SOMETIMES I LOOK AND THINK AND SOMETIMES I DON‘T THINK
Wenn einen jemand anblickt Einige Gedanken zu Thierry Perriards mehrteiliger Arbeit «Sometimes I Look and Think and Sometimes I Don’t Think»
Jürg Berthold
Sind es Gesichter, die einen da umgeben? Die Beantwortung der Frage hängt von der Distanz ab, aus der man die Holzschnitte betrachtet. Einige der 18 Fleckenbilder fügen sich schneller zu einem Gesicht zusammen als andere; einige wenige erkennt man vor allem in der Umgebung mit den anderen als Gesichter. Immer ist die Abstraktion so groß, dass sie auch namenlos blieben, wenn man die Personen auf den Fotografien, die Ausgangspunkt für die Arbeit waren, kennen würde. Bei aller Anonymität handelt es sich aber dennoch je um ein Antlitz, in das man blickt. Das Antlitz (le visage) beschrieb der französische Philosoph Emmanuel Levinas als Grund und Bezugspunkt jeder ethischen Haltung gegenüber einem Gegenüber: Wenn ich wirklich in ein Antlitz blicke, kann ich nicht anders, als bewegt zu sein, als mich als verpflichtet zu erkennen. Deshalb weichen wir dem Blick des Anderen aus, wenn wir ein schlechtes Gewissen haben; deshalb suchen uns die Augen des Gegenübers, wenn es um Hilfe fleht. Der Blick in ein Antlitz, so Levinas, bezieht sich auf ganz Elementares: Der Andere ist ohne Identität, ohne Namen, einfach nur ein nackter Anderer, der mich anschaut. Die Holzschnittgesichter können bei aller Stilisierung zur Aufforderung an den Betrachter werden, sich zu fragen: Halte ich dem Blick dieser und anderer Namenlosen stand? Was spricht aus diesen Gesichtern? Was tun, wenn ich diese Blicke ernst nehme? Wie der Titel der Ausstellung zu verstehen gibt, ist das Verhältnis von Sehen und (Nach-)Denken vielgestaltig. Nicht immer löst das, was wir vor Augen haben, Gedanken aus, schon gar nicht solche, die unser letztlich ethisches Verhältnis zum Anderen als Anderen befragen. Diese Vielgestaltigkeit ist selbst wieder ambivalent: So ist für den Phänomenologen in der Nachfolge Edmund Husserls die reine Anschauung ein Ideal. Mit welcher Einstellung können wir uns der Welt so zuwenden, dass wir uns möglichst allen Denkens und Urteilens enthalten? Wie die Dinge so sehen lernen, wie sie in Wirklichkeit sind? – Für andere ist die Möglichkeit eines solchen reinen Blickes reine Ideologie, und wirkliches Sehen beginnt erst in der Verbindung zum Denken. Beides nimmt der Titel «Sometimes I Look and Think and Sometimes I Don’t Think» auf; er lässt offen, mit welcher Einstellung wir durch die Ausstellung gehen sollen. Aufgefordert, mich zu involvieren, werden ich erst durch die begehbare Plattform, die sich in den Raum schiebt. Sie erinnert mit den zwei überlebensgroßen
Skulpturen, die sich gegenüberstehen, und durch ihre quadratische Form und ihre Höhe an einen Boxring. Soll ich die Bühne betreten? Wage ich mich in die Gesellschaft der beiden Gestalten? Soll ich mich den Holzschnitten nähern, die an der hinteren Wand der Galerie hängen? Dort ist die Distanz stärker strukturiert als überall sonst: Der Graben reguliert den Blick und verhindert, dass die Gesichter in der Annäherung zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Wer in den Ring steigt, ringt trotz ihrer Größe von 180, resp. 220 cm nicht so sehr mit den beiden Leichtgewichten aus bemaltem Styropor, sondern mit sich selbst: Schaffe ich es, die Blicke auszuhalten – nicht jene der anderen Galeriebesucher, sondern jene der namenlosen Gesichter, die fragen: Was tust du? Dafür? Dagegen? Ausgangspunkt für die beiden skulpturalen Arbeiten soll eine Erfahrung in Nizza gewesen sein, die mit zwei Fotografien im Katalog illustriert wird: Da ist der Straßenkünstler im silbrig besprayten Kostüm, ein Tableau vivant auf einem Sockel, der ihn zur erstarrten Statue werden lässt. Da ist der versehrte Bettler, der mit gesenktem Blick und gebeugtem Rücken auf dem Hocker am Straßenrand sitzt. Die Krücken, auf der Fotografie zwar zu sehen, aber nebensächlich, werden bei der hautfarbenen Skulptur zum zentralen Moment; bei der anderen Gestalt sind es Größe, Sockel und Silberglanz, die aufgenommen, weiterentwickelt und transformiert werden. Auf beiden Fotografien sind die Gesichter unkenntlich gemacht. Kein Blick, der uns treffen würde, nur ein Teddy, der uns anstarrt. Was vermag Kunst? Vermag sie, dass wir im Gesicht eines Anderen ein Antlitz erkennen? Vermag sie es, mehr zu sein als Teil des Spektakel- und Konsumzusammenhangs, in den sie unweigerlich immer schon einbezogen ist? Und falls sie es vermag: Wie kann sie dabei ihre ästhetische Selbstständigkeit bewahren und den vielzähligen Funktionalisierungen widerstehen? Kurz: Wie kann sie politisch und poetisch zugleich sein? Thierry Perriard gestaltet mit seiner Arbeit einen Denk- und Sehraum, in dem solche Fragen sich aufdrängen. Nicht dass er eine Lösung anbieten würde, dafür ist das Ensemble eine zu feinsinnige Konstellation. Aber die Blicke der versammelten Gesichter vergisst man so schnell nicht mehr. Und mit ihnen die Frage: Was tust du eigentlich?
Ohne Titel (Kopf) 2015 Holzschnitt Druckstock: 66 x 56 cm Rahmen: 80 x 68 cm Auflage: 2 Exemplare Ohne Titel (Bettler) 2015 Styropor, Putz, Holz, Papiermaché, Farbe ca. 180 x 160 x 100 cm Ohne Titel (Silbermann) 2015 Styropor, Putz, Papiermaché, Farbe ca. 220 x 70 x 60 cm
Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung Thierry Perriard SOMETIMES I LOOK AND THINK AND SOMETIMES I DON‘T THINK in der Alpineum Produzentengalerie Luzern. Juni bis Juli 2015 Die Nummern 1 bis 10 erscheinen als Vorzugsausgaben mit einem Grafikblatt.
00 / 50 Alpineum Produzentengalerie Luzern alpineum.com Juni 2015 © Thierry Perriard / thierryperriard.ch