9783869065823 leseprobe issuu

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Achim Bröger, geboren 1944, lebt mit seiner Frau und den zwei Border Collies in Sereetz / SchleswigHolstein. Seit 1980 arbeitet er als freier Schriftsteller. Er schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche, daneben auch Hörspiele und Fernsehfilme.


Achim Brรถger

Oma und ich Mit Bildern von Simone Klages


Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm: www.allitera.de

Für Linn Helena und Noa Josephine

September 2013 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2013 Buch&media GmbH, München Umschlag- und Textillustrationen: Simone Klages, Hamburg Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink unter Verwendung einer Illustration von Simone Klages Printed in Europe · ISBN 978-3-86906-582-3


1. Kapitel

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ulia geht am Zaun entlang. Die Schultasche auf dem Rücken, Jakob neben sich. So ist das jeden Mittag. Ach ja, Dicki aus der anderen Klasse fehlt auch nicht. Wie immer trödelt er ein paar Schritte hinter den beiden her, sagt kein Wort. Der ist so. Julia und Jakob schimpfen über die vielen Schularbeiten. „Acht Aufgaben in Mathe. Und jede Menge in Deutsch.“ Dann erzählen sie, dass sich der eine Große aus der siebten Klasse mit einem anderen Großen gehauen hat. „So und so und so!“, zeigt Jakob. Er drischt in die Luft, kämpft Julia etwas vor und gewinnt. Julia springt schnell weg. Sie hat nämlich keine Lust, aus Versehen getroffen zu werden. Dabei stolpert sie beinahe über Dicki, der im Weg steht. „Pass doch auf!“, schimpft sie. „Halt mal“, sagt sie danach. Sie nimmt ihre Schultasche ab, und Dicki hält die. Julia will nämlich etwas vorführen. „Hab ich gestern Abend mit Oma im Fernsehen gesehen“, sagt sie. „Was denn?“, fragt Jakob. „Das Seiltanzen in der Zirkussendung.“ „Hab ich auch gesehen“, sagt Jakob aufgeregt, „war toll!“ Julia steigt auf die Bordsteinkante. Ihr Hochseil ist das. Zum Balancieren. Einen Fuß setzt sie vor den anderen und noch einen 5


und wieder einen. Die Arme weit von sich gestreckt, hält sie das Gleichgewicht. Julia balanciert auf dem Hochseil. Nur nicht da­ neben treten. Sonst stürzt sie tief hinunter. Jetzt schaukelt sie kurz, schwankt, fällt aber nicht. Schon steht sie wieder gerade. Nur noch ein paar Schritte. Geschafft! Julia verbeugt sich, und Jakob klatscht. Dicki will auch klatschen. Das geht aber nicht, denn er hält Julias Tasche in den Händen. Und als sie ihm die abnimmt, ist es zu spät zum Klatschen. „War super, die Sendung“, sagt Jakob beim Weiter­gehen. „Wie die sich von einem Trapez zum anderen geschleudert haben. Hoch durch die Luft und mit Salto.“ „Und wie die mit den vielen Tellern jonglieren können“, sagt Julia. „Meine Oma hat’s auch versucht. Aber bloß mit einem Teller. Hochgeworfen hat sie ihn und …“ „Aufgefangen?“, fragt Jakob. „Nein“, sagt Julia. „Oma ist ja keine Artistin. Oma ist Oma.“ „Sie hat den Teller fallen lassen?“ „Ja, tausend Scherben lagen im Wohnzimmer.“ „Tausend?!“, fragt Jakob. „Nie! Höchstens zehn.“ „Na ja, ist auch genug.“ Sie gehen weiter an den braunen Holzzäunen vorbei, Julia und Jakob. Dicki haben sie vergessen. Wenn der auch nichts redet, ist er selber schuld. Unter dem hohen grauen Dach da vorne wohnt Julia. Das Haus ist wie die meisten älteren Häuser hier im Dorf aus roten Backsteinen. Rechts daneben und gleich angebaut die große Scheune mit dem 6


breiten Holztor. Dahinter werden der Traktor und das Auto abgestellt. Heute arbeitet Papa mit dem Traktor auf einem Feld. Klar, bei dem Sonnenwetter. Und mit dem Auto fährt Mama in der Stadt herum und kauft ein. Schließlich ist Freitag, ihr Großeinkaufstag. Von hier aus sieht Julia über den Zaun und an der großen Linde im Hof vorbei schon das Küchen­ fenster. Aber Moment mal, da fehlt wer. Oma fehlt im Küchenfenster. Von dort guckt sie Julia sonst entgegen, wenn die aus der Schule kommt. Dann hebt Julia die Hand, winkt und zeigt, dass sie ihre Oma sieht. Und Oma winkt zurück. Jeden Mittag. 7


Heute ist Omas Fensterplatz leer. Die weiße Gardine bleibt zugezogen. Das gibt’s doch nicht. Wo steckt Oma denn? Schnell sagt Julia „Tschüs“ und rennt los. Jakob und Dicki gehen weiter, Jakob drei Schritte vor Dicki. Schon rennt Julia unter der Linde im Hof. Mensch, kann die laufen, denkt Jakob. Aber warum hat sie es plötzlich so eilig?

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2. Kapitel

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ulia rennt über das Kopfsteinpflaster. Sie weiß genau, dass Oma in der Küche wartet. Dort ist der Oma-Mittagsplatz, weil Oma ja immer für alle kocht. Sie will mit Oma schimpfen: Warum hast du nicht gewunken?! Das tust du doch sonst immer. Und das ist schön! … Du darfst so was nicht vergessen, Oma. Julia zieht die schwere Haustür auf. Sie steht in der ziemlich dunklen Diele, von der die Zimmer abgehen. „Oma!“, ruft sie. Ruft laut, steht da und lauscht ins Haus. Und Julia hört …, dass sie gar nichts hört. Zum zweiten Mal, fragend und leiser, ruft Julia: „Oma!“ Aber es bleibt völlig still. Wie immer will Julia den Schulranzen in die Ecke werfen. Zack! geht das sonst. Da liegt er, und Oma schimpft: Muss ich dir jeden Tag sagen, schmeiß den Ranzen nicht so herum? Aber das ist so merkwürdig leise, fast unheimlich. Und in diese Stille hinein kann Julia keinen normalen Nachhausekommkrach machen wie sonst. Also fliegt der Ranzen nicht in die Ecke, ausnahmsweise. Heute ist hier alles anders. Julia geht zur Küchentür und öffnet sie. Die Küche ist leer, genauso wie das Wohn­zimmer und das Badezimmer auf der anderen Seite der Diele. Jemand hat die Kellertür abgeschlossen. Also kann Oma nicht da unten sein. „Hm“, macht Julia 9


und geht zurück in die große Küche. Laut klingen ihre Schritte, wenn es überall so leise ist. Auf dem Herd steht ein Topf. Kartoffeln und Gemüse sind darin und ein wenig Fleisch. Neben dem Topf findet Julia einen Zettel. Den liest sie stockend: „Ich bin krank. Liege oben. Mach dir das Essen warm! Und kauf noch etwas ein. Einkaufszettel und Geld sind auf dem Küchentisch. Liebe Grüße. Oma.“ Oma ist krank! Was hat sie denn? Mit dem Zettel in der Hand steht Julia da. Die Küchen­uhr tickt sehr laut. Julia will sofort nachsehen, wie es Oma geht. Und was sie hat, will sie fragen. Das muss sie wissen. Ganz schnell. Sie reißt die Tür auf, rennt durch die Diele. Oma ist krank! Oma ist krank, sagt es in ihrem Kopf. Und sie poltert die steile Treppe zum ersten Stock und zu Omas Zimmer hinauf. Halt! So laut darf sie nicht sein, denn Oma könnte schlafen. Dann will sie bestimmt nicht geweckt werden. 10


Hier geht es den Gang hinunter. Links hängen Omas dunkler Mantel und ihr Hut an der Flur­ garderobe. Rechts ist Omas Zimmertür. Julia steht davor, etwas nach vorne gebeugt. Horcht. Horcht mit angehaltenem Atem. Aber sie hört nichts. Keinen Laut. Die ganze Zeit. Bis dann irgendetwas im Haus knarrt. Bestimmt schläft Oma. Mit beiden Händen nimmt Julia den Türgriff. Vorsichtig drückt sie ihn nach unten. Trotzdem knarrt es. Und als Julia die Tür aufschiebt, quietscht sie, als wäre sie lebendig. Julia sieht in Omas Zimmer. Ziemlich dunkel ist es. Jemand hat den Vorhang zugezogen. Einen Schritt geht Julia in den Raum. Sie steht da, sieht rechts das große Bett. Oma liegt drin. Aber wie sie liegt! Auf dem Rücken liegt sie und rührt sich nicht. Überhaupt nicht. Sie sieht aus … oh … das darf nicht sein, denkt Julia. Wie festgenagelt steht sie da. Kann keinen Schritt näher gehen, weil ihre Oma so daliegt. So … Aber Julia muss näher hingehen. Sie muss genau wissen, was mit Oma passiert ist. Deswegen zwingt sie sich einen kleinen Schritt weiter ins Zimmer auf das Bett zu. Vor Oma hat sie sonst nie Angst. Aber jetzt sieht sie aus … so weiß … so anders. Julia fürchtet sich. Frieren lässt sie das und macht sie bewegungslos. Und sie starrt auf Oma. Omas Mund steht offen. Die Augen hat sie geschlossen. Weiß sieht ihr Gesicht aus, spitz die Nase. Alles andere ist hell zugedeckt. 11


Dann merkt Julia, dass es seltsam riecht im Zimmer, irgendwie streng. Sie guckt ihre Oma genau an. Das muss sie auch. Muss ja wissen, was mit Oma ist. Und sie hört genau hin. Keinen Ton hört sie und fürchtet sich immer mehr. Die Oma da im Bett hat doch gestern noch mit Julia ferngesehen und den Teller hochgeworfen. Tausend Scherben gab es … oder zehn. Wirklich, sie darf nicht so daliegen. Das kann nicht sein, dass Oma … und scheint doch so. Eine Flasche voll Medizin steht auf dem Nachtschrank neben dem Bett. Und ein Löffel liegt da. Ach, deswegen riecht es so anders hier, wegen der Medizin. Plötzlich hört Julia etwas. Einen kleinen Schnarchton. Hat sie sich verhört? Hoffentlich nicht. Da. War er da nicht noch einmal? Ganz leise, der Schnarchton? Doch, Julia glaubt, dass sie ihn gehört hat. Das befreit sie, und sie muss nicht mehr starr stehen, wie festgenagelt. Wenn einer schnarcht, dann lebt er ja. Schnarch-Oma, denkt Julia. Liebe SchnarchOma. Und ein warmes Gefühl läuft durch Julia. Sie geht ein Stück auf Omas Bett zu. Das ist jetzt nicht mehr schwierig. Leise geht sie, will ihre Oma nicht wecken. Auf der Medizinflasche steht: Ma-do-san forte. Die Wörter hat Julia noch nie gehört. Madosan forte. Oma soll weiterschlafen. Also geht Julia aus dem Zimmer. Sie schließt die Tür. Wie lebendig klingt die wieder. Von draußen hört Julia noch einmal ins Zimmer und hört … nichts. Auch kein Schnarchen. Aber 12


sie hat sich doch nicht getäuscht, vorhin? Da, an der Flurgarderobe, hängt der Oma-Mantel. Julia schnüffelt an ihm. Ja, so riecht Oma, wenn sie nicht nach Medizin riecht. Das riecht … sie schnüffelt noch einmal … viel besser. Nach Oma eben.

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