Knud von Harbou
Wege und Abwege Franz Josef Schöningh, Mitbegründer der Süddeutschen Zeitung Eine Biografie
Herausgegeben von Maria-Theresia von Seidlein, Dr. Lorenz von Seidlein und Dr. Rupert von Seidlein
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de
März 2013 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2013 Buch&media GmbH, München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Herstellung: Kay Fretwurst, Freienbrink Umschlaggestaltung: Alexander Strathern unter Verwendung einer Fotografie von Franz Josef Schöningh um 1950 (Privatarchiv Seidlein) Printed in Europe · isbn 978-3-86906-482-6
Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Biografie Die Familie Schöningh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Verleger Ferdinand Schöningh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Exkurs: Eduard Schöningh, der Gründer von Schöninghsdorf . . . . . 19 Ferdinand (II) Schöningh als Nachfolger des Gründers . . . . . . . . . . . 21 Die Herkunft Franz Josef Schöninghs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Das Hochland in den 1930er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Das Generalgouvernement: Sambor und Tarnopol . . . . . . . . . . . . . . . 93 Budapest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Galizische Innenansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Kriegsende und Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Süddeutsche Zeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Irmgard Schöningh nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Das neue Hochland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Rückzug, Krankheit, Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Anhang »Bericht über meine Tätigkeit in Polen und Ungarn« von Franz Josef Schöningh (1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Zur Transkription des Briefes von Salomea Ochs . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Brief von Salomea Ochs (1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Zweistaatentheorie – nur wenn man sie akzeptierte, waren Verhandlungen möglich. Danach sollte die Annäherung eine Sache der DDR und BRD sein. Die Folge war eine weitere Entfremdung beider deutscher Staaten. Die SZ erkannte, dass sich zur Westintegration keine Alternative bot, und hoffte auf eine weltpolitische Klimaverbesserung, die sich dann auch auf die Beziehungen beider deutschen Staaten übertragen würde. Doch die internationale Aufwertung der DDR durch die Sowjetunion blockierte bis weit in die 1970er-Jahre hinein eine Verständigung mit der DDR. Erst der durch Egon Bahr auf der Tutzinger Akademietagung am 15. Juli 1963 eingeführte Begriff »Wandel durch Annäherung« signalisierte einen grundsätzlichen Kurswechsel der deutschen Regierung in Gestalt Willy Brandts. Die Fronten des Kalten Krieges wurden zumindest durchlässiger. Direkt war Schöningh bis zum 2. November 1951 in das Feuilleton eingebunden. Als Werner Friedmann ab diesem Zeitpunkt die Chefredaktion übernahm, wechselte er in die Leitung des Verlags. August Schwingenstein und Edmund Goldschagg zogen sich ihrerseits aus der aktiven Geschäftspolitik der Zeitung zurück und waren nur mehr als Gesellschafter und Herausgeber tätig. Davor teilten sich Schöningh und Friedmann den Vorsitz in der täglichen Redaktionskonferenz, was offenbar von beiden nur stumm ertragen wurde. Wenn Friedmann redete, schwieg Schöningh, und wenn Schöningh redete, wandte sich Friedmann ab, so der damalige Nachrichtenchef und Chronist der SZ, Herbert Heß.226 Schöninghs Einstand im Feuilleton der SZ am 6. Oktober 1945 war überschrieben mit »Lohnt es sich noch zu leben?«. Man sei es seinen Enkeln schuldig, sie über die skrupellose Lüge der Nationalsozialisten aufzuklären, »den beginnenden Genesungsprozeß als ihr Werk hinzustellen und dem politisch so unerfahrenen und allzu leicht verführbaren deutschen Volk zu suggerieren, daß bis zum Regierungsantritt Hitlers das Leben in Deutschland eine Hölle gewesen sei. […] Wie wollen wir vor unseren Enkeln bestehen, wenn wir nicht alles daransetzen, den moralischen und physischen Trümmerhaufen zu beseitigen, den unsere Generation geschaffen hat? Unsere Enkel werden nie begreifen, was wir getan haben, aber sie werden uns wenigstens nicht verachten, wenn wir jetzt die Schuld sühnen, die wir ihnen gegenüber tragen, indem wir arbeiten, unter schwersten Opfern arbeiten. Die Aufgabe ist hart, aber von einem tiefen Sinn. Es lohnt sich, in ihrem Angesicht zu leben.« Im Keim legt Schöningh hier bereits eine Sichtweise dar, die eben von dieser Kinder- beziehungsweise Enkelkindergeneration nur 20 Jahre später so vehement kritisiert 249
werden sollte wegen ihres Pathos, der Verlagerung auf eine metaphysische Schuld, der umstrittenen sogenannten Verführungsthese und einer Ausklammerung historisch vieler bedeutsamer Geschehnisse wie des Angriffskrieges samt seiner Verbrechen, all der Zerstörung und des Leids, der Judenvernichtung. Die ersten Feuilletonseiten der SZ vom Samstag, den 6. Oktober 1945, waren voll von grundsätzlichen Artikeln wie eben »Lohnt es sich noch zu leben?«; Wilhelm Hausenstein forderte einen seriösen Journalismus ohne »blutrünstigen Querbalken«, also Schlagzeilen, »ohne all jene drucktechnischen Manöver, hinter derem geschäftigem Lärm sich je und je die bare Leere verbarg«; W. E. Süskind stellte in einem Nachruf auf den Autor Bruno Frank Thomas Manns Zweifel infrage, »ob es jemals wieder möglich sein werde, in der deutschen Sprache das Wort Menschlichkeit erklingen zu lassen«, indem er sich auf Franks zentrale Forderung nach dem »Menschenfreundlichen« und seinem »Appell an die Menschlichkeit« bezog. Süskind verwies dabei auf Thomas Manns »Brief an Deutschland«, den die SZ ebenfalls am 6. Oktober abdruckte. In einem Grundsatzartikel derselben Ausgabe wollte Alfred Dahlmann die moderne Kunst als Hoffnung verstanden wissen. Breiten Raum nahm in der SZ die Aufarbeitung des Dritten Reichs ein, die von Schöninghs Rechtsanwalt und Freund Dr. Hermann Kapphan mit seiner Serie »Der Verfall des Rechts im Dritten Reich« eingeleitet wurde. Das Unrechtssystem sollte vor allem anhand von Einzelschicksalen des Widerstands gegen Hitler aufgezeigt werden. Verwiesen wurde bereits auf Hans von Hülsens »Helden gegen Hitler« in der SZ vom 23. Oktober, dem »ersten authentischen Bericht« über die Geschwister Scholl. Derselbe Autor porträtierte eine Woche später Ulrich von Hassells Widerstand gegen Hitler. Berichte über das NS-Grauen (W. E. Süskind »Von der Macht des Entsetzens«) und ein Rückblick auf die Berliner Kriegszeit Ursula von Kardorffs (»Wiedersehen mit Berlin«) finden sich in den Novemberausgaben der SZ und versuchten so, eine öffentliche Diskussion über das Wesen des Nationalsozialismus anzustoßen. Der Hochland-Autor F. Adama van Scheltema ging in derselben SZ-Ausgabe vom 2. November auf die NS-Ideologie ein: »Nordische Vorzeit durch die braune Brille«; der katholische Germanist Karl August Meissinger beleuchtete den Zusammenhang »Deutschland und Preußen« wegen der preußischen Dominanz ganz im Sinne von Schöninghs Kommentar vom 23. Oktober 1945 (»Löst Preußen auf! Bemerkungen zum deutschen Föderalismus«). Erstaunlich war der Abdruck dieser Artikel im Feuilleton, weil ihr Ort eigentlich ausschließlich im politischen Teil der Zeitung war. Einen Ansatz, erneut die Frage deutscher Schuld im Dritten Reich zu diskutie250
ren, lieferte ein Artikel des Hausenstein-Freundes und späteren Studienleiters der evangelischen Akademie Tutzing, aber auch Hochland-Autors Heinz Flügel in der SZ vom 4. Dezember. Unter dem Titel »Genesung des deutschen Wesens« widersprach er indirekt Schöninghs Schuldbegriff, wenn er sagte: »[…] wenn wir auch nicht in den Fehler, vor dem uns Karl Barth zu bewahren bemüht ist, verfallen wollen, uns nämlich durch metaphysische Spekulation über die allgemeine menschliche Daseinsschuld der eigenen Verantwortlichkeit zu entledigen […].« Deutlich waren bei diesem Thema viele Hochland-Autoren präsent (neben den bereits Genannten Autoren wie Adolf Fleckenstein, Elias Hurwicz, Friedrich Meyer-Reifferscheidt, Max Picard, Peter Dörfler). Vielen Artikeln des Feuilletons merkte man die Suche nach einer Ortsbestimmung an, insofern wies die Zeitung eine ganz ähnliche Tendenz wie die übrigen Blätter auf. Ob es sich um »Die Frau in der Demokratie« oder um die Bewertung deutscher Literatur im Dritten Reich handelte, die Behandlung beider Themenkomplexe war von einer vorsichtigen Einschätzung geprägt. Carlo Schmid (»Manuskripte in deutschen Schreibtischen?«, SZ vom 14. Dezember 1945) bezweifelte, ob die Texte Brauchbares enthalten: »Die Nazis haben alles erstickt, […] die Unterdrückung kam auf die Allgemeinheit nicht wie eine Mauer zu, sondern wie eine Wand aus Federkissen, […] wer rennt aber gegen eine Matratzenwand an, ohne sich selbst lächerlich zu machen?« Hausenstein nahm in der Weihnachtsausgabe hingegen deutlicher die Literatur in Schutz (»Bücher – frei von Blut und Schande«). Er bezog sich damit auf Thomas Manns Verdikt vom 6. Oktober 1945 in der SZ: »Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.« Auf diese Sätze ging Hausenstein in seiner ersten Veröffentlichung für die SZ ein. Darin führte er an die 100 Bücher auf, mit denen er beweisen wollte, »dass in Deutschland trotz der ungeheuerlichen Sabotage, die im Zeichen der Hitler und Himmler, Bormann und Goebbels alles Gute zu zertreten suchte, eine große Anzahl von Büchern entstanden ist, die auch jetzt standhalten, wo die Hölle vorbei ist, und inskünftig bestehen werden – deshalb nämlich, weil sie in der Tat echte Substanz enthalten«. In seiner Erwiderung auf Thomas Mann führte er dazu ergänzend aus: »Sie bildeten zusammen, so inwendig gelesen, wie sie inwendig geschrieben waren, das Gefüge, das Labyrinth, die Nischen einer Katakombe. In der summarischen Perspektive, die sich über das Meer notwendig ergab, blieb Ihnen wie manches andere Concretum der Eingang verborgen.«227 251
Thomas Mann hat darauf nie geantwortet. Aber in einem Brief an Emil Preetorius vom 14. Januar 1946 kam er allerdings auf Hausensteins Kritik zurück: »[…] Was tut Hausenstein? Er stellt in der Zeitung einen endlosen Katalog von Bücher-Herrlichkeiten zusammen, die unter Goebbels erschienen sind, sodaß man den Eindruck gewinnt, als habe es eine solche Blüte überhaupt noch nie gegeben. Alle Vorstellungen von der kulturellen Wüste, in die Hitler Deutschland verwandelt habe, sind offenbar ganz irrig. Gilt es das III. Reich zu verteidigen und zu verherrlichen, oder was gilt es?«228 Gleichwohl entspann sich im Feuilleton keine Diskussion über diese prominente Kontroverse, wohl auch, weil man den Komplex Thomas Mann einfach aussparte. Noch »getragener« zeigte sich das Feuilleton im ersten Vierteljahr 1946. Eine konventionelle Erzählung der Frau des SZ-Kunstressortleiters Dahlmann, Gertrud Dahlmann-Stolzenbach, eröffnete das Jahr, aber auch ein Autor namens Peter Grubbe (»Kinder zwischen den Mühlsteinen der Zeit«, SZ vom 26. März 1946) tauchte mit einer Kurzerzählung über die Wahrnehmung unmittelbarer Nachkriegszeit aus Sicht eines 14- und 15-Jährigen auf. Hinter dem Pseudonym Grubbe verbarg sich kein anderer als der frühere Kreishauptmann von Kolomea und Lowicz, Claus Volkmann, der zusammen häufig mit seiner Frau Ada Gast in Tarnopol war. Volkmann / Grubbe wurde bezichtigt, Menschen seines Amtsbezirks ausgeplündert, zur Zwangsarbeit verpflichtet und auch selbst Juden ermordet zu haben beziehungsweise sie durch ihm unterstehende Polizeikräfte ermordet haben zu lassen. Die Enttarnung Volkmanns / Grubbes in der Presse Ende der 1990er-Jahre löste großes Aufsehen aus, zeigte doch seine Biografie, wie umstandslos zwei psychische Ebenen miteinander harmonieren können. Die aggressive unterdrückerische, zutiefst antisemitische Seite mit einer Nachkriegsvita, die von großer Aufgeschlossenheit beispielsweise in Fragen der Entwicklungspolitik und auch einem sozialen Denken gekennzeichnet war – besetzt von einer psychischen Spaltung, was die mörderischen Vorgänge in Galizien anbetraf.229 Dieser soziale Aspekt bei Volkmann / Grubbe offenbarte sich in seinem Artikel (»Zur inneren Verankerung der Jugend«) anlässlich des 200. Geburtstags von Pestalozzi und der Gründung eines Kinderdorfs in der Schweiz. Grubbe verweist darin auf Vorschläge, Kinder aus zerstörten Städten hinauf aufs Land zu Pflegefamilien zu geben, nur dort sei noch eine intakte werthaltige Umwelt zu spüren, die auf die Jugend günstig abfärben könne. Einen weiteren Artikel für die SZ verfasste Grubbe am 3. Mai mit einer kleinen Reportage über ein Dorf im sowjetisch besetzten Thüringen (»Land zwischen Grenzen«), an der Werra gelegen, also in unmittelbarer Nähe der 252
US-Zone. Den Namen des Dorfes erwähnt er nicht, doch unzweifelhaft handelt es sich um Henfstädt, das Gut von Mogens von Harbou, das er im Frühjahr 1945 als ersten Zufluchtspunkt mit seiner Frau ansteuerte. Danach schrieb er nie wieder für die SZ. Wenn sich, wie oben beschrieben, das Feuilleton 1946 vor allem als grundsätzlich orientiertes Forum begriff, dann zeigte sich dies auch in Beiträgen wie »Erfurcht und Verantwortung« oder einem Porträt von Constantin Frantz, einem Vordenker des von der Form des Hl. Römischen Reiches inspirierten mitteleuropäischen Staatenbundes und erklärten Gegners von Bismarcks nationalstaatlich konzipierten Deutschen Reichs – ein Thema, das wie keines sonst Franz Josef Schöningh zeitlebens stark beschäftigte. Verstärkt wurde dies von Wilhelm Hausenstein, der (allerdings im politischen Teil) sich über den Sinn des Föderalismus Gedanken machte (SZ vom 8. Januar 1946). In eine ähnliche Richtung zielte ein Beitrag von Andreas von Wolcknitz, »Großpreußens problematische Gründung«, welcher der antipreußischen Grundhaltung der SZ entsprach. Immer wieder finden sich 1946 neben historisch-politischen auch literaturgeschichtliche Aspekte der Preußen-Ablehnung. So Hans Poeschels Gedanken zu einem neuen Geschichtsbuch (SZ vom 10. Mai), in dem aus seiner Sicht Preußen zu positiv dargestellt wird, Hanns Brauns Anmerkungen zum »bayrisch-preußischen Gegensatz« oder wieder Poeschel über Theodor Fontane »Ein preußischer Kritiker Preußens« (SZ vom 18. Juni). Poeschel referierte darin Fontanes Wandlung vom »einstigen Sänger des preußischen Militäradels« zum Gegner des Militarismus, der für ihn der »Weltfeind« war. Poeschel sah diesen in Bismarck verkörpert. So wurde im Feuilleton aus verschiedenen Aspekten heraus versucht, die Position Preußens als des »deutschen Grundübels« zu untergraben. Damit bereitete auch die SZ ideologisch den Boden der dann am 25. Februar 1947 erfolgten formalen Auflösung Preußens durch den Alliierten Kontrollrat. Es waren allgemeine Artikel, wie die von Hanns Braun über den Streit über Groß- und Kleinschreibung, Abwägungen von Alfred Dahlmann über »Kunstkritik oder Kunstbetrachtung«, allgemeine Artikel über die Herkunft der Kurzgeschichte, »Die nordamerikanische Lyrik«, »Was wird aus Münchens Gemäldesammlungen?«. Sie alle erfüllten sicher den Auftrag einer Kulturvermittlung. Doch im Gegensatz vor allem zu den Rundfunkprogrammen entbehrten sie eines gewissen aktuellen kulturpolitischen Esprits. Tauchten gerade in den Rundfunksendern neue, junge, streitlustige Autoren auf, so bestand das Reservoir des SZ-Feuilletons neben den fest angestellten Redakteuren vielfach eben aus Hochland-Autoren, die den höchsten Altersdurchschnitt in den 253
deutschen Medien aufwiesen. Dass die Zurückhaltung der SZ bei politischen und ästhetischen Fragen mit drohenden Eingriffen der US-Zensur zusammenhing, wie häufig behauptet wurde, wurde von Uta Hallwirth anhand der wesentlich unabhängiger agierenden Nürnberger Nachrichten widerlegt. Nur noch bis Oktober 1946, als die Urteile im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess verkündet wurden, widmete sich das Feuilleton der Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus. So rezensierte die SZ vom 14. Juni 1946 die vom Münchner Weihbischof Johannes Neuhäusler herausgegebene Dokumentensammlung Kreuz und Hakenkreuz als Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung der katholischen Kirche und des kirchlichen Widerstands; Hermann Kapphan resümierte den Verlauf des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses »Nürnberg und der deutsche Geist« (SZ vom 13. August): »Es geht um unser Seelenheil. […] Der tragische Held des Nürnberger Gerichts ist der
Die Urteile des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses druckte die SZ am 1. Oktober 1946 in einer Sonderbeilage ab.
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deutsche Geist, sein ›Fall‹, sein Abfall vom göttlichen Geist, der Abfall aber auch des Lebens von Gott, der Vitalität vom Geist ist der eigentliche Inhalt der so schmerzlichen Tragödie. […] Sollte der deutsche Geist wieder gesunden, so muß er seiner Schande voll ins Gesicht sehen. […] Und der wahre Genius der Deutschen, alle guten Geister unserer Vergangenheit werden gegenwärtig sein und mit zu Gericht sitzen über die Verräter am deutschen Wesen und Namen.« Kapphans Ursachenforschung definiert diesen »Geist« nicht, er bleibt im Ungefähren, ganz im Gegensatz zu der besonders von den Rundfunksendern versuchten konkreten Analyse des Faschismus. Nach den Urteilen des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses erfolgte eine ruckartige Zäsur, die SZ legte ihren Fokus nun ausschließlich auf die Zukunft. Es sollte bis in die 1960er-Jahre dauern, bis eine erneute Wiederannäherung an dieses Thema stattfand. Dominiert wurde das Feuilleton 1947 auch weiterhin zunächst von grundsätzlichen Artikeln wie über die Presse und ihre Verantwortung für die Wahrheit, Humanismus und Gymnasium, fiktive Briefe über Schuld und Sühne von Stefan Andres, über die Vorbildung des Staatsbürgers von Franz Schnabel (»Jugend ohne Geschichtsbild«). Nur einmal noch taucht das Internationale Militärtribunal auf: Cola Beaucamp referierte über den Nürnberger Ärzteprozess. Das Thema »Nationalsozialismus« fand an sich nur noch in Form von Buchbesprechungen statt. Ab Mai entfielen die Themenaufmacher im Feuilleton völlig, es wird noch die Tagesaktualität der Sparten (Premieren im Theater, Kino, bedeutende Münchner Konzerte, Nachrichten) abgewickelt. Dies war auch der drastischen Papierknappheit geschuldet, die SZ musste sich auf das Notwendigste beschränken; ab Februar schrumpfte der Umfang zwischenzeitlich auf zehn Seiten bei nur noch zwei wöchentlichen Ausgaben (Dienstag und Samstag). Diese Tendenz behielt das Feuilleton auch im Jahr 1948 bei. Dominant war der Kulturspiegel, Grundsätzliches ersetzte die aktuellen Themenaufmacher. Hans Egon Holthusen widmete sich den Nachkriegsproblemen der Literaturkritik in Moskau, der Historiker Franz Schnabel würdigte Joseph Görres zu seinem 100. Todestag mit dem Resümee, »daß die Aktualität des alten Görres in der Synthese der christlichen Offenbarung mit dem gesamten neuzeitlichen Geistesleben« liege. Werner Bergengruen untersuchte die geistigen Grundlagen des Abendlandes; auch Schöningh forderte anlässlich des Todes von Georges Bernanos ein menschliches Abendland (»Das Abendland wider die Roboter«, SZ vom 10. Juli 1948); Hedwig Conrad-Martius fragte: »Wie hängen Leib und Seele zusammen?« In allen diesen Beiträgen vermisst man eine Aufbruchsstimmung, eine Streitkultur, vielmehr ist ihnen eine Art 255
»Erhabenheitsgestus« (Monika Boll) eigen, der nur wenig kontrovers agierte. Dadurch unterschied sich das Feuilleton der SZ vielleicht am deutlichsten von den anderen Zeitungen, Zeitschriften und Sendern. 1949 wurde die Thematik des Feuilletons umgreifender, stark gewann der Stellenwert des Buches an Bedeutung. In einem soziologisch angenäherten Verfahren untersuchte der Schriftsteller Rudolf Schneider-Schelde »Literatur für zweierlei Leser«. »Das Ideal der guten Literatur ist der wirkliche Mensch, die Wirklichkeit. Dazu gehört Oberfläche und Anschein so gut wie Tiefe und Wahrheit, Traum so gut wie Realität. Sie hat infolgedessen eine reichere Skala, aber dieser Reichtum bewirkt auch, daß sie mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Die Folge davon ist, daß sie viel häufiger Stückwerk bleibt als die mindere Literatur.« Ein solches Textbeispiel soll demonstrieren, wie anders in der SZ das Wesen von Literatur diskutiert wurde als beispielsweise in den ersten Protokollen der »Gruppe 47«. Einen Hinweis, wie kontrovers anderswo Ästhetik und Politik diskutiert wurden, unternahm Erich Kuby in einem launigen »Nachruf« auf die kulturpolitische Zeitschrift Der Ruf, die den programmatischen Untertitel »Unabhängige Blätter der jungen Generation« trug. Alfred Andersch und Hans Werner Richter zeichneten als Herausgeber für dieses Periodikum verantwortlich, dessen politische Ausrichtung sich einem sozialistischen Humanismus verpflichtet fühlte. Vielleicht traf dies den Nerv der Zeit, sodass später vom Ruf als dem Leitmedium der frühen Nachkriegszeit gesprochen wurde. Die erreichte Auflage von 70 000 Exemplaren zeigt ihre große Resonanz. Gegründet wurde sie im August 1946, eingestellt im April 1949 auf Druck der Alliierten Militärbehörde. Kuby lässt auch die bedeutenden Mitarbeiter, deren einer Teil zu den Gründungsvätern der »Gruppe 47« gehören sollte, Revue passieren – nur wenige waren gleichzeitig im SZFeuilleton vertreten. Welche Bedeutung den legendären Nachtprogrammen der Rundfunkanstalten beigemessen wurde, offenbarte sich in einem Beitrag von Rolf Didczuhn »Oase vor Mitternacht« (SZ vom 14. April 1949): »Das Ziel aller Nachtprogrammgestalter wird es sein müssen, ihre nächtlich Funk-Oase aus der Isolierung zu befreien und zu einem organischen Bauelement, wenn nicht gar zur Spitze der Programmpyramide werden zu lassen.«230 Auf die gewachsene Bedeutung des Buches, der Gründung vieler neuer Verlage, dem Nachdenken, wie man die Leser erreichen kann, geht das Feuilleton in verschiedenen Artikeln ein. Sah Hans Eberhard Friedrich (»Ausweg aus der Blockade des Geistes«, SZ vom 9. April 1949) den Buchmarkt noch in einem 256
Stillstand, was Programme oder Vertrieb anbelangte, so erwiderte darauf ein anderer Autor vor allem unter Bezug auf Möglichkeiten eines modernen Vertriebs. Darin schloss er auch eine eingeforderte staatliche Subvention ein, um alles zu versuchen, was der Verbreitung des Buches nützen könne. Ähnlich der Germanist Egon Vietta (»Schöpferischer Alarm«, SZ vom 2. Juni) zum Thema »Verleger und Autor«. Flankierend dazu druckte die SZ Viettas Artikel »Literatur als Macht. Eine soziologische Studie« (SZ vom 25. August) ab, in dem es heißt, der wahre Dichter verfüge über das »arcanum«, über ein Geheimnis, das der Wirtschafts- und Tagespolitik versagt ist. Dies arcanum ermächtige sein Werk zur Dauer. Darum widersteht das dichterische Gespräch der Zeit. »Denn es wird mit den Mächten geführt, die […] letzterdings über unser Schicksal als Mensch entscheiden. Wir wissen über die dichterische Stiftung des Menschen so gut wie gar nichts.« Immer wieder sind im Jahr 1949 Artikel zu finden, die sich mit der Lage, der Situation eines Fachgebiets beschäftigen. Der SZ-Karikaturist und Architekt Ernst Maria Lang (»Die große Chance, von keinem genutzt«, SZ vom 2. Juli 1949) über Probleme des Städtebaus und der Architektur, »[…] auch München braucht die Planung«; der Bibliothekar Franz Babinger über die katastrophale Lage der Staats- und Universitätsbüchereien (»Kann man das noch Bibliotheken nennen?«, SZ vom 14. Juli 1949); Alfred H. Jakob (»Warum schlechte Filme für teures Geld? Die Lage der deutschen Filmproduktion«) sinnt über neue Möglichkeiten und Wege der Filmfinanzierung nach. Eine ganze Seite wurde der Musikredaktion am 3. September 1949 eingeräumt, überschrieben mit »Streit um die Neue Musik«. Die legendäre Musikredaktion der SZ, K. H. Ruppel, Walter Panofsky, Klaus Pringsheim (der Schwager Thomas Manns), tauchte hier erstmals geschlossen auf. Ab 19. September 1949 erschien die SZ nunmehr täglich, sie hatte unter anderem Büros in den Städten Nürnberg, Frankfurt, Bonn, Berlin und eigene Korrespondenten, die aus Washington, New York, London, Paris, Rom, Madrid, Genf, Wien, Den Haag, Stockholm, Kopenhagen, Istanbul und Triest berichteten. Als Zeichen einer gestiegenen Nachfrage und auch finanziert durch eine ausreichende Anzeigenschaltung kann die Einführung neuer Seiten gewertet werden. So lagen der Zeitung die »Seite für die Frau« (von Ursula von Kardorff betreut), die »Alpine Seite«, eine Literaturbeilage (von Curt Hohoff verantwortet), anderthalb Seiten »Reise und Erholung« sowie die Wochenendbeilage »SZ im Bild« bei. 92 Prozent der Leserschaft beantwortete die Frage, ob die SZ den Anforderungen an eine moderne und gut redigierte Zeitung entspreche, mit einem uneingeschränkten Ja. 257
Die 1949 zart keimende Tendenz, zumindest ab und zu Themenaufmacher auf die Aufschlagseite des Feuilleton zu stellen, wie etwa Rudolf Goldschmits Befund »Generation und Lebensstufe« in der SZ vom 7. Juli 1949, sollte sich bereits im nächsten Jahr wieder verflüchtigen. Die Feuilletonleitung entschied, statt allgemeiner Themenaufmacher lieber Erzählungen, Rezensionen, Gedenktage voranzustellen. So findet man am 2. Februar 1950 das erste große Interview mit der älteren Schwester von Hans und Sophie Scholl, Inge Aicher-Scholl, unter der Überschrift »Ein Neubau der Zwischengeneration«. Inge Aicher-Scholl charakterisiert darin ihre Generation als in einer bestimmten Prägung geformt, als »aufgeschlossene, vorurteilsfreie und kritikstarke Menschen, die ebensolche Partner ertragen können. Sie stehen mit geöffneten Poren in der Gegenwart und ahnen eben, welche Entwicklungen gerade anheben, […] sie sind Wünschelrutengänger der Zeit.« Am 1. Juni 1950 übernahm Hans Joachim Sperr das Feuilleton von Hans Mollier, der dies aber nach Alfred Dahlmanns Tod Anfang des Jahres nur kurze Zeit verwaltete. Franz Josef Schöningh musste Sperrs Vorgeschichte im Dritten Reich (siehe dazu oben) bekannt gewesen sein, sie stand aber seiner Berufung als Leitenden Redakteur durch die Herausgeber nicht im Wege. Es schien, als ob man die »alten Geschichten« ruhen lassen wollte. Ähnlich verfuhr die Politikredaktion mit der Personalie Hans-Adolf Asbach.231 Die SZ stellte am 1. Juli 1950 das neue Landeskabinett Schleswig-Holstein vor, dem Asbach als Landessozialminister angehörte. Zu seiner Vergangenheit schrieb die SZ, dass er »Kreishauptmann« wurde und sich aus politischen Gründen 1943 ins Militär zurückzog. Asbach war KHM in Brzezany, das an die Kreishauptmannschaft Tarnopol angrenzte. Die Mordeinsätze gegen die Juden wurden von der Einsatzzentrale in Tarnopol aus geleitet. Schöningh kannte ihn aus gemeinsamen Besprechungen. Asbachs Nachfolger dort war der Hamburger Rechtsanwalt Werner Becker, der mit Harbous auch noch nach dem Krieg befreundet war und häufig mit seiner Frau zu Besuch in Tarnopol beziehungsweise Myszkowice weilte. Die Ernennung Asbachs zum Minister schlug hohe Wellen, die New York Times beschuldigte ihn unter Berufung auf Zeugenaussagen direkt der Ermordung von Juden im Generalgouvernement. Erich Kuby ignorierte diese Umstände in der SZ völlig. Das später in den 1960er-Jahren gegen Asbach eingeleitete und sich lange hinziehende Strafverfahren wurde schlussendlich eingestellt. Die Zeitungen berichteten ausführlich darüber. Schöningh war über die Ermittlungen durch den in München lebenden Bundesnachrichtendienstmitarbeiter und ehemaligen persönlichen Referenten von Gouverneur Wächter, Dr. Heinzgeorg Neumann (der schon 258
im Nehring-Prozess wegen Unglaubwürdigkeit als Entlastungszeuge abgelehnt wurde, siehe oben) informiert, mit dem er auch nach dem Krieg noch in Verbindung stand. Ein ebenfalls von Kuby in der SZ vom 24. November 1950 verfasstes Porträt des Senders Radio Bremen (»Das Modell eines Senders – Radio Bremen«) kann man implizit auch als Kritik an der SZ lesen. Kuby weist insbesondere auf die anregende Themenvielfalt und große Diskussionsfreudigkeit im Nachtprogramm hin. Einen großen Erfolg verbuchte die SZ (das Feuilleton hingegen hatte damit nichts zu tun) mit der Einrichtung eines Fortsetzungsromans; der erste Roman dieser Art war Mary O’Haras Mein Freund Flicka, eine Pferdegeschichte, die besonders unter dem Aspekt, jugendliche Leser an die SZ zu binden, ausgewählt wurde. Um sich eine Vorstellung über den Lesergeschmack der 1950erJahre zu machen, sei auf eine Umfrage der SZ verwiesen, wonach Weihnachten 1950 die Lieblingsbücher der Kinder Antoine de Saint-Éxuperys Der kleine Prinz, Erich Kästners Emil und die Detektive und Karl Mays Winnetou-Bände waren; die Erwachsenen votierten für James Caldwells Melissa, Thor Heyerdahls Kontiki, C. W. Cerams Zwischen Göttern, Menschen und Gelehrten, wie die Erstausgabe von Götter, Gräber und Gelehrte damals noch hieß, und Desmond Youngs Rommel, der Wüstenfuchs. Erst 1951 wendete sich das Blatt, und das Feuilleton zeigte sich einer diskursiven Tendenz aufgeschlossener. So begann das neue Jahr mit einer sechsteiligen Serie »Hat die Bildende Kunst unserer Zeit eine Chance?«. Aufmacher wie die des Rowohlt-Lektors Kurt Marek (Ceram) »Wie entdeckt man die Vergangenheit?« oder Bertrand Russells »Heilmittel Philosophie« ließen die Leser an den neuesten Erkenntnissen über Archäologie und Philosophie teilhaben. Auf Curt Hohoffs provokative Frage »Schweigen die Dichter?« erwiderten am 24. / 25. März der »Gruppe 47«-Mitbegründer Hans Werner Richter, die Autoren Luise Rinser, Kasimir Edschmid, Erich Kästner, der FAZ-Feuilletonchef Karl Korn und der Politologe Dolf Sternberger mit Beiträgen. Immer am Samstag eröffnete das Feuilleton auf einer ganzen Seite mit großen Themen, unter anderem mit »Überall herrscht Ordnung« (zur Lage der Philosophie), Finnegans Wake von James Joyce in einer Besprechung des Anglisten Curt Hohoff, am 23. / 24. Juni Richard Kaufmann über »Die Technik des Bestsellers« oder Walter Panofsky »Deutscher Film – was nun?« (SZ vom 15. Januar) – Panofsky beklagte darin die »unselige Verquickung von politischen und filmwirtschaftlichen Ambitionen«. Diese Auflistung soll hier nur einen kleinen Einblick in die neue Tendenz der SZ im Jahre 1951 geben. 259
Gleichwohl bleibt die Frage bestehen, weshalb sich das Feuilleton beziehungsweise dessen zuständiger Herausgeber Schöningh so wenig mit Fragen beschäftigte, die andere Zeitungen und Radios als ganz zentral erachteten. Beispielsweise widmete sich der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) in seinem Abendprogramm ausführlich dem Existenzialismus. Dessen Bedeutung hob Programmchef Jürgen Schüddekopf hervor: »Der Existentialismus […] sei eine der respektabelsten, aber auch anstrengendsten Versuche, durch die Watteschicht der ewigen Illusionen zum Kern unserer Wirklichkeit zu kommen […].« Zu festen Wochenterminen wurden Sartres Das Sein und das Nichts, Die Fliegen und auch das philosophische Umfeld des Existenzialismus vorgestellt. Gleiches galt für Albert Camus. Eine der aufwendigsten Sendungen, die zwischen November und Dezember 1948 im NWDR produziert wurden, bestand in einer siebenteiligen Reihe zum Nationalsozialismus. Die abendlichen Sendungen wurden am nächsten Tag zwischen 9 Uhr und 10.30 Uhr sogar wiederholt. Der Programmchef begründete das Vorhaben mit den unzureichenden Versuchen einer NS-Aufarbeitung in der ersten Folge am 27. Dezember 1948: »Es ist immer noch ein höchst ungewisser Boden, auf den man gerät, wenn man sich dem Phänomen NS nähert. Nach über drei Jahren ist erstaunlicherweise noch nicht einmal der Versuch zu einer Darstellung des Nationalsozialismus gemacht worden. Den Versuch einer ersten freimütigen Darstellung und Klärung wollen die Autoren unserer Sendung unternehmen.« Die ausgewiesenen Autoren analysierten in einer für heutige Verhältnisse sehr modernen Art die wesentlichen Aspekte des Nationalsozialismus; selbst das Allensbacher Institut für Demoskopie hatte man für die Frage nach persönlichen Gründen für einen Beitritt in die NSDAP beauftragt. Wie spektakulär diese Sendung war, zeigte sich auch in der Aufforderung an weiterhin überzeugte Nationalsozialisten, ihre Meinung zum Thema »Nationalsozialismus« heute zu artikulieren. Ohne hier weiter auf den Inhalt einzugehen, soll lediglich demonstriert werden, wie andere Medien in der Aufarbeitung des NS konkret bereit waren zu gehen. Das Nachtprogramm des NWDR unterließ denn auch nicht die Kritik an der Mehrheit der Zeitschriften (das Hochland wurde allerdings ausgenommen) und Zeitungen wegen ihrer nebulösen und verschwommenen, oftmals auch zufälligen Artikel. Jürgen Schüddekopf sprach sogar vom »Don Quichotthaften« dieser Erzeugnisse, deren Autoren »unermüdliche geistige Wanderer im Lande Nirgendwo, Allzulanggeher oder Utopia« seien. Artikel, die überdies von einer Generation von Autoren verfasst wurden, die mehrheitlich 20 Jahre älter waren als die Beiträger des Ruf oder der Rundfunksender. 260
Zum Beweis wurden dafür auch Grundsatzartikel der SZ zitiert, unter anderem Franz Josef Schöninghs »Christentum und Sozialismus«. Das Feuilleton der SZ wie auch die politische Redaktion zeigten sich nicht irritiert von diesen Vorwürfen, auch nicht von der auffällig gestiegenen Auflage beispielsweise des Merkur (40 000 Exemplare bei geschätzten 5000 Stammlesern) oder Hinweisen, dass die Frankfurter Hefte im Buchhandel höchstens noch am Erscheinungstag zu bekommen seien. Diese sich darin manifestierende Aufbruchsstimmung schien die SZ nicht zu berühren. Ähnlich verhielt es sich mit der Reetablierung der Soziologie nach dem Krieg. Wissenschaftler wie Theodor W. Adorno, Arnold Gehlen, Max Horkheimer, René König, Helmuth Plessner und Helmut Schelsky erfuhren im SZFeuilleton nahezu keine Aufmerksamkeit, obwohl ihre Artikel und Bücher in aller Munde waren und die Soziologie zu der modernen Wissenschaftsdisziplin machten. Aus der Soziologie und der von ihr praktizierten Gesellschaftsanalyse entwickelte sich eine äußerst populäre Kulturkritik (»ein bevorzugtes Kind des geschriebenen wie gesprochenen Feuilletons«). Monika Boll verwies in diesem Zusammenhang auf den damals vorherrschenden Kulturpessimismus als einer Art self-fulfilling prophecy, der sich durch Begriffe wie Vermassung, Technizismus, Krise, »Verlust der Mitte« u. Ä. ausweise.232 Prominentester Vertreter der Kritik an dieser Form von Kulturkritik war Arnold Gehlen, der diese als »sehr weitgehend um die als Kritik auftretende Ideologie einer Schicht von Kulturträgern im überkommenen europäischen Sinne, welche in der technischen Gesellschaft in Gefahr gerät, sozial funktionslos zu werden«, begriff.233 Die heftige Diskussion über die »Klagemauer der Kulturkritik« (Schelsky) fand, wie gesagt, keine Resonanz im Feuilleton der SZ. Ähnliches galt für die Wirkungsgeschichte des 1951 neu gegründeten Instituts für Sozialforschung, den Ort der sogenannten Frankfurter Schule.234 Das Institut wurde 1923 in Frankfurt gegründet, 1933 von den Nationalsozialisten geschlossen. Seinem prominenten Lehrkörper, unter anderem Horkheimer, Adorno, Marcuse, Pollock, gelang es, in die USA zu emigrieren. Nach dem Krieg erging an Max Horkheimer die Einladung, das Institut neu zu gründen. Dies geschah 1951 als private Stiftung innerhalb der Universität Frankfurt mit Horkheimer als neuem Rektor. Das Institut griff, wie schon vor dem Krieg, auf die Theorien von Hegel, Marx und Freud zurück, was später als sogenannte Kritische Theorie bezeichnet werden sollte. Schwerpunkte waren von Anfang an die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage, die Probleme der politischen Neuordnung und der Nationalsozialismus als »Katastrophe der Humanität«. 261
Adornos Dialektik der Aufklärung (1947), Minima Moralia (1949), Studien zum autoritären Charakter (1950) vermitteln einen guten Einblick in das Denken der Frankfurter Schule, dem die deutschen Medien zunächst reserviert gegenüberstanden, weil sie sich mit der Akzeptanz der Verbindung von soziologischem und kulturkritischem Diskurs schwer taten. Auch stand das Institut während der Adenauer-Ära wegen seiner »Linkslastigkeit unter Generalverdacht«. Erweitert wurde das Spektrum des Instituts für Sozialforschung um die empirische Soziologie, vertreten besonders von Ludwig von Friedeburg, dem Nachfolger Max Horkheimers. Das Interesse der Medien bezog sich denn auch mehr auf den Musikphilosophen Adorno statt auf die mentalitäts- oder sozialgeschichtlichen Denkansätze zur Erforschung des Nationalsozialismus. Erst spät, nämlich zwei bis drei Jahre später als in den anderen Tageszeitungen, tauchen im Feuilleton der SZ 1958 Günter Blöckers Beiträge zu Theodor W. Adorno auf. Zum Institut für Sozialforschung allgemein und dessen Forschungen zum Nationalsozialismus äußerte sich die SZ gar nicht. Diese wenigen Hinweise auf Programminhalte der Rundfunksender wie auf die Geschichte bemerkenswerter Universitätsinstitutionen und verschiedener, in der Bundesrepublik breit diskutierter Themen sollen die Tendenz des SZ-Feuilletons sowohl in seinem Engagement als auch in der Nichtbeachtung illustrieren. Franz Josef Schöninghs private Situation während der Gründungszeit der SZ wurde zuletzt anhand seiner Tagebucheintragungen vom Oktober 1945 beleuchtet, worin er die Belastungen beim Wiederaufbau des Verlagsgebäudes in der Sendlinger Straße beschrieb. Seine Aufzeichnungen führte er nur sporadisch bis zum 18. August 1946 weiter, und sie sind lediglich hinsichtlich der Beziehung zu seiner Frau Irmgard aufschlussreich. Auch ein Abgleich mit dem Tagebuch seiner Tochter Karen gibt keinen Aufschluss über sein privates Dasein. Zwei Ereignisse während seiner Zeit als Chefredakteur der SZ haben ihn privat als auch beruflich tangiert. Die Vergangenheit holte ihn ein, als der israelitische Landesrabbiner in München, Dr. Aaron Ohrenstein, ihm Anfang November 1948 in seinem Büro einen Höflichkeitsbesuch abstattete. Ohrenstein war Mitglied des jüdischen Gemeinderats in Tarnopol gewesen, er überlebte jedoch, weil er versteckt wurde, während seine Angehörigen in Auschwitz und Treblinka umkamen. Schöningh erkannte ihn zunächst nicht, erst als sich Ohrenstein 262
vorstellte, »wir kennen uns doch aus Tarnopol, Herr Dr. Schöningh«, erblasste dieser (Schöningh meinte dazu in einem Brief an Dan Georg Bronner vom 22. November 1950, Ohrenstein wisse nur »in groben Umrissen« von ihm). Ernst Müller-Meiningen, Mitglied der Politikredaktion, gab diese Begegnung nach der Schilderung Ohrensteins in seinen Erinnerungen wieder.235 Ohrenstein, ein wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten umstrittenes Mitglied der israelitischen Kultusgemeinde, informierte Müller-Meiningen auch über die Deportation der Tarnopoler Juden in die Vernichtungslager. Schöningh, so Müller-Meiningen, versuchte am nächsten Tag, vor seinem Kollegen den Verdacht auf etwaige Zusammenhänge mit seiner Tätigkeit als stellvertretender Kreishauptmann mit der Bemerkung zu zerstreuen, er habe sich »auf Zeit aus der Weltgeschichte verabschiedet in die Wälder und Jagdgründe von Tarnopol«.236 Ganz gelang dies aber nicht. Denn noch Anfang 1951 musste sich Schöningh gegen Rufschädigungen mittels eines Anwalts zur Wehr setzen. Der Bayerische Rundfunk in Gestalt seiner Redakteure Pfeiffer-Belli, Kröpelin und Kolmsperger bezichtigte ihn erneut, an der Vernichtung der Juden Tarnopols mitgewirkt zu haben. Schöninghs Rechtsanwalt Staubitzer schaffte die Sache durch persönliche Ehrenerklärungen der Redakteure für Schöningh aus der Welt. (»Uns sind keine Tatsachen bekannt, nach denen Herrn Franz Josef Schöningh der Vorwurf gemacht werden könnte, er habe sich zu irgendeiner Zeit judenfeindlich betätigt. Dies gilt insbesondere auch für die Zeit, die Herr Schöningh während des letzten Kriegs im Kreis Tarnopol dienstlich tätig war.«) Auch Aaron Ohrenstein bestätigte unter Bezug auf das bereits zitierte, allgemein gehaltene Entlastungsschreiben Heinrich Bronners für Schöningh vom 15. Januar 1951, dass seitens der israelitischen Kultusgemeinde keine Bedenken mehr bestünden. Ohrenstein und Bronner kannten sich persönlich aus Tarnopol. Schöningh hatte zuvor Ohrenstein zu einer ausführlichen Aussprache über seine Tätigkeit in Tarnopol aufgesucht. Als Anlage des Schreibens Staubitzers an die Chefredaktion des Bayerischen Rundfunks, damals Radio München, Clemens Münster und Walter von Cube, mit Bitte um Widerruf der Redaktion, lag eine Erklärung bei, dass »zum Stellvertreter des Kreishauptmanns er schon deshalb nicht ernannt werden [konnte], weil er weder ein Mitglied der NS-Partei noch einer ihrer Gliederungen war«. In dem gleichen Stapel dieses Schriftverkehrs findet sich als gewissermaßen weitere Bestätigung hierfür ein Leserbrief des Chefredakteurs der Münchner Illustrierten, Hans Habe, in der jüdischen Emigrantenzeitschrift Aufbau (New York) vom 13. April 1951, worin er sich gegen eine Andeutung verwahrt, 263
Schöningh »habe die im Kreise von Kamionka wütenden Nazis unterstützt«. Auch Habe erklärt wortgleich, dass Schöningh nie Stellvertreter des Kreishauptmanns sein konnte, weil er niemals Mitglied der NSDAP war. Habe geht indes nicht auf den im Aufbau erhobenen Vorwurf ein, der seltsam anmutet, weil Kamionka Strumilowa eine eigenständige Kreishauptmannschaft war, die ab Ende 1942 von dem oben erwähnten KHM Joachim Nehring (NehringProzess) geleitet wurde und über welche die Kreishauptmannschaft Tarnopol keinerlei Befugnisse hatte. Als weiteren Entlastungsgrund fügte Rechtsanwalt Staubitzer in seinem Schreiben an den Bayerischen Rundfunk die Bemerkung bei, dass »im Juni 1945 Dr. Schöningh den Herren des ICD einen umfangreichen Bericht mit den dazugehörigen Unterlagen [vorlegte], in dem er über seine Tätigkeit in Galizien eingehend Auskunft gab. Der amerikanische Herr, der auf die Übergabe der Lizenz an Dr. Schöningh maßgeblich Einfluss hatte (Dr. Dunner), war selber Jude.« Dies schien Rechtsanwalt Staubitzer als Erklärung zu genügen. Das andere Ereignis, das Schöninghs beruflichen Weg verändern sollte, hatte indes »Affärencharakter«. Am 2. August 1949 verfasste W. E. Süskind unter dem Titel »Judenfrage als Prüfstein« einen Leitartikel über das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden. Dem zugrunde lag eine Rede des Gouverneurs für die amerikanische Zone, General McCloy, der dieses Verhältnis als »Feuerprobe für die deutsche Demokratie« bezeichnete. Süskind monierte den nach seiner Meinung noch immer, wenn auch nur bei einer Minderheit, bestehenden Antisemitismus, verurteilte aber auch das »wohltemperierte Schweigen« der Verantwortlichen zur Lage der nun in Deutschland lebenden Juden, »sei es aus Höflichkeit, sei es aus Verlegenheit, […] wir werden ärmer sein, wenn wir sie austreiben – austreiben, indem wir sie nicht halten, […] man muß moralisch eine besondere Rücksicht und Zartheit den Juden gegenüber walten lassen«. In Bezug auf diesen Artikel gingen sehr viele Leserzuschriften ein, überwiegend zustimmend, doch auch wüst antisemitische. Süskind wählte zum Abdruck als Beispiel eines noch grassierenden Antisemitismus den Leserbrief eines angeblichen Adolf Bleibtreu, München 22, Palästinastraße 33, aus. Die SZ übernahm daraus am 9. August 1949 ungekürzt folgende Meinung: »[…] ich bin beim Ami beschäftigt und da haben verschiedene schon gesagt, daß sie uns alles verzeihen, nur das eine nicht, und das ist: dass wir nicht alle Juden vergast haben, denn jetzt beglücken sie [die Juden] Amerika.« Die Überschrift auf der Titelseite der SZ zwei Tage später lässt die Emotionen ahnen, die durch diesen Vorgang geweckt wurden. »Jüdische Demonstration gegen die SZ – Blu264
tige Zusammenstöße hinter dem Friedensengel«. Tatsächlich wurden während einer regelrechten Straßenschlacht immerhin 21 Polizisten verletzt. Die SZ tat alles, um den Ruch eines Rassenhasses und Antisemitismus von sich zu weisen und die verantwortlichen Redakteure, Goldschagg als Chefredakteur und Süskind als Autor zu entlasten. Selbst die amerikanische Militärregierung sprach von einem bedauerlichen Vorfall, die Leserbriefveröffentlichung habe einen Mangel an »Urteilsvermögen und Geschmack« gezeigt, von Konsequenzen sah sie ab. Sowohl Goldschagg als auch Süskind versuchten sich zu rechtfertigen. Die übrigen Herausgeber äußerten sich entweder gar nicht oder brachten sich als Unbelastete in Position. Schöningh schrieb in der SZ nichts dazu, wohl aber in einem Brief an den früheren Reichskanzler Brüning auf dessen sorgenvolle Frage, wie er das zu verstehen habe: »Sie werden sicher gewesen sein, dass ich nicht in der Redaktion war, als der Bleibtreubrief veröffentlicht wurde.« Schöningh war während des Vorfalls auf der Rückreise seines USA-Besuchs auf dem Schiff und hielt nach Ankunft in Deutschland fest: »In Bremerhaven war der unglückliche Bleibtreubrief der SZ bereits das Trambahngespräch, als ich dort ankam.« Werner Friedmann weilte während des Skandals in Rom, kehrte unmittelbar darauf zurück und gab seiner »Bestürzung« zunächst in der ihm gehörenden Abendzeitung Ausdruck. In der SZ beklagte er als Einziger, dass man den Leserbrief kommentarlos abdruckte. Der Bleibtreubrief hatte aber auch noch einen weiteren Aspekt, der in den Medien ebenso aufgegriffen wurde. Der zeitweilige Prager Korrespondent der SZ, Walter Tschuppik, verbreitete das Gerücht, dass Friedmann selbst den Bleibtreubrief verfasst habe oder verfassen ließ. Mittels einstweiliger Verfügung wurde diese Behauptung untersagt, was Tschuppik allerdings nicht hinderte, als Chefredakteur der Süddeutschen Allgemeinen am 29. Oktober 1950 die SZ-Gesellschafter insgesamt zu diskreditieren, indem er ihnen bei der Übernahme der Knorr & Hirth-Anteile Bereicherung in Millionenhöhe vorwarf und auch unterstellte, dass der Süddeutsche Verlag (SV) verkauft werden sollte. Auch dies wurde ihm durch eine einstweilige Verfügung untersagt. Die Folge der Affaire Bleibtreu bildete ein personelle Umbesetzung: Der unbelastete Werner Friedmann wurde alleiniger Chefredakteur und löste damit Edmund Goldschagg ab. Franz Josef Schöningh oblag nunmehr die verlegerische Führung der Redaktionen der SZ, der Münchner Illustrierten und der Sonntagspost in organisatorischer und personeller Hinsicht, er wurde damit zum weiteren Geschäftsführer bestellt. In dieser Funktion agierte er trotz des allgemeinen Sparzwangs in redaktionel265
len Belangen zuweilen erstaunlich großzügig. Joachim Kaiser, seit Januar 1959 Mitglied der Feuilletonredaktion der SZ, hält in seinen Erinnerungen fest, dass er nahezu mittellos mit seiner jungen Frau auf Wohnungssuche war: »Sie ging zu Herrn Schöningh […] und bat um einen Vorschuss. Er gab ihr 5000 DM! Nur auf ihr Aussehen hin, sie musste nicht einmal einen Ausweis zeigen, nichts. Dann zogen wir in eine Zweizimmerwohnung in der Schellingstraße 101, Rückgebäude.« Umgekehrt beklagten Mitarbeiter eine gewisse verlegerische »Knausrigkeit«, wie sich beispielsweise Ernst Müller-Meiningen angesichts einer jungen Mitarbeiterin erinnerte, die ebenfalls mit der Bitte um einen Vorschuss von Schöningh mit einer Schachtel Zigaretten und dem Zitat Rainer Maria Rilkes »Armut ist ein großer Glanz aus innen« verabschiedet wurde. Seine neue Aufgabe als Verlagsleiter ging einher mit seinem zunehmend nachlassenden Impetus, überhaupt noch für die Zeitung zu schreiben – die Abstände zwischen seinen Artikeln wurden immer größer. 1953 zählte man nur noch fünf kleinere Artikel, 1954 nur einen Nachruf und 1955 fünf Artikel vorzugsweise in den Wochenendausgaben. 1956 verfasste er für die SZ überhaupt keine Beiträge, 1957 eine Erzählung, die er allerdings schon in den Nachkriegsjahren verfasst hatte, sowie zwei Geburtstagswürdigungen. Edmund Goldschagg blieb der SZ noch bis in die 1960er-Jahre als Journalist erhalten; auch in der Abendzeitung schrieb er ab und zu Kommentare. Bis zu seinem 75. Geburtstag 1961 nahm er regelmäßig an den Redaktionskonferenzen teil. Wegen seiner Beliebtheit im Haus war er prädestiniert, den Verlag zu vertreten, so bei innerbetrieblichen Jubiläen, Geburtstagen, doch auch bei Empfängen ausländischer Besucher, im Verlegerverband oder bei gemeinnützigen Organisationen. Sein sozialdemokratisches Engagement verlor er nie, noch in den 1960er-Jahren charakterisierte ihn der außenpolitische Ressortchef Immanuel Birnbaum als »linken Flügelmann in der Leitung der Redaktion«. Am 7. Februar 1971 starb dieser im SV so ungemein populäre Gesellschafter. Fast gleichzeitig mit Edmund Goldschagg schied auch August Schwingenstein im Alter von 70 Jahren als aktiver Mitgesellschafter aus. Er zog sich in sein Jagdhaus bei Wildsteig, in der Nähe der Wieskirche, zurück. Er starb am 5. November 1968 im Alter von 87 Jahren. Er wünschte sich, dass ihn die Nachwelt als »gerecht und wahr und ein Freund aller« im Gedächtnis behalten sollte. Hans Dürrmeier hielt in seiner Grabrede fest, dass dieser Wunsch im Namen des SV in Erfüllung gegangen sei. Nach seinem Rückzug wurde er in den Alltagsgeschäften von seinem Sohn Alfred vertreten, der ihn, wie wir gesehen haben, ja schon seit Gründung der 266
Alfred Schwingenstein begleitete seinen Vater bei den Geschäften der SZ von Anfang an, formal wurde er aber erst 1961 Gesellschafter des Süddeutschen Verlages. (SZ-Photo: Heinz Hering)
SZ begleitet hatte. Formal trat Schwingenstein jedoch erst am 26. Mai 1961 als Gesellschafter des SV die Nachfolge seines Vater an, der ihm kurz nach seinem 80. Geburtstag seine Anteile am SV überschrieb. Doch Schwingenstein wurde gleichzeitig auch von anderen Interessen gelenkt, denn er wollte unbedingt sein volkswirtschaftliches Studium, das er im Kriege unterbrechen musste und nur kurz im Wintersemester 1947 / 48 wieder aufnahm, abschließen. Die Geschäftsführer Schöningh und Dürrmeier hatten dafür vollstes Verständnis. 1957 schloss er das Studium ab, promoviert wurde er 1962. Von 1976 bis 1979 führte er den Vorsitz der Gesellschafterversammlung. Ebenfalls in diesen Jahren engagierte er sich stark in österreichischen Belangen, 267
er fungierte als Aufsichtsrat in der Wiener Tageszeitung Kurier und trat als Kommanditist in den Verlag der katholischen Wochenzeitung Die Furche ein, nachdem diese Mitte der 1970er-Jahre in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war. Er galt allseits als sehr verlässlicher, herzlicher, bescheidener Verleger, der Österreich als seine Wahlheimat empfand. Seine Passion hatte er vom Vater geerbt: Ähnlich wie bei Schöningh drehte sich bei ihm alles um die Jagd. Er starb 1998. Eigentlicher Verlagsgeschäftführer (ab 1949) war aber der 1899 im südbadischen Haltingen geborene Hans Eigentlicher Verlagsgeschäftsführer war ab Dürrmeier, der 1952 als weiterer 1949 Hans Dürrmeier, der 1952 als weiterer Gesellschafter hinzukam. Dürrmei- Gesellschafter hinzukam. er führte die Geschäfte zusammen mit Alfred Schwingenstein. Ursprünglich den amerikanischen Militärbehörden suspekt wegen ungeklärter NS-Nähe, infolgedessen Dürrmeier auch als »Belasteter« geführt wurde und bis 1948 nur als einfacher Büroangestellter arbeiten durfte, erkannte man doch seine Fähigkeiten, die er schon bei Knorr & Hirth in den 1930er-Jahren unter Beweis stellte. Nach Schöninghs Tod im Dezember 1960 wurde er alleiniger Verlagsleiter. Herbert Heß weist in seiner Chronik 50 Jahre Süddeutsche Zeitung darauf hin, dass der Aufstieg des Verlags aus den durch Mangelwirtschaft, zunächst noch unsicheren Besitzverhältnisse und Währungsreform gekennzeichneten Anfängen zum großen Teil das Werk Hans Dürrmeiers gewesen sei. Es wurde bereits erläutert, dass er aus seiner Zeit als stellvertretender Geschäftsführer des SZ-Vorgängerunternehmens Knorr & Hirth über große Erfahrungen mit Zeitungsverlagen verfügte. Der SZ kamen diese insbesondere im Anzeigensektor zugute (Dürrmeier war unter anderem bei Knorr & Hirth von 1929 bis 1931 Anzeigenleiter). Auf Basis eines gesteigerten Anzeigenverkaufs, des Ausbaus des Vertriebs und einer Auflagensteigerung sah er sich verpflichtet, auch für die Qualität der Zeitung zu sorgen. So wurde bereits frühzeitig ein 268
Teil der Einnahmen in die Redaktion investiert. Ein Fundament, über das sich die SZ sehr glücklich schätzen konnte, denn der spezifische redaktionelle Freiraum der Nachkriegszeit hatte hier seine Wurzeln. Dürrmeier empfand sich nach eigenen Aussagen genauso als Verleger, er sei »ein Mittler zwischen Geist und Materie, zwischen Wort und Tat«. Herbert Heß zitiert eine mündliche Aussage: »Verleger dürften keineswegs den Eindruck erwecken, […] es gehe ihnen lediglich um Gelderwerb.« Die publizistische Qualität lag ihm genauso am Herzen wie die ökonomische FürWerner Friedmann war ab 1946 Mitherausge- sorge. So wuchs die SZ unter seiner ber und von 1951 bis 1960 Chefredakteur der »energischen und weitsichtigen« Süddeutschen Zeitung. Geschäftsführung, so Chronist Heß, von einem ursprünglich eher lokal orientierten Blatt schnell zu einer überregional und dann auch international verbreiteten Zeitung. Die Jahre, in denen Werner Friedmann als Chefredakteur der SZ tätig war, waren gekennzeichnet durch sein Engagement für Demokratie und Toleranz. Damit erhielt die SZ einen neuen, moderneren Anstrich, der sie attraktiv für ein liberales und soziales Bürgertum machte. Auch das Themenspektrum erweiterte sich erheblich. Die Aura der SZ als linksliberale Zeitung war entstanden, was ihr indes keinen Abbruch tat, nichtsdestotrotz zuweilen sehr konservative Ansichten, wie zum Beispiel in Erziehungsfragen, zu vertreten. Insgesamt gesehen war es diese Mischung zwischen aufgeklärtem Konservatismus, linksliberalem Denken und der Verwurzelung bei ihren bayerischen Stammlesern, welche die SZ so unverwechselbar machte und damit auch ihre ständig steigende – vor allem überregionale Auflage – bedingte. Schnell waren die »Gallionsfiguren« der Zeitung wie das »Streiflicht« oder die spezifischen Reportagen auf der »Die Seite Drei« in aller Munde. Friedmann blieb seiner Vorstellung, welches die für ihn wichtigsten Funktionen der Presse seien, 269
treu. Er nannte »zur Demokratie und Meinungsfreiheit zu erziehen« genauso wie »zur Toleranz und Achtung vor Religion und Rasse«. Sein journalistisches Credo, »das Entscheidende ist keineswegs die Lust zu fabulieren […], sondern das Vermögen, ein Gespür für das öffentliche Interesse zu haben, richtig zu sehen, richtig zu hören, und all das unverzerrt in gedrängter Form zu Papier zu bringen, was man am richtigen Ort gesehen und gehört hat«, versuchte er auch schon 1948, in der von ihm gegründeten Abendzeitung zu etablieren. Dem Hunger der Münchner nach Information und Unterhaltung und damit nach einer frischen, jungen, unkonventionellen Boulevardzeitung folgend, unterbreitete er den amerikanischen Besatzungsbehörden den Vorschlag einer Boulevardzeitung, den diese sofort akzeptierten. Am 16. Juni 1948 erschien die erste Abendzeitung mit Werner Friedmann als Chefredakteur. Einen Teil des Erlöses investierte Friedmann Anfang 1949 in das nach ihm benannte Werner-Friedmann-Institut, die erste unabhängige Journalistenschule Deutschlands. Vorbild war die Graduate School of Journalism in New York, die er während seiner USA-Reise im Jahr zuvor kennengelernt hatte. Auf die erste öffentliche Ausschreibung hin, Schüler an dieser Schule zu werden, meldeten sich 1700 Bewerber, von denen vier Frauen und 17 Männer ausgewählt wurden. Viele Absolventen der später in »Deutsche Journalistenschule« umbenannten Einrichtung wurden bekannte Redakteure der SZ. Bezeichnend für sein Sozialverständnis war nach seinem Wechsel in die SZ-Redaktion 1949 seine Initiative, einen »Adventskalender für gute Werke« ins Leben zu rufen – eine Einrichtung, die sich bis heute mit großem Erfolg gehalten hat. Friedmann bezeichnete sich selbst als parteipolitisch unabhängig, stand aber der SPD nahe. So unterstützte er zum Beispiel 1960 entschieden den Wahlkampf des erst 34 Jahre jungen Hans-Jochen Vogel als Nachfolger Thomas Wimmers zum Oberbürgermeister Münchens. Für die in Bayern regierende CSU war er jedenfalls das klassische Feindbild. Im gleichen Jahr endete auch die Ära Friedmann. Ursache war nach den Worten Müller-Meiningens im Frühjahr 1960 eine kleine Schiedsgerichtsstreiterei unter den Gesellschaftern. Friedmann, dem seine Mitgesellschafter »wie Bleigewichte an den Füßen hingen«, artikulierte moralische Bedenken gegen Alfred Schwingensteins Lebenswandel. Schwingensteins Anwältin Marianne Thora entgegnete mit einem Seitenhieb auf das in München allseits bekannte Verhältnis Friedmanns zu einer Verlagsangestellten. Die Sache eskalierte, Schöningh forderte Friedmann auf, im Interesse des Rufs des Süddeutschen Verlags Verleumdungsklage gegen Frau Thora zu erheben, was dieser auch tat. Auch gegenüber Schöningh bestritt Friedmann die Existenz einer solchen 270
Beziehung, der über diese Lüge Friedmanns sehr empört gewesen sein soll. Schöningh wusste aber bereits spätestens seit Mitte 1959 durch das von Alfred Schwingenstein und ihm beauftragte Detektivbüro Gentner von dieser außerehelichen Beziehung Friedmanns. Die Rechtsanwältin Thora wurde von dem über die gesellschaftliche Szene Münchens bestens informierten Anwalt Otto Gritschneder vertreten und obsiegte in zwei Instanzen.237 Der Fall schlug in den Medien hohe Wellen, auch weil es sich hier um den Straftatbestand der Kuppelei handelte (in einer spitzfindigen juristischen Ausformung, nämlich der »Anstiftung zur Kuppelei zugunsten seiner selbst«, die immerhin vom BGH abgesegnet war!), den Friedmanns renommierter Bonner Verteidiger Hans Dahs für von der Zeit überholt hielt und der noch heute ein Licht auf die Moralvorstellungen der 1960er-Jahre wirft. Und auch, weil Friedmann spektakulär aus der Redaktion heraus verhaftet wurde. MüllerMeiningen beschreibt jedenfalls die Freude der herrschenden CSU und der Kirche über die Entmachtung Friedmanns, welcher der Partei ein Dorn im Auge war wegen seiner liberalen Grundauffassungen und Ablehnung der Remilitarisierung: »Augenzeugen wollten damals erlebt haben, wie kurz nach der Verhaftung Friedmanns zu Oberammergau bei Eröffnung der Passionsspiele F. J. Strauß und Weihbischof Neuhäusler sich mit Freudentränen in den Armen gelegen seien.« Müller-Meiningen konnte dies aber weder bezeugen noch dementieren. Werner Friedmann zog sich nach seiner Verurteilung wegen Anstiftung zu fortgesetzter Kuppelei zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verbittert für ein Jahr nach Rom zurück. Seine Verbitterung hatte ihren Grund in den Umständen der Anklageerhebung. Der sich durch wahren Übereifer auszeichnende Leitende Staatsanwalt Jörka ließ es zu, dass, noch ehe die Strafkammer den Beschluss zur Anklageerhebung fasste, der Entwurf der Anklageschrift der Presse zugespielt wurde. Daraus war zu entnehmen, dass Friedmann wegen fortgesetzter Unzucht mit Abhängigen vor Gericht gestellt werden sollte, und detailliert stand darin zu lesen, in welcher Weise er sich derart vergangen habe. Der damalige Zeit-Redakteur Theo Sommer qualifizierte dies als »juristische Pornographie« und sprach von »Rufmord von Amts wegen«. Friedmanns Anwalt Hans Dahs sprach von einer politische Kampagne sowie von Doppelmoral. Bedingt durch ein zweites Ermittlungsverfahren desselben Staatsanwalts, das aber nach wenigen Tagen eingestellt wurde, verlangten die SZ-Gesellschafter, Friedmann solle seine Verlagsanteile in Höhe von 22,5 Prozent an die Gesellschafter veräußern. Von Italien aus gedachte er sich dieser Ausbootung zu widersetzen: Er plante zusammen mit dem Verle271
ger Helmut Kindler, dem Eigentümer des Kindler Verlags und der Zeitschrift Revue, aus seiner Abendzeitung eine Münchner Tageszeitung nach dem Vorbild des auflagenstärksten Pariser Blatts France Soir zu machen. Der Nervosität der Mitgesellschafter wegen der bedrohlichen Attacke geschuldet, ließ Verlagsgeschäftsführer Dürrmeier einen Kompromiss schmieden, wonach Friedmann auf jede Funktion im SV und auf die persönliche Ausübung seiner Gesellschafterrechte und die Gesellschafter auf die Übernahme der von ihnen begehrten Friedmannschen Geschäftsanteile verzichten sollten. Das alles fand aber erst 1961 nach Franz Josef Schöninghs Tod statt. Leidtragende dieser Affaire war insbesondere Friedmanns Frau Anneliese. Bekannt war diese als Reporterin für Frauen- und Modefragen und auch zeitweilige stellvertretende Leiterin der Lokalredaktion unter ihrem Mädchennamen Anneliese Schuller. Sie hatte Kunstgeschichte und Journalismus studiert und schrieb ab 1960 im Stern eine wöchentliche Kolumne unter ihrem Pseudonym »Sibylle«, der ihren Bekanntheitsgrad noch erheblich steigerte. In einem Antwortschreiben an Schöningh vom 12. September 1960 erinnerte sie ihn an dessen eigene Worte, der »Pflicht zur Caritas«, die er nicht eingelöst habe. Sie bedankt sich darin für dessen ihr und ihrer Familie versicherte Loyalität, bittet ihn aber zu bedenken, dass diese »meine Familie, meine Kinder und meinen Mann einschließt«. Verurteilt wegen einer höchst fragwürdigen Anstiftung zur Kuppelei wurde in dem Friedmann-Prozess aber auch der Schriftsteller und Mitarbeiter der SZ, Siegfried (Siggi) Sommer, der Friedmann für die Rendezvous seine Wohnung zur Verfügung gestellt hatte. Sommer schrieb nach seiner Verurteilung nur noch für die Abendzeitung. Er verfasste legendäre Kolumnen über München unter dem Titel »Blasius, der Spaziergänger« und wurde so zu einer Ikone der Stadt. Seine Position als Chefredakteur, nicht aber als Mitgesellschafter der SZ, gab Friedmann in der Folge auf, sein Nachfolger wurde der eher kulturpolitisch orientierte, hochgebildete Hermann Proebst, der vom 21. Mai 1960 bis zu seinem Tode am 15. Juli 1970 amtierte. Werner Friedmann starb 1969 nur wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag. Hermann Proebst wurde vom Leiter der Innenpolitik, Hans Schuster, als »human, gescheit, belesen, gebildet, historisch interessiert, musikliebend, gesellschaftsfreudig« charakterisiert, gleichzeitig wurde er allgemein als wenig machtpolitisch eingeschätzt. Legendär waren seine Ausführungen auf der großen Redaktionskonferenz am Montag, wenn er über Mozart und die Weltpolitik dozierte und um Meinungen über die letzte Opernpremiere im Prinz272
Friedmanns Nachfolger als Chefredakteur wurde Hermann Proebst, der von 1960 bis 1970 amtierte. (SZ-Photo: Fritz Neuwirth)
regententheater bat. 1929 arbeitete er für den Berliner Rundfunk, stand dem Nationalsozialismus distanziert gegenüber und wurde deshalb auch 1938 als politisch unzuverlässig aus dem Rundfunk entlassen. Er stand Hans Zehrers linkskonservativer Zeitschrift Die Tat nahe, deren Autor er auch war. Danach verdingte er sich als Korrespondent und Journalist für Südosteuropa und gab während des Krieges die Zeitschrift Die neue Ordnung des faschistischen Kroatenführers Ante Pavelić heraus. Nach dem Krieg war er zunächst außenpolitischer Redakteur des Rheinischen Merkur, in den Jahren 1948 / 49 Leiter der Presseabteilung der Bayerischen Staatskanzlei, bis er zur SZ als Innenpolitiker wechselte.
Immer wieder wurde versucht, den Erfolg der SZ in den 1950er-Jahren anhand ihrer Spezifika zu definieren. Grundsätzlich waren sich dabei alle Kommentatoren der Jubiläumsbeilage vom 6. Oktober 1970 einig, dass es die Melange »münchnerisch, deutsch, europäisch und liberal«, so Golo Mann, sei, welche die SZ auszeichne. Hermann Proebst ergänzte in seinem Beitrag »Idee und Weg einer Zeitung« diese Etiketten noch um die föderalistische Grundhaltung und eine in Bayern seit jeher vorherrschende »liberale Wohltemperiertheit«, die ab Ende der 1950er-Jahre durchaus auch die Form eines linksliberalen Denkens zuließ; zu Recht verwies er auch auf die ebenfalls ab dieser Zeit sich herausbildenden redaktionellen Neuerungen. Schon das von Schöningh ins Leben gerufene »Streiflicht« auf der Titelseite galt als ganz besonderes Markenzeichen der SZ. Legendär wurde auch »Die Seite Drei« mit ihren Reportagen und Features als Musterbeispiele für populäre Texte wie auch politisch relevante Berichterstattung. Proebst erwähnte in seinem Beitrag insbesondere auch den Aufbau des weltweit ersten eigenen Auslandskorrespondentennetzes, das der SZ nicht nur »eine dokumentarische Bedeutung als Informationsquelle« ver273
schaffte, sondern auch einen ganz besonderen Rang unter den konkurrierenden Tageszeitungen. Deutlich war dies an der Resonanz auf die »Seite Drei«Artikel des SZ-Chefkorrespondenten Hans-Ulrich Kempski abzulesen. Etwas launisch umschreibt der durch Initiative von Erich Kuby engagierte und ab 1959 als prägende Gestalt für das Feuilleton tätige Joachim Kaiser den Umbruch dieser Redaktion: »Eben litten die Feuilletonisten noch unter der freundlichen Zweckfreiheit ihrer Existenzen – jetzt sahen sie sich plötzlich in
Das Redaktionsgebäude der Süddeutschen Zeitung 1951.
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die Rolle von Königen gedrängt, deren Reich immer größer und unübersichtlicher wurde, weil man jahrzehntelang nicht hatte durchdenken wollen, wo soziologische Signifikanz, künstlerisch-ästhetische Qualität, elitärer Anspruch und rapide Bewußtseinsmanipulation sich eigentlich schneiden oder berühren. Und wie das Feuilleton seine jeweiligen Eingriffe begründet.« Kaiser meinte damit den unspektakulären, eher glanzlosen Feuilletonteil der 1950er-Jahre, der überwiegend von älteren, konservativen Autoren bestritten wurde. Dass Schöningh bei der Auswahl seiner Autoren besonders auf die Mitarbeiter des Hochlands zurückgriff, wurde bereits erwähnt. Ende der 1950er-Jahre wies das Feuilleton dagegen Redakteure aus, deren Namen überall in Deutschland geläufig waren (K. H. Ruppel, Hans Mollier, Doris Schmidt, Ivan Nagel, Karl Schumann, George Salmony, Peter M. Bode, Urs Jenny, Benjamin Henrichs und die vielen Buchrezensenten wie Reinhard Baumgart, Ivo Frenzel, Günter Blöcker). Der öffentlichen Wahrnehmung der SZ als qualitativ hochstehendes, meinungsfreudiges wie unterhaltsames Blatt entsprachen die Herausgeber mit der Beilage der »SZ am Wochenende«. Überhaupt wurden die Sonderbeilagen und Sonderseiten der SZ sehr positiv angenommen, verfolgt man die damaligen Leserzuschriften auf das Erscheinen der »Seite für die Frau«, »Literaturbeilage«, »Alpine Seite«, »Reise und Erholung«. Schrittweise erhöhte sich auch die Seitenzahl der SZ pro Jahr. Von kümmerlichen 142 Seiten im Jahr 1945 bis zu stolzen 9150 Seiten Ende 1960 zeigt sich das rapide Wachstum. Wohingegen die Druckauflage abgesehen von den ersten fünf Jahren – Startauflage 1945: 403 833 Exemplare, dann Reduktion auf 208 823 Exemplare im Jahr 1950 – relativ konstant blieb. Ab 1951 lag die Druckauflage bei guten 200 000 Exemplaren, 1960 bei 221 289 Exemplaren, die sich erst ab 1961 auf rasant gestiegene knappe 300 000 im Jahr 1970 erhöhte. Die Zeitung war da angekommen, wo ehedem Oberst McMahon bei der Gründungsversammlung der neuen SZ-Gesellschafter hoffte, dass sie »das bedeutendste Blatt des neuen Deutschland werden könne«. Dem entsprach auch das Personalwachstum des Süddeutschen Verlags – zählte man im Oktober 1945 382 Mitarbeiter, so waren es fünf Jahre später bereits 1774. Auch über den redaktionellen Bereich hinaus versuchten Zeitung und Verlag, zahlreiche soziale und politische Anstöße zu geben, wie die Schaffung eines »Fonds für den kulturellen Wiederaufbau der Stadt München«, »Patenschaft für Ausgebombte«, 1948 der »Adventskalender für gute Werke«, 1949 die Gründung des »Verkehrsparlaments der SZ«, welches laufend Impulse für Verkehrs- und Städteplanung geben sollte, 1950 die »SZ-Sportförderung«. Im selben Jahr entschloss sich der Verlag, eine eigene Buchverlagssparte 275
durch den Kauf des List-, Südwestverlags unter dem Label des Süddeutschen Verlags zu etablieren. Auch übernahm der SV aus Gründen der Leserbindung den Münchener Stadtanzeiger; aus ähnlichen Gründen erfolgten 1955 die Gründung und Beteiligung am Verlag Bayerische Staatszeitung München. Weitere fünf Jahre später erfolgte der Kauf des kartografisch führenden Verlags Karl Wenschow. Unter der Chefredaktion von Hans Habe erschien im Herbst 1950 erstmals die Neue Münchner Illustrierte, um das visuelle Bedürfnis der Leser besser zu befriedigen. Die Illustrierte wurde im Oktober 1960 an den Burda-Verlag verkauft. Der Aufstieg der SZ zu einer auch überregional wirkungsmächtigen Tageszeitung erfolgte indes erst nach Schöninghs Tod. Ab Mitte der 1970er-Jahre nahm sie im Zuge der die politischen Adenauer-Verkrustungen der Bonner Republik aufbrechenden 68er-Bewegung eine bedeutende Position ein.
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