Hans U. Brauner und Manfred Osten ∙ Es gilt das gebrochene Wort
Hans U. Brauner und Manfred Osten
»Es gilt das gebrochene Wort« Das Ende der Glaubwürdigkeit?
September 2013 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © Buch&media GmbH, München Satz und Layout: Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Eckhard Egner, Esslingen Printed in Europe · isbn 978-3-86906-575-5
Inhaltsverzeichnis 1.
Einführung: Anlass und Motiv unserer skeptischen Vermutungen: Spannungsverhältnis zwischen Vertrauen und Misstrauen sowie Sinn und Nicht-Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.
Über das Erinnern, Verdrängen und Vergessen in Glaubwürdigkeitskrisen: Gespräch Manfred Osten – Hans U. Brauner . . . . . . . . . . . 22
3.
Wir sind Normalitäts- und Krisenwesen . . . . . . . . . . . . . . . 36
4.
Normalitätswandel in Glaubwürdigkeitskrisen . . . . . . . . . . 41
4.1 Veränderungen von Machtarchitekturen, Wahrhaftigkeit, Zeitbezogenheit und Asymmetrieverhalten? . . . . . . . . . . . . 43 4.2 Handlungslogik: Vom »Entweder-oder« über ein »Sowohl-als-auch« zum »Und-dennoch«? . . . . . . . . . . . . . . 49 4.3 Paradigmenwechsel von Normalitäten der Sieger und Besiegten in Politik und Wirtschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 4.4 Diagnosen unterschiedlicher Beobachter . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.5 Das Fallbeispiel »Why I Left Goldman Sachs« von Greg Smith (2012): Neue Normalitäten glaubwürdiger Führungskultur als Verursacher von Krisen? . . . . . . . . . . . . 52
5.
Kulturelle Due Diligence: Kontamination von Glaubwürdigkeit in Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
5.1 Soziale Binde- und Trennkräfte der Glaubwürdigkeit . . . . . 67 5.2 Verschmelzung von Glaubwürdigkeit mit Unglaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5.3 Zu vermutende Ursachen der Kontamination . . . . . . . . . . . 77 6.
Alarmdilemma: Alte oder neue Normalitäten von Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
6.1 Bedrohliche Einschätzungen von Vertretern der Ordnungspolitik und Finanzwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 6.2 Die alarmierende rote Linie: Wie glaubhaft ist Glaubwürdigkeit noch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6.3 Verschmelzung von alter Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit zu neuen Normalitäten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 6.4 Wünschbare Ideen und alarmierende Wirklichkeit der Währung Glaubwürdigkeit von Regierungen und Unternehmensführungen: Fälle und Fallen von Entgrenzung und Kontamination durch Unglaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . 98 6.5 Eigeninteressen der Regierungen vs. Europa-Interessen . . . . 101 6.6 Pannen des unglaubwürdigen Verfassungsschutzes und Konsequenzen des Präsidenten Heinz Fromm . . . . . . . . . . . 104 6.7 Unglaubwürdige Gesetze werden durch Reparaturen von BGH und BVG glaubwürdig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 6.8 Von der bisherigen regelbasierten zur prinzipiengeleiteten Aufsicht über Bankengruppen: Ein glaubwürdiges Modell für eine europäische Bankenunion mit zentraler Aufsicht durch die EZB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 6.9 Korruptionsfall des Ex-Risikovorstandes der BayernLB, Gerhard Gribkowsky, und seines Partners und Gegenspielers, des Formel-1-Chefs Bernie Ecclestone . . . . . . . . . . 110
6.10 Glaubwürdigkeitsschäden der Investmentbank Morgan Stanley durch den Verkauf der EDF-Aktien an das Land Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6.11 Manipulation des Libor-Zinssatzes 2008–2012 durch Banken: Bestätigung von Stereotypen? . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.12 »Whistleblowing« – eine normale, glaubwürdige ComplianceKontrolle oder eine abnormale, unglaubwürdige, diskriminierende Denunziation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 7.
Entwarnungsdilemma: Entgrenzungen der Glaubwürdigkeit nur ein normaler Fall des verhaltenswissenschaftlichen Informationsmodells? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
7.1 Abweichungen (»Biases«) vom rationaltheoretischen Verhaltensmodell (»Homo Oeconomicus«) durch fehlerhafte Informationsaufnahme: Überlastung und Desinformation? . 119 7.2 »Biases« durch fehlerhafte Informationsverarbeitung: Überoptimismus, Kontrollillusion und zeitlich inkonsistente Präferenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 7.3 Normale Verstrickungen (»Biases«) als Motor für die Kontamination der Glaubwürdigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 8.
Rettung einer kontaminierten Glaubwürdigkeit? . . . . . . . . 127
8.1 Stärkung der Glaubwürdigkeit durch neue kritische Deutungen des »Homo Oeconomicus« von Frank Schirrmacher und Sedláček / Orrell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 8.2 Stärkung der Glaubwürdigkeit durch eine polarisierende Unglaubwürdigkeit: Asymmetrisches Argumentieren, Stegreifkultur von Minoritäten, Literaten oder »Hofnarren« . 129 8.3 Stärkung der Glaubwürdigkeit durch Projekte des »Kulturwandels von oben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 8.4 Hoffnungs- und Rettungsanker: Glaubwürdige Vorbilder . 135
Verwendete Literatur (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Autorenprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
»Die Aufforderung ›Sag die Wahrheit!‹ bedeutet ... keineswegs eine Sicherheit, dass auch die Wahrheit gesagt wird. Den Mut zur Wahrheit charakterisiert Foucault als die philosophische Form, die Wahrheit zu sprechen, mit dem altgriechischen Wort ›parrhesia‹. Dessen strukturelle Merkmale sind: Offenheit, Engagement, Risiko.« Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel (Herausgeber von MERKUR. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 2011)
»›Das tut man nicht!‹ ist ein kaum noch gehörter und noch weniger gelebter moralischer Imperativ. Gerade darum geht es mir seit vielen Jahren. Menschen, nicht Institutionen sind moralische Akteure.« Hans Küng, Professor em. für Ökumenische Theologie an der Universität Tübingen und Präsident der Stiftung Weltethos (In: Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht, München 2010)
1. Einführung: Anlass und Motiv unserer skeptischen Vermutungen: Spannungsverhältnis zwischen Vertrauen und Misstrauen sowie Sinn und Nicht-Sinn
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ie provozierende Vermutung »Es gilt das gebrochene Wort« mit der warnenden skeptischen Frage »Das Ende der Glaubwürdigkeit?« als Titel unseres Essays zu verbinden, gilt der Absicht, einen Paradigmenwechsel zu verhindern (oder wenigstens zu bremsen), wonach Unglaubwürdigkeit als normal akzeptiert und gesellschaftlich selbstverständlich wird. Diesen Wechsel als »neue« Normalität zu verstehen, ist ein Zeichen des Kulturwandels nach dem Motto »Arrangiert euch mit der Unordnung! Sie ist die neue Ordnung«1, wie es Simon Book gelehrt hat. Dieses Spannungsverhältnis von alten und neuen Normalitäten der Glaubwürdigkeit veranlasst uns, mit Vernunftvertrauen eine Auseinandersetzung mit existenziellen Krisenerfahrungen von Unglaubwürdigkeiten zu wagen. Wir geben selbstverständlich mit unserem Essay »nicht eine abschließende Beschreibung, sondern suchen einen Anfang, das Gespräch zu öffnen und weiterzuführen«2 , wie es der Baseler Philosophieprofessor Emil Angehrn in seiner Abschiedsvorlesung am 3. Dezember 2012 für die Philosophie eingefordert hat. Wir zitieren in diesem Kontext respektvoll die Forderung von Bundespräsident Joachim Gauck: »Europa braucht keine Bedenkenträger, sondern Bannerträger«, die er in seiner Rede zum Anfang des »Bellevue Forums« am 22. Februar 2013 in Berlin gehalten hat. Wir fühlen uns im weiteren Book, Simon: Was wirklich zählt, in: Handelsblatt vom 10. / 12. Mai 2013, S. 48. Angehrn, Emil: Der Weg ins Offene. Über das Vertrauen, das die Philosophie in die Menschen und in die Welt setzt. Abschiedsvorlesung in Basel, in: NZZ vom 23. Februar 2013, S. 29.
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Sinne als »Bannerträger« für ein Urvertrauen angesprochen und polarisieren positiv mit unseren kritischen Vermutungen zur wachsenden Unglaubwürdigkeit. Wir argumentieren deshalb auch in der Kampagne, die zurzeit von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und seinem Gegenspieler Peer Steinbrück gemeinsam gegen Anshu Jain, den CoChef der Deutschen Bank, geführt wird, zunächst für Anshu Jain, nicht weil wir ihn für glaubwürdig oder unglaubwürdig halten, sondern weil es bei der Rechtsnorm »in dubio pro reo« bleiben muss und nicht kontrovers populistisch zu »in dubio contra reo«3 führen darf. Mit dem Spannungsverhältnis von Vertrauen und Misstrauen kann man das »Wechselspiel von Sinn und Nicht-Sinn«4 verbinden, um das aktuelle Thema Glaubwürdigkeit in Politik und Wirtschaft besser einzuschätzen. Wir versuchen, in diesem Kontext »ein Verstehen aus dem negativen und Nicht-Verstehbaren, vom Fehlen und Entzug des Sinns her«, wie es Emil Angehrn ausdrückt, als allgemeines Verständnis der »Unglaubwürdigkeit« zu deuten. Man kann dieses Verstehen wiederum nach Emil Angehrn in einer »doppelten Bedeutung«5 auslegen: als »Sich verstehen« und Verstehen des »Anderen«. Für das Verstehen der Glaubwürdigkeit vermuten wir folgende vier Alternativen: Sich verstehen
Verstehen des Anderen
Alternativen
Sinn
Nicht-Sinn
Sinn
Nicht-Sinn
1
glaubwürdig
unglaubwürdig
glaubwürdig
unglaubwürdig
2
unglaubwürdig
glaubwürdig
glaubwürdig
unglaubwürdig
3
glaubwürdig
unglaubwürdig
unglaubwürdig
glaubwürdig
4
unglaubwürdig
glaubwürdig
unglaubwürdig
glaubwürdig
Abb. 1: Matrix zum Verstehen der Glaubwürdigkeit
Eigendorf, Jörg / Jost, Sebastian: Im Zweifel gegen den Angeklagten, in: Welt am Sonntag vom 24. Februar 2013, S. 32. 4 Angehrn, Emil: Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. Philosophische Untersuchungen 25, Tübingen 2011, S. 278. 5 Ebd., S. 3. 3
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Die bekanntesten Beispiele für die »nichtverstehbare Unglaubwürdigkeit«, auf die wir später eingehen werden, stammen logischerweise aus dem »Verstehen des Anderen«, die sich oft vom »Sich verstehen« krass unterscheiden. Bundespräsident a. D. Christian Wulff hielt sich z. B. 2011 / 2012 für glaubwürdig, während die Medien ihn als unglaubwürdig verurteilt haben (Alternative 3). Interessant ist das sich wandelnde gesellschaftliche Verständnis der Öffentlichkeit (der Anderen) nach dem inzwischen stattgefundenen Meinungswandel der Staatsanwaltschaft Hannover (2013), die ihn – selbst nach seinem ursprünglich unglaubwürdigen Selbstverständnis – nachträglich eher für relativ glaubwürdig (unschuldig) hält, was nunmehr, nach seinem Rücktritt ,keinen Sinn mehr macht (Nicht-Sinn) (Alternative 2). Die intrigante Alternative der gezielten Verleugnung (Rufmord) ist im politischen und wirtschaftlichen Umfeld zu finden, wenn man seinen Gegner als unglaubwürdig darstellt, obwohl er glaubwürdig ist oder sich dafür hält (Alternative 3). Aus den zahlreichen unglaubwürdigen Sachverhalten der Jahre 2011– 2013 greifen wir fünf Anlässe für unseren vermuteten Deutungswandel der Glaubwürdigkeit heraus, bei denen sich die Frage nach dem Sinn oder Nicht-Sinn (unfreundlich ausgedrückt: Un-Sinn) des Verhaltens stellt. Wir verzichten auf die zahlreichen Beispiele von Unglaubwürdigkeit und Nicht-Sinn, die normalerweise in Wahljahren von allen bundesdeutschen Parteien angeboten werden, denn wir beabsichtigen vorrangig, die gesellschaftlich in Unordnung geratenen Normalitäten des individuellen Führungsverhaltens in Wirtschaft und Politik zu beleuchten. Überschneidungen lassen sich allerdings nicht vermeiden. Denn: »Alle zentralen politischen Begriffe der Moderne sind Ordnungsbegriffe. Ob Staat, Recht, Verfassung, Souveränität oder ›Politik‹ selbst – sie alle sind auf den Gesichtspunkt der Ordnung bezogen«6 , wie Andreas Anter 2003 unter Bezugnahme auf Friedrich August von Hayek festgestellt hat. Anter, Andreas: Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen 2004, S. 1.
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Der erste Anlass ist das ambivalent erscheinende Verhalten der Bundesregierung zu den Rettungsschirmen ESFS und ESM. Nach den festen, positiv klingenden Worten der Bundeskanzlerin kurz vor dem EU-Gipfel »Keine Vergemeinschaftung der EU-Schulden – solange ich lebe« konnte man leider den Eindruck eines Einknickens während des EU-Gipfels in Brüssel am 28. Juni 2012 haben, gegenüber den Forderungen ihres damaligen italienischen Kollegen Mario Monti und ihres noch heute amtierenden französischen Kollegen François Hollande. Im Sommerinterview des ZDF am 15. Juli 2012 mit Bettina Schausten widersprach die Bundeskanzlerin heftig diesem angeblich falschen Eindruck des »Nachgebens«; es gäbe keine solidarischen Rettungsschirme ohne entsprechende Kontrollen und staatliche Haftungen. Ob das nun in Brüssel tatsächlich so vereinbart worden war, entzieht sich unserer Kenntnis. Es entstand jedoch – unabhängig ob fiktiv oder faktisch – in der Öffentlichkeit der negative Eindruck eines unglaubwürdigen Verhaltens. »Die Wortbrüchigen«, betitelt die Welt am Sonntag vom 20. Januar 2013 das Verhalten der Regierungen der Euro-zone, die »ihre eigenen Regeln gebrochen, neue beschlossen und die dann wieder gebrochen« haben. So im Falle Griechenlands und wieder am Beispiel Zyperns. Und trotzdem bleibt es gleichzeitig in den Umfragen bei der hohen Popularität unserer Bundeskanzlerin. Ist das bereits ein faktisches Zeichen für den von uns befürchteten Paradigmenwechsel der Glaubwürdigkeitsnormalität? Nach dem unerwarteten und unglaubwürdig erscheinenden Schwenk um 180 Grad der Bundesregierung zur Energiewende, an dessen Richtigkeit inzwischen der neue Umweltminister Peter Altmeier (CDU) seit Juli 2012 zweifelt7 (steigende Strompreise, kein Rückgang des Stromverbrauches, Terminprobleme usw.), ist zwar »die Notbremse noch nicht gezogen, aber die Hand schon am Griff«8 , und am 20. Februar 2013 sind Kosten von einer Billion Euro für die Energiewende bis 2040 o. V. »Altmeier zweifelt an Energiewende« in: Die Welt vom 16. Juli 2012, S. 1. 8 Altenbockum, Jasper von: So geht es nicht. Leitartikel, in: FAZ vom 17. Juli 2012, S. 1. 7
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vorausgesagt worden9 , um eine »Strompreisbremse« zu erreichen. Die Gemengelage von Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit am Erfolg der Energiewende wird daher immer komplexer. Holger Steltzner, Mitherausgeber der FAZ, kritisiert diese verfahrene Situation mit einer zynischen Überschrift des Leitartikels »Der unheimliche Erfolg der Energiewende«10 – allerdings ohne Anführungszeichen – recht glaubwürdig. Er argumentiert wie folgt: »In der Eurokrise ist das Gefühl für große Zahlen ins Rutschen gekommen. Deshalb lohnt der Vergleich der Billion für die Energiewende mit der Staatsverschuldung Deutschlands, die doppelt so hoch liegt. Die gut zwei Billionen Schulden wurden jedoch über Generationen hinweg aufgebaut. So wie gedankenlose Staatsverschuldung die Eurozone ins Wanken gebracht hat, könnte die Energiewende Deutschland in die Krise führen, wenn sie nicht nachhaltig finanziert wird.« Der ehemalige Siemens-Chef Peter Löscher und E.ON-Chef Johannes Teyssen appellieren mit ungewöhnlicher Schärfe gegen die Energiewende und fordern eine Radikalreform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes: »Wir sind auf dem falschen Weg. Man muss einen Schritt machen und sagen: Die Musik ist aus.«11 Ebenfalls war eine Diskrepanz zu den zunächst glaubhaften Versprechungen festzustellen, die nach wenigen Tagen als nicht haltbar erschienen: Gegen das im Bundestag am 29. Juni 2012 verabschiedete »Rettungsschirm«- und Fiskalpakt-Gesetz war dann kurzfristig ein Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht eingereicht worden. Der Bundespräsident hatte deshalb zunächst seine Unterschrift unter das Gesetz von einer positiven BVG-Entscheidung abhängig gemacht. Während man dieses Verhalten vielleicht als Machtprobe sehen könn Vgl. Gespräch Bundesminister Peter Altmaier (CDU) mit Andreas Mihm und Holger Steltzner: »Die Energiewende könnte bis zu einer Billion Euro kosten«, in: FAZ vom 20. Februar 2013, S. 11. 10 Steltzner, Holger: Der unheimliche Erfolg der Energiewende. Leitartikel, in: FAZ vom 21. Februar 2013, S. 1. 11 Löscher, Peter / Teyssen, Johannes: Die Abrechnung. Wir sind auf dem falschen Weg, in: Handelsblatt vom 8. Juli 2013, S. 1, 4–7. 9
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te, ist das Plädoyer »Verfassungsnot!« von Professor Paul Kirchhof12 , Bundesverfassungsrichter a. D., als glaubwürdige und ernste Sorge einzustufen. Die warnende Skepsis eines ehemaligen Bundesverfassungsrichters, der nüchtern die bedrohliche Situation analysiert, lässt aufhorchen, wenn er sagt: Die EU steckt in der Krise, weil Recht missachtet wurde. Und wir spielen weiter mit dem Feuer: Eine Instabilität des Rechts wiegt schwerer als eine Instabilität der Finanzen. Wer das nicht begreift, dem hilft auch keine Zentralgewalt mehr.« »Die Europäische Union steht und fällt mit ihrer Rechtlichkeit. Sie braucht ein festes Verfassungs- und Vertragsrecht, das die Institutionen – der Erstinterpret Parlament und Regierung, der Zweitinterpret Bundesverfassungsgericht – unbeirrt ins Werk setzt.« »Die Europäische Union steht und fällt mit ihrer Rechtlichkeit. Sie braucht ein festes Verfassungs- und Vertragsrecht, das die Institutionen – der Erstinterpret Parlament und Regierung, der Zweitinterpret Bundesverfassungsgericht – unbeirrt ins Werk setzt.« Hierzu seien folgende kritische Fragen erlaubt: Wer schafft dieses »feste« Recht und wer hat die Kraft und Macht, diese Rechtlichkeit »unbeirrt ins Werk zu setzen«? Ist dies in der aktuellen europäischen Machtarchitektur von Demokratien und Quasi-Demokratien eine realistische Vision? Der zweite Anlass sind die Folgen der hohen Verschuldung des deutschen Staates und die steigende Haftung aus den Bürgschaften für die europäischen Rettungsschirme (ESM, ESFS und potentielle neue Überlegungen). Der Staat braucht dringend Kapital, um die zwischen den EU-Mitgliedsländern vereinbarte Gesamtverschuldung von 60% des Bruttoinlandsproduktes wieder einzustellen. Sie liegt höher als 80% mit steigender Tendenz. »Während europäische Nehmerländer nach der Schaffung einer einheitlichen Bankenaufsicht womöglich gar nicht mehr haften müssen, trägt Deutschland mehr.«13 Kirchhof, Paul: Verfassungsnot!, in: FAZ vom 12. Juli 2012, S. 25. Müller, Reinhard: Letzte Runde. Leitartikel, in: FAZ vom 16. Juli 2012, S. 1.
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Dem Zeitgeist der Neidgesellschaft entsprechend werden zahlreiche Vorstellungen entwickelt, wie man mindestens 230 Milliarden Euro eintreiben kann, um die Staatsschulden zu reduzieren: Das Deutsche Institut der Wirtschaft (DIW) befürwortet gemeinsam mit SPD und Grünen Vermögensabgaben (Vermögenssteuer, einmalige Abgaben, Zwangsanleihen u. ä.) für die »Reichen«, wobei man als reich gilt, wenn man ein Vermögen über 250.000 Euro als Einzelner und 500.000 Euro als Ehepaar besitzt. Der 2012 amtierende BDI-Präsident Hans-Peter Keitel und der Vorstand der Stiftung Familienunternehmen Brun-Hagen Hennerkes wehrten sich mit sachlichen Argumenten heftig gegen diese Überlegungen (»Die mittelständischen Unternehmer sind entsetzt«).14 Die in der Schublade liegenden Pläne für Erhöhungen der Einkommenssteuer und der Mehrwertsteuer sind weitere Optionen, wie der Staat seine Schulden abbauen will. Besonders alarmierend ist der Hinweis von Paul Kirchhof15: »Ohne Recht wären wir in der Finanzkrise alle unserer Schulden ledig. Der Darlehensvertrag gälte nicht mehr, seine Verbindlichkeiten wären erloschen. Doch der Preis für diese Schuldenvernichtung wäre zu groß. Der Staat verlöre sein Gewaltmonopol, der Bürger könnte beliebig Waffen tragen und einsetzen. Der Markt hätte keinen rechtlichen Rahmen, Staat und Institutionen keine verbindlichen Grundlagen. Das soziale und kulturelle Existenzminimum für jedermann wäre nicht gesichert. Nun wird niemand diesen elementaren Rechtsverlust wollen. Wohl aber sind viele bereit, im Heute ein Stück des Weges in die weitere Illegalität voranzuschreiten, weil dieser Weg … die Chance bietet, drohende Verluste auf andere zu verschieben.« Paul Kirchhof hat im August 2012 sein neues Buch »Deutschland im Schuldensog«16 vorgestellt; es wurde an 5.000 Abgeordnete und Regierungsmitglieder verschickt, um einen »Kraftakt zum Schuldenabbau« zu fordern. Ein dritter Anlass ist das offensichtliche Dilemma zwischen EZB und Vgl. Hennerkes, Brun-Hagen: Die mittelständischen Unternehmer sind entsetzt, in: Welt am Sonntag vom 15. Juli 2012, S. 8f.; Die Welt vom 16. Juli 2012, S. 1. 15 Vgl. Kirchhof, Paul: Verfassungsnot!, in: FAZ vom 12. Juli 2012, S. 25. 16 Kirchhof, Paul: Deutschland im Schuldensog, München 2012. Siehe hierzu auch das Interview mit Die Welt vom 23. August 2012, S. 4. 14
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