Katja Freise, geboren am 13. Februar in Dresden aufgewachsen, Abi gemacht ausgezogen und in Leipzig studiert nach Pisa gepilgert und Odessa Oden gelesen und Sofia erkundet mit Titeln versehen (Mag. und Dr. phil.) verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden der Liebe verschrieben 2 + 3 Kinder oder 3−5−7 nach Göttingen gegangen im Grünen Wurzeln geschlagen und neu ausgetrieben
Katja Freise
Vesperzeit Gedichte
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Juli 2012 © 2012 Buch&media GmbH, München Umschlagfoto: Katja Freise Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink Printed in Germany · isbn 978-3-86520-434-9
Das Buch ist wie ein Menschenleben: ein Haufen Zuf채lle und Episoden, Wassertropfen im Regenbogen.
Einführung von Matthias Freise Ist Lyrik den Deutschen fremd geworden? Katja Freise, die Autorin des Gedichtbandes »Vesperzeit«, wundert es, dass die deutschsprachige Lyrik sich heute immer noch an den Konventionen der klassischen Avantgarde orientiert – Reime und Rhythmus sind verpönt, Überraschungseffekte wie kühne Metaphern und brutale Zeilensprünge bestimmen das Handwerk. Solche Dichtung kann wachrütteln, Neues zeigen, fremde Welten eröffnen. Heimisch werden kann man in ihr nicht. Doch gerade das brauchen wir in unserer globalen Welt. Integration bleibt eine unerfüllbare Forderung, wenn wir nirgends heimisch sind. In anderen Ländern kann moderne Dichtung einfach sein, ohne an Qualität einzubüßen. Britische und amerikanische Rock- und Popmusik verdankte ihre Erfolge wesentlich der hohen Qualität ihrer »lyrics«. Slawischsprachige Lyriker werden von vielen Menschen gelesen und (freiwillig!) auswendig gelernt. Katja Freise kennt und schätzt solche Dichtung großer und kleiner Lyriknationen und ihre klassischen Wurzeln – englische, amerikanische, französische, russische, aber auch polnische, bulgarische, tschechische, italienische Dichtung. Aus dem Verständnis solcher Lyrik, sensibilisiert für die in der deutschsprachigen Welt ungenutzten Möglichkeiten von Dichtung, schreibt Katja Freise Gedichte, die auch von der semantischen Struktur der Reime leben, in der der Sprach- und Literaturwissenschaftler Roman Jakobson das poetische Gesetz der Dichtung entdeckt hat. Ihre Verse folgen einer leichten, wie mit einem leisen Lächeln komponierten inneren Bewegung. Auch die Pointen, die ein konventionell erscheinendes Sujet durch subtile Verschiebungen in ein anderes Licht rücken, bieten eine Alternative zum starken verbalen Tobak avantgardistisch geprägter Lyrik. Katja Freise richtet sich an Leser, die Sinn nicht in starken Worten suchen, sondern zwischen den Zeilen. Solche Leser werden von einem Bild, einem Reim oder einem Vers berührt und tragen ihn mit sich herum wie eine Melodie, die einem nicht aus dem Kopf gehen will. Dieser Band enthält in dem Kapitel »Pilgerziele« auch Nachdichtungen. Sie sind Früchte von Begegnungen mit Vorbildern, die die
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Qualitäten aufweisen, die Katja Freise für ihre eigene Lyrik anstrebt. Ihre Dichtung zeigt, dass die Wirklichkeit, die uns umgibt, sinnerfüllt ist, wenn man die Fäden zu sehen vermag, die alles verbinden. Die avantgardistische Verfremdung der Welt, an der die deutschsprachige Gegenwartslyrik immer noch festhält, dominiert inzwischen die Werbung, von der wir pausenlos bedrängt werden. Dadurch werden wir zum Weghören und Wegschauen erzogen. Dichtung muss das Ohr jedoch gar nicht bedrängen. Sie sollte menschlicher Rede nur eine Form geben, um der Sprache und der Welt ihren Sinn zurückzugeben.
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Schattenspiele
Anatomie Ich bin das Sowohl-als-auch. Der Kopf sitzt bei mir im Bauch. Darum verdau ich im Kopf, was ihr entleert in den Topf.
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Spielerei Renaissance – Patience. Barock – équivoque. Klassizismus – Genuss. Romantik – Atlantik. Realismus – Entschluss. Symbolismus – Überschuss. Avantgarde – bewahrt. Postmoderne – Blick aus der Ferne. Und ich – füge mich.
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Über mich Ich kann die Welt nicht auf ihre Komplexität reduzieren. Ich kann nur das Schlichte in meinen Bildern erspüren. Ich kann die Welt nicht in einem Gedanken gestalten. Ich kann nur die Dichte in meinen Klängen entfalten. Ich kann die Welt nicht in einen Ausdruck bringen. Ich kann nur das Lichte in meinem Rhythmus gewinnen.
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Gotik Meine Worte sind wie die Bäume, die am Teichufer wachsen. Sie stehen Säule neben Säule und schwingen um ihre Achsen. Birke, Eiche und Linde umarmen sich in den Kronen. Im Blattwerk und unter der Rinde weiß ich Geheimnisse wohnen. Meine Verse spiegeln die Worte wie die Bäume der Teich. Grünende Zweige und verdorrte sind im Spiegel gleich.
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Fastentuch Ich kann nicht reden. Ich kann weben. Ich webe Nebelfäden in die Anemonen, und Narzissengelb in den trüben Tag. Ich web meine Schritte in matschigen Boden, dazwischen das Gurren vom Taubenschlag. Ich webe den frischen Frühlingsmorgen in mein muffiges Haus. Mittenrein web ich meine Sorgen, denn ich bring kein Wort heraus. Ich webe – das ist mein Talent. Ich darf es nicht vergraben. Ich webe vehement. Ich webe mit Kopf und Kragen.
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