Dietzsch-Kluth, Karin van Leyden

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Ursula Dietzsch-Kluth, 1911 in Berlin geboren, studierte von 1928–31 Buchgrafik, Schrift, Werbegrafik, Drucktechnik, Aktzeichnen, Malerei und Kunstgeschichte an den Kölner Werkkunstschulen. Von 1931–35 lebte sie in Paris, wo sie in der Kunstdruckerei Loubok arbeitete und an der Abendakademie studierte. Danach war sie in Köln als freischaffende Zeichnerin und Grafikerin für verschiedene Zeitschriften, Verlage und Konzerne tätig, unter anderem für den DuMontVerlag, Lufthansa und E.ON Ruhrgas. Das Jahr 1960 verbrachte sie als Gastdozentin für figürliches Zeichnen an der Kunstschule Aachen; 1963–75 arbeitete sie als Kunsterzieherin an der Kaiserin-Theophanu-Schule in Köln. Sie unternahm zahlreiche Studienreisen durch Frankreich, England, den Mittelmeerraum, Marokko, die Karibik und arbeitete während dieser Jahre als freie Malerin. Ursula Dietzsch-Kluth lebt heute in Brühl.


Ursula Dietzsch-Kluth

Karin van Leyden Stationen im Leben einer Malerin

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter www.buchmedia.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Juli 2009 © 2009 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt Printed in Germany · isbn 978-3-86520-352-6


F端r meinen Sohn Michael Dietzsch



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m frühen Morgen schon hatte die elegante »France«, das neueste Passagierschiff, von New York kommend, an der Giudecca angelegt. Die langwierigen Formalitäten der Hafenkontrolle waren erledigt und die Passagiere verließen in kleinen Gruppen das Schiff. Trotz seiner schmalen schnittigen Bauart wirkte der Schiffskörper neben den alten, vornehmen Palazzi unverhältnismäßig massig. Als hätte ein Riese sein Boot zwischen seine Spielzeughäuser gesetzt. Die obere Gangway lag den durchbrochenen Galerien der Palazzi zum Greifen nahe. An den Quais löste sich dann und wann eine jahrzehntealte Schicht von Putz und Farbe; der vergebliche Versuch, die Risse und Zerstörungen zu vertuschen, die der starke Verkehr motorisierter Schiffe angerichtet hatte, schwamm eine Weile, um dann in dem öligen Wasser zu versinken. Karin verließ die Gruppe der Mitreisenden und ging zu einem marmornen Brückchen, das zum Dorsoduro führte, wo ihr Mann für sie einen der kleinen, maroden Palazzi von einem befreundeten Maler gemietet hatte, während er in Frankreich eine alte Farm renovierte, ihren zukünftigen Wohnsitz. Karin blieb lange auf der Brücke stehen, ihre Hände auf dem sonnenwarmen Geländer, das durch die Witterung rau und porös geworden war und sich anfühlte wie Samt. Fünfzehn Jahre Amerika lagen hinter ihr. Es war ihr, als füge sich hier die Weltkarte wieder zusammen, die sie vor langer Zeit zerrissen hatte, als sie Europa so plötzlich verlassen musste. Liebes altes geschundenes Europa! Und Venedig! Hier war sie zu Hause. Und hier war es, wo damals ihr wirkliches Leben begann. Ihr Leben mit Ernst. Was davor war, war Kinderkram. Dass sie ein außergewöhnlich hübsches Mädchen war, das wusste sie schon lange. Dafür


nahm sie auch die allabendliche Prozedur mit den Lockenwicklern in Kauf, für die langen Korkenzieherlocken, die sich so schmeichelnd um die Finger schmiegten. Im Stillen aber neidete sie ihrer kleineren Schwester die Fülle der Haarpracht, um die sich niemand besondere Mühe gab. Auch das einfache Kattunkleidchen des Nachbarkindes, dessen lustige rote Tupfen beim Spiel ein paar Flecken leichter verdecken konnten als ihre weißgestärkten feinen Sommerkleider, erregte ihren Neid. Doch der Gedanke, etwas Außergewöhnliches darzustellen, tröstete sie wieder. »Mein Kleines«, sagte liebevoll ihr Vater, »das Außergewöhnliche bekommt man nicht geschenkt. Dafür muss man hart arbeiten. Jeden Tag.« Sie schmiegte sich an ihn und sagte: »Du wirst mir helfen, das weiß ich.« Dann entwischte sie zu neuen Spielen, bei denen sie immer die Erste sein musste. Karin war die Älteste von drei Töchtern und beherrschte das Kinderzimmer, war sich ihrer Verantwortung bewusst. Charlotte, zwei Jahre jünger, hatte nicht die weitschweifende Fantasie wie Karin, aber da sie bei aller Bewunderung für Karins Ideen ein guter Spielkamerad war, wurde sie von ihrer Schwester akzeptiert. Nur wenn Karin sich wild gegen eine Ungerechtigkeit wehrte, verkroch sich Charlotte im hintersten Winkel unter ihrem Gitterbettchen, hielt ihren Teddy fest an sich gepresst und flüsterte ihren Kummer in sein Plüschohr. Als aber etwa vier Jahre später ein schreiender Winzling in der Wiege lag, da schien es Karin, als sei ihre wunderbare Gemeinschaft gestört. Die Aufmerksamkeit, die ihre Mutter diesem kleinen Wesen widmete, störte die Harmonie, Eifersucht machte sich breit und die Kleine, Ursula getauft, blieb für Karin für immer etwas »Überflüssiges«. Die großzügige Wohnung am Kaiserdamm in Berlin fiel schon in den ersten Kriegsjahren der Geldknappheit zum Opfer. Der Vater wurde als Infanterist eingezogen und, wie damals üblich, von seiner Firma entlassen. Vorbei mit den teppichbe-


legten Marmorfreitreppen, auf denen sich so herrlich herumtollen ließ. Die neue Wohnung lag zwar im Westen Berlins, aber Wilmersdorf war eher ein Vorort, es gab sogar noch einen Kuhstall in der Nähe. Was dieser Erste Weltkrieg damals den Frauen, den Müttern abverlangte, war unbeschreiblich. Bis auch diese elenden Jahre vorüber waren … Der Garten ihrer Kinderspiele lag gegenüber ihrer Wohnung, ein unbearbeitetes Stück Ackerland mit einigen kümmerlichen Obstbäumen und den Resten eines abgebrannten Schafstalles. Einige Nachbarn hatten dort für ihre Kinder ein paar bescheidene Gärtchen eingegrenzt, sodass kein Mangel an Spielkameraden war. Keines der Kinder war an der Pflege von Blumen interessiert, denn bei der noch immer bescheidenen Ernährungslage nach dem Ersten Weltkrieg waren Salat, Tomaten und Zwiebeln die wichtigsten Pflanzen. Die Flächen neben diesen Gärtchen und die breiten Sandwege gehörten den wilden Spielen der Kinder. Für Karin war es immer der Höhepunkt, wenn es ihr gelungen war, auf den Rest des Mäuerchens zu klettern. Dort oben störte sie niemand in ihren Tagträumen. Der Garten schien ihr zu einem blühenden Park zu werden, die Knaben zu einer Gruppe edler Pagen, die ihr natürlich zu Diensten sein mussten, denn sie war die Prinzessin. An der Störrigkeit des vierzehnjährigen Sven, der sich weigerte, vor ihr niederzuknien, endete ihre Herrschsucht. In ihrem Zorn wies sie auf die unverputzte Hauswand, an der eine dicke tönerne Abwasserröhre hinauflief, in Abständen gehalten von verrosteten Eisenklammern. »Na, da raufzuklettern, das traust du dich aber nicht!«, rief sie. Sven, in seiner beginnenden Männlichkeit getroffen, hatte sich schon die Schuhe ausgezogen und begonnen, sich an der ungesicherten Hauswand hinaufzuangeln. Unten rotteten sich die übrigen Kinder zusammen, um dem Spektakel zuzusehen und Sven mit begeisterndem Johlen anzufeuern. Aber je höher Sven kletterte, um so stiller wurden die Zuschauer. Offenbar war ihnen doch eine Spur der Gefahr bewusst geworden. Karin hielt


sich abseits. Auch ihr kam die Unsinnigkeit dieser kindischen Mutprobe zu Bewusstsein. Sie schämte sich ihrer Worte, ihrer Angst und vor sich selbst. Sie wurde rot vor Zorn über den Jungen und wurde blass angesichts der gefährlichen Folgen. In Höhe des zweiten Stockwerks fielen plötzlich zwei der rostigen Halteklammern aus, boten keinen Griff für die Hände. Sven, in der Erregung sich zu produzieren, fand keine andere Hilfe, als sich auf dem weit schwierigeren Rückweg abzuhangeln. In ihrer Ecke stand Karin, zitternd und in Tränen. Als Sven, mit Gottes Hilfe oder vielleicht doch mit der Kraft vieler Gebete, auf den Boden sprang und sich seinen Lohn, Karins Bewunderung, einholen wollte, drehte Karin sich weg und warf ihm über die Schulter nur schnippisch zu: »Na, bist ja nicht mal bis zur zweiten Etage gekommen!« Dann lief sie davon, denn die Tränen ihrer grenzenlosen Angst durfte niemand sehen. Noch heute, mitten in Venedig, begriff Karin nicht, welche Angst sie damals diese Kränkung hatte ausstehen lassen. Sven verließ den Ort seiner lebensgefährlichen Angeberei in dem Wissen, dass man sein Leben nur für wichtigere Dinge riskieren sollte. Der lange Lebensabschnitt der Schulzeit nahm sie in die Pflicht. Bücher eröffneten ihr Seiten voller Wunder. Ihre sich immer mehr entwickelnde Fantasie überbordete die engen Klassenzimmer. Dort, wo sie sich etwas bildlich vorstellen konnte, war ihr Interesse hellwach und aktiv. Die Zeichnungen in Geometrie waren exakt und überzeugend. Nur die entsprechende arithmetische, trockene Berechnung lief meist an der Wahrheit vorbei. Die fabelhaften Noten, die Karin im Zeichenunterricht erreichte, halfen wenig, das Übel in Physik zu überdecken. Auch der sonst so hilfreiche Charme ersetzte nicht immer den Fleiß. Einige ihrer Freundinnen verfolgten den Weg zum Abitur. Sie wollten studieren, in diesen Jahren für junge Mädchen ein noch ungewöhnlicher Weg. Andere wurden Stenotypistin, Arzthelferin oder Verkäuferin. Karins Mutter war glücklich, ihre Tochter zu Hause zu wissen, wo sie unter ihrer Führung das Leben

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einer »höheren Tochter«, ein Begriff aus der Jugend ihrer Mutter, erlernen sollte, um baldigst eine gute Partie zu heiraten. In den ersten Wochen gefiel dieses ungebundene Leben auch Karin. Sie spielte mit ihren Talenten, bastelte hübsche Überflüssigkeiten für ihre jüngeren Schwestern und aparte Accessoires für ihre Garderobe. Aber sehr bald merkte sie, wie sie mehr und mehr vereinsamte. Niemand hatte Zeit, jeder bemühte sich um seinen Beruf. Auch die Tanzstunde mit ihren Flirts, diesen Frackaffen, füllte sie nicht aus. Ihre Späße auf dieser Plattform waren auch nicht sehr erfolgreich. Einmal bestellte sie gleich vier ihrer Verehrer zur gleichen Stunde und zum gleichen Treffpunkt zu einem heimlichen Rendezvous. Nur war der Platz groß genug für einen Truppenaufmarsch, ohne jede Deckung. Dies war nicht lustig. Endlich fand man eine Ausbildung für sie, die ihrer Fantasie und künstlerischen Fähigkeiten entsprach: die Modeklasse in der Kunst- und Handwerkschule in Köln. Voller Begeisterung sah Karin sich bereits umgeben von kostbaren Stoffen, Samten und Seiden für dekorative Theaterkostüme und anderem. Nur der Kampf mit der Nadel war wieder einmal der dunkle Schatten und schien auch der Lehrerin unüberwindlich, denn Karin wollte nicht verstehen, dass nicht einige Heftstiche genügten, um den herrlichen Fall künstlerischer Faltenwürfe zu formen. Noch vor dem Ablauf des ersten Semesters begab Karin sich auf die Suche nach anderen Möglichkeiten in dieser Schule. Schon bei ihrer ersten neugierigen Umschau über Bildhauerei, Goldschmiedekunst oder Keramik entdeckte sie einen Arbeitsraum für Malerei. Vorsichtig schlich sie sich in den Raum, der voller Staffeleien stand, die ihr die Sicht verstellten, und fand sich plötzlich konfrontiert mit einem nackten männlichen Aktmodell auf einem kleinen Podest. Sie war ohne Brüder aufgewachsen. Die prüde Erziehung hatte sich bei ihrer ängstlichen Mutter besonders ausgewirkt. Ein Mann war eben anders und war indiskutabel. Sofort wusste Karin, dass sie mit ihrem Anliegen, ihre Ausbildung in Richtung auf die Malerei zu ändern, bei ihrer Mutter niemals Zustimmung finden würde. Aber der

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Funke der darstellenden Kunst hatte sie bereits versengt. Leise sprach sie einen der jungen Leute an, der neben ihr an seiner Staffelei mit einem breiten Kohlestift skizzierte. Sie erkundigte sich nach dem zuständigen Professor. Mehr brauchte sie nicht, denn ihre Idee war bereits geboren: Sie musste mit dem Professor sprechen. Von Karins Wunsch, die Klasse mitten im laufenden Semester zu wechseln, war Professor Seewald wenig begeistert. Die Vorstellung, eine Modepuppe in seine Kunstklasse aufzunehmen, behagte ihm nicht. Aber durch Karins Begeisterung und Charme wurde er etwas milder gestimmt und gestattete ihr, den Rest des Semesters probeweise bei ihm zu arbeiten. Er ahnte damals nicht, welchen Paradiesvogel er sich da eingeladen hatte. Natürlich konnte dieses Täuschungsmanöver Karins Vater nicht sehr lange verborgen bleiben. Seine ständigen Nachfragen über ihre Erfolge in der Schneiderei fanden immer dürftigere Erklärungen. Er wurde unsicher und befürchtete, von seiner geliebten, ungehorsamen Tochter neue Überraschungen. Dass sie ihn einmal dahingehend enttäuschen könnte, seinen Glauben an ihre Ehrlichkeit auszunutzen, schien ihm unmöglich. Aber auch Karin hatte bei aller Begeisterung nicht den Mut, ihren Vater zu belügen. Ihre Aktzeichnungen und größeren Ölskizzen konnte Karin mit Hilfe des Jungen, den sie zuerst angesprochen hatte, vor ihren Eltern verbergen. Der junge Mann hatte sehr viel Verständnis für Karins Schwierigkeiten. Er selbst hatte so lange absolutes Malverbot durch seinen Vater, bis er eine Bäckerlehre abgeschlossen hatte. Tapfer begann er seinen Tag um fünf Uhr früh in der Backstube. Dass Joseph Fassbender nach den Erlebnissen von Krieg und Gefangenschaft und dem Verlust eines Auges einer der bekanntesten unter den abstrakten Künstlern werden würde, wer konnte das damals schon wissen? Joseph Fassbender zeigte ihr eine ganz neue Weltanschauung, als ihre bürgerliche Erziehung bisher möglich gemacht hatte. Das ging nicht ohne harte Kämpfe ab – auch den inneren Kampf musste sie mit sich allein ausmachen. Unvergessen blie-

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ben ihre Ausflüge mit Fassbender zu den Ansiedlungen der Sinti und Roma, die sie in den Randgebieten Kölns bei einer Radtour entdeckten. Eine freie, farbige Welt mit Tieren und der Lebendigkeit fremdartiger Menschen. Für ein paar Mark waren sie gern bereit, Modell zu stehen. Sie freuten sich, die Versuche zu Bildern zu sehen, und fühlten sich von den angehenden Künstlern verstanden. Diese unbürgerlichen, harmlosen Ausflüge führten zu entsetzten Auftritten in Karins Familie und zu dem strikten Verbot, diese »Diebesbande« noch einmal aufzusuchen, obwohl Karin inzwischen mit diesen »gefährlichen Individuen« gute Freundschaft geschlossen hatte. Längst schon hatte Professor Seewald die künstlerische Begabung Karins entdeckt und ihr neues Semester in seiner Klasse war gesichert. Ein wenig genutzter Verbindungsgang zu anderen Werkstätten war einseitig von einer langen getünchten Wand begrenzt. Im Laufe der Zeit hatte sie durch ständigen Gebrauch für mehr oder weniger amüsante Schmierereien ein eher schäbiges Aussehen erhalten. Karin fand, es sei schade um diese große Fläche. Sie suchte die Verwaltung der Schule auf und bat höflichst um die Erlaubnis, diesen Schandfleck des Schulgebäudes durch Überkalken verschwinden zu lassen. Zu ihrem Glück machte sich keiner die Mühe, diese Sache näher zu untersuchen. Karin erstand Anstreicherpinsel nebst zwei Eimern weißer Farbe. Was ihre Schule nichts kostete, war willkommen. Wochen vergingen. Niemand kümmerte sich um die Wand. Karin aber schwebte in ihren Fantasien und schuftete in einem Rausch. Endlich hatte sie eine große Fläche vor sich und niemand gab ihr Anweisungen. Als ihr letzter Pinselstrich getan war, lud sie den Schuldirektor und die Professoren ein, denn dies sollte ihr großer Tag werden. Wer sonst sehr selten diesen Gang betreten hatte, sah sich plötzlich in einen dschungelähnlichen Wald versetzt. Sah wildblühende, seltsame Pflanzen, ferne Ausblicke auf andere Inseln und verborgen zwischen großblättrigen Büschen schlich ein Ti-

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ger durch das Dickicht. Ihr Professor war ebenso verstummt wie die anderen Besucher. Dann meinte er, Karin möge öfter mal in den Zoo gehen. Der Tiger ähnele mehr einer trächtigen Dachkatze. Der Schlag traf sie tief. Aber ihre Leistung war lange das Gespräch in der Schule. Sehr bewusst hatte der Professor mit Lob für die riesige Leistung seiner Schülerin gespart. Seine Erfahrung und sein Einfühlungsvermögen hatten ihn gelehrt, wie leicht sich die Jugend mit den ersten größeren Erfolgen zufrieden gab, ehe sie den geistigen Gehalt ihrer Arbeit ausreifen ließ. Gerade bei Karin schien ihm die Gefahr zu groß, sie an die Oberflächlichkeit zu verlieren. Bei ihr war ganz sicher eine strenge Führung notwendig. Ob er der richtige Lehrer für sie sein würde, dessen war er sich gar nicht sicher. Gerade diese Wendepunkte, die jeder begeisterte junge Künstler selbst zu wählen hatte, waren für eine ernsthafte Ausbildung zu Beginn entscheidend. Wie konnte er Karin an die richtigen Bücher, an die richtigen Vorbilder heranführen? Würde sie, so selbstsicher sie bereits war, überhaupt eine vorsichtige Lenkung akzeptieren? Noch nie in seiner Lehrtätigkeit sah er sich mit einer solch wertvollen Aufgabe konfrontiert. Aber Richard Seewald freute sich auf diese außergewöhnliche Herausforderung. In ihrer Begeisterung über die unendliche Vielfalt der Kunst, über diese ganz neue Sicht in der modernen Malerei, über die Möglichkeiten, sich in der Farbenwelt zu entfalten und selbst zu versuchen, etwas Eigenes zu gestalten, hatte Karin mehr und mehr das Verständnis für ihre Mutter verloren. Karin sah in ihr eine Behinderung für ihre Selbstfindung, sah nur, dass eine so krasse Umstellung auf ihre Arbeit für die rührende Mutterliebe wie ein eisiger Wasserstrahl wirken musste. Karin sollte die Prinzessin der Träume ihrer Mutter sein. Doch alles, was die Mutter sich für ihre schönste Tochter wünschte, sah sie nun ungeachtet vergehen. Die Mutter konnte nicht begreifen, dass sich hier vor ihren Augen ein Mensch selbst zu entdecken versuchte. Konnte nicht verstehen, dass Karins Vorstellung von Glück nicht dem ihren entsprach.

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Durch ihre Angst, sich von Karin zu entfremden, trug sie erst recht zu einer Entfremdung bei. Sie litt. Und ihre so sehr geliebte Tochter merkte es nicht einmal. Auch der Vater fürchtete eine Entfremdung. Die früheren Jahre, als er sonntags mit den beiden älteren Töchtern die Museumsinsel in Berlin besucht hatte, waren den Zeitläufen zum Opfer gefallen. Wohl hatte er auf seinen vielen Geschäftsreisen nie versäumt, die jeweiligen Museen und Ausstellungen zu besuchen, doch der Zugang zum Verständnis neuester Kunstrichtungen blieb ihm verschlossen. Um aber dem Weg seiner Tochter folgen zu können, sie geistig nicht zu verlieren, fand er trotz seiner so anderen, modisch geprägten Arbeit, eine originelle und höchst persönliche Lösung. Er kaufte in verschiedenen Ausstellungen und Museen Reproduktionen, oft auch einfache farbige Postkarten, die er mit Stecknadeln auf die Tapete in seinem Schlafzimmer heftete. So, im Stillen, umgeben von den blauen Pferden von Marc, den strengen Figuren Beckmanns, dem roten Himmel von Nolde, dachte er sich in diese neue Farbenwelt hinein. Was für ein Vater!

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n den Akademien, Kunstschulen und Ateliers kämpften sich die Kunstjünger durch die Erfindungen des Realismus, Expressionismus, Postimpressionismus, Kubismus, Futurismus, Suprematismus und Konstruktivismus, bis sie erschöpft und verwirrt ihre Pinsel reinigten und versuchten, im Gespräch in der nächsten Kneipe verbal der Kunst näher zu kommen. Der Beginn des Sommersemesters stand bevor. Draußen vor dem Fenster verhüllte dicker Nebel die Konturen und verdichtete sich zu Strippenregen. Professor Seewald betrat den Arbeitsraum, schloss sehr leise die Tür, sah auf sein Häufchen Schüler, deren Arbeitsunlust allzu sichtbar war. »Meine Lieben«, fing er seine Begrüßung an, »mir geht es ebenso wie Ihnen. Mir graust vor einem verregneten Sommer in diesem Haus. Ich habe lange nachgedacht und ich habe mich daran erinnert, dass der Mensch sich immer regeneriert hat in der Natur. Also habe ich mir etwas ausgedacht, wie wir das Sommersemester unbürokratisch gemeinsam genießen könnten. Ich habe eine Bettelschale in die Hand genommen und zunächst alle meine Freunde besucht, denen ich Verständnis zutraute, uns finanziell behilflich zu sein. Auf ein Stipendium vom Staat zu hoffen, dauert zu lange und würde auch nur einen Einzelnen beglücken. Nach dem ersten Versuch einer Spendensammlung ging mein Bettelgang zu den großen Warenhäusern, wie Leonhard Tietz, und zu den Industrien und Banken. Der Erfolg war so erstaunlich, dass ich euch heute meinen Plan für ein freies Sommersemester vorlegen kann. Im Tessin, am Lago Maggiore, liegt ein Dörfchen ohne Hotels, das nur einigen wenigen Menschen bekannt ist. Dort ist es mir gelungen, einige einfache Zimmer zu mieten, mit Frühstück oder auch mit Verpflegung im Stil des Dorfes.

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Geld für Bahntickets dritter Klasse, Zimmermiete, Essen ist durch diese Bettelaktion gesichert. Sogar etwas Taschengeld bekommt ein jeder. Ich verlege – Ihr Einverständnis vorausgesetzt – das Sommersemester in die Freiheit des Südens. Dass ich dies auf mein eigenes Risiko tue, ist gewagt, aber ich weiß, dass Sie mich nicht enttäuschen werden, denn ich biete Ihnen als Lehrstoff das Schwierigste an: die Erfahrung, mit der Freiheit umzugehen. Die Geldsammlung ist keine milde Gabe, die man geschenkt bekommt, sondern eine Verpflichtung. Ich gebe keine Vorträge, kein Sommerseminar. Wenn Sie Ihre kostbare Zeit dort vertrödeln wollen, so ist das Ihre Sache, der Tag hat ja zwölf Stunden. An jedem Wochenende stehe ich Ihnen zur Beratung zur Verfügung. Da ich die Vorarbeit für dieses Experiment geleistet habe, überlasse ich Ihnen die praktische Durchführung. An die Arbeit!« Damit verließ er den Raum und überließ die Schüler ihrer Begeisterung. Man schrieb damals das Jahr 1926.

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as winzige Ascona lag wie in einem Traum. Am Ufer des Lago Maggiore kräuselte sich das klare Wasser, nur von ein paar stelzfüßigen Wasservögeln bewegt. Stille. Sonne. Im Hintergrund ein Gebüsch wild wuchernder Pflanzen, großblättrig, grün, getupft von Hibiskus. Blumen, wohin man blickte. Gegenüber am anderen Ufer des Sees sanft ansteigende Berge. Das Summen der Insekten der einzige Laut. Das irdische Paradies. Noch nass vom Bad im See lagen ein paar Seewaldschüler in der Sonne. Was für ein Sommersemester. Was für ein Lehrer! Karin hatte schon am frühen Morgen an einer Leinwand gearbeitet. Aber die Unzufriedenheit mit sich selbst trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Wo blieb der große Wurf? Wo blieb die Darstellung dieses Paradieses, wo blieb in ihren Bildern das Außergewöhnliche, das sie so sehr erwartete? Langsam Mädchen, hatte Professor Seewald geraten. Lass es wachsen. Aber Karin fand, ihre Bilder blieben immer noch so wie damals der Tiger auf ihrer bemalten Wand: eine trächtige Hauskatze. »Das Außergewöhnliche kommt aus dir selbst. Nur erkennen muss man den Augenblick – und bereit sein.« Am Abend saßen sie wie immer beim Landwein zusammen. Professor Seewald stand auf und sagte: »Zum Abschluss der Reise habe ich noch ein Ass im Ärmel: eine Einladung auf die sogenannte ›Insel der Seligen‹.« Diese Insel, unübersehbar mitten im See liegend, gehörte einem deutschen Industriellen, der dort weiter nichts wollte als seine Ruhe. Dass zu dieser Ruhe immer wieder Gäste von überall her gehörten, das war nun sein Lebensstil.

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Die Dorfbevölkerung war der unzugänglichen Insel und ihren Bewohnern zunächst verständnislos begegnet. Sie vermutete etwas Verbotenes, Schamloses, ohne die Vorstellung davon präzisieren zu können. Nacktbaden … verrückte Nudisten … Schließlich hatte sie sich daran gewöhnt, es war eben anders … Am Abend des nächsten Tages sollten die Gäste besonderer Art erwartet werden. Professor Seewald meinte, eine Bekanntschaft mit einflussreichen Menschen aus der großen Welt sei für die Jugend immer von größter Wichtigkeit. Wie recht er hatte. Karin in ihrem einfachen Sommerkleidchen fand ihre Aufmachung allzu bescheiden. Am Nachmittag sammelte sie Blumen und Gräser und verflocht sie zu einer breiten langen Girlande. Diese schlug sie, ihrem Stil gerecht, um Schultern und Hals und wusste: So und nicht anders musste ein Mädchen aussehen, das Gast war auf der »Insel der Seligen«. Die Kameraden zuckten die Achseln; das war eben typisch Karin, immer aus der Rolle zu fallen. Der Professor schmunzelte in sich hinein. Er freute sich, dass er dem verwöhnten Gastgeber diesmal etwas Besonderes vorführen konnte. Jeder der Schüler brachte eine kleine Skizze als Gastgeschenk mit – und den heimlichen Wunsch, sich bei den Persönlichkeiten in Erinnerung zu halten. Karin hatte eine kleine Zeichnung, ein Dorfmädchen mit riesigem Strohhut, angefertigt. Fokker, einer der Gäste, dessen neueste Konstruktion, ein Wasserflugzeug auf dem See, erprobt wurde, griff in seine Tasche und holte eine große Münze hervor. »Hebe sie gut auf«, sagte er, »und wechsle sie nur ein, wenn du in großer Bedrängnis bist.« Karin, die viel Sinn für solche Geheimnisse hatte, schloss ihre Finger fest um das Goldstück, eine Zwanzig-Dollar-Münze. Einmal, viel viel später, würde dies ihr einziger Besitz sein. Ein neuer Gast war hinzugekommen. Sofort wurde geflüstert und gemunkelt. Wer konnte das sein? Er stand in der Tür. Breitschultrig und groß. Das schwarze Haar fiel ihm fast bis auf die Schultern. Sehr blass schien er, die

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grauen Augen wie unter dem Schutz der dicken schwarzen Augenbrauen. Maler, hieß es, gerade aus Tahiti zurückgekommen, wo er den Spuren von Gauguin gefolgt war. Das war für die Kunstschüler etwas so Unerhörtes, Unerreichbares, dass sie nur in schüchternem Schweigen verharrten. Der Mann war Ernst van Leyden. Ein holländischer Maler, hieß es später, in Paris lebend, wenn er nicht gerade für seine Arbeit unterwegs war (Landschaftsmalerei). Karin hatte sein Auftritt buchstäblich die Sprache verschlagen. Ihre leichthin fröhliche Persönlichkeit, ihre Überzeugung, etwas Einmaliges zwischen der Allgemeinheit zu sein, sackte in ihre Füße und verschwand. Aber zugleich mit diesem unbekannten Gefühl der Schwäche stieg der alte Stolz in ihr auf. Was sollte dieser Mensch mit seiner Ausstrahlung, die ihr das Blut in den Kopf jagte? Sie zog innerlich ihre Fühler ein, baute eine Mauer um sich auf, die sie immer als Schutz vor Unbekanntem bereit hatte. Sie war die Prinzessin … Diese grauen Augen irritierten sie. Um ihnen auszuweichen, flirtete sie heftig mit einem ihrer Studienkameraden, der angesichts dieser völlig unerwarteten Gunst verschüchtert verstummte. Van Leyden, der ihr nun beim Essen gegenüber saß, erzählte von Paris und von seinem Haus in Holland, das er zurzeit nicht benutzen könne, weil seine Frau dort wohne, von der er getrennt lebe. Solche Interna so offen auszusprechen, schien Karin unerhört. Sie überlegte, warum ein solches Thema überhaupt irgendjemanden interessieren könne. Aber gleichzeitig imponierte ihr diese für sie ungewohnte Ehrlichkeit. Van Leyden fragte die Seewaldschüler nach ihren Studien, nach den Möglichkeiten, ihren Hoffnungen. Karin erwiderte schnippisch, wenn man nicht das Höchste anstrebe, brauche man gar nicht erst anzufangen. Betretenes Schweigen folgte. Stille. Van Leyden meinte, das Außergewöhnliche käme nicht von selbst, Arbeit und unbeirrter Einsatz des ganzen Lebens sei, neben dem Talent, Voraussetzung.

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Ernst van Leyden


Karin wurde rot. Arroganter Pinsel, dachte sie. Dumme Gans, dachte ihr Gegenüber und um seinen Mund spielte ein Lächeln. Am nächsten Morgen stand er mit seinem Wagen vor der kleinen Pension, in der Karin wohnte, und wartete auf sie. »Ich wollte mir erlauben, Sie zu einem Ausflug einzuladen. Falls Sie sich trauen.« Das brachte Karin wieder zu sich selbst. »Was heißt hier sich trauen?« Sie stieg in den schweren Hispano-Suiza und riss die Tür zu. Der Motor sprang an und der Wagen rollte durch Ascona zur Autostraße. Seine Hände lagen ruhig auf dem Lenkrad. Dann nahm er eine Hand und legte sie sachte auf die ihre, die sie eng um ihre Knie verkrampfte. »Hab keine Angst, Kleines«, sagte er mit ganz veränderter Stimme, »wir fahren nach Venedig.« In Venedig parkte van Leyden den Wagen dort, wo schon viele, hier unnütze, Autos warteten, gegenüber dem Steg der Gondoliere. Sie liefen durch schattendunkle Gassen, über schmale Brücken, durch geheimnisvolle Torbögen, vorbei an kleinen Kirchen, die ihre vom Kerzenrauch geschwärzten Bilder bewahrten. Plötzliche Helligkeit stoppte Karins neugierigen Lauf und vor der Weite des Markusplatzes verstummte sie, ins Schauen versunken vor diesem in Stein gemeißelten Traum der Baumeister früherer Jahrhunderte. Die bronzenen Pferde auf der Brüstung des Domes und der goldene Löwe, das Bild einer Macht. Später saßen sie unter den Arkaden und genossen schweigend einen köstlichen Espresso. Endlich sagte Ernst, er habe nur den Zipfel des Vorhanges für Karin gelüftet, die Erinnerung solle sie immer wieder hierher locken. »Wir können jetzt zurückfahren und wären dann am späten Abend wieder in Ascona. Von dort fahre ich dann gleich nach Griechenland weiter, wo ich für längere Zeit arbeiten will. Wir

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können aber auch den Abend hier genießen, Essen gehen und das Fest der Gondoliere bewundern, ein italienisches Konzert mit nächtlichem Fackelglanz. Es ist deine Entscheidung. Vorsichtshalber habe ich zwei Zimmer im Hotel gebucht. Morgen früh führen wir nach Ascona, so dass du deinen Zug nach Köln wie vereinbart erreichen kannst. Es liegt ganz bei dir.« Karin sah in seine Augen. »Du sagtest zwei Zimmer?« »Selbstverständlich«. Wie von weit her erinnerte sie sich an ihren alten Professor: Erkenne den Augenblick und sei bereit! »Ich würde gerne den Corso der Gondoliere und das Konzert erleben.« »Gut, dann gehen wir etwas essen.« Venedig bot ihnen seinen schönsten Traum, es blieb Karin nichts schuldig an Verzauberung. Ihr kindischer Stolz verlor an Glanz wie ein Krönungsmantel, in den sich die Motten eingenistet hatten. Wenn ich jetzt nachgebe, dachte Karin, dann bin ich verloren für mein ganzes Leben. Wenn ich jetzt einen falschen Schritt tue, dachte Ernst, dann habe ich sie verloren, für immer. Er brachte sie in das Hotel. Er nahm die beiden Schlüssel entgegen und überließ ihr die Wahl der Zimmernummer. Leise murmelte Karin: »Gute Nacht« und schloss die Tür hinter sich. Im Raum war die Balkontür geöffnet, das dunkle Wasser schlürfte über die drei Stufen des Eingangs und verwischte für denjenigen, der ungesehen vom Kanal her das Haus betreten wollte, jede Spur. Karin stand am offenen Fenster, ihre Haut brannte, ihr Herz … »Ernst!«, rief sie und noch einmal: »Ernst!« »Ist es so schwer, mein Kleines?«, hörte sie noch. »Ich fange dich doch auf, mein Leben lang. Hab keine Angst.«

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n Köln bereitete Karins Mutter ein Festessen vor. Die ganze Familie freute sich auf Karins Heimkehr und war gespannt auf ihre Erzählungen. Noch nie waren sie so lange getrennt gewesen. Es läutete, aber es war nicht Karin. Ein Brief aus Ascona. Fremde Handschrift. Die Mutter fühlte plötzlich etwas wie Sorge. Sie riss den Brief auf. Fremde Handschrift. »Sehr geehrte Madame, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihre Tochter seit gestern Morgen von hier verschwunden ist. Sie soll mit einem mir völlig unbekannten Mann in einem ausländischen Wagen, ohne Angabe einer Adresse, abgefahren sein.« Bis hierher hatte die Mutter gelesen, dann fiel sie mit einem furchtbaren Schrei auf einen Sessel. Charlotte, die jüngere Schwester, fischte nach dem Brief und las weiter: »In dieser Nacht war sie, wie ich feststellen konnte, nicht zu Hause. Ich habe bisher nicht die Polizei verständigt, um den unbescholtenen Ruf meines Hauses nicht zu beschmutzen …« Ein Weinkrampf von Karins Mutter unterstrich diese Tragödie. Ihr Kind, ihre so sehr geliebte, vergötterte Tochter … Die jüngeren Geschwister waren, wie immer, voller Begeisterung. Mitten in diese Familientragödie ging die Türglocke. Braun gebrannt und strahlend kam Karin auf die Bühne des Dramas. Sie hatte so klug und vorsichtig ihre Rückkehr geplant, hatte mit Mühe diesen Zug über Ascona erreicht und war

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zur gleichen Stunde angekommen wie geplant. Nur die Nachricht des Bösen war wieder einmal schneller gewesen. Die Mutter hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, weigerte sich, ihre »gefallene« Tochter zu umarmen. Erst als der Vater erschien und mit Besonnenheit versuchte, zunächst die Umstände zu klären, konnte Karin von ihrem Abenteuer berichten. Aber so angegriffen wegen etwas, das für Karin ein wunderbarer Traum gewesen war, flossen auch bei ihr die Tränen. »Ich wollte euch doch nur erzählen, dass ich mich verlobt habe!«, schluchzte sie. Aber dass die Dinge nicht so einfach lagen, wie es schien, verschwieg Karin – bis sie sich mit ihrem Vater ausgesprochen hatte. Am anderen Tag erschien der zukünftige Schwiegersohn und bat formvollendet um die Hand der missratenen Tochter. Dass seine Scheidung noch nicht juristisch besiegelt war, war zwar ein Schönheitsfehler, würde aber von seinen Anwälten geregelt. Der kleine Roman, der sich um seine vorübergehende Ehe wand, war nur eine Folge der Engstirnigkeit der Dörfler seiner Heimat. Ernst van Leyden hatte dort ein Dorfmädchen gebeten, ihm gegen Bezahlung Modell zu stehen. Nein, natürlich nicht für Aktzeichnungen, dafür hätte er sein Atelier in Paris, wo diese Dinge zum Malen gehörten. Aber als die Familie des Mädchens erfuhr, dass Ernsts Bilder auf Ausstellungen gezeigt würden, sogar in heidnischen Ländern wie etwa Ägypten, verletzte das die Ehre der Familie so sehr, dass sich Ernst schließlich bereit fand, das Mädchen zu heiraten, um so die Ehre der Familie zu retten. Er vereinbarte mit der Familie sofort eine Trennung nach angemessener Zeit. Nicht ahnend, dass der Griff nach seinem Vermögen und seinem geliebten Haus in Holland der Preis waren. So war im Augenblick seine Situation. Aber wie auch immer die damals noch verklemmten Auffassungen sich darboten, er und Karin würden sich nie mehr trennen. Auch der Versuch ihrer Eltern, sie zu einer Wartezeit bis zum Ende der Scheidung zu überreden, scheiterte an ihrem

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Ernst van Leyden in seinem Atelier, etwa 1962


kategorischen Nein. Ernst erklärte, dass ein so besonderes Talent, wie Karin es habe, unbedingt eine Weiterbildung in Paris oder New York brauche, ebenso wie eine Einführung in die Kunsthändlerszene. Dort käme es nicht auf Herkunft, Ausbildung oder sozialen Status an, sondern ausschließlich auf die Leistung. Kein Tag dürfe verloren werden. Karins Vater in seiner Sorge, in seiner Liebe und in seiner Achtung vor seiner Tochter, zeigte nicht, wie er litt. Er überdachte im Stillen seine finanziellen Möglichkeiten, unbeachtet der noch immer großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Er war ein Kaufmann, kein Millionär. Und er war abhängig von der empfindlichsten Ware, die im Umlauf war: der Mode. Dann kam sein salomonisches Urteil: Karin solle sich ein bescheidenes Atelier in Paris mieten, wo sie schlafen und arbeiten könne. Den Lebensunterhalt würde er ebenfalls finanzieren. Nur dürfe sie nicht mit Ernst zusammenwohnen, das hatte er seiner Frau versprechen müssen. Mein Gott, dachte Ernst, wo leben diese Menschen noch! Aber gleichzeitig stieg seine Achtung vor der Geradlinigkeit dieses Mannes. Was für ein Vater, dachte er. Karins Vater selbst sah das ganz anders, als er das erste Mal den Raum sah, der in Paris als »Atelier« vermietet wurde. Meine schöne, meine geliebte Tochter! Was habe ich ihr zugemutet! Der Raum war sauber gefegt. Eine Matratze lag auf dem Boden, darauf ein paar Decken. Das Bettgestell dazu fehlte. Ein einfacher Tisch, ein buntes Keramik-Kümpchen und ein Kocher für Trockenspiritus. Ein Stuhl … »Ach Paps, das macht doch nichts. Zum Arbeiten braucht man nur eine Mönchsklause. Wenn ich es schön haben will, gehe ich zu Ernst. Er hat so ein wunderschönes Atelier. Du wirst sehen!« Was für eine Charakterstärke, dachte ihr Vater. Sie wird alles erreichen, was sie sich vorgenommen hat. Störe sie nicht. Karin ging Hand in Hand mit Ernst und entdeckte Paris. Fast täglich kamen Neue in die Kulturschmiede, arbeiteten,

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hofften eine Weile, hungerten und verschwanden wieder, abgelöst von anderen. Einige fanden einen Zipfel vom Glück, ganz wenige leuchteten eine Weile, ehe sie wieder verlöscht wurden von den gnadenlosen Umständen. Ganz wenige schlugen Funken, die der Welt zu Zeichen wurden, brannten aus oder wurden zum Stern am Himmel der Kunst … jahrelang, jahrhundertelang. Karin suchte in allem nach ihrem besonderen Stil. Sie trug einen rostfarbenen marokkanischen Burnus aus handgewobener Wolle. Grobe Schals von irgendeinem fernen Volk. Leuchtendes Pink und Orange waren ihre Lieblingsfarben. Die flachsfarbigen Haare hatte sie ganz kurz geschnitten, der Pony reichte bis zu den Augenbrauen. »Just a window for my face.« Pariser »Elégance« fand sie wunderschön, Billigmode dagegen fürchterlich. Einmal erschien sie bei einer Party bei Peggy Guggenheim in einem grobgestrickten engen Sack, trug aber an einer Lederschnur um den Hals einen goldenen Kondor der Azteken von musealem Wert, dessen Flügelspannweite mehr als fünfzehn Zentimeter hatte; ein Geschenk von Ernst. Sie war der Star des Abends. Und sie wurde nie wieder eingeladen. Paris war wie eine Bühne zur Selbstdarstellung für sie. Und Karin nutzte sie. Der berühmte Juwelier Cartier bat sie, bei einer seiner Schmuckpräsentationen mit ihrem klassisch schönen Gesicht eine Kreation vorzuführen. Alle Augen waren auf die Öffnung des Bühnenvorhangs gerichtet. Karin erschien in eleganter Aufmachung, doch war das Kleid nur dem Schmuck untertan. Die Scheinwerfer waren auf ihr Dekolleté eingestellt. Aber Karin hatte im allerletzten Augenblick unbemerkt das unschätzbare Rubin-Halsband mit einer dreifachen Kette aus Leopardenzähnen vertauscht. Cartier verschluckte sich an einem Aufschrei. Aber schon hatte Karin die wilde Kette abgenommen und stattdessen den kostbaren Rubinschmuck präsentiert. Der Applaus für beide Vorführungen besänftigte Cartiers Zorn, er hätte sich keine bessere Ouvertüre wünschen können.

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Wandmalerei von Karin und Ernst van Leyden in Paris


Inmitten des Wirbels der aufeinanderprallenden Kritiken um Malewitschs »Schwarzes Quadrat«, das in den oberen Rängen der Kulturszene einem Bankencrash gleichkam, lief der übliche Kunstbetrieb weiter. Ernst van Leyden, der seine internationalen Verbindungen stets zu Freundschaften vertiefen konnte, nahm eine Einladung nach Kairo an, um dort seine Ausstellung zu eröffnen, die unter höchster Protektion stand. Da er die Reise bequem und ohne einen großen Aufwand machen wollte, buchte er für Karin und sich nur eine einfache Kabine, ohne Kreuzfahrtluxus. Kaum an Bord, traf er einen Museumsdirektor aus Saint-Germain-en-Laye, der ihn zum Abendessen in den Speisesaal der ersten Klasse einlud. Kaum hatten sie sich zu Tisch gesetzt, kam der Chefsteward des Schiffes und bat Karin und Ernst den Speisesaal zu verlassen. Die Statuten erlaubten nicht, dass sich Passagiere der dritten Klasse in der ersten Klasse aufhielten. Karin raffte ihre Schals um sich und verließ, hoch erhobenen Hauptes, eine Königin im Exil, den Saal. Bei der Ankunft in Kairo kamen Zollbeamte und Polizisten an Bord und verlangten zuerst die Pässe von Mr und Mrs van Leyden. Der Wagen der königlichen Familie Faruk wartete, um sie abzuholen. Jahrelang lebten sie einfach glücklich. Sie machten ausgedehnte Reisen oder blieben lange in Ländern, wo ein Tag »Leben« weniger kostete als ein Café crème in Paris. Sie brachten ihre malerische Ausbeute nach Paris und füllten damit ihre Ausstellungen, immer gemeinsam, immer als Union Karin und Ernst. Sie verloren Freunde und gewannen neue und sie arbeiteten. Bis eines guten Tages einer ihrer findigen Anwälte in Holland herausfand, dass Ernsts Exfrau, das brave holländische Meisje, schon seit über einem Jahr mit einem reichen Bauern zusammenlebte.

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olland. »De Hooge Wilgen«. Loosdrecht. Am Südende des Loodsrechter Sees, nahe dem Örtchen Dordrecht, stehen drei hohe, silbrig flimmernde Weiden als unübersehbarer Blickpunkt in der tief liegenden Weite der holländischen Landschaft. Unter diesen Weiden steht das Häuschen von Ernst, ein steinerner Sockel, der nur die Aufgabe zu haben scheint, das meterdicke Rietdach zu tragen. Aber an seiner Südflanke, wo auf dem Steinunterbau die Wohnräume aus Holz fast verdeckt sind, schwingt sich das Dach plötzlich spitzgiebelig in die Höhe, hier schwebt der große Raum des Ateliers auf hohen Stelzen über dem Seewasser. Die Idee zu dieser Konstruktion hatte Ernst vor Jahren aus Tahiti mitgebracht. Die tragenden Stämme, deren Holz im Wasser wie Eisen erhärtete, waren durch das Netz kleiner Kanäle mit engen Kurven bis hierher gebracht worden. Nun wartete das Traumhaus auf seine rechtmäßigen Bewohner. Nicht genug der abgeschiedenen Lage, war das Stückchen Uferland noch durch einen kleinen Graben abgetrennt, den man nur über eine schmale Zugbrücke erreichen konnte. Nach den wechselvollen Jahren in Paris und den vielen Reisen gab es hier Ruhe und Einsamkeit genug. Hier heirateten sie 1932. Das Ende der Jahre des Suchens und Findens, der vielen Ausstellungen, Besuche und Verbindungen schien gekommen zu sein. Nun konnten sie mit den Schätzen ihrer Erfahrungen arbeiten. Während Karin sich mit den Erneuerungen in der Entwicklung der Malerei auseinandersetzte, sich für die stämmigen Frauenfiguren Picassos »Rosa Periode« begeisterte, sich in der Welt schwebender Fantasie von Chagall verlor, um dies mit ihren eigenen Kompositionen zu verbinden, hielt Ernst in diesen Jahren immer noch an seinem postimpressionistischen Stil fest.

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Sein Pinselstrich zog noch die Konturen der Natur nach, lockerer zwar und ganz dem Flimmern des Lichtes hingegeben. Und die Welt liebte seine Bilder, liebte die Schönheit der Natur darin, auch wenn er oft das Vergehende, Welke hervorhob. Seine Ausstellungen waren der aktuellen Sensation fern. Manchmal dachte Ernst flüchtig an eine Veränderung. Manchmal verspürte er sogar ein leises Erschrecken, aber er liebte die Schönheit. Er hasste die Entwicklung der neuen Malerei, wie sie sich vor allem von Deutschland und Russland aus ausbreitete. Warum musste man, um eine seelische Stimmung auszudrücken, ein krasses Gelb, ein Giftgrün und Rot so hart aneinandergrenzen, dass es die Augen schmerzte? War es nötig, das trostlose Elend einer Großstadt mit der Darstellung verhungerter, sogar verkommener Gestalten zu dokumentieren? Durfte die Kunst sich hergeben für eine politische Aussage? Was die Natur ihm an Verwelken und Neuentfaltung zeigte, das war Ernst Wunder genug und bot reichlich Möglichkeiten, seine Gedanken, ja sogar sein Wissen darin auszuleben. Und Ernst war der beste Lehrer. Die vierzehn Jahre, die er älter war als Karin, seine künstlerischen Erfolge, gaben ihr den Abstand, über den sie ihn rückhaltlos bewunderte. Für Ernst war sie der Mensch, dem er sein Wissen mitteilen konnte, für sich selbst das Überflüssige von der Klarheit der Gedanken trennend. Karins hungrigen Augen entging nichts. An den langen Abenden lasen sie einander vor aus den Büchern von Proust und Kafka, Homer oder Euripides, diskutierten über Shakespeare und Dostojewski, bis sich die Texte im Dämmerlicht verwischten. Sie hatten beide genug an sich selbst. Sie hatten eine wunderbare Bibliothek, genügend Auswahl an Platten klassischer Musik. Und die herrlichen Abende, wenn der feuchte Nebel sich über den weiten See legte, die Sonne im Dunst wie eine verwässerte Orange in Streifen von Rot versank. Dann hatten auch die Vögel ihren letzten Ton verträllert. Stille. Das war Holland.

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Ernst van Leyden, La Madonna de Eugaria, etwa 1931 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2009


Es waren nur kleine Zeichen gewesen, die einen Hinweis hätten geben können auf einen spürbaren Sinneswandel. Wenn Karin zum Einkaufen ging oder mit dem Kanu eine Abkürzung zur nächsten Ortschaft nahm, dann war oft das Gewünschte gerade ausverkauft. Kam sie aber mit Ernst, so fand sich, ganz zufällig, noch ein Stück dieser Ware. Ohne Ernst musste sie den weiten Weg bis Dordrecht zu Fuß machen. Weißbrot war ausverkauft, ihr bevorzugter Tee war nicht lieferbar. Ernst schob diese neuen Schwierigkeiten auf das noch etwas mühsame Holländisch seiner Frau. Aber als diese Unannehmlichkeiten sich ständig wiederholten, war deutlich, dass Karin als Deutsche hier nicht erwünscht war. Wie sollte man reagieren, falls sich diese Dinge zuspitzen würden? Karin hatte gerade begonnen, sich ihrer Familie zu erinnern, und lud ihre Schwestern zu sich ein, sich der Tatsache wohl bewusst, dass ihr hier in der Nachbarschaft keine Freundschaft geboten wurde. Ursula, das »Überflüssige«, war für längere Wochen zu Gast, gern gesehen, falls sie keine künstlerischen Ambitionen erkennen ließ. Ihre Ausbildung zielte auf große Firmen aus der Parfüm- und Modebranche, später die elegante Autoindustrie, und war damit Karins Ambitionen in der Kunst nicht gefährlich. Charlotte, stets bereit zu helfen, vergötterte ihre Schwester noch immer, gab, wenn es fehlte, ihre mühsam erarbeiteten Ersparnisse, die sie als Auslandskorrespondentin verdiente. Karin blieb die Prinzessin, ein Idol. Aber beide Schwestern brachten von diesen Besuchen im Ausland mehr Erkenntnisse mit, als im »neuen« Deutschland erwünscht waren. Eine neue Ausstellung der Arbeiten aus den letzten Jahren war in Rotterdam geplant. Sie hatten beide mit den Vorbereitungen, mit dem Texten, der Rahmung und dem Abarbeiten von Listen, ihre Kräfte verausgabt. Wie sagte Karl Valentin einmal: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.«

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Ernst van Leyden, »Kammend naakt«, etwa 1930 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2009


So war Ernst und auch Karin völlig entgangen, was sich außerhalb ihrer Insel zusammenbraute. Ein Thema wie der »Irre« in Deutschland war tabu. Auch die letzten Zeitungen verwehten ungelesen auf der Terrasse. Holland war ein neutrales Land. Nur die Besessenheit eines Künstlers, der sich in seine ureigene, geheime Welt zurückgezogen hat, erlaubt ein solches Verdrängen störender Einflüsse in seiner Umgebung. Holland ist neutral. Misch dich nicht ein. Ein wunderschöner Morgen im Jahr 1940. Sie hatten alle notwendigen Unterlagen für ihren Kunsthändler Karel van Lier im Auto verstaut. Karin stieg ein, Ernst startete und fragte, ob sie die äußere Terrassentür abgeschlossen hätte. »Hab ich vergessen. Macht nichts, wir sind ja heute Abend wieder hier.« Kein Blick zurück … Ein leichter Wind lüpfte das Titelblatt der Zeitung, die noch ungelesen auf der Terrasse lag. Fettgedruckt konnte man lesen: »Hitler bricht Neutralität!« Die Fahrt bis Rotterdam war nicht sehr weit, aber die Strecke war ungewöhnlich überfüllt und machte Vorwärtskommen schwierig. Endlich vor dem Haus van Liers angekommen und die enge Stiege hinaufgeeilt, traf Ernst den Kunsthändler inmitten von Koffern, Kartons und Bündeln. Van Lier starrte ihn entgeistert an. »Was wollt ihr denn jetzt noch hier? Unter diesen Umständen ist doch jede Ausstellung unmöglich! Ich habe meine Familie längst weggebracht und habe nur noch einiges zu erledigen, dann verschwinde ich auch.« Ernst würde ihn nie wieder sehen, weil van Lier Jude war. Das letzte Schiff aus Holland verließ den Hafen heute Nacht. Endlich begriff auch Ernst den Ernst der Situation. Sie eilten beide zum Büro der Holland-Amerika-Linie.

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Seit Wochen waren aber alle Passagen ausgebucht oder vorbestellt. Es tut uns leid, das war die ständige Antwort auf Ernsts Frage. Als er erfuhr, dass Hitler mit Grenzüberschreitungen begann, um sich die Häfen nach England zu sichern, erinnerte sich Ernst an seine Ausbildung im Wehrdienst, die er absolviert hatte. Welche Auswirkungen dies unter den deutschen Truppen haben könnte, war nicht abzusehen. Und Karin. Es blieben kaum noch Möglichkeiten, Holland zu verlassen. Vom Reisebüro aus versuchte Ernst seine Schwester in Amsterdam anzurufen, wo sie mit ihrem Mann, einem bekannten jüdischen Anwalt, und ihrem achtjährigen Sohn nahe der Amstel wohnte. Ernst versuchte auch das Anwaltsbüro zu erreichen, aber nur ein seelenloses Rauschen kam aus dem Apparat. In aller Eile schrieb Ernst eine Notiz an seine Schwester und bat den Angestellten, den Brief an die Adresse weiterzuleiten. Der junge Mann stutzte beim Lesen der Anschrift, dann fragte er, ob Ernst nichts über die Räumung dieses vornehmen Viertels gehört habe. Alle dort wohnenden jüdischen Anwohner seien mit Lastwagen abtransportiert worden, mit unbekanntem Ziel. Ernst hielt sich an der Wand fest. Angst kroch eisig über sein Denken. Er bat den jungen Mann um nähere Erkundigungen und darum, die Informationen an den American Express in New York zu senden, da er selbst nun keine Adresse hatte. Mit einem Schulterzucken nahm der Junge Brief und Geld entgegen. Besser wäre es, sich nicht mit diesen Leuten zu befassen. Als ob ein Vorhang zu ihrer Lebensbühne plötzlich zerrissen war, sahen Karin und Ernst ihre freiheitliche Existenz in Gefahr. Bisher hatte es für sie fast keine Grenzen gegeben. Sie schlugen ihre Zelte dort auf, wo Landschaft oder Menschen für die Gestaltung ihrer Bilder interessant waren. Welche Möglichkeiten würde es für einen Maler in einem vom Krieg überrannten Europa geben? Blitzschnell rasten die Bilder, die sich ihm nach der russischen Revolution eingeprägt hatten, an Ernsts innerem Auge vorbei. Wovon lebt ein Künstler im Krieg?

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Nie hätte Ernst eine Behinderung solcher Art erwartet. Amerika – niemals hätten Karin und Ernst an diesen Kontinent gedacht, der ihnen fremder erschien als die Wüste Gobi. Noch einmal fragte er den Angestellten des Schifffahrtsbüros. Dieser bedauerte. Plötzlich aber begann er in den Unterlagen für dieses letzte Schiff zu suchen. »Ich habe hier die bestellten Papiere für eine Luxus-Suite für ein Ehepaar aus Berlin. Wenn sich die Herrschaften innerhalb der nächsten halben Stunde nicht hier melden … Es war ein jüdisches Ehepaar und so muss ich fürchten, dass ihnen etwas zugestoßen ist. Sie verstehen, was ich meine. Wenn Sie den Preis für diese Suite ausgeben können – es sind 4000 Dollar –, so kann ich Ihnen nur dazu raten, denn Europa wird bald in Flammen stehen. Gehen Sie sofort an Bord und warten Sie dort ab. Haben Sie Gepäck?« Karin wies auf ihr Handtäschchen. »Das ist alles.« An Bord sagte Ernst: »Die 4000 Dollar sind das letzte Bargeld, das ich zurzeit habe.« Karin warf sich in einem krampfhaften Lachanfall rücklings auf das Bett. »Eine Luxus-Suite für 4000 Dollar? Und ich habe nicht einmal ein Nachthemd!«

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ew York. In der weichen Schutzhülle ihrer Puderdose trug Karin seit vielen Jahren die Zwanzig-Dollar-Goldmünze mit sich herum. Mein Gott, Fokker, dachte sie und suchte schon in ihrem zerfledderten Adressbuch nach seiner Telefonnummer. Es dauerte zwei angstvolle Tage, bis sie sein Büro erreichte. In ganz Europa hatten sie Freunde, auch in Indien und Nordafrika. Nur die USA waren ihnen ein noch unerschlossener Kontinent. Und hier waren sie gelandet. Die Atmosphäre in Frankreich, der freundliche lockere Umgangston, der weiche Klang der Sprache, trugen dort zum angenehmen Leben bei. Auch hier in den USA war der Umgangston durchaus freundlich und besonders hilfsbereit und doch hatte man den Eindruck eines inneren Unbeteiligtseins: »Ich helfe dir, aber lass mich in Ruhe.« Sobald es aber ums »Business« ging, war der Kontakt eiskalt. Erst als Karin mit Fokker selbst sprechen konnte, löste sich die starre Zurückhaltung der Angestellten. Die berühmte »honey voice« einer Sekretärin, die es gewohnt war, Anrufer auf schnellste, aber liebenswürdigste Art abzuwimmeln, war für jeden Chef ihr hohes Gehalt wert. Fokker also war zurzeit unerreichbar. Das Bankkonto in London war zwar gefüllt, aber momentan durch den Krieg blockiert. Karin versuchte Kontakte zu Kunsthändlern einzufädeln, aber wie gut ihre Bilder auch in Frankreich bewertet worden waren, Amerika begann sich seine eigene Kunstrichtung aufzubauen. Von ihren Preisen für Bilder herunterzugehen, wäre für die europäische Kunstszene undenkbar, sie würde ihr Renommee verlieren. Die berühmte Geschichte vom »Tellerwäscher«, der sich zum

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Millionär hocharbeitet – für Ernst und Karin fand sie nicht statt. Sie mussten eine lange Durststrecke durchhalten, bis sie wieder über ihr Londoner Konto verfügen konnten. Im »Beverly Hills Hotel« schlug Karin dem Hoteldirektor farbenreiche Wandmalereien vor, um dem trostlosen Hintergrund der verschiedenen Flaschen der Bar Bewegung zu geben. Bis zur Decke hinauf verbanden schwebende Figuren in verführerischen Gewändern sich mit mythologischen Gestalten. Der Direktor war begeistert. So etwas gab es in ganz New York noch nicht! Und mit Karins wochenlanger Malerarbeit war ihre Hotelrechnung auch bezahlt. Dann kam die schreckliche Nachricht vom plötzlichen Tod ihres Mäzens Fokker. Der Rettungsanker, der bereit gewesen war, ihnen den Start zu erleichtern, war gestorben. Nun hielt sie nichts mehr in dieser Stadt. Keine persönliche Bindung, kein loser Vertrag mit dortigen Kunsthändlern. Sie hatten das erreicht, was immer ihr persönlichstes Bedürfnis war: ihre absolute Freiheit. Und das mit allen Konsequenzen. Tief im Süden des riesigen Amerikas wussten Ernst und Karin Freunde, Emigranten wie sie, die Elite der deutschen Kunstkultur. Sie packten wieder einmal das Wenige, das sie besaßen, in ein Auto und fuhren gen Südwesten, immer weiter, wie so viele Menschen aller Art den Weg der Hoffnung gefahren waren. Sie fuhren in Richtung Sonne. Und sie wussten nicht, was sie dort erwartete. Meile für Meile rollten die Räder über das graue Asphaltband. Stunde um Stunde blieben die Landschaften zurück. Sahen ihre Augen die unvorstellbare Weite der angebauten Felder, ermüdeten an der Gleichförmigkeit, so wie sie auch an den Wundern der Natur ermüdeten. Berge, schwierige Straßenverhältnisse, die Ernsts Aufmerksamkeit erforderten, dazu die Sorge, was sie in diesem unübersehbaren Kontinent, mit dem sie sich eingelassen hatten, erwartete; das alles überwältigte ihre Kraft. So sprachen sie wenig, jeder hing seinen Gedanken nach. Karin fand sich durch den Überfall der Deutschen in ihrer Karriere zutiefst betroffen. Und sie sah ihre Freunde in so großer Not.

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Wandgem채lde in einem New Yorker Appartement von Karin und Ernst van Leyden


So kam zu ihrer Sorge um die Zukunft mehr und mehr der Hass. Und Hass macht blind für die Einsicht, welche Kräfte im Ineinandergreifen aller Entwicklungen freigesetzt werden. Noch hing alles wie ein Krebsgeschwür im leeren Raum, worin man den Atem anhielt. Sie dachte an die Eltern, die nun diesem Terror ausgesetzt waren, und sie erinnerte sich, wie ihr Vater nach vier Jahren im Kreideschlamm der Schützengräben bei Verdun unverändert seine kleinen Bronzefiguren von Napoleon und Fridericus Rex auf seinem Schreibtisch stehen hatte und wie seine Töchter immer darauf warteten, dass endlich die Queen dazukäme. Nein, der Vater hatte nichts mit den neuen Vandalen zu tun. Über die Einstellung ihrer Mutter machte sie sich auch keine Gedanken, zu sehr hatten sie sich erschreckt, als die Mutter einem höheren Nazi, der für die Partei sammeln wollte, die Tür vor der Nase mit den Worten zugeknallt hatte: »Es gibt auch Menschen, die anderer Ansicht sind!« Zu ihrer aller Glück hatte die Mutter keine Namen genannt! Karin lehnte ihren Kopf an Ernsts Schulter und schlief ein. Ernst hatte während der Fahrt seine Gedanken auf seine Arbeit gerichtet. Die wenigen Presseberichte und einige Fotos über wichtige Kunstausstellungen gaben ihm Grund für existentielle Sorge. Er war in seinen besten Bildern noch immer der Neigung zum Spätimpressionistischen gefolgt. Das Bedürfnis nach Experimenten, einem anderen Durchblick als dem Abbild der Natur, war ihm noch fremd. Er war erfahren genug, um zu wissen, dass es nirgendwo auf der Welt, in Wissenschaft wie in Kunst, einen Stillstand geben durfte. Mit Bewunderung sah er auf die Bilder seiner Frau, die, bei aller Naturnähe, sich bemühte zu übertreffen, was die Natur anbot, die versuchte die Oberfläche zu überwinden und hier und dort dem neuen Sehen zu folgen. Dann dachte Ernst mit Sorge an die vielen und besten Bilder, die er im Haus »De Hooge Wilgen« zurücklassen musste. Was würden die deutschen Soldaten damit machen? Er hatte keine politisch provozierenden Karikaturen oder Ähnliches gemacht, aus dem einfachen Grunde, weil er es hasste. Aber er dachte doch an die Erzählungen, wie beim Ein-

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marsch nach Frankreich im Palais Rothschild die Soldaten aus Spaß die kostbaren chinesischen Vasen zerschossen hatten … In London lagen im Atelier eines Freundes Bilder seiner letzten Ausstellung, sicher, wie er glaubte. Wann würde er alles einmal wiedersehen? Sorgen und die Müdigkeit vom Autofahren hatten ihn so erschöpft, dass er unbedingt einen Augenblick Ruhe brauchte. So fuhr er bei einer zufälligen Ausfahrt ein Stückchen zur Seite, stellte den Motor ab, dessen gleichmäßiges Surren ganz schläfrig machte, lehnte vorsichtig Karins Kopf an die Rücklehne und war sofort eingeschlafen. Die Nacht lag in tiefschwarzer Dunkelheit. Der grelle Schein einer Taschenlampe weckte ihn. Jemand klopfte heftig an die Autotür. »Was machen Sie da?«, fragte ein Polizist. »Schlafen«, antwortete Ernst. »Das dürfen Sie nicht. Hier ist kein Rastplatz.« Der Polizist verlangte die Papiere und suchte gleichzeitig nach seinem Fahndungsregister. Fragte, woher sie kämen. »New York.« »Alle Achtung, wie lange sind Sie unterwegs?« »Seit vier Tagen.« »Und wie weit wollen Sie noch?« »Nach Los Angeles.« »Das kann ich Ihnen in diesem Zustand nicht gestatten. Sie gefährden nicht nur sich selbst. Haben Sie Geld?« »Nur Schecks«, meinte Ernst, in Gedanken bei dem Wenigen an Barem, das ihnen zurzeit zur Verfügung stand. Der Beamte zögerte, schwankte zwischen Vorschriften und vernünftiger Eigeninitiative. Jedoch siegten rasch Vernunft und Hilfsbereitschaft. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich fahre Sie mit Ihrem Wagen zu dem nächsten Motel, das liegt kurz vor L.A. Dort schlafen Sie mindestens zehn Stunden. Danach können Sie fahren, wohin Sie wollen. Fahren Sie in dieser Nacht aber nur eine Meile, so garantiere ich Ihnen den Entzug Ihrer Fahrerlaubnis.«

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Er besprach sich kurz mit seinem Beifahrer, der ihnen mit dem Polizeiwagen folgen sollte. Dann half er Karin, es sich auf der Rückbank gemütlich zu machen, schob Ernst auf den Beifahrersitz und klemmte sich selbst hinter das Steuer. Seltsame Vögel, dachte er noch, in diesem Europa haben sie ständig Krach untereinander. Dabei dachte er voller Stolz an die Vereinigung der vielen Staaten seiner Heimat.

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s war nun schon der dritte Makler in Hollywood, bei dem Karin und Ernst nach einem passenden Atelier suchten, einem großen hellen Raum mit Wohnbereich. Wieder wurde ihnen eine prachtvolle Villa angeboten, mit einem fensterlosen privaten Kinovorführraum. »Viel zu aufwendig, wir suchen eher den Stall in Bethlehem«, meinte Karin, die langsam nervös wurde. »Haha, sehr lustig«, befand der Makler, dem es auch langsam lästig wurde. »Sagten Sie Stall?« »Jedenfalls keinen Palast«, sagte Karin. »Augenblick bitte, dabei fällt mir etwas ein: Ich kenne einen Pferdezüchter, der dank der Vielfalt der Wildwestfilme die Anzahl seiner kostbaren Tiere vervierfacht hat. Wo war der denn früher mit der kleinen Ranch? Da hat sich doch niemand mehr drum gekümmert … Ja, richtig, die ist seit Längerem unbewohnt!« Als sie zu dem Anwesen kamen, wussten sie sofort: Aus diesem Gebäude ließe sich ein herrliches Atelier machen. Hochaufstrebend zum Dachfirst, über zwei Etagen, vorbei an dem vorspringenden Heuboden, verbunden mit hölzernen Treppen, Leitern und Stegen, schienen sich die Balken im Unendlichen zu verlieren. Unten lag, nach dem Entfernen aller Pferdeboxen, ein riesiger freier Raum. Der einfache Wohntrakt hatte zwei Badezimmer. Überall gab es Wasser- und Stromanschluss. Karin meinte, ein normales Tafelbild in den sonst üblichen Formaten sähe hier aus wie eine Briefmarke. Ihre Fantasie füllte diese Leere bereits mit den Kompositionen zukünftiger Wandbilder. Aber noch fehlte es an dem nötigsten Material. Der Umbau verzögerte sich durch die Verknappung aller Dinge, vom Bleistift bis zum Nagel. Nach dem Eintritt Amerikas in das

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weltweite Kriegsgeschehen war alles, was irgendwie für die Rüstung der Kriegswirtschaft gebraucht wurde, unter staatliche Kontrolle gestellt. Dies führte zwar zu einem enormen Wirtschaftswachstum, aber hinderte an anderen Stellen den Absatz bis zur Stagnation, bis zum wirtschaftlichen Ruin. Ernst, der sein Leben und Wohnen bisher nur von seiner malerischen Arbeit und deren Umfeld hatte bestimmen lassen, war es gewöhnt, unter den bizarrsten Umständen auch in fremden, ärmsten Ländern seine Motive zu suchen. Das Wichtigste war, dem Leben der Menschen nahe zu sein. Aber Karin sah zwischen den werkenden Arbeitern keine ruhige Ecke für ihre eigene Arbeit. Sie sah nur die verlorene Zeit. »Lass uns wegfahren, irgendwohin in die Landschaft«, bat sie Ernst. Sie, die geschworen hatte, nach der endlosen Fahrt bis hierher nie wieder in ein Auto zu steigen. Wer eine Adresse hat, wie nun endlich auch wieder Ernst van Leyden, der bekommt auch Post, ob es ihn freut oder nicht. Immer wieder hatte er sich vergeblich bemüht, irgendeine Nachricht aus Holland zu erhalten, was aus seinem dortigen Besitz geworden sei. Nun, da sich in Europa der Krieg festgefahren hatte, kamen bruchstückhafte Notizen nach USA. »De Hooge Wilgen« stand noch. Es würde bewohnt als Sommerhaus, von dem deutschen Gouverneur. Was diesem Herrn nicht gefiel, hätte er kurzerhand in den See geworfen. Sein Schwager, der jüdische Anwalt, wurde nach Auschwitz abtransportiert und war verloren. Seine Frau, Ernsts Schwester Minni, der »Rassenschande« beschuldigt, und ihr kleiner Sohn, acht Jahre alt, wurden nach Theresienstadt verschleppt. Dort verlor sich ihre Spur. Tief betroffen sah Ernst in Gedanken seine Bilder, die schönen Porträts von Karin, die unwiederbringlich verloren waren. Er sah die Reihe »Mädchen mit blauem Tuch«, von der die Tate Gallery in London eines gekauft hatte, sah die wundervollen Landschaften der friedlichen Tage in Portugal vor sich und sah, wie die Bilder auf dem Loosdrechter See schwammen, bis sie sich mit Wasser vollgesogen hatten und versan-

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ken. Und immer wieder Karins Porträt, ihre großen fordernden Augen, als wolle sie die Welt mit aller Schönheit verschlingen. Das Bild, das er so geliebt hatte – Karin nackt vor dem Spiegel, eine Strähne des blonden Haares wie ein Lichtstreifen über der Schulter –, vorbei, vorbei. Nie wieder würde er so malen können wie in diesen jungen Jahren. Nie wieder würde er diese Augenblicke, die er für immer hatte bewahren wollen, erleben. Mit wachsender Sorge beobachtete Karin, wie Ernst einer Krise zustrebte und versuchte ihn wieder zu seiner alten Aktivität anzuregen. Dass die sonst so beruhigende und so notwendige Gartenarbeit hier nicht helfen würde, war offensichtlich. Karin sagte, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: »Mach einen Höflichkeitsbesuch bei Thomas Mann, mach ein paar Skizzen von ihm und versuche ihn zu einer Porträtsitzung zu überreden. Auch wenn er nicht dazu bereit ist, sein Name allein wäre schon nützlich genug, hier die Neugierde anzuregen und uns hier einzuführen.« Das Porträt wurde nicht gerade seine beste Arbeit; denn es fehlte die frühere Leichtigkeit, die neue Umgebung in ihrer ganzen Ungewohntheit hemmte ihn, aber wie Karin es geahnt hatte: Die Neugier des sensationsgierigen Hollywoods war geweckt. Karin heftete inzwischen an die kahlen Wände des weißen Stalles große. Bogen Packpapier, auf denen sie mit großzügigen Kohlestrichen, wie an den Wänden einer Theaterdekoration, einige ihrer Kompositionen skizzierte, Segel, Pflanzen, Menschen mit Booten, alles was sie kannte, es galt ja nur den Augenblick der Stagnation zu überspielen. »Und nun machen wir eine Party!«, sagte sie. Party war das Losungswort in Hollywood. Karin schrieb und telefonierte an Freunde und Fremde und bereitete die bekannten Snacks und Getränke vor. Es war – fast – wie früher. Nur die Gäste kamen nicht. Sie warteten bis 21 Uhr, sie warteten bis 22 Uhr. Sie warteten weiter und gaben um 23 Uhr die Hoffnung auf. Was konnte da schief gelaufen sein? Es wurde Mitternacht. Sie fingen an wegzuräumen, was in den Kühlschrank passte, und wollten sich gerade schlafen legen, als es plötzlich fröhlich läutetet und ihre Gäste, bereits

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durch einige Drinks angeheitert, erschienen. Sie waren schon auf zwei anderen Partys gewesen. Karins Mut und ihre Freude am Ungewöhnlichen hatten zu ihrer ersten Erfahrung mit einer amerikanischen »housewarming party« geführt. Und bei aller Verzweiflung den unbekannten Gebräuchen gegenüber – es wurde großartig. Karins mutiges Improvisationstalent wurde begeistert aufgenommen. Das Wichtigste, das sich aus dieser improvisierten »housewarming party« entwickelte, war einige Tage später ein Anruf von Tyrone Power, des Leinwandhelden, dessen Lächeln Millionen Frauen die Knie zittern ließ. Er habe ein Problem, sagte Tyrone Power. Karin war neugierig. Er holte sie ab und führte sie in seinen Garten vor eine rohe Ziegelmauer, hinter der sich eine Baustelle mit viel Krach und Schmutz verbarg. Dazu der Lärm des vorbeirasenden Verkehrs. »Das ist mein Problem!« Karin mit ihrer Leidenschaft für große Flächen sah nur eine neue Möglichkeit, wie sich ihre Fantasie austoben könnte. »Eine Mauer ist keine Grenze«, sagte sie. »Erzähl mir deine Geschichte und du wirst sehen, wie weit du hineingehen kannst!« Und so begann in den USA die Reihe großer Wandbilder von Karin, in die auch Ernst eng eingebunden war. So sehr hatten sie inzwischen ihre Arbeit miteinander verflochten, sich ergänzend, helfend, kritisierend und dokumentierend. Für Karin hatte die Begeisterung für Wandbilder schon während ihrer Akademiezeit begonnen. 1936 folgte eine große Herausforderung: Sie sollte in Hatherop Castle in England für den Baronet eine Halle ausmalen und schuf eine unendlich erscheinende Jagdszenerie. Die Fortsetzung ihrer Leidenschaft brachte weltweite Aufträge, über Jahre hinweg, für Theater, Cafés, Hotelhallen, Privathäuser und öffentliche Gebäude. Wo Begrenzung war, schien sich die Welt zu öffnen, eine verschobene Perspektive, und schon wurde man in eine Szene hineingezogen, die bis zur Unendlichkeit zu führen schien, während dem Beschauer zu Füßen etwa ein Obstkorb zu stehen schien, aus dem sich eine Figur einen Apfel nahm. »Was für ein Wunder ist doch die Perspektive«, sagte der Maler der Renaissance.

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Karin van Leyden, fotografiert von Man Ray, etwa 1929 (c) Man Ray Trust, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn 2009


Karins brennender Ehrgeiz, an der erfolgreichen Reihe der Wandbilder weiterzuarbeiten, riss auch Ernst aus seiner Lethargie. Während Karin auf der großen Pferderanch des früheren Besitzers ihres »Stalles« für eine große Szene Rodeo-Studien der Pferde machte, porträtierte Ernst Bertolt Brecht und Helene Weigel, Max Reinhard und Thomas Mann sowie andere literarische Berühmtheiten, die sich inzwischen regelmäßig im Brentwood-Studio der van Leydens zu einem Kreis zusammenfanden. Dazu gehörten auch der junge Dalí, die Familie von Charlie Chaplin, die sich von Karin malen ließ, und Gloria Vanderbilt. Mexiko, dachte Karin, das wird Ernst von seiner Trauer um den Verlust der Bilder ablenken. Es war nur ein kleiner Trip, so nahe, wie sie der Grenze waren, und Karin hoffte, auf ein noch ursprüngliches Volk zu treffen, fern der gelackten Atmosphäre Hollywoods. Sie packte T-Shirts und Jeans, Zahnbürsten und Sandalen und Dutzende von Skizzenbüchern der verschiedenen Formate ein. Ein kleiner Trip nur, aber er sollte das entscheidendste und wichtigste Erlebnis ihres ganzes Leben werden. Nicht die sich nachhaltig verändernde Landschaft traf den empfindlichsten Punkt ihres künstlerischen Auges – das würde sich erst später auswirken –, es waren ein paar Landfrauen, die ruhig vor Karin zum Markt wandelten. Waren es Frauen? Es bewegte sich eine lebende Komposition von Rundungen, eine Komposition aus flach tretenden bloßen Füßen und runden, flaschenförmigen Waden. Aus üppigen Röcken, die, um den Schritt nicht zu behindern, gerafft waren und die schwellenden Schenkel, die üppigen Hüften und das wollüstige Hinterteil betonten. Darüber hing die Last vom Kopf, um dessen Stirn ein starkes Band den Schultern einen Teil der Schwere abnahm, ein Netz voll mit den üppigsten Früchten, die das Land zu bieten hatte, dicke grüne oder leuchtend gelbrötliche Melonen. Alles in der üppigsten Form der Natur, der Kugel. Es schien Karin, als rollte dieser ganze kunstvolle Aufbau einer Last, die dem Auge ständig eine Bewegung vortäuschte, als wäre sie ein Leichtes. Die Krüge, nicht zu vergessen, um fernliegende Wasserstellen zu finden, auch sie dickbäuchig und in dem rötlichen Ton, der alles in Harmonie zu binden schien.

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Karin und Ernst van Leyden bei gemeinsamer Arbeit, etwa 1950


Nie mehr würde Karin dieses Bild vergessen, das vor ihr in unendlichen Variationen abrollte. Immer wieder würden nun diese Formen, Farben und Figuren, auch die seltsamen bunten Truthähne mit ihren roten Hälsen und dem blauschwarz schimmernden Federkleid in ihre Bilder tauchen. Endlich fand Karin auch ihre Figuren wieder, die das natürliche einfache Leben bot. Gott braucht die Armen, dachte sie, weil er durch ihre Lumpen hindurch noch seine Schöpfung erkennen kann. Und dann zu den Märkten, vorbei am Viehmarkt mit den sauber gewaschenen rundlichen Ferkeln und den langhalsigen Lamas, deren sanfter, großäugiger Blick angstvoll das Geschehen verfolgte, zum Fischmarkt. Zwischen den mürbe verwaschenen Lappen, die ein wenig Schatten spenden sollten, stahl sich ein Sonnenstrahl und brachte die darunter liegenden Fische zum Flimmern. Seite an Seite lag die Beute dieses Morgens auf den Tischen, Silber neben Silber, mit gespreizten Flossen, hin und wieder ein offenes Maul in Rosa, zu Knäueln geschlungene Moränen und die seltsamen Plattfische, die wellenförmigen Seiten wie einen Volant ausgebreitet. In geflochtenen Körben zeigten die Schalentiere ihre wehrhaften Zangen, die fadendünnen Fühler aus dem Gewirr ziehend. Muscheln, die seit Jahrzehnten das Zeichen der Pilger aller Völker waren. All dies empfing Karins Auge, sie riss Blatt um Blatt ihrer Skizzenbücher ab, die sie mit Zeichnungen bedeckt hatte. Zu viel! dachte sie. Ich muss es verwerten und zu Bildern machen, die starken Farben der Umgebung, dieses Pink und Orange, das Violett und giftige Grün … ich muss es zu Bildern formen … Sie fuhren zu ihrem Stall in Brentwood zurück. Ihre dekorativen Wandbilder, im Auftrag einiger berühmter Stars für deren luxuriöse Bungalows entworfen, verließen selten die Welt des Schönen und Guten. So hatte Karin nichts entgegenzusetzen, als plötzlich der Film noir und die Kunst der Hässlichkeit die Kunstszene überrollte.

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Einladung zu einer Pr채sentation von Karin van Leydens Arbeit, Brentwood/USA, 1947


Eine Künstlerin stieg in die obersten Reihen auf, deren Leben aus schwerster Krankheit und körperlicher Behinderung zu den Tiefen des Erlebens führte: Frida Kahlo. An dieser Stärke brach sich jeder Versuch, durch beste Malerei die innere Leere zu überspielen. Diese Tiefen des Leidens hatte Karin nie erlebt. Schließlich wurden auch die fiebrigen Fantasien der Frida Kahlo abgelöst vom kühlen Konstruktivismus oder dem reinen Farbstreifen des Abstrakten. Aber auch in anderer Hinsicht änderte sich der Stil in Hollywood: Während der Kriegsjahre hatte die Wirtschaft durch die immensen Materiallieferungen für die wichtigen Waren zunächst einen riesigen Aufschwung genommen, der sich aber für andere Bereiche bis zum Lieferstopp auswirkte. Was nicht kriegswichtig war, wurde weitgehend gestoppt oder konnte nicht geliefert werden. Diese Engpässe belasteten nach dem Eingriff der USA in das aktive Kriegsgeschehen die interne private Wirtschaft bis zur Zahlungsunfähigkeit. Auch die Einfuhr ausländischer Waren fiel aus. Als sich dies auch auf Möbel aus Edelhölzern ausdehnte, ergriff Karin ihre Chance: Sie ließ aus ganz einfachen Hölzern Kommoden, Tische etc. anfertigen, die sie mit hinter Glas bemalten Glaskacheln belegte. So entstanden dekorative, leuchtende und amüsante Möbelstücke, die dem Mangel an Edelhölzern bewusst die Stirn boten. Als diese ersten Modelle bekannt wurden, ergab sich daraus ein so großer Bedarf, dass sie auf die tatkräftige Mithilfe von Ernst angewiesen war. Das war für Ernst wie ein Rettungsanker während seiner Schaffenskrise. Aber auch Karin profitierte davon mit ihrem wachsenden Konto. Während der Westen Amerikas voll Sorge auf Japan blickte, hatten sich in Europa die Verteidigungsstützpunkte mehr und mehr zurückgezogen. Hitler opferte den Osten. Der Befehl, bis zum letzten Mann die Stellung zu halten, war praktisch die Hinrichtung der Truppen, denn er zog den letzten Schutz, der noch kampffähig war, ab, um den amerikanischen Einbruch zu stoppen.

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Amerika sah jetzt eine gute Möglichkeit, mit enormen Panzerverbänden in den Westen Deutschlands einzubrechen. Ein relativ kleiner Höhenzug, dicht bewaldet, die Ardennen, schien kein Hindernis zu sein. So wälzten sich die vielen tonnenschweren, aufs Äußerste mit schweren Geschützen bemannten Panzerungetüme auf eine Landschaft zu, die schon vor Jahrhunderten berüchtigt gewesen war. Die deutschen Schulbücher waren voll von den Dramen, die sich um diesen Namen rankten. Hier nahm sich die Natur ihr Recht, in das Weltgeschehen einzugreifen. Hier bezahlte Amerika seinen höchsten Blutzoll für sein Eingreifen, die Freiheit des Handelns und des Handels zu bewahren. Die alles niederwalzenden Ungetüme gerieten hier in den trügerischen Urwald. Seit Jahrzehnten umgestürzte, faulende Bäume, überwachsen von scheinbar erdigem Grund, aus dem schon wieder Neues erwuchs, ein Geflecht aus undurchdringlichen Wurzeln und Dornbüschen verweigerte jede Orientierung. Es war unmöglich, die schweren Geschütze zu benützen, die Panzer kippten zur Seite und versanken im Morast, die Soldaten mit sich reißend. Im untrennbaren Durcheinander erstickten Freund und Feind gemeinsam im Schlamm. Amerika konnte seine Gefallenen nicht begraben. Es konnte sie nur beweinen.

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mmer wieder fand sich das verwöhnte geistige Zentrum von Hollywood unter dem riesigen Holzdach in diesem seltsamen »Stall« zusammen. Es schien, als nisteten sich die Gespräche dort oben ein, um weitere Diskussionen anzuregen. Zu diesem Kreis gehörte auch einer der internationalen Kunsthändler, Karl Nierendorf, der gerade aus München zurückkam, wo er Max Beckmann präsentiert hatte. Er hatte den künstlerischen Weg Karins von den ersten Anfängen in Deutschland mit größtem Interesse verfolgt. »Ich soll dich herzlich von deiner kleinen Schwester Ursula grüßen«, sagte er. »Wie ist das möglich? Ich habe keine Ahnung, ob meine Familie noch lebt!« »Nun, deine kleine Schwester scheint sehr clever zu sein. Sie stand mit einem Taxi, mit dem sie aus Landshut gekommen war und bei dem der Tachometer weiterlief, vor meinem Münchner Hotel, als ich eben wieder nach L.A. zurückfahren wollte, und bat mich um deine Adresse. So einfach war das. Sie hatte eine winzige Notiz in der Zeitung über meine Ausstellung hier gelesen und blitzschnell kombiniert, dass ich deine Adresse kennen müsse.« In anderthalb Stunden hatte Ursula geschafft, wofür Millionen Menschen Monate brauchten: Sie hatte in diesem elenden Trümmerhaufen Verwandte gefunden beziehungsweise Menschen, die Kontakt zu ihnen hatten. Zum Mittagessen war Ursula wieder zu Hause in Landshut. Die vielen Aufträge für Wandmalereien überforderten Karin; sie konnte diese großen Flächen nicht mehr allein bearbeiten. Niemals hätte sie aber irgendeinen anderen Maler an die figürlichen Darstellungen herangelassen, doch für die weiten Hintergründe,

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Wandmalerei von Karin van Leyden, 1948


die mit Farben bedeckt werden mussten, brauchte sie Hilfe. Plötzlich fiel ihr nun ein, dass ihre kleine Schwester Ursula auch die Kunstschule Köln besucht hatte, wenn auch auf dem damals nützlicheren Weg zur Gebrauchsgrafik. Nun, da sie ihre Adresse erhalten hatte, schrieb sie umgehend an die Schwester, lud sie zu sich in die USA ein, damit ihr diese helfen könnte. Ursula antwortete sofort, fragte aber zunächst nach, ob in Karins Nähe eine sehr gute Schule oder ein Internat für ihren Sohn Michael sei. Karins Antwort kam umgehend: Kinder könnten sie hier nicht brauchen. Und damit endete die Zusammenarbeit, bevor sie begonnen hatte. Ursula ging in Köln ihren sehr erfolgreichen Weg als Pressezeichnerin und Grafikerin weiter – ohne Zwischenstopp in den USA. Doch es gab ja noch Charlotte, die ebenfalls malerisches Talent hatte, aber neben ihren Schwestern keine eigene Entfaltungsmöglichkeit auf diesem Bereich sah. Sie hatte, mit ihrer Begabung für das Wort und mit drei perfekten Fremdsprachen-Examen, als Fremdsprachenkorrespondentin ihren Weg gefunden. Charlotte, deren glücklichere Lebensträume der Krieg zerstört hatte, einmal zu Kriegsbeginn mit dem Abschuss eines Fallschirms über Kreta und gegen Ende durch die eisigen Steppen Russlands, sah keine Möglichkeit mehr, sich mit den Trümmern Deutschlands anzufreunden. Sie packte ihr Köfferchen, nahm ihren Pass und den sogenannten »Persilschein«, jenes staatlich geprüfte Dokument, das ihre Sauberkeit von nationalsozialistischen Aktivitäten bescheinigte, und schiffte sich von Rotterdam aus ein. In der beängstigend engen minengeräumten Fahrrinne des Atlantiks näherte sie sich neuen Ufern, Amerika. Inzwischen aber hatte sich, wie schon so oft und so jählings, der Geschmack in den USA wieder gewandelt. Karins glasbedeckte Möbel waren plötzlich zu schwer, man wollte wieder den leichten japanischen Stil. Als Charlotte in Brentwood ankam, fand sie das Haus leer. Ernst und Karin waren in Mexiko. Charlotte fand eine freundliche Einladung, sich bei ihrer Schwester einzuquartieren plus einer Erklärung und einer Empfehlung an den deutschen Konsul. Das war Amerika.

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Wandmalerei von Karin und Ernst van Leyden in einem von Frank Lloyd Wright entworfenem Haus, Wisconsin, etwa 1949


Aber Charlotte lag das Nomadenleben im Blut. Sie nahm das Telefonbuch zur Hand und orientierte sich. Bald fand sie eine gute Agentur, die sie vermitteln würde. Der erste Versuch, ihr vornehmes Oxford-Englisch zu amerikanisieren, eine Stellung bei reichen Ölbaronen als Erzieherin deren Sohnes, endete rasch, als der deutsche Konsul ihr zwei junge Herren im Abenddress schickte, um sie zu einem Fest abzuholen. So ein Kindermädchen war nicht üblich. Nur der kleine Junge weinte bei ihrem Auszug. Aber ihre Sprachbegabung beglückte viele der dort lebenden Emigranten, bis sie als Assistentin mit Gottfried Reinhard, dem bekannten Regisseur, wie viele andere nach Deutschland zurückging, zu der Central Cinema Company (CCC), einer von Arthur Brauner gegründeten Filmproduktionsfirma. Als Reinhard zu den Salzburger Festspielen gerufen wurde, ging Charlotte für die CCC nach Lugano, dem Zentrum der Drehbuchautoren. Da die Drehbuchübersetzungen sie aber nicht ausfüllten, bewarb sie sich bei den Professoren Max Horkheimer und Theodor Adorno um den Posten ihrer Sekretärin. Als Charlotte auf die Frage nach ihrer Lebenseinstellung antwortete, sie sei »ein Lebenskünstler«, erwiderten die Herren: »Dann sind Sie bei uns richtig.« Charlotte hielt diese Stellung bis zum Tode von Max Horkheimer. Es lebte sich so angenehm in dem milden Klima. Aber leise, wie mit einem weichen Pinsel hingetuscht, schob sich eine graue Nebelschicht über das leuchtende Azurblau des Himmels. Und leise, wie sie gekommen waren, zogen sich einige der bekanntesten Emigranten aus dem Kreis des geistigen Mittelpunkts zurück. Der Krieg war vorbei, sie fuhren nach London, Paris oder Wien. Und nach Berlin. Viele trieb die paranoide Hetzjagd gegen vermeintliche Kommunisten, die Erinnerungen an ähnliche Erfahrungen in Deutschland wachrief, aus dem Land. Ernst bereitete in London endlich seine retrospektive Ausstellung mit seinen durch die Kriegswirren geretteten früheren Bildern vor, die im Atelier seines Freundes lagerten. Erschöpft von der Reise, von der Stapelung der Bilder, rauchte er eine letzte Zigarette vor dem Einschlafen.

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Er träumte von ihrem Garten in Hollywood und von den schönen Skunks, die er dort im Gebüsch entdeckt hatte. Wie schade, dachte er, dass ein so schönes Tier zu seiner Verteidigung einen so widerlichen Geruch ausströmt. Der Geruch wurde unerträglich, änderte sich wie in beißenden Rauch … Aus dem Traum aufgeschreckt, sah Ernst durch die offene Tür ins Atelier, sah und schrie. Ein heißer Wind rauschte durch den Raum, die Flammen stiegen auf, fraßen sich satt an ölgetränktem Material und Stapeln von Bildern und verloschen zu grauweißer Asche. Ernsts Lebenswerk. Verloren für immer. Was um ihn herum geschah, wusste Ernst nie zu erinnern, nur drei Worte von einem der Feuerwehrleute, brannten sich in sein Gedächtnis ein: »Nur ein Zimmerbrand!« Sein Leben, seine Kraft, sein Traum. »Es war ein Opfer«, hatte später Karin zu ihm gesagt. »Das Größte, das ein Mann der Kunst bringen kann, die absolute Abstraktion.« Ernst kehrte nicht nach Los Angeles zurück. Er fuhr nach Frankreich, um dort in der harmonischen Einfachheit irgendwo eine kleine Farm zu finden, wo er mit Karin leben würde. Wo die Erdbeeren in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen reiften. In dem malerisch verwilderten Garten in Brentwood mühte sich Karin um ein paar winzige Eukalyptusbäumchen, denen ihre besondere Sorgfalt galt. Sie hatte sie vor Jahren entdeckt, als sie einmal einen Spatenstich zu tief gegraben und gemerkt hatte, dass die Erdkrume nur ganz oberflächlich eine ehemalige Müllhalde überdeckte. Sie hatte versucht, den Winzlingen eine bessere Wachstumsgrundlage zu geben, ihnen den trügerischen Untergrund zu verbessern. Hollywood, dachte sie, Schein der Scheine! Die Bäumchen würden nun nie mehr die Sonne sehen, denn ein zehnstöckiger Betonklotz überschattete inzwischen den Garten.

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Was soll ich noch hier, dachte sie, wo mir das Atmen schwer wird? Wo aus dem paradiesischen Landstrich die Natur mehr und mehr verdrängt wird? Als sie hier eingezogen waren, gab es eine freie Pferdekoppel mit weitem Blick über die Talsenke hin. Was tue ich hier in dem so eng gewordenen, oberflächlichen und prüden Kalifornien? Mitten in ihre Überlegungen hinein kam das lange Telegramm von Ernst aus London … Karin, aufs Tiefste erschüttert über dieses neue Unglück, das Ernst getroffen hatte, empfand den Schmerz eines Künstlers über dieses Ende eines Lebenswerks ganz besonders und ohne die Möglichkeit, ihm beizustehen, fand sie sich ausgeschlossen aus seinem Kummer. Gleichzeitig aber fühlte sie fast etwas wie Erleichterung. Mit großer Sorge hatte sie beobachtet, wie viel Wichtigkeit Ernst dieser Ausstellung einräumte. Es waren doch viele Jahrzehnte vergangen, seit er diese Bilder der Fischer von der Insel Urk in Holland gemalt hatte. Wer sollte sich noch erinnern? Und es waren extreme Kunstrichtungen und eine zerstörerische Zeit darüber hinweggegangen. Doch noch nicht genug, um sie als »neu« zu entdecken. Das »Übermorgen« bewegte die Welt. Die längst arrivierte Richtung der Abstraktion hätte Ernst wohl noch tödlicher getroffen. Es war ja nicht nur der finanzielle Verlust … Es war ein Trost zu wissen, dass noch einige Werke in den verschiedenen Museen in Amsterdam, London, Paris hingen. Mein lieber Gott! Wie kann Ernst das überleben? Und endlich brach das Weinen aus ihr heraus, denn nie mehr würde er einen Pinsel anrühren. Aber Karin wusste genau: Ernst hatte sein Leben lang mit Hingabe an seiner ganz eigenen Kunst gearbeitet, um zu gestalten wie niemand sonst. Lass es gut sein. Du hast es gelebt. Genieße den Abend! In einem Land, das die Perfektion zum Idol macht, ist auch das Ende einer Ära perfekt. Karin saß zwischen den Containern, die mit dem Wenigen perfekt gefüllt waren, was sie für ihr neues Leben in Frankreich mitnehmen wollte.

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Nichts außer dem Wesentlichen würde davon nach Frankreich passen. Die vielen kleinen Sammlerstücke aus der Aztekenzeit und Dinge, die ihr besonders lieb und teuer waren, gingen mit. Ein kleines Eukalyptusbäumchen aus dem Garten mitzunehmen, verbot das Gesetz. Sie warf ihren leichten Mantel aus sechzig schwarzgefärbten Kobraschlangen über, eine Kostbarkeit, die sie einst gegen eines ihrer wichtigen Bilder getauscht hatte, und ging zum Reisebüro der Schifffahrtsgesellschaft. Sie wollte so heimkehren, wie sie gekommen war, mit dem schönsten Schiff, mit der »France«. Nach Venedig. Der Schatten des riesigen Schiffes legte sich weich über die Stufen, die auf das alte Brückchen hinaufführten, zum Dorsoduro. Sie war in Venedig. Karin löste ihre Hände von dem sommerwarmen Geländer des alten Brückchens und wischte sich über die Augen. Sie hatte geträumt, sie war von der Erinnerung ganz benommen. Fünfzehn Jahre Amerika lagen hinter ihr und die so unendlich reichen Jahrzehnte davor. Sie war nun fünfzig Jahre alt und die ewige, anstrengende Jagd nach Erfolg hatte die Konturen ihres noch immer klassisch schönen Gesichtes verhärtet. Hatte sie Worte ihres Vaters befolgt, der damals sagte, das Außergewöhnliche müsse man sich hart erarbeiten? Hatte sie das Außergewöhnliche erreicht, das ihr Ziel war? Viele kleine Erfolge, und was so lebenswichtig war, ein kleines Vermögen hatte sie erarbeitet. Aber das wirklich Außergewöhnliche schien ihr noch immer unerreichbar. Erkenne den Augenblick und sei bereit … Plötzlich sah sie die Fülle ihres Lebens vor sich ausgebreitet und wusste: Das war das Außergewöhnliche, ihr eigenes wunderbares reiches Leben. Ihr Leben mit Ernst.

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Karin van Leyden, «Feeding Birds«, 1956


Epilog

I

n dem flachen Weideland Frankreichs, etwa vierzig Kilometer westlich von Paris, fand Ernst eines jener alten Farmhäuser, die von den Bauern verlassen wurden, da ihre Bewirtschaftung sich nicht mehr lohnte. »L’Enclos sur Lieutel »hieß das Anwesen. Die Wohngebäude waren noch stabil genug und lohnten eine Renovierung. Eingewachsen zwischen eine Baumgruppe, ein Garten und die notwendigen Wasser- und Stromanschlüsse, sogar ein eigener Brunnen, mit diesen Notwendigkeiten und etwas amerikanischem Geld machte Ernst seinen Traum von einer friedlichen Insel wahr. Dann, als der Innenausbau mit einfachen Möbeln fertig war, ließ er Karin aus Venedig kommen. In dem erschütterten Europa, in das er nun zurückgekehrt war, suchte er nicht mehr nach den Wurzeln, aus denen sich die Kulturen der Welt einst ernährt hatten. Er suchte auch nicht mehr nach der Weisheit des Lebens, wie früher, wenn er die vergeistigten Züge in den Gesichtern seiner berühmten Porträts studierte. Nichts Bildhaftes wollte er aus seinen neuen Bildern herauslesen lassen, denn die Begegnung mit der grauenvollen Zerstörung hatte Ernst verändert. Was ihn jetzt beschäftigte, das war das Verschmelzen der farbigen Flächen einer Komposition, die Umklammerung durch schwere dunkle Striche oder ihre Auflösung und Trennung, so wie die Zeit in ihrer Rücksichtslosigkeit die Schönheit zerstörte. Die Farbe allein wollte er zum Träger der neuen Schönheit machen. So fand er den Ausdruck der neuen Zeit und seine großformatigen Bilder gingen wieder auf dem Weg des Erfolges durch die internationalen Kunstausstellungen.

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»L’Enclos sur Lieute«, das Haus der van Leydens in Frankreich


Ernst van Leyden im Jahr 1965


Ernst van Leyden, ÂťLes Marais de la VieÂŤ, Collage, 1962 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2009


Ernst van Leyden, »Autum«, Collage, 1962 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2009


Dann aber, immer wieder unterbrochen durch lange Klinikaufenthalte, wenn ihn das Tropenfieber wieder überfiel, aufflammend, dann fand Ernst zu der Gestaltung der Unkultur, wie sie vor langen Jahren Picasso als Farbträger genutzt hatte. Er benutzte die Reste von abgerissenen Plakatwänden als Farbträger, er kniete auf dem Boden seines Ateliers, einen Leimtopf in der Nähe, und brachte diese Zeichen der Verlorenheit zu Kompositionen, die vom Leben erzählen konnten, wer zu lesen verstand. Auch die Reste zerlumpter, verwaschener Kleidungsstücke, fast zu flachen Reliefs verschoben, fanden in wichtigen Museen ihren Platz. Bis Ernst, mitten in der Arbeit, zusammenbrach. Die wunderbaren Kompositionen, in denen Karin ihrer Suche nach der Schönheit, nach der Gestaltung menschlicher Körper in ihrer Arbeit Ausdruck gab, verschwanden aus den Bildgehalten jener Jahre. Ihre kleinen freien Kompositionen, aus der Sicherheit ihres Farb- und Formgefühl heraus, zeigten den Wunsch nach Stille. Als wäre die ihr gesetzte Leistung erfüllt. Denn ohne Ernst und seine Teilnahme war ihr das Leben leer. An einem Morgen in Lugano, wo Karin nach dem Tod von Ernst bei Charlotte lebte, an einem beliebigen Morgen im Jahr 1977, schien sie nicht erwachen zu wollen. Ihre beiden Schwestern Charlotte und Ursula bewachten ihren Schlaf.

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Lebensläufe Karin und Ernst van Leyden 1892–1919 Ernst van Leyden wird am 16. Mai 1892 in Rotterdam geboren; er studiert Bildende Kunst in Rotterdam, Berlin, London und Paris. Mit 24 Jahren trifft er in der bekannten Malerkolonie in Laren auf namhafte holländische Künstler wie Piet Mondrian, Charles Toorop und Jan Slyters, die seine Mentoren werden. 1906 wird Karin Kluth im Berliner Stadtteil Charlottenburg geboren. 1919–1926 Ernst van Leyden unternimmt zahlreiche Reisen nach Italien, Spanien, Frankreich, Portugal, England, Ägypten und den Mittleren Osten und verkauft die auf diesen Reisen entstandenen Bilder (Porträts, Straßenszenen und Landschaften) erfolgreich in Holland. Dank eines Stipendiums im Jahr 1923 kann er sich in Paris etablieren, bleibt aber gleichzeitig seinem Atelier »De Hooge Wilden« am Loosdrechter See treu. 1925 nimmt Karin das Malereistudium an der Kölner Kunst- und Handwerkschule auf. 1927–1940 Erste Begegnung zwischen Karin und Ernst in Ascona; zahlreiche gemeinsame Reisen, unter anderem nach Italien, Ägypten, Syrien und in den Libanon; 1932 Heirat in Loosdrecht. 1936 malt Karin eine Reihe von Wandbildern für Sir Thomas Stafford Bazley in Hatherop Castle. 1940 verlässt das Paar Europa und erreicht mit dem letzten Schiff nach New York die Vereinigten Staaten. 1940–1957 Neustart in den USA: Die van Leydens etablieren sich in Künstler- und Intellektuellenkreisen, haben großen Erfolg durch ihre Wandbilder in Privathäusern, Hotels und Restaurants sowie später durch ihre mit bemaltem Glas verzierten Holzmöbel. Sie porträtieren Prominente wie Gloria Vanderbilt, Thomas Mann oder Charlie Chaplin. Mehrere Reisen durch Mexiko, die vor allem Karin inspirieren. 1957–1977 1957 kehrt das Paar endgültig nach Europa zurück und lebt zunächst vorwiegend in Paris, später vor den Toren von Paris in einem ehemaligen Bau-

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ernhaus namens »L’Enclos sur Lieutel« und in Venedig. Karin, der »L’Enclos sur Lieutel«, zu isoliert ist, zieht zu ihrer Schwester Charlotte nach Lugano. 1966 entsteht eine Reihe Kollagen, die an Morandi erinnern. 1965 unternimmt Ernst eine letzte große Weltreise. Er bricht 1969, während der Arbeit in »L’Enclos sur Lieutel«, zusammen und stirbt. 1977 stirbt Karin in Lugano im Beisein ihrer Schwestern Charlotte und Ursula. Museen, die Originalwerke von Karin van Leyden besitzen: Musée du Jeu de Paume, Paris Museu d’Arte Contemporaneo, Lissabon Museu d’Arte Contemporaneo, Oporto Stedelijk Museum, Amsterdam Museen, die Originalwerke von Ernst van Leyden besitzen: Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Brüssel Museum of Modern Art, Kairo Musée du Jeu de Paume, paris Musée d’Art Moderne, Paris Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam Haags Gemeentemuseum. Den Haag Museum Het Oude Raadhuis, Urk Rijksmuseum Zuiderzeemuseum, Enkhizen Stedelijk Museum, Amsterdam Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven Museu d’Arte Contemporaneo, Lissabon The Tate Gallery, London Solomon R Guggenheim Museum, New York Whitney Museum of American Art, New York Albright-Knox Museum, Buffalo Hirschorn Museum, Washington Museum of Art, Santa Barbara Larry Aldrich Museum, Ridgefield Contemporary Art Museum, Belgrad Bildnachweis Privatbesitz Ursula Dietzsch-Kluth: 21, 26, 29, 41, 51, 53, 57, 59, 66, 67 VG Bild-Kunst, Bonn 2009: 33, 35, 68, 69 Man Ray Trust, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn 2009: 49


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