörte mir zu, wenn ich was reinschrieb. Vielleicht konnte ich mich dann manchmal besser verstehen als sonst. Oft erzählte ich dem Tagebuch was von Judith, meiner Freundin. Schönes Wort … Freundin. Mensch, Judith, ruf mich doch an, halb acht ist längst vorbei. Hier … auf der ersten Seite … fängt das Tagebuch gleich mit Judith an. Da steht: Hab einen Brief bekommen und gedacht, er ist von Judith. Darunter habe ich noch etwas geschrieben. Oh, meine Klaue war wirklich ziemlich unleserlich. Jetzt hab ich sie entziffert und lese … ich fand das mit dem Briefchen sehr blöd. Moment … wie war das? Ist schon länger her. Ich glaub, ich ging in die siebte Klasse. Wenn ich den Fernsehapparat in meinem Kopf anstelle, ist die Aufzeichnung ganz klar: die Klasse, Judith am Tisch bei der Tür und das Zettelbriefchen. Mit dem begann es zwischen Judith und mir, jedenfalls beinahe. Plötzlich schwirrten solche zusammengefalteten Briefchen in der Klasse herum. Der hat der geschrieben, die dem und der einer anderen. Ein mächtiger Postverkehr war ausgebrochen. Blitzschnell und unvermittelt schlug bei etlichen die Pubertät oder so was zu. Und die baute ein unterirdisches, geheimes Postsystem zwischen Jungen und Mädchen auf, versteckt vor den Lehrern. 8


Also … nicht alle waren am Postsystem beteiligt, etliche lasen unter der Bank immer noch lieber Micky Maus oder so was. Das waren unsere Kleinen. Davon gab es Jungen und Mädchen, allerdings mehr Jungen als Mädchen. Bis zu dem Tag gehörte ich auch noch zu den Micky Maus-Lesern. Ein Briefchen hatte ich bisher nie bekommen. Auf einmal drehte sich die Karen vor mir um, grinste mich an und sagte: „Hier …

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2 Vor knapp drei Jahren, im Winter.

F

ür dich.“ Karen drückt mir ein kleines, zusammengefaltetes Zettelbriefchen in die Hand. Vor lauter Überraschung komme ich gar nicht dazu, den roten Streifen in Karens schwarzen Haaren zu bestaunen, den sie sich reingefärbt hat. Tobias, mein Nebenmann, merkt nichts vom Zettelbrief. Der Knabe täuscht Aufmerksamkeit im Unterricht vor und tut so, als gäbe es für ihn nichts Interessanteres als den Lehrer. Dazu stützt er den Kopf in seine Hände. Herr Georgi erzählt etwas sehr Ausführliches über Stängel und Blüten, und Tobias schläft mit halb offenen Augen. Ich glaub, er ist der weitaus müdeste Junge der Klasse. Außerdem ist er ein starkes Talent im Aufmerksamkeit vortäuschen, das trainiert er oft. Vorsichtig und unter dem Tisch falte ich den Zettel auseinander. Da steht: Wollen wir uns heute Nachmittag treffen? 16.00 Uhr, beim Kiosk? Deine Judith. Judith?! Ich kippe beinahe vom Stuhl. Das kann ich nicht glauben, dass die mir schreibt. Aber auf dem Zettel steht ganz klar mein Name. An Martin. Ja, das bin ich. Und als Absenderin lese ich Judith. Oh Mann, sie möchte sich mit mir treffen. Die will 10


mit mir gehen! Ich gucke zu ihr und sie guckt auffallend konzentriert zu Georgi. Die meisten anderen gucken ja sonst wohin. Der Carlo guckt schon seit ein paar Wochen zu Paula, als wollte er sie zum Frühstück auffuttern. Dem fallen noch die Augen aus, wenn er weiter so starrt. Der Knabe hat wohl gesehen, dass Paula immer mehr Busen kriegt. Der interessiert ihn mehr als der Biologielehrer mit seinen Stängeln und Blüten. Die Paula starrt zu Micha, der ein ziemlicher Klotz ist. Na ja, vielleicht mag sie solche doppelten Portionen gerne. Robert guckt zu Nicole und die zu ihm. Die beiden haben sich aneinander festgeguckt. Sie gehen Hand in Hand miteinander, heißt es. Sogar am Nachmittag treffen sie sich und sind unser Klassen-Liebespaar. Patrick beguckt Susanne scharf und die guckt sich selbst im Spiegel an. Findet sich wohl ganz entzückend. Mein Nachbar tut immer noch so, als würde er zum Lehrer gucken, aber eigentlich guckt er weiter in sich selbst rein. Dort sieht er wahrscheinlich nichts als ein riesiges Gähnen. Für Mädchen hat der Junge kein Auge. Ich schon, seit eben, ich guck nämlich zu Judith und die zum Biologielehrer. Mensch, ist das eine Guckerei in der Klasse. Natürlich gucken ein paar auch einfach vor sich hin oder in Comic-Hefte. Andere gucken zum Lehrer und passen wirklich auf. Solche gibt‘s, klar, zum Glück für den Lehrer. Sonst müsste sich der Mann da vorne sehr überflüssig fühlen. 11


So … und ich schreibe an Judith. Schnell fetze ich ein Blatt aus meinem Block. Oh … war das ein Geräusch. Der Lehrer sieht mich strafend an und ich überlege: Was schreib ich ihr nur? Ich gucke sie an und merke, ich tue das richtig gerne. Judith gefällt mir gut, wie sie da ziemlich schmal unter ihren langen dunklen Haaren sitzt. Ich mag ihr Gesicht. Weniger mag ich, dass sie immer noch nicht zu mir guckt. Mit Judith rede ich eigentlich von allen Mädchen am liebsten. Obwohl … ich rede nur selten mit Mädchen. Die machen mich irgendwie ziemlich stumm. Mensch … und die Judith will sich mit mir treffen. Leider weiß ich immer noch nicht, was ich ihr schreiben soll, und der Unterricht läuft voll an mir vorbei. Da fällt mir ein, vielleicht will die richtig mit mir gehen? Mit Küssen und Händchenhalten. Oh … Mann. Will die so was? Glaub ich nicht. Will ich so was? Ne … na … oder vielleicht doch ein bisschen, ganz heimlich? Irgendwie kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass ich mit Judith Hand in Hand in der Pause rumlaufe. Bestimmt gucken dann alle zu uns, ne, bloß nicht. Vielleicht liebt die mich sogar, wenn sie sich mit mir treffen will. Oh … Liebe … wie das klingt. Zum Kichern! … Zum Kichern? Ja … und irgendwie blöde. Oder? Die meisten Jungs der Klasse wollen in der Pause 12


lieber Fußball spielen und nichts mit Liebe zu tun haben. Wirklich? Die meisten? Weiß nicht. Bisher bin ich Rechtsaußen, Flügelflitzer, kann nämlich ziemlich schnell rennen. Und ich soll Hand in Hand mit Judith gehen, als Rechtsaußen? Die anderen lachen sich darüber bestimmt kaputt. Und außerdem … ich weiß ja gar nicht, ob sie so mit mir gehen will. Eigentlich möchte sie mich ja nur treffen. Jedenfalls steht das auf dem Zettelbrief, den ich in der Hand halte. Was schreib ich ihr nur? Dass ich lieber mit den anderen Jungs Fußball spiele? So hundertprozentig stimmt das gar nicht. Hat Judith eben zu mir geguckt? Ne, ihr Blick klebt andauernd und sehr interessiert am Georgi. Also, das sieht ja fast so aus, als hätte sie dem angestaubten Typen das Zettelchen geschrieben, das sie mir geschrieben hat. Wenn sie‘s überhaupt geschrieben hat und mich nicht jemand in den April schicken will, obwohl wir erst Januar haben. Paula guckt weiter zu Micha. Dabei grinst sie, öffnet den Mund etwas und zeigt ihre Zähne, als wäre Micha was Süßes und sie wollte ihn anknabbern. Wahrscheinlich liebt sie ihn irre. Jetzt weiß ich, was ich Judith schreibe. Ich frag sie einfach, ob sie das war, die mir geschrieben hat. Vielleicht will mich ja jemand mit dem Brief wirklich nur reinlegen. Also los … Liebe Judith, ich hab einen Brief bekommen. Ist der von dir? Dein Martin. Hm … das klingt irgendwie komisch. Und soll ich 13


wirklich „dein“ Martin schreiben? Martin reicht, ich bin doch nicht ihrer. Aber sie hat „deine“ Judith geschrieben. Egal, ich streiche das „dein“. Nützt leider nichts, man sieht es trotzdem. Schreibe ich eben alles neu, so … schon erledigt. Die Adresse muss noch drauf. „Für Judith“. Und jetzt schicke ich meinen ersten zusammengefalteten, geheimen Zettelbrief los. Vorsichtig stupse ich die Karen an. Sie dreht sich um und guckt auf den Zettel. Warum grinst sie denn so, diese doofe Postbotin mit dem irren roten Streifen in den kurzen schwarzen Haaren? Die Post ist abgegangen. Ich sehe genau, wie mein Brief durch die Klasse geschmuggelt wird. Mensch, die sollen vorsichtig sein, sonst merkt Georgi was und kassiert die Post ein und der Mann pfeift dann aufs Briefgeheimnis. Aber es läuft gut, der Brief geht immer weiter. Judith guckt ausdauernd zum Biologielehrer. Also, in der Zwischenzeit bin ich sicher, dass sie mir geschrieben hat. So aufmerksam guckt die sonst nie. Bestimmt versteckt sie dahinter, dass sie auf meine Antwort wartet. Gleich wird sie bei ihr ankommen. Da! Sie hat meinen Brief und faltet ihn unterm Tisch auf. Ich glaub, sie wird ein bisschen rot, und ich glaub, ich auch. Wir glühen wie zwei Signalbojen im Schülermeer. Judith dreht sich um. Sie guckt an allen vorbei und zu mir. Ich lächle ein bisschen und sie schickt mir einen langen Blick. 14


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