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Mallorca y Corona

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Kultbuch/Impressum

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Wandern und klettern auf Mallorca

Als es noch möglich war. Verona, Genua, Monaco. Endlos zieht sich der Asphalt vor mir hin. Die Routine von hunderttausenden Kilometern unterwegs lässt mich abtauchen in ein Meer von Erinnerungen. In eine weit entfernte Zeit. Als die Welt noch eine andere war. Ohne Smartphone, ohne Internet. Aber mit viel Platz zum Träumen. Und Raum, um meine Träume zu versuchen.

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Nur um draufzukommen, wie es ist, wenn man einen Traum gelebt hat. Oder es zumindest versucht hat. Genau so, wie man ihn sich vorher vorstellte. Oder zumindest so ähnlich. Damals gab es noch kein Youtube-Video von all dem, was irgendjemand schon erlebt hatte. Oder wo irgendjemand schon war. Die eigenen Eindrücke konnten mit wenig anderen verglichen werden. Weil alles neu war.

Je tiefer ich in diese Welt abtauche, desto durchlässiger wird die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zwischen dem, was ich erlebt habe, und dem, was ich gerade erlebe. Fast nahtlos fließt das eine in das andere über. Und doch ist so unendlich viel Zeit vergangen seither. Zeit, die mit so vielen Erinnerungen gefüllt wurde. Kinder, die geboren wurden. Und sich bereits aufmachen, die große, weite Welt für sich zu entdecken. Und Enkelkinder, die mit neugierigen Augen in die Welt schauen, alles aufnehmen, was um sie herum passiert. Ohne all diese Erinnerungen hätte die Zeit viel weniger Spuren hinterlassen.

Der Abstand zum Alltag

Nizza, Aix-en-Provence, Nîmes: Und immer wieder taucht dieselbe Leuchtschrift auf den Infotafeln der französischen Autobahn auf: Info Corona – Tel. 08… Wochenlang schon beherrscht dieses Wort alle Medien. Von der anderen Seite der Weltkugel. Also doch recht weit weg. Und die Chinesen mit ihren etwas ungewöhnlichen Essgewohnheiten sollen doch bald schauen, wie sie dieses Grippevirus in den Griff kriegen. Damit wir hier in Europa endlich wieder etwas anderes hören als täglich neue VirusHorrormeldungen. Ende Februar 2020 war ich mit dieser Denkweise wohl nicht alleine …

Montpellier, Perpignan: Die Schilder fremder französischer Städte rasen an mir vorbei. Immer größer wird der Abstand zum Alltag. Und die gefühlte All-

Stimmungsvoller Übernachtungsplatz hoch über Nueva Valdemossa an der zerklüfteten Nordküste der Sierra Tramuntana

Fotos: Hartmann Engl

gegenwärtigkeit von Trump, Greta und Corona verliert an Präsenz mit jedem gefahrenen Kilometer. Spontan genieße ich wieder mal diesen „Ausstieg aus dem Alltag“. Die Zeit nehme ich mir. Bevor sie mir der Krebs nimmt. Oder sonst irgendwas, wovor man Angst hat, es sich in aller Konsequenz vorzustellen. Darum fahre ich nie mit schlechtem Gewissen fort. Warum auch? Die Welt wird sich weiterdrehen. Auch wenn ich zwei Wochen lang mal nicht viel dazu beitrage. Und ich grad jetzt Lust habe, etwas zu tun, was mir gefällt. Wenn ich wieder zurückkomme, werde ich wieder meinem Beruf als Zimmermann nachgehen und auf Häuser und Dächer steigen. Mit derselben Leidenschaft, mit der ich vorher aufgebrochen bin.

März 2020

Vierzig Kilometer vor Barcelona: Sehr gut bin ich vorangekommen heute. Über eine fast leere Autobahn. Sichtbar beginnt das Virus, das Leben auf

der spanischen Autobahn einzuschränken. Zuhause nahm man nur wahr, was man in den Nachrichten sah. Und das war alles noch a bissl weit weg von Südtirol. An diesem ersten Sonntag im März 2020. Um Mitternacht fahre ich aus dem Rumpf der Mallorca-Fähre heraus. Zusammen mit tausend anderen Autos. Suche mir auf einem Pass an der stürmischen Nordküste einen ruhigen Schlafplatz. Im Auto. Mit Motorrad, „Pudele“ (meinem Hund) und Essen und Trinken für ein paar Tage.

Sierra de Tramuntana, Nordküste, Mallorca: Zum Frühmorgenspaziergang schlendere ich den Panoramaweg von Es Colomer, ein paar Kilometer nördlich von Port de Pollença, entlang. Stürmischer, aber nicht kalter Wind. Lotrechte zweihundert Meter tiefer das Tosen der meterhohen Wellen an die senkrechten, zersplitterten Felswände der Nordküste. Weiße Gischt, die das schäumende Wellenchaos immer wieder zudeckt. Und zwischen dem Gestrüpp an den weniger steilen Hängen ein Steig, der anscheinend zum Meer hinunterführt. Zu einer kleinen Felsbucht, wo die Wellen turmhoch aufspritzen. Mit Rucksack und dem kleinen Pudele mache ich mich auf den Weg hinab. Klettere die scharfen Klippen hinunter bis zur wild schäumenden Brandung. Unheimlich mächtig rollen die meterhohen Wellen heran. Immer wieder vereinigt sich eine von der Felswand zurückgeworfene Welle mit einer heranrollenden. Zu einem fast zehn Meter hohen Wasserberg. Und knallt mit unglaublicher Gewalt in die kleine Felsbucht. Zwanzig, dreißig Meter hoch stiebt die Gischt zu mir herauf. Nimmt mir fast den Atem. Und regnet dann auf mich herab. Ein-

mal nur. Dann bin ich auch schon platschnass. Das hautnahe Erleben dieser tosenden Urgewalt des Meeres wird mir immer in Erinnerung bleiben. Habe das noch nie so „live“ erlebt. Vom Zuschauen vorm Fernseher wird man halt auch nicht nass …

Abends übernachte ich an einem alten Wehrturm. Hoch über der Bucht von Port de Pollença. Mit pünktlich traumhaftem Sonnenaufgang. Täglich. Und den ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Tages direkt in mein Schlafzimmer auf vier Rädern. Ich kann es fast nicht glauben, dass ich diese bekannte und manchmal etwas berüchtigte Touristeninsel so anders erleben kann: Nix Ballermann-Tourismus. Nie so viele Touristen, dass es lästig wird. Bilderbuchaussichten an der spannenden Nordküste. Wanderungen wie in den heimischen Dolomiten rund um den Puig Major, dem höchsten Spitz auf Mallorca. Und täglich zwanzig Grad.

Die einzigen Erinnerungen an meine letzte Mallorca-Reise sind ziemlich verschwommen. Weil sie ohne Bilder auskommen mussten. Der Fotoapparat hat gestreikt. Darum musste ich unbedingt nochmal hierher. Um diese verblichenen Erinnerungen aufzufrischen, bevor sie sich endgültig im Meer der Erinnerungen auflösen.

Tiefblick zur Bucht Cala Bòquer am Rückweg über den langgezogenen Gratkamm der Serra del Cavall Bernat

Vom Gipfelmeer umgeben

Oberhalb der tief zwischen die Berge eingeschnittenen Meeresbucht Cala Bóquer bei Port de Pollença folge ich den einzelnen Steinmännchen weglos hinaus zu den Felsabbrüchen. Ich genieße die warme Frühjahrssonne. Das Rauschen des Meeres weit unter mir. Den blauen Horizont. Echter als in jedem Werbebild mit den oft arg übertriebenen, unechten Farben. Kurze Pause am Ende der langen Querung. Die Felswand stürzt hier zweihundert Meter senkrecht ins aufgewühlte Meer hinab. Mein kleiner, weißer Begleiter mit den vier Pfoten steigt jetzt freiwillig in den Rucksack. Nur das kleine Köpfchen schaut neugierig heraus.

Herrlich ausgesetzte Kletterei bis zum unteren dritten Grad. Herrlich deswegen, weil ich meine Hände auf den festen, rauen Fels manchmal nur auflegen brauche, damit sie vertraulichen Halt finden. Oder Griffe, die mich an bayrische Maßkrug-Bierhenkel erinnern. Und das Rauschen der Brandung unter meinen Füßen ist die Hintergrundmusik, die ich erst wirklich wahrnehme, wenn meine Konzentration vom Klettern immer wieder zum „Indie-Runde-Schauen“ gelenkt wird. Genusspause am Gipfel. Kann mich an der ungewohnten Kulisse nicht sattsehen. Bin oben meistens von einem Gipfelmeer umgeben.

Zurück geht’s über einen langen, ausgesetzten Grat. Atemberaubende Tiefblicke rechts und links. Unrealistische Felsformationen. Unglaubliche Variationen der Farbe Blau. Palmen am Grat anstelle von Latschen und verwitterten Lärchen. Und die ersten Menschen, die mir heute begegnen. Abends noch zwei Stunden im Kurvenrausch. Auf dem Motorrad. Die ganze Insel duftet nach Kräutern: Rosmarin, Origano. Mit den letzten Sonnenstrahlen vom Leuchtturm am Cap Formentor gemütlich zum alten Wachturm zurückgefahren.

Letzter Tag auf der Insel: Frühstück im Auto. Wie immer. Bin seit einer Woche nirgends eingekehrt. Weder

Cap Formentor Hotspot für magische Sonnenuntergänge

heißen Kaffee noch gegrillten Fisch. Hab mich freiwillig in Quarantäne begeben. Vorsichtshalber. Da war vom Virus im öffentlichen Leben Spaniens noch gar nichts zu spüren. Ich versuche, via Internet notwendige und nützliche Informationen über meine Rückreise in die mittlerweile italienweite rote Zone herauszufinden. Und stelle staunend fest, dass wohl ALLE dieses Virus völlig unterschätzt haben …

Hartmann Engl

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