Spiegel

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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 25. Februar 2008

Betr.: VW, Sexualstraftäter, Kosovo, SPIEGEL SPECIAL

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MANFRED WITT / VISUM

nrechtsbewusstsein scheint aus der Mode zu kommen. Das gilt wohl für viele der Steuersünder, die nun nach und nach auffliegen, das gilt auch für den ehemals mächtigsten Betriebsratschef Deutschlands, Klaus Volkert. SPIEGEL-Redakteur Dietmar Hawranek, 50, kennt Ex-VW-Mann Volkert seit mehr als zehn Jahren. Stets erlebte er ihn als einen selbstbewussten, mitunter selbstherrlichen Mann, der Vorständen, aber auch Journalisten deutlich sagte, was er von ihnen hielt. Als Hawranek und SPIEGEL-Redakteur Thomas Tuma, 43, vergangene Woche Volkert zum SPIEGELGespräch trafen, stand ihnen ein anderer gegenüber: Nach dem langen Prozess um die VW-Affäre wirkte Volkert nervös und unsicher. In seinem ersten ausführlichem Hawranek, Volkert, Tuma Interview ist von Unrechtsbewusstsein allerdings nicht sehr viel zu bemerken. 1,9 Millionen Euro Sonderbonus von VW, bezahlte Urlaube, Bordellbesuche – all das stört Volkert weniger als die Auswirkungen aufs Private: Gegenüber seiner Ehefrau fühlt er sich schuldig, nicht aber gegenüber dem Unternehmen. Vergangenen Freitag wurde Volkert zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt (Seite 100).

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ie Jugendlichen, die Barbara Supp, 49, im Gerhard Bosch Haus in Viersen traf, begegneten der SPIEGEL-Reporterin neugierig, freundlich, manche sogar ausgesucht höflich – jedenfalls waren sie viel umgänglicher, als Supp es erwartet hatte. Beinahe konnte man vergessen, weshalb die Jugendlichen hier waren. Im BoschHaus der Rheinischen Landeskliniken kommen junge Sexualstraftäter unter, Jugendliche, die ihre Schwester missbraucht oder das Nachbarskind vergewaltigt haben. Eine Woche verbrachte Supp hier, begleitete die Jungs in die Schule, beim Fußball und bei den Gruppengesprächen. Die Therapeuten betreiben keine Kuschelpädagogik, die Regeln sind hart, es beginnt damit, die eigene Schuld anzuerkennen (Seite 68).

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s war eine merkwürdig schwankende Stimmung in PriΔtina, der Hauptstadt des Kosovo. SPIEGELKorrespondentin Renate Flottau, 63, war aus Belgrad angereist, um die Unabhängigkeitsfeiern zu beobachten, drei Tage würde gefeiert, mindestens, hatten ihr die Kosovaren vorher angekündigt. Doch schon nach der ersten Nacht zog der Alltag ein, die Fähnchen verschwanden nach und nach – Flottau hatte den Eindruck, dass die Menschen jetzt begriffen, wie wenig die Sou- Flottau (in PriΔtina) veränität ihre Lage verbessert. In das Nordkosovo, wo viele Serben wohnen, solle sie lieber nicht gehen, riet man Flottau. Erst als am Donnerstagabend Serben in Belgrad die US-Botschaft verwüsteten, hellte sich die Stimmung wieder auf. „Die Kosovaren glauben, dass der Westen stärker an ihre Seite rückt, je wütender die Serben sind“, sagt Flottau, „eine verquere Logik“ (Seite 124).

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eunzig Jahre ist es her, dass Frauen in Deutschland erstmals das Wahlrecht erhielten – seit zweieinhalb Jahren führt eine Frau die Regierung. Es hat sich etwas verändert im Land. Im SPIEGEL SPECIAL „Das starke Geschlecht“ untersuchen SPIEGEL-Frauen (und -Männer), welche Tricks und Strategien Frauen erfolgreich machen – und was noch zu tun ist. SPIEGEL SPECIAL ist ab Dienstag am Kiosk erhältlich.

Im Internet: www.spiegel.de

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In diesem Heft Titel

Riskantes Spiel mit den Linken

Wirtschaft Trends: Umgeht die Post den Mindestlohn? / Siemens-Ableger plant Personalabbau / Stühlerücken im Lufthansa-Aufsichtsrat ................ 77 Energie: Spekulanten treiben den Ölpreis auf immer neue Rekordhöhen ............................... 80 Staatskonzerne: Der Bahn-Börsengang droht endgültig zu scheitern .................................. 95 Landesbanken: Der wahre Schaden der BayernLB durch die US-Kreditkrise wird weiter verschleiert ......................................... 97 Affären: SPIEGEL-Gespräch mit dem ehemaligen VW-Betriebsratschef Klaus Volkert über seine Verurteilung ....................................... 100 Gisela Friedrichsen über den Vorwurf der Zwei-Klassen-Justiz in den VW-Prozessen ........................................... 102 Banken: Die HSH Nordbank verklagt die Schweizer UBS .............................................. 105

Medien Trends: Redaktion der „Berliner Zeitung“ macht Ernst mit Klage gegen Chefredakteur / ZDF verteidigt Zumwinkel-Bilder ....................... 106 Fernsehen: Vorschau / Rückblick ....................... 107 TV-Programm: Das Fernsehen ersetzt den Sozialstaat .................................................... 108

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Beck

Ausgerechnet im Endspurt des Hamburger Wahlkampfs hat SPD-Chef Kurt Beck die Tür zur Linken einen Spalt breit geöffnet. Mit seinen Gedankenspielen, Andrea Ypsilanti in Hessen unter Mithilfe der Lafontaine-Partei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen, verstört er etliche Genossen. Doch Beck denkt über die kurzfristige Wirkung hinaus: Er will sich in Position bringen für die Bundestagswahl 2009 – als bodenständiger Volkstribun.

Verurteilte Ex-VW-Größe klagt an Seite 100 Er war der mächtigste Betriebsrat des Landes, nun droht ihm mehrjährige Haft. Im SPIEGELGespräch klagt Klaus Volkert an: die „Zwei-Klassen-Justiz“, die VW-Eminenz Ferdinand Piëch, die IG Metall. Und das alte VW-System samt Lustreisen und Nähe zum Vorstand? „Ich kann da bis heute keinen Schaden erkennen.“ Volkert

Der Liechtenstein-Deal des BND

Seite 30

Klammheimlich hat Heinrich Kieber aus Liechtenstein sein Geschäft mit dem Geheimdienst eingefädelt. Mit viel Geld und neuer Identität ist der Datendieb untergetaucht, während die Debatten um Steuerskandal und Gerechtigkeit Deutschland spalten.

Charlotte Roches Sexualkunde Seite 164 THOMAS RABSCH / LAIF

Gesellschaft Szene: Sachbuch über den Kampf einer Frau gegen den Islam / Wie man zu Lebzeiten im Internet sein eigenes Begräbnis planen kann ........ 65 Eine Meldung und ihre Geschichte – ein gescheiterter Bankräuber wird durch ein Rubbellos zum Millionär .................................. 66 Sexualität: Eine deutsche Klinik versucht, jugendliche Vergewaltiger zu heilen ...................... 68 Ortstermin: Das schwierige Leben der politischen Opposition in Liechtenstein ................. 74

MARKUS HANSEN / ACTION PRESS

Deutschland Panorama: Föderalismusreform droht zu scheitern / Pisa-Tests für Unis? / Meeresverschmutzung durch geplante Ostseepipeline ......................................... 15 SPD: Die Wende zur Linkspartei entzweit die Sozialdemokraten ............................................ 20 Der Politologe Franz Walter über die Bedeutung der Lüge in der Politik ........................ 22 Wie sich SPD-Chef Kurt Beck die Macht sichert ..... 24 Linke: Interview mit Fraktionschef Gregor Gysi über eine Zusammenarbeit mit der SPD ........................................................... 27 Sozialdemokraten: Die Basis im Revier strengt Wolfgang Clements Parteiausschluss an ..... 28 Affären: Wie der BND an die Liechtensteiner Steuerdateien kam ....................... 30 Bildung: Interview mit Forschungsministerin Annette Schavan über die Verkürzung der Schulzeit an Gymnasien .................................. 38 Zeitgeschichte: Westliche Planspiele gegen eine Beteiligung von Kommunisten an der italienischen Regierung 1976 ................................. 56 Innere Sicherheit: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur OnlineDurchsuchung gerät zur Grundsatzentscheidung ..... 58 Aufbau Ost: Polnische Pendler bescheren dem armen Vorpommern einen unerwarteten Aufschwung ........................... 62

Seite 24

MANFRED WITT / VISUM

Krippe oder Mutter – wie die Herdprämie einen neuen Krieg ums Kinderwohl entfacht ........ 40

Als Moderatorin im Musikfernsehen wurde Charlotte Roche, 29, zur Vorzeigefrau einer aufmüpfigen Frauengeneration. Ihr Buchdebüt „Feuchtgebiete“ kombiniert muntere SexStorys mit dem Appell an alle Leserinnen, schamlos den eigenen Körper zu erforschen. Im SPIEGEL-Gespräch sagt Roche: „Vielleicht ist es wirklich ein Porno geworden, das wäre schön.“ Roche


Ausland

ITAR-TASS / REUTERS

Russlands Wahl S. 116, 122 Knapp 109 Millionen Bürger sollen am Sonntag darüber entscheiden, wer ab Mai als neuer Hausherr im Kreml amtiert. Putins Kandidat, Dmitrij Medwedew, ist haushoher Favorit bei der Präsidentenwahl. Was aber zeichnet den blassen Juristen aus St. Petersburg aus? Träumt der Zarewitsch davon, es dem bisherigen Zaren zu zeigen? Es gibt Zweifel, dass die geplante Doppelspitze – Medwedew als Staatschef, Putin als Premier – auch wirklich funktioniert. Putin, Medwedew

Letzter Akt im Fall Diana S. 126 PANDIS MEDIA / TELEPRESS-PANDIS

Der tödliche Pariser Autounfall von Diana, der Princess of Wales, beschäftigt – fast elf Jahre nach dem Crash – nun auch den Londoner High Court. Kaufhauskönig Mohammed Al-Fayed wollte beweisen, dass es sich um eine Verschwörung gehandelt habe. Er erlebte eine Blamage. Diana (1990)

Sie häuten Zebras und kleben Zungen in tote Bären. Jetzt haben die Tierpräparatoren in Salzburg ihre Weltmeisterschaft abgehalten. Die Besten der Zunft schaffen Stillleben von verblüffender Lebendigkeit.

PETER SCHINZLER

Die Schönheit der toten Tiere Seite 148

Panorama: Türkische Militäroffensive gegen kurdische Rebellen im Nordirak / Die mächtigste Mafia kommt aus Kalabrien / Revolutionswächter auf dem Marsch ins iranische Parlament .............................................. 113 Russland: Putins Kronprinz auf dem Sprung ...... 116 Die Illusion von der Doppelherrschaft ................. 122 Kosovo: Angst vor dem Dominoeffekt ................ 124 Großbritannien: Das Märchen von der Ermordung Lady Dianas ...................................... 126 USA: Panik im Clinton-Team ............................... 128 Global Village: Warum fünf Eisenbahner im eritreischen Bergland das koloniale Erbe Italiens pflegen ...................... 132

Sport Szene: Beckham als Unternehmer in Brasilien / Die 20 größten Sportsponsoren der Welt ............. 135 Fußball: Schweizer Ermittler legen ein Schmiergeldsystem im Weltsport offen ................ 136 Radrennen: Doping-Sünder Patrik Sinkewitz unter Druck ......................................................... 139

Wissenschaft · Technik Prisma: Benzin aus Wasser und Luft / Intelligenz fördert die Trunksucht ........................ 141 Medizin: Vier Millionen Deutsche leiden unter seltenen Krankheiten ................................. 144 Rüstung: Warum schossen die Amerikaner ihren Spionagesatelliten vom Himmel? ................ 147 Tiere: Weltmeisterschaft der Präparatoren in Salzburg .......................................................... 148

Kultur Szene: Kassenerfolge der Filmindustrie / Eine Biografie rehabilitiert Heinrich Manns Frau Nelly 151 Literatur: Politik als Thema deutscher Gegenwartsromane ............................. 154 Filme: „No Country for Old Men“ – das grandiose Gewaltepos der Brüder Coen ........ 156 Kino: Regisseur Roland Emmerich über sein Steinzeit-Drama „10.000 BC“ .............................. 158 Autoren: Martin Walsers neuer Roman „Ein liebender Mann“ über die letzte Leidenschaft des alternden Goethe ...... 160 Frauen: SPIEGEL-Gespräch mit TV-Moderatorin Charlotte Roche über Sex, Feminismus und ihr Skandalbuch „Feuchtgebiete“ ................. 164 Bestseller .......................................................... 166 Nahaufnahme: In Madrid wird das Schicksal der Anne Frank als Musical verkitscht ................. 167 Briefe ..................................................................... 6 Impressum, Leserservice ................................ 168 Register .............................................................. 170 Personalien ........................................................ 172 Hohlspiegel /Rückspiegel ................................ 174

WM-Juroren mit Präparaten

PICTURE-ALLIANCE/ DPA

Titelbild: Illustration Thomas Fluharty für den SPIEGEL

Walsers Liebesroman

Seite 160

Dem alten Goethe huldigt Martin Walser, 80, in seinem Roman „Ein liebender Mann“: Die letzte Leidenschaft des 73-jährigen Dichters zu einer 19-Jährigen inszeniert er als Hommage an die Beteiligten – und an die Liebe. Walser d e r

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Kunst des Schnörkels Der spanische Möbeldesigner Jaime Hayon jagt den Minimalismus aus den Wohnzimmern. Außerdem im KulturSPIEGEL: Warum Ellen Page Hollywoods rotzfrechste Nachwuchshoffnung ist. 5


Briefe Steuerpflichtigen Steuerflüchtige werden, kann man dies wohl kaum dem kleinen Fürstentum anlasten.

„Ich bin sicher, der Stoff dieser Wintergeschichte 2008 wird noch Gegenstand von Agentenromanen sein und als Drehbuchvorlage für Actionthriller dienen. Der Mix aus Geheimdienst, Geldadel, Raffgier und Rufmord kann nicht besser angerichtet sein.“

Magdeburg

Auch wenn Deutschland keine unmittelbaren Gebietsansprüche stellt, so verstößt die besonders unverschämte Verletzung der Souveränität Liechtensteins gegen internationales Recht. Die zunehmende Kapitalflucht hat innerdeutsche volkswirtschaftliche und politische Gründe, sie ist kein Produkt mangelhafter Moral einzelner Akteure.

Rolf Arnold aus Merzig im Saarland zum Titel „Gesucht: Der Bundesnachrichtendienst bittet um Ihre Mithilfe. Staatsfeind Steuersünder“

SPIEGEL-Titel 8/2008

Zürich

Was sind wir doch für ein armseliges, doppelmoraliges Volk! Den Schumachers und Beckenbauers jubeln wir zu, die Zumwinkels erklären wir zum „Staatsfeind Steuersünder“. Obschon in Bezug auf die Steuereinnahmen unseres Staates: ergebnisneutral. Was fällt unseren Regierenden dazu ein: Erhöhung der Strafen. Warum kommt niemand auf die Idee, den Spitzensteuersatz zu senken. Denn 45 Prozent von nichts ist nichts, aber 30 Prozent von einer Million Euro sind immerhin schon mal 300 000 Euro. Da überlegt man sich doch, ob sich eine „Steuerflucht“ überhaupt lohnt. Gifhorn (Nieders.)

Rüdiger Frost

Die derart brutale öffentliche Hinrichtung jenes Managers, der über 18 Jahre durch den Umbau eines verschnarchten, maroden Staatsunternehmens zu einem weltweit führenden Logistikkonzern Großes geleistet hat, ist absolut unwürdig. Binnen weniger Stunden erklärten Politik, Medien und Gesellschaft diesen Mann zur Persona non grata. Ohne zu differenzieren, ohne wirklich sachlich zu berichten und zu diskutieren. Fakt ist: Zumwinkel hat sich nicht als Manager raffgierig „bedient“ oder Gelder illegal ins Ausland geschafft. Er hat als wohlhabender Bürger bereits versteuertes Geld im Ausland angelegt und – so der Vorwurf – die Zinseinkünfte daraus nicht in Deutschland versteuert. Das hatten wir doch alles schon zigmal. Jetzt meldet sich sogar Herr Ackermann als Moralapostel zu Wort. Das ist Realsatire pur! Köln

Petra Zimmermann

* Mit seinem Rechtsanwalt und Staatsanwältin Margrit Lichtinghagen am vorvergangenen Donnerstag.

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Madrid

Inge Eltermann

Jürgen Dittert

Der Titel erscheint mir diesmal falsch gewählt und suggeriert eine gefährliche Verharmlosung des Verbrechens Steuerhinterziehung. Es müsste besser heißen: „Staatsfeind Steuer-Verbrecher“. Stuttgart

Ich habe seinerzeit noch in der Schule gelernt: Der schlimmste Mann im ganzen Land, das ist der Herr Denunziant! Aber wahrscheinlich war meine Schulzeit in den Fünfzigern noch zu nah an den Erlebnissen des „Dritten Reichs“, und die Lehren daraus sind inzwischen in Vergessenheit geraten.

STEFAN ENDERS

Völlig unrealistisches Menschenbild Nr. 8/2008, Titel: Gesucht: Der Bundesnachrichtendienst bittet um Ihre Mithilfe. Staatsfeind Steuersünder

Manager Zumwinkel (M.)*

Zur Persona non grata erklärt

Das blutrote Liechtenstein auf Ihrer Karte macht es sehr schön deutlich: der Kleinstaat als Zecke am Leibe Europas. Wie lange will sich Europa diesen Luxus der Schmarotzerstaaten noch leisten, deren Wirtschaftsleistung darin besteht, dass sie Steuerhinterziehung decken beziehungsweise legalisieren? Bremen

Ernst Thienken

Liechtenstein ist ein souveräner Staat. Es hat die Bundesrepublik und ihre Vertreter nicht zu interessieren, welche Steuergesetzgebung sich dieser autonome Staat gibt. Wenn aus bundesrepublikanischen

Klaus F. Schneider

Martin Fürst

Als nichtdeutscher Nachbar fragt man sich: Ist Deutschland noch immer der alte Obrigkeitsstaat? Wer diesem Staat etwas vorenthält, was ihm zusteht, ist ein Staatsfeind, ein Krimineller und gehört an den Pranger und hinter Gitter. Wenn jedoch dieser Obrigkeitsstaat zur Steuererfassung unter Akklamation der Amtsinhaber kriminell und jeder demokratischen Rechtsnorm spottend agiert, indem er zu Wirtschaftsspionage und Diebstahl anstiftet und sich das noch Millionen kosten lässt, zeigt sich, wes Geistes Kind die deutsche Staatsverwaltung und das bundesdeutsche Politiksystem sind. Dass dieser moderne deutsche Staat seine Steuerpflichtigen in einer Art und Weise schröpft wie kaum ein anderes Land, wird geflissentlich verschwiegen. Berg (Schweiz)

Carl M. Holliger

Peinlich und entwürdigend ist der Ruf unserer Politiker nach höheren Strafen für Steuersünder. Der Aufruf zur öffentlichen Hatz, die Vorführung von Persönlichkeiten – nur mit Blick auf Stimmenfang – ist unanständig und widerlich, da man selbst die Finger im Teig bis zu den Ellbogen hat. Allein der Standort Deutschland ist durch die Steuergesetzgebung gefährdet. Albstadt (Bad.-Württ.)

Werner Schmid

Wenn ein Rechtsstaat mit derart machiavellistischen Mitteln Unrecht mit Unrecht bekämpft, würde auch mich jeder SteuerEuro reuen. Denn die Hehlerei – und das ist es wohl, wenn man gestohlenes Gut käuflich erwirbt – wurde mit ebendiesen Steuergeldern finanziert. Schaffhausen (Schweiz)

Charlotte Blank

Vor 50 Jahren der spiegel vom 26. Februar 1958 Kommentar von Jens Daniel: „Die Strategie des Nein“. Rapacki-Plan Westdeutschlands verborgenes Ablehnungsmotiv. SPD-Wehrgutachten Schwierige Neubearbeitung. Entschädigungen Hohenzollern fordern Riesensummen aus Polenfonds. Indonesien Offiziersrevolte gegen Staatspräsident Sukarno. Rundfunk Privatsender „Radio Luxembourg“ strahlt auch in Deutschland aus. Geigenhandel Schwindelprozess um Stradivaris. Lyrik in China Maos unpolitischer Gedichtband erscheint. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. Titel: Filmclown Giulietta Masina

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Briefe All jenen, die nicht viel besitzen, liefert die Steueraffäre wahren Grund zur Freude. Nicht Schadenfreude aus Neid gegenüber den Reichen, sondern das befreiende Gefühl, als Steuerzahler nicht mehr der Dumme zu sein. Das Leid und die Scham der Überführten macht es für jedermann greifbar, wie richtig es war, seine Steuer zu zahlen, und jeder nun Überführte ist für die Gesetzestreuen ein Anreiz, den Weg der Tugend auch in Zukunft nicht zu verlassen. Hamburg

Hartmut Henninger

Der Skandal liegt darin, dass der Staat blauäugig von einem völlig unrealistischen Menschenbild ausgeht. Wenn Steuerhinterziehung so leicht ist, wenn Prüfungen so selten sind, dass die Entdeckung sehr unwahrscheinlich ist, dann werden auch Charakterstarke in Versuchung geführt. Hamburg

Dr. Fred Anton

Auch wenn manche schon den Untergang des Abendlandes am Horizont zu erkennen meinen, unsere Demokratie zeigt gerade im Fall Zumwinkel ihre Stärken. Ungehindert kann die Justiz gegen die Eliten des Landes ermitteln, eine freie Presse unzensiert über diese Affäre berichten. Viele Länder können davon leider nur träumen. Berlin

Berlin gefällt, von denen sich ja viele ein Bild vor Ort gemacht haben – bei einem inszenierten Kaffeebesuch. Da fragt sich, in welchem Grad unsere demokratisch gewählten Staatshäupter den Stellenwert Deutschlands in der Nato gefährden. Masar-i-Scharif (Afghanistan) André Schäfer

Einige Volksvertreter haben zwischenzeitlich den Atlas ausgepackt und erkannt, dass ganz Afghanistan als westlicher Einsatzraum gelten kann, wenn man den Ausgangspunkt nur weit genug nach Osten verlegt. So kann es schnell passieren, dass der westliche Einsatzraum über Nacht im Südwesten oder Süden Afghanistans liegt. Unter diesen Umständen wird jeder einsehen, dass Geografie die spannendste Nebensache der Welt ist und zum Zentralbereich der Verteidigungspolitik gehört. Wen kümmert es unter diesen Umständen noch, dass im Oktober eine neue Bundesstagsabstimmung über das Einsatzmandat stattfindet? Wasserburg (Bayern)

Klaus Katzur

Der Gipfel der Unverfrorenheit Nr. 7/2008, Altersvorsorge: Den Rentnern von morgen drohen magere Zeiten

Vom Arbeitgeber wurde ich zur Altersteilzeit „überredet“ mit 7,2 Prozent Rentenminderung. Mein Pech besteht auch noch darin, in den neuen Bundesländern zu arbeiten, wo sich die Politiker der Niedriglöhne, die Arbeitsplätze schaffen sollen, rühmen. Dies hat sich jedoch als Trugschluss herausgestellt. Niedrige Löhne, geringe Einzahlungen in die Rentenversicherung, geringere Renten – armer Osten. Saalfeld (Thüringen)

Bernhard Wolters

Dr. Udo Baron

Einbeck-Vardeilsen (Nieders.)

Ludwig Miehe

MICHAEL KAPPELER / DDP

Deutsche Soldaten (in Nordafghanistan)

Individualismus ist hier fehl am Platz

Das einzige Überraschende an dieser Steueraffäre ist, wie überrascht alle tun … Rico-Thore Kauert

Noch regen wir uns über unethisches Managerverhalten auf, aber irgendwann tritt der Gewöhnungseffekt ein. Business und Kriminalität verschmelzen immer mehr. Teilweise sitzt die Politik schon mit im Boot. Berlusconi lässt grüßen. Bad Nauheim (Hessen) Prof. Dr. Walter Simon

Inkompetenz und Ignoranz Nr. 7/2008, Bundeswehr: Wie der Afghanistan-Einsatz ausgeweitet werden soll

Es stellt sich die Frage, wie viele der 86 Prozent der Befragten heute nicht ihrem Lebensstandard nachgehen könnten, hätte es Dinge wie den Marshallplan und die Luftbrücke nicht gegeben. Fakt ist doch, dass die Nato ein Bündnisabkommen darstellt, in dem Individualismus fehl am Platz ist. Geht man nach Aussagen ranghoher Generäle, gibt es keinen Zweifel, dass die Bundeswehr auch Stellung im blutgetränkten Süden bezieht. Letztendlich wird die Entscheidung durch unsere Politiker in 10

Berlin

Jürgen Böck

Wie hat doch der angeblich längst überholte Karl Marx einmal gesagt, sinngemäß zitiert: „Bei 50 Prozent Profit drückt der Kapitalist beide Augen zu, bei 75 wird er kriminell und bei 100, da geht er über Leichen …“

Berlin

Eine der Ursachen für den Misserfolg der Isaf liegt in der ersten Petersberger Konferenz begründet: die Einbindung afghanischer Krimineller und Warlords, statt auf die in den Clanstrukturen anerkannten Stammesältesten und Intellektuellen zu setzen. Die andere ist die einseitige Unterstützung der zum Teil verbrecherischen Führer und radikalen Islamisten der Nordallianz durch die US-Streitkräfte. Wir ernten, was wir mit Inkompetenz und Ignoranz gesät haben! Deshalb: Raus aus Afghanistan!

Warum eigentlich weigert sich die Mehrheit unserer Politiker einzugestehen, dass die Nato mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Auflösung des Warschauer Pakts ihre Existenzberechtigung verloren hat? Und warum sollte sich Deutschland (und Europa) von den USA und den dahinterstehenden Erdöl- und Rüstungsinteressen weiterhin einschüchtern lassen? Mit militärischer Gewalt kann Terrorbekämpfung nicht funktionieren, weder in Afghanistan noch im Irak noch sonst wo in der Welt. Heidelberg

Gunther Dienemann

1983 habe ich ein neues Haus mit Einliegerwohnung erworben, damit drei Generationen darin leben können. Dann kam Hartz IV. Trotz des grundgesetzlich geschützten Eigentums war das Haus nun ohne Schutz. Geschützt sind bei Hartz IV nur Gebäude bis 130 Quadratmeter. Ein rein politischer Wert, denn welcher Bundesbürger konnte sich schon vorstellen, dass der Staat zwar die Eigenvorsorge befürwortet, und hier ganz besonders die Mehrgenerationenhäuser, aber diese Vorsorge bei Arbeitslosigkeit grausam bestraft. Simonswald (Bad.-Württ.)

Michael Clemens

Sie bebildern den Artikel mit Kreuzfahrtrentnern. Damit spalten Sie Alt und Jung, lassen vergessen, wie hart die Rentner gearbeitet haben, trotzdem ihren Lebensstandard nicht halten und vorerst nur durch Erspartes die Sozialfalle umgehen können. Trotzdem zeigt der Artikel einen Skandal auf – die Linke kann sich freuen. Konstanz

Ursula Horine

Sie hätten wenigstens erwähnen sollen, dass eine breite Widerstandsbewegung gegen die Kriegstreiber der Nato und der Rüstungsindustrie, die sich in München getroffen haben, existiert, anstatt die Proteste Tausender, welche mit der von Horst Teltschik privat ausgerichteten, aber vom Bund mitfinanzierten und von einem verfassungswidrigen Einsatz der Bundeswehr im Innern begleiteten „Sicherheitskonferenz“ einhergingen, totzuschweigen und die Sachlage lediglich aus dem Blickwinkel der Herrschenden und des Kapitals darzustellen.

Die geplante Besteuerung von „WohnRiester“ im Alter durch Anrechnung von fiktiven Mieteinnahmen ist der Gipfel der Unverfrorenheit. Zum einen müssen zusätzlich zu den angeblichen Riester-Vorteilen erhebliche Eigen- und Fremdmittel eingesetzt werden, um das Vorhaben zu realisieren. Des Weiteren profitieren das Baugewerbe und der Fiskus durch Beschäftigung und Steuereinnahmen. Nicht zuletzt spart der Staat bei dieser Klientel die Zahlung von Wohngeld im Alter.

Tübingen (Bad.-Württ.)

Obernburg am Main (Bayern)

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Matthias Rude 9 / 2 0 0 8

Hugo Fischer


Briefe

Nicht komplett finanziert Nr. 6/2008, Bundestag: Die exotischen Dienstreisen deutscher Parlamentarier

In Ihrem Beitrag schreiben Sie, dass mein Besuch im vergangenen Jahr bei einem SkiKongress in Südkorea komplett vom Bundestag finanziert worden sei. Dies trifft nicht zu. Ich wurde vom Koreanischen Skiverband eingeladen und habe ausschließlich die Übernahme der Kosten für Hinund Rückflug beantragt. Dies wurde vom Präsidenten des Deutschen Bundestages dann als Dienstreise genehmigt. Ich habe für die Flüge meine dienstlich erworbenen Bonusmeilen eingesetzt. Die Reise erfolgte im Übrigen gerade auch im Hinblick auf die geplante Bewerbung Münchens für die Olympischen Winterspiele 2018. Berlin

Norbert Barthle MdB/CDU

Herr Barthle hat insoweit recht.

–Red.

Das stärkste Band des Körpers Nr. 7/2008, Ärzte: Brachial-OP zur Behandlung von Schleudertraumen

Es ist erstaunlich, dass Dr. M. seine in neurochirurgischen und neurologischen Kreisen äußerst umstrittenen Operationen so lange hat durchführen können, obwohl seit seinem Weggang aus dem Klinikum Augsburg unzählige Verfahren gegen ihn laufen. Ich habe 1999 die Fachgesellschaft

Chirurg Montazem bei Versteifungsoperation

Wo andere aufgeben, fängt „Monti“ an

für Neurochirurgie und deren Vertreter auf diesen Fall mit Röntgenunterlagen aufmerksam gemacht und verlangt, die Operationsindikation und Methode des Dr. M. kritisch zu überprüfen und, wenn möglich, dem Einhalt zu bieten. Nichts ist passiert. Augsburg

Dr. med. Harald Reich

Kein vernünftiger Wirbelsäulenchirurg wird jemals auf die Idee kommen, Patienten nach einem Schleudertrauma ohne organische Schädigung an der Halswirbelsäule operativ zu behandeln. Das Ligamentum alaria ist das stärkste Band des Körpers. Weltweit findet man weniger als 40 Fallberichte über diese Verletzung. Aus den anatomischen Arbeiten von Doktor 12

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Wolfgang Rauschning weiß man, dass ein isolierter Abriss der Ligamenta alaria nicht möglich ist. Dass ein Radiologe diese Diagnose an einem neurologisch unauffälligen Patienten feststellt, ist im Grunde noch gefährlicher, als es die höchst umstrittenen Operationen bei den Patienten sind. Solch ein Befund landet bei mir, wo er hingehört, im Papierkorb. Dr. med. Alan Bani

Patienten, die bei Dr. Montazem vorstellig werden, haben in der Regel eine unvorstellbare Odyssee hinter sich. Von Medizinern, die sich ausschließlich auf „objektive“ Befunde stützen, wurden viele von ihnen längst aufgegeben. Sie klammern sich an diesen Strohhalm, wahnsinnig vor Schmerzen, oft bereits als Fall für die Psychiatrie austherapiert. Wo andere aufgeben, fängt „Monti“ an. Unzählige Patienten haben wohl ein wenig Beweglichkeit verloren, aber ein lebenswertes Leben zurückgewonnen. Klosterlechfeld (Bayern) Chr. u. Peter Putz

Mitten ins Mark getroffen Nr. 07/2008, Katastrophen: Wie der Brand von Ludwigshafen das deutsch-türkische Miteinander belastet

Es gehört zur Ehre eines jeden Feuerwehrmannes, dass er – unabhängig von Brand- oder Unfallursache – zur Rettung seiner gefährdeten Mitmenschen Leib und Leben riskiert. Und hier ist der Begriff Ehre wirklich angemessen! Die Rettungskräfte – auch Polizei, THW und alle anderen, insbesondere aber die freiwilligen Helfer – für ihren Einsatz zu beleidigen und zu diskriminieren ist verantwortungslos und kann nicht akzeptiert werden. Hier ist eine klare Stellungnahme der politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen erforderlich! Wer die Motivation unserer vielen hauptund ehrenamtlichen Helfer zerstört – oder als Verantwortlicher zerstören lässt –, zerstört unsere Zivilgesellschaft und Solidargemeinschaft von innen heraus, weil er sie mitten ins Mark trifft. Heilbronn Wolfram Rudolph Vater eines freiwilligen Feuerwehrmannes

Unmoralisch und verwerflich Nr. 7/2008, TV-Shows: „Deutschland sucht den Superstar“ – ein Fanal der produktiven Selbstüberschätzung

Es ist ja löblich, dass Herr Broder so viel Verständnis für „DSDS“-Zuschauer und -Teilnehmer aufbringen kann. Trotzdem bleibt der fade Geschmack bei den Ewigbesorgten und vielleicht die Frage, ob ein Spiel, bei dem es ja nach Herrn Broder lediglich ums „survival of the fittest“ geht, weil es so wunderbar in unsere kameraund karrieregeile Gesellschaft passt, eigentlich gut oder nur normal ist. Hannover

Jens Ihnen Sozialpsychologe d e r

RTL

Singen (Bad.-Württ.)

„DSDS“-Kandidat Benjamin H.

Vorsätzliche verbale Erniedrigung

Wenn weder Selbsteinschätzung noch Eltern oder Freunde einen völlig untalentierten Kandidaten davon abhalten, zum „DSDS“-Casting zu gehen, dann muss man auch von einem privaten TV-Sender erwarten können, dass höchst peinliche Auftritte nicht ausgestrahlt werden. Genau das Gegenteil ist der Fall: RTL lässt diese Opfer im „Vor-Casting“ gewähren und dann mit purer Absicht und großer Vorfreude ins offene Messer laufen. Dies ist unmoralisches und verwerfliches Handeln, dem Einhalt zu gebieten ist. Nürnberg

Daniel Feldkamp

Meinen Sie ernsthaft, dass einer die Konsequenzen der Häme abschätzen kann, die er über seine Schule hinaus ertragen muss? Hamburg

Tobias Kalbacher

Wer Dominik, Benjamin, Ariane und Co. mit Persönlichkeiten wie Gutenberg oder gar Humboldt vergleicht, weiß offensichtlich nicht, was er schreibt. Löbau (Sachsen)

Heiko Pätzold

Es ist richtig, dass niemand gezwungen wird, bei „DSDS“ teilzunehmen. Aber Kinder und Jugendliche schauen sich diese vorsätzliche verbale Erniedrigung von Menschen an und kommen zu dem Schluss, das sei normal. Als verantwortungsvoller Mensch ist dies in keiner Weise zu tolerieren. Clenze (Nieders.)

Patrizio Guida

Besser als durch das Foto des „DSDS“-Teilnehmers Thomas W., der so unnachahmlich elegant die Ukulele an seinem Dez zerdeppert, hätte die allgegenwärtige Verblödung im Deutschland des Jahres 2008 nicht illustriert werden können. Kompliment! Verden (Nieders.)

Fritz Werner

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen Postkarten-Durchhefter des SPIEGEL-Verlags/Abo, Hamburg. In einer Teilauflage befindet sich in der Heftmitte ein zwölfseitiger Beihefter der Firma TechniSat, Daun. Eine Teilauflage enthält Beilagen der Firmen HaWesKo, Tornesch, SPIEGEL TV/Kabel, Hamburg, Giordano, D’Alba, sowie die Verlegerbeilage SPIEGELVerlag/KulturSPIEGEL, Hamburg.

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Deutschland

Panorama

Länderfinanzausgleich

gebnis liefern könne, um im Herbst ins Gesetzgebungsverfahren zu gehen. Stattdessen EMPFÄNGER könne es sein, dass die KomBerlin 2891 mission erst im Herbst ihre ErSachsen 1155 gebnisse vorlegt, Bundestag und Bundesrat könnten sich Brandenburg 669 damit dann erst Anfang 2009 Thüringen 639 befassen. Als Grund gaben Struck und Oettinger an, dass Sachsen-Anhalt 623 die armen Länder wie SaarMeckl.-Vorpommern 508 land, Bremen und SchleswigHolstein mehr Zeit bräuchten, Bremen 471 um ihre Finanzlage darzustelRheinland-Pfalz 341 len. Mitglieder des Gremiums vermuten jedoch, die bayeriNiedersachsen 315 sche Landtagswahl im Herbst Schleswig-Holstein 136 könne die Ursache sein. Bayern ist ein wichtiges GeberSaarland 125 ZAHLER land. Die zweite Stufe der FöderaNordrhein-Westfalen –33 lismusreform soll die FinanzHamburg –361 beziehungen zwischen Bund Baden-Württemberg –2301 und Ländern klären, die Altschulden angehen und NeuBayern –2302 verschuldung eindämmen. In Hessen –2875 einem aktuellen internen Vermerk der Kommission heißt es, es gebe „unterschiedlichen Ehrgeiz“, etwa wie weit die Neuverschuldung begrenzt werden soll. Mitglieder der Kommission befürchten nun das Scheitern der Reform, weil Anfang 2009 die heiße Phase des Wahlkampfs für die Bundestagswahl im Herbst beginnt, in der Kooperation nicht mehr zu erwarten ist. Der Kommission fehle es seit Anbeginn am Willen und an politischer Führung, sagt GrünenFraktionschef Fritz Kuhn, selbst Mitglied des Gremiums. „Peter Struck und Günther Oettinger haben nicht wirklich das Sagen, und Frau Merkel und Herr Beck kümmern sich nicht um das Projekt.“ Wenn der Zeitplan wie angedeutet ausgedehnt werde, „kommt es zu keiner Reform“, prophezeit Kuhn.

Bundestag

FÖDERALISMUS

Reform vor dem Scheitern D

er Föderalismusreform II, dem einzig verbliebenen Großprojekt der Koalition, droht eine abermalige Verschiebung des Zeitplans und damit womöglich das Scheitern. In Berlin ließen die beiden Kommissionsvorsitzenden Günther Oettinger (CDU) und Peter Struck (SPD) den verdutzten Mitgliedern gegenüber jüngst erkennen, dass man unter Umständen nicht, wie bisher vorgesehen, bis zur Sommerpause ein Er-

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Gasprom will Gift in Ostsee spülen

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ür das Ökosystem des Baltischen Meeres könnte die geplante Ostseepipeline zu einer massiven Belastung werden. Das vom russischen Energiekonzern Gasprom geführte NordStream-Konsortium erwägt, die Pipeline vor ihrer geplanten Inbetriebnahme im Jahr 2011 mit 2,3 Milliarden Litern einer Lösung aus giftigem Glutaraldehyd zu spülen – und die Chemiebrühe anschließend in die Ostsee zu pumpen. Solche Pläne seien den deutschen Behörden grundsätzlich bekannt, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl.

tretern des Energiekonzerns E.on und Glutaraldehyd wird als Bakterienkiller des Chemieriesen BASF auch Ex-Kanzverwendet und hat insbesondere auf ler Gerhard Schröder. Kotting-Uhl forWasserorganismen eine stark giftige derte die Bundesregierung auf, die EinWirkung. Nord Stream will die Chemileitung von Glutaraldehyd in die Ostsee kalie verwenden, um die Pipeline-Inauf jeden Fall zu verbieten. nenseiten zu säubern. In dem vom Bundesumweltministerium verfassten Papier heißt es, Fauna und Flora in der Ostsee seien ohnehin schon stark durch Schadstoffe belastet. „Die Einleitung von Glutaraldehyd würde somit in ein besonders empfindliches und besonders gefährdetes Ökosystem erfolgen.“ Allerdings prüfe Nord Stream auch Alternativen zur Giftlauge. Im Aufsichtsgremium von Nord Stream sitzt neben VerOstseepipeline bei St. Petersburg (2006) d e r

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YURI BELINSKY / TASS / PICTURE-ALLIANCE / DPA

LIESA JOHANNSSEN/PHOTOTHEK.NET

2007, vorläufiges Ergebnis in Millionen Euro, Quelle: Finanzministerium


Panorama AM RANDE

Alexander Smoltczyk

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Schneider

TERRORISMUS

Mordvorwurf gegen Islamisten D

ie Bundesanwaltschaft hat den Haftbefehl gegen den im vorigen Sommer im Sauerland festgenommenen Terrorverdächtigen Daniel Schneider um den Vorwurf des versuchten Mordes erweitert. Während sich seine mutmaßlichen Komplizen widerstandslos festnehmen ließen, lieferte sich Schneider eine Rangelei mit einem BKA-Beamten. Dabei gelang es Schneider, dessen Pistole in die Hand zu bekommen. Es löste sich ein Schuss, der Beamte wurde leicht an der Hand verletzt – nicht von der Kugel, sondern vom Bolzen der Waffe. Unterdessen stockt das zweite große Islamistenverfahren: Im laufenden Prozess gegen den mutmaßlichen Kofferbomber Youssef al-Hajdib vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf gibt es erhebliche Probleme mit der Befragung

seines Komplizen Dschihad Hamad, der im Libanon einsitzt. Zusammen mit Hamad hatte Hajdib am 31. Juli 2006 zwei Trolleys mit selbstgebauten Bomben in zwei Regionalzügen deponiert. Die beiden beschuldigen sich nun gegenseitig, die Anschlagspläne ausgeheckt zu haben. Die Verteidigung Hajdibs will Hamad deshalb umfänglich befragen, die Libanesen lehnen aber alle Vorschläge der Deutschen ab. Eine Überstellung schlugen sie ebenso aus wie eine Videokonferenz. Nun scheint alles auf eine richterliche Vernehmung in Beirut hinauszulaufen. „Wir hätten uns eine direkte Befragung in Anwesenheit meines Mandanten gewünscht“, sagt dazu Hajdib-Anwalt Johannes Pausch, „er hätte Hamad gern von Angesicht zu Angesicht mit der Wahrheit konfrontiert.“

Manager sollen kurz vor dem Abschluss stehen. Zudem prüfen Ermittler, inwieweit die Machenschaften der sächsischen Niederlassung von der Kölner Zentrale gedeckt wurden. Ein Strabag-Sprecher n der Affäre um mutmaßliche Betrügeweist diese Vorwürfe zurück. Ein Indiz reien und Schmiergeldzahlungen beim könnte ein Revisionsbericht für den VorAutobahnbau in Sachsen gerät der Baustand vom November konzern Strabag unter 2001 liefern. Die sächDruck. Ein Ex-Gesische Strabag hatte schäftspartner hat gemit 48,1 Millionen genüber der StaatsanMark das günstigste waltschaft Chemnitz Angebot abgegeben gestanden, in Abspraund den Zuschlag für che mit einem Strabagdas Bauprojekt in Manager beim Bau eiSachsen bekommen. nes Autobahnteilstücks Die Konzern-Kontrolfiktive Rechnungen leure hatten aber dagestellt zu haben, um mals bereits herausgedie Kosten für den Strabag-Baustelle A 72 (2004) funden, dass dieser Bau in die Höhe zu Preis schwer zu halten sei. Nach Fertigtreiben. Ab dem 10. März wird sich der stellung des Projekts bekam der Konzern Unternehmer aus Hessen wegen Beihilfe denn auch angebliche Mehrkosten über zur Untreue vor dem Landgericht Chem10 Millionen Euro vom sächsischen Autonitz verantworten müssen. Die Ermittbahnamt. lungen gegen den ehemaligen StrabagA F FÄ R E N

Baukonzern unter Druck I

WOLFGANG THIEME / DPA

Die Welthandelsorganisation WTO hat festgestellt: Sieben Prozent aller Waren sind gefälscht. Selbst bekannte Produkte erwiesen sich als falsch. Beim Sozialdemokraten Clement war der Verdacht schon lange da. Aber es gibt weitere Fälle. Durch Stuttgart zum Beispiel hüpft jemand, der sich noch immer Günther Oettinger nennt. Aber schauen wir genauer hin: Diese nach hinten gekämmte Helmfrisur, diese scharfen Gesichtszüge, diese Hektik in den Bewegungen … Das ist doch – natürlich: Nicolas Sarkozy! Selbst die Mimik passt. Der Ministerpräsident von Baden- Württemberg sieht aus, als stehe er nur noch vor dem Spiegel und übe Sarkozy-Grimassen. Oettinger will wie er werden, das dürfte belegt sein. Fast gleich alt sind die beiden schon seit Geburt. Wie sein Vorbild tanzt Oettinger „auf tausend Hochzeiten“ („Stuttgarter Zeitung“). Er träumt von einem Zeltplatz in der Stuttgarter Innenstadt. Falls Gaddafi kommt. Auch Oettingers Ehe zerbrach just in dem Moment, als Cécilia Sarkozy die Nase voll hatte von den tausend Hochzeiten ihres Mannes. Der Preis war hoch, aber Oettinger zahlte ihn. Seither ist er auf der Suche nach einer Sängerin im Ländle. Doch Joy Fleming (bürgerlich Erna Strube) wollte sich nicht mit ihm fotografieren lassen. Nicht in Ägypten. Nicht im Bikini. Aber sonst lief Oettingers Sarkozywerdung höchst erfolgreich. Doch gerade jetzt, da Oettinger bei jeder Parade als Präsidenten-Double hätte eingesetzt werden können – gerade jetzt verblasst die Marke. Sarkozys Umfragewerte sind im Keller. Nicolas hatte einmal das, was dem Günther fehlte. Originalität. Aber jetzt wirkt er selbst nur noch wie nachgemacht. Ein bisschen Napoleon oder sonst was Großes vom Typus kleiner Mann. Dumm, wenn das Original selbst nur kopiert ist. Es wimmelt eben von Fälschungen. Sagt die WTO. Nur sieben Prozent? Die Zahl muss falsch sein.

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MICHAEL PROBST / AP

Schwabensarkozy


Deutschland E U R O PA

Schmu in Brüssel

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schuss. Gert Weisskirchen, außenpolitischer Sprecher der SPDFraktion, bezeichnete das Kosovo als „Mafiastaat“, nahm den Begriff aber nach Protest anderer Abgeordneter zurück. Zugleich attackierte er die CDU/CSU wegen deren Beziehungen zur serbischen Regierungspartei DSS. Deren Parteichef, Premierminister Vojislav KoΔtunica, trage die „volle Verantwortung für die Übergriffe des Mobs auf die Deutsche Botschaft“. Die Union müsse KoΔtunica „offen und öffentlich“ kritisieren. Unionspolitiker Eckart von Klaeden wies dies zurück. Zudem fordere die Union Serbien klar auf, „sich von Gewalt und Nationalismus“ zu verabschieden. Beim Sturm auf die Deutsche Botschaft in Belgrad vergangenen Donnerstagabend wäre es um ein Haar zu einer Katastrophe gekommen. Sieben Botschaftsangehörige hielten sich in dem Gebäude auf, während draußen serbische Randalierer bereits das Wachhäuschen zerstörten. Sie scheiterten jedoch an der überraschend robusten Pforte. Das sei ein „Riesenglück“ gewesen, hieß es im Auswärtigen Amt. Die US-amerikanische Vertretung war am selben Abend gestürmt und in Brand gesetzt worden; ein Mensch kam in den Flammen um. ARD

in interner Prüfbericht sorgt für Wirbel im EU-Parlament. Etliche Abgeordnete hätten regelmäßig Parlamentsgelder für Mitarbeiter kassiert, ohne die Auszahlung ordnungsgemäß belegen zu können, berichtet der Innenrevisor. In einzelnen Fällen soll sogar der Verdacht auf Betrug bestehen. So habe ein EU-Parlamentarier mit Geld aus dem Budget für Mitarbeiter eine

von ihm gegründete Firma unterstützt. Der Report enthält keine Namen und ist nur in der Brüsseler Geheimschutzstelle von Mitgliedern des Haushaltkontrollausschusses einzusehen. Der britische Liberale Chris Davies zeigte sich nach Lektüre schockiert: Es handele sich um „Betrug und Unterschlagung in großem Stil“. Andere Abgeordnete mit Einsicht in den Geheimbericht sprechen vorsichtiger von einem „Durcheinander“ unterschiedlicher nationaler Regeln mit allenfalls „fünf bis sechs Fällen mit dringendem Betrugsverdacht“.

Deutsche Botschaft in Belgrad KO S OVO

Zweifel an Anerkennung ie Anerkennung des Kosovo durch D die Bundesregierung vergangenen Mittwoch sorgt für schweres Unbehagen und Streit in der Großen Koalition. „Es gab nur schlechte Entscheidungen in der Kosovo-Frage“, so der SPD-Außenpolitiker Niels Annen, „die Anerkennung des Landes ist eine davon.“ Der SPD-BalkanExperte Johannes Jung hat Bedenken, ob das Kosovo je ein lebensfähiger Staat wird: „Ich weiß nicht, wie das geschultert werden kann.“ Zum Ausbruch kamen die Zweifel mancher Sozialdemokraten vorigen Mittwoch im Auswärtigen Aus-

BILDUNG

Pisa-Test für Unis?

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ach den Schulen nimmt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nun die Hochschulen ins Visier. Auf einer Tagung in Tokio beschäftigten sich die Bildungsminister mit möglichen Leistungstests für Studenten, die sich an den Pisa-Studien für Schüler orientieren könnten. Die Minister begrüßten „die Initiative der OECD, die Machbarkeit einer internationalen Studie abzuschätzen“. Bereits vor knapp zwei Jahren hatte der OECD-Generalsekretär Angel Gurría auf einem Ministertreffen von einem „Pisa-Test für Hochschulen“ gesprochen und betont: „Wir wissen, wie man die relevanten Informationen erfasst.“ Etliche Staaten hätten sich bereits bereit erklärt, an einem Pilotprojekt teilzunehmen, sagt Pierre de Maret, Vorstandsmitglied des Verbands Europäischer Universitäten. d e r

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Deutschland

Panorama RÜSTUNG

Teurer „Meteor“

EUROFIGHTER

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„Eurofighter“, Waffensystem „Meteor“

rhebliche Probleme plagen ein Renommierprojekt der europäischen Rüstungsindustrie. Die als Hauptwaffe für den „Eurofighter“ vorgesehene Rakete „Meteor“ wird teurer – und obendrein später geliefert als geplant. Grund ist ein Streit um die Bereitstellung eines Testflugzeugs. Weil sich das internationale „Meteor“-Konsortium MBDA und der „Eurofighter“-Hersteller nicht einigen konnten und auch die Luftwaffen Deutschlands, Großbritanniens, Spaniens und Italiens keinen der knappen „Eurofighter“ als Träger für Probeschüsse abgeben wollen, soll die „Eurofighter“-Waffe demnächst an einem alten „Tornado“-Kampfjet erprobt werden. Um den „Tornado“ für Tests im „scharfen Schuss“ anzupassen, sollen die deutschen Steuerzahler Zusatzkosten von 50 Millionen Euro schultern. „Statt interne Querelen und Abstimmungsprobleme zu Lasten der Bürger zu lösen“, fordert die FDP-Wehrexpertin Elke Hoff, solle das Verteidigungsministerium lieber „spürbar“ weniger „Eurofighter“ kaufen. Bisher sind 180 Stück geplant, zu Kosten von über 20 Milliarden Euro. Dazu will Berlin 600 „Meteor“ zum geschätzten Preis von 544 Millionen Euro beschaffen. Die Waffe, die feindliche Flieger im Abstand von über 100 Kilometern bekämpfen soll, wird statt 2012 nun zwei Jahre später einsatzreif.

KIRCHE

„Das Zölibat ist strukturelle Gewalt“

SPIEGEL: Der neue Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, hat sich im SPIEGELGespräch gegen „Denkverbote“ in der Kirche gewandt. Worüber wollen Pfarrer wie Sie denn offen denken dürfen? Ix: Über das Zölibat, Frauenpriestertum, die Ausgrenzung von Wiederverheirateten, das gemeinsame Abendmahl katholischer und evangelischer Christen. Ich will darüber nicht nur denken, sondern mich auch offen und ohne Angst vor den Angriffen katholischer Fundamentalisten austauschen können. SPIEGEL: Was spricht aus der Sicht eines Pfarrers gegen das Zölibat? Ix: Zölibatär lebende Priester und verheiratete Priester sollten gleichwertig in

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unserer Kirche tätig sein. Das wäre eine Bereicherung für die katholische Kirche. Das bestehende Zwangszölibat ist strukturelle Gewalt, da Priester an Leib und Seele schweren Schaden nehmen können. Unsere Kirche könnte mit verheirateten Priestern viel glaubwürdiger über Ehe und Familie sprechen. SPIEGEL: Das Zölibat wird auch damit begründet, dass der Pfarrer ganz für Pfarrer Ix

DAVID KLAMMER / LAIF

Bruno Ix, 71, ist katholischer Pfarrer im Bistum Aachen und darf mit Billigung der Kirche mit zwei Kindern und seiner Haushälterin gemeinsam im Pfarrhaus leben.

seine Gemeinde da sein soll. Kamen die Gläubigen ihrer Gemeinde zu kurz? Ix: In unserem Pfarrhaus wurden zwei Kinder groß, für die ich emotional Vater bin. Eines ist das Kind meiner Haushälterin, das andere durften wir mit Genehmigung des Bischofs als Pflegekind aufnehmen. Das war für die Gemeinde sogar sehr gut – weiß ich doch aus eigener Erfahrung, wie Familie und partnerschaftliches Verhalten zu einem seelischen Wachstum führt. In allen Fragen zur Familie werde ich als kompetent betrachtet – ich weiß, wovon ich rede. SPIEGEL: Was erwarten Sie noch vom neuen Vorsitzenden? Ix: Ich hoffe, dass er es ernst meint, wenn er sagt keine „Denkverbote“ und dass visionäre Christen bei ihm offene Ohren und ein offenes Herz finden. Es darf keine Tabuthemen geben. Er soll mit Nachdruck an den Papst weitergeben, was die Mehrzahl der Katholiken schon lange fordert. Ich hoffe darauf, dass Bischöfe, Kardinäle und der Papst umdenken und umkehren – was sie von anderen immer wieder verlangen.


SPD

„Dann sagen wir nix“ Kurt Beck spaltet die Sozialdemokraten. Der Parteichef will eine Duldung durch die Linkspartei salonfähig machen. Die Parteirechten sind alarmiert und organisieren den Widerstand. Die Union freut sich bereits auf eine neue Rote-Socken-Kampagne bei der nächsten Bundestagswahl.

FABIAN BIMMER / AP

Wahlkämpfer Beck in Hamburg: Zustimmung zu „Plan B“

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Deutschland

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HENNING SCHACHT / ACTION PRESS

er Vorsitzende hatte zur Schaltkon- Lage. Es ist noch nicht ausgemacht, ob sich tarischen Gesellschaft in Berlin vereinbarferenz gebeten, die Elite der deut- die neue Linie durchsetzen wird. Denn ten die Anführer beider Gruppen vorigen schen Sozialdemokratie wartete vo- kaum sickerte die erste Meldung durch, Mittwoch mit Steinbrück und Steinmeier, rige Woche gespannt auf die Weisungen bildete sich eine breite Front der Ableh- gemeinsam gegen einen Kursschwenk zu von oben. Jeden Donnerstag gibt Kurt Beck nung. Selbst die Parteilinke Andrea Nahles kämpfen. Einen weiteren Linksruck könne die „Hauptbotschaften für die Kommuni- fühlte sich überrumpelt. Diese Woche man nicht mittragen, war man sich einig. kation“ per Telefon an seine Führungs- könnte deshalb eine der Schlüsselwochen Damit sei „eine rote Linie“ erreicht. Doch diese Linie will Beck offenbar mannschaft weiter. Manchmal geht es um in der 144-jährigen Geschichte der deutüberqueren. So könnte Hessen für WestAtomkraftwerke, manchmal um die Bahn- schen Sozialdemokratie werden. Es sind vor allem die Parteirechten, deutschland das werden, was Sachsen-AnReform. Dieses Mal ging es um noch größere Fragen: Wo wird sich die SPD der Zu- Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier, Fi- halt einst für den Osten war: das Land, in kunft befinden? In der politischen Mitte nanzminister Peer Steinbrück und Frak- dem sich Sozialdemokraten und Sozialistionschef Peter Struck, die auf einen Kurs ten annähern. Damals, im Sommer 1994, oder in den Armen der Linkspartei? Es knarrte in der Leitung. Dann erklang der Mitte setzen. Ein Pakt mit den Tief- tolerierte die PDS in Magdeburg die rotdie heisere Stimme des erkälteten Chefs. roten würde Wähler in der Mitte vergrau- grüne Regierung, obwohl der Kandidat Reinhard Höppner ebenso wie SPD-Chef „Also“, sagte Beck. „Wir dürfen uns von len, fürchten sie. Rudolf Scharping dies vor dem Radau um Hessen jetzt der Wahl kategorisch ausgenicht verunsichern lassen.“ Er schlossen hatten. Es werde meinte die Aufregung um seimit der PDS „keine Gene Äußerung, dass sich Anspräche, keine Vereinbarundrea Ypsilanti in Wiesbaden gen, keine Verhandlungen, ruhig mit den Stimmen der gar nichts geben. Punkt. Linken zur MinisterpräsidenSchluss!“, polterte Scharping tin wählen lassen solle. Ach damals. ja, fügte der Parteichef noch Die Rolle Scharpings hat 14 an. „Wir müssen uns demJahre später sein Landsmann nächst mal zusammensetzen Beck übernommen. Bis vor und überlegen, wie es mit der kurzem hatte der SPD-Chef Taktik dann so weitergeht.“ jeden Umgang mit den LinDie anderen trauten ihren ken in den alten BundesOhren nicht. Kein Wort der ländern strikt verboten. „Wir Erklärung. Keine Aufklärung werden uns mit diesen Leuin der Frage, ob Beck nun ten nicht abgeben“, lautete eiauch im Westen den Pakt mit ner von Becks LieblingssätLinke-Fraktionschefs den Linken anstrebt oder ob zen. Ein anderer ging so: „In Lafontaine, Gysi er nur falsch verstanden wurder SED-PDS-Nachfolgegrupde. Die Spitzengenossen bliepierung sitzen Leute, die das ben ebenso ratlos wie die Gebot der Freiheit mit Mauer, gesamte Partei. Stacheldraht und Schießbe„Und jetzt sagt euch der 2 Abgeordnete sind fraktionslos fehl beantwortet haben.“ InHubertus noch die genauzwischen aber scheint Beck en Sprachregelungen“, fügte 613 Sitze 61 51 erkannt zu haben, dass solche Beck nur hinzu und übergab absolute Mehrheit Leute auch Ministerpräsidenan seinen Generalsekretär. bei 307 Sitzen tinnen wählen. Heil erklärte den Kollegen In der vergangenen Woche dann, wie sie zu antworten hat Kurt Beck deshalb ein hätten, falls sie zur weiteren Tabu gebrochen, er hat die Strategie in Hessen gefragt Weichen neu gestellt und will würden. „Wir sagen: keine 224 222 so die deutsche Politik veränKoalitionen mit der LinksUnion-FDP SPD-Grüne dern. Indem er Andrea Ypsipartei“, betonte er. „Wir sa53 285 Sitze 273 Sitze lanti erlaubt, sich in Hessen gen: Keine Duldung durch die mit den Stimmen von Oskar Linkspartei und keine aktive Union-FDP-Grüne 336 Sitze SPD-Linke-Grüne 326 Sitze Lafontaines und Gregor Gysis Zusammenarbeit. Und wenn Leuten wählen zu lassen, öffwir gefragt werden, ob die „Beck und Ypsilanti haben nachdrück- nete er die SPD endgültig zur Partei Die Andrea sich denn von den Linken mitlich zum Ausdruck gebracht, dass es weder Linke. Es ist seine Antwort auf die Frage, wählen lassen darf, dann sagen wir nix.“ Es ist die Sprachregelung, mit der Kurt eine Beteiligung der Linken an einer Re- wie Deutschland bei einem Fünf-ParteienBeck dieser Tage einen fundamentalen gierung noch eine Duldung durch die Lin- System regierbar bleiben soll. Fest steht, dass Becks Aussagen kein Schwenk verschleiern will. Übersetzt laute- ken geben wird“, sagt Steinbrück. „Sollte te sie, dass man zwar alles tun solle, um das jemand in Zweifel ziehen, spielt er mit Missverständnis waren, kein Affekt. Der den Anschein einer Kooperation mit den der Glaubwürdigkeit der gesamten SPD.“ Paradigmenwechsel war über Wochen vorLinken zu vermeiden, vor allem semantisch. Und Struck stellt klar: „Mit diesen Leuten bereitet worden. Die Geschichte von Becks Tabubruch In Wahrheit aber könne man am Ende doch kann man keine Politik machen.“ Der Aufstand wird auch von vielen hat ihren Ursprung in Raum 508 W im zusammenarbeiten. So verstohlen, so vorsichtig und so verlogen kündigen sich in der Abgeordneten der pragmatischen „Netz- Hessischen Landtag. Es ist ein Eckbüro werker“ und des rechten „Seeheimer Krei- in der dritten Etage, und es gehört AnPolitik bisweilen Paradigmenwechsel an. Mit seinem Schwenk bringt Beck sich ses“ angezettelt. Bei einem vertraulichen drea Ypsilanti, die bislang in Wiesbaden und die SPD in eine mehr als schwierige Abendessen in der Deutschen Parlamen- nur Fraktionsvorsitzende der SPD sein

Hessische Verhältnisse im Deutschen Bundestag

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Deutschland

Lob der Lüge

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BERT BOSTELMANN / WIRTSCHAFTSWOCHE

Jedenfalls: Irreführung, Maskerade, das glanzvolle Theater verlangen weit mehr Geschick, Raffinesse, Phantasie als die komplexitätsscheue Wahrheitsliebe und die orthodoxe Werktreue. Weil im Zentrum der Politik die Machtfrage steht, kann es Kreativität und Prinzipienverbundenheit schließen einander aus. Mit den Wichtigeres geben als die Wahrheit. Von Franz Walter Worten des unbestechlichen Analytikers menschlichen Selbstbetrugs, Friedrich Usurpatoren im Inneren und Nietzsche: „Der Wille zum Schein, zur Walter, 51, lehrt Politologie Äußeren, von denen nicht Illusion, zur Täuschung, zum Werden in Göttingen. zu erwarten ist, dass sie ih- und Wechseln ist tiefer, ‚metaphysischer‘ re niederträchtigen Absichten als der Wille zur Wahrheit, zur Wirkatürlich, es war absehoffenherzig preisgeben oder lichkeit, zum Sein: Die Lust ist urbar. Dem Ersten, der durch Ehrlichkeitsdemonstra- sprünglicher als der Schmerz.“ sich im Stellungskrieg tionen bekehrt werden. der schwierigen KoalitionsbilNehmen wir Konrad Adenauer, dung bewegt, würde man das Insofern müssen Politiker Charles de Gaulle oder Otto von BisStigma des „Umfallers“, des kaltschnäuzig, unsentimental, marck – sie alle waren große Lügner „Wortbrüchigen“ anheften. Es knochenhart, listig sein. Sie vor dem Herrn. Und man feiert sie bis gibt in Deutschland ein tiefes Bedürfnis müssen als kühl kalkulierende Strate- heute nicht ohne Grund als große nach „Wahrheit“, „Ehrlichkeit“, „rei- gen überzeugen. Aber ein Stratege darf europäische Staatsmänner. Hannah ner Gesinnung“, nach der lutherischen um Himmels willen nicht auf dem offe- Arendt, die brillante Analytikerin totaUnbeugsamkeitspose. nen Markt Wahrheiten ausplaudern. Ein ler Herrschaft, ordnete daher auch die Wahrscheinlich – aber selbst das ist Stratege hat die nächsten Züge nicht gezielte Täuschung dem „Handwerk nicht sicher – brauchen Religionsge- anzukündigen, gar zur Abstimmung zu nicht nur der Demagogen, sondern meinschaften ein solches reines Ethos. stellen. Ein Stratege operiert geheim; er auch des Politikers und sogar des Einem fröhlich lügenden Seelsorger mag täuscht, legt falsche Spuren, hebt Fall- Staatsmannes“ zu. „Niemand“, so man sich in Stunden der Not nicht un- gruben aus, lauert hinter Hecken. Ein Hannah Arendt weiter, „hat je die bedingt anvertrauen wollen. Aber noch- Stratege und großer Politiker muss – ja, Wahrhaftigkeit zu den politischen Tumals: Nicht einmal das ist sicher. Die er muss – zuweilen Potemkinsche Dör- genden gerechnet.“ Bismarcks Staatsganze Zivilisation ist abhängig davon, fer errichten, ohne Skrupel von links kunst etwa bestand gerade darin, mit dass sich Menschen nicht jederzeit scho- nach rechts und zurück rochieren, min- mehreren Bällen zu jonglieren, zu nungslos die Wahrheit sagen, dass sie destens den Gegner durch falsche tricksen, den einen gegen den anderen nicht mit trompetenhafter Ehrlichkeit Ankündigungen in die Irre führen. Man auszuspielen. Natürlich: Man muss diekundtun, was sie vom anderen halten. muss nur aufpassen, dass dies alles zu- ses Spiel beherrschen, braucht VirtuoDer tyrannische Drang zur kompromiss- gleich als „glaubwürdig“ erscheint. sität und eine wirkliche Idee, die all losen Offenheit würde zu Zerdie finessenreichen Manöver würfnissen führen, sich zu eilegitimiert. ner ungeheuren Aggressivität Auch Willy Brandt steht in aufladen. Dezenter Euphemisdieser Tradition. Er bezeichnemus und taktvolle Schmeichete einmal die kalte „Überrumleien sind Grundvoraussetzunpelung“ als die „erfolgreichste gen eines halbwegs auskömmliMethode in der Politik überchen Umgangs miteinander. haupt“. Und eben so bereitete er im September 1969 der jahrDas gilt für die menschliche zehntelangen christdemokratiGesellschaft allgemein, und schen Regierungsführung ein umso mehr für die Politik. abruptes Ende. CDU-Kanzler Denn in der Politik geht es um Kurt Georg Kiesinger ließ sich Macht, nicht um Sinnstiftung, am Abend der Bundestagsnicht um Identitätswahrung, wahlen schon als Sieger feiern. nicht einmal um GlaubwürdigAuch die Sozialdemokraten keit. Ein Politiker, der ein Helmut Schmidt und Herbert „grundehrlicher Kerl“ sein Wehner dachten an die Fortmöchte, wäre eine katastrosetzung der Großen Koalition phale Fehlbesetzung. Und irunter CDU-Kanzlerschaft. gendwann würden ihn die Sie alle wurden von Brandt Bürger mit Spott und Häme überrumpelt. Er riskierte überverjagen. Denn regierende Elifallartig das Bündnis mit der ten müssen dazu fähig sein, FDP. Die MehrheitsverhältnisVerbindlichkeit zu erzwingen. se waren knapp, die Allianz Sie haben den Zugriff auf das labil, da ein Großteil der AltGewaltmonopol. Man erwarliberalen völlig unberechentet von ihnen den Schutz der bar war. elementaren Lebensinteressen Doch eine neue Ära begann. und Güter – gegen mögliche Kanzler Adenauer (1961): Hart, listig, ausgekocht

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JÖRN POLLEX / ACTION PRESS (L.); HANS-CHRISTIAN PLAMBECK (R.)

SPD-Linke Nahles, Koalitionäre Steinmeier, Merkel: Schon jetzt sind die ersten Verschiebungen zu beobachten

durfte. Direkt neben der Tür hängt ein pel zuzustimmen. Falls dies nicht funktiogroßes Ölgemälde, gemalt von einer Freun- niere, wolle sie sich am 5. April bei der din. Es zeigt eine rote Fläche, darin prangt konstituierenden Sitzung des Landtags zur ein Schriftzug aus hellen Buchstaben: „Die Wahl stellen. Dann aber wolle sie sich auch Zeit ist reif.“ Es ist eine Verheißung, und mit den Stimmen der Linken zur MinisterYpsilanti hat sie tief verinnerlicht. So tief, präsidentin wählen lassen. Zu ihrer Verwunderung stößt sie bei dass sie auch einen Wortbruch in Kauf Beck auf keinerlei Gegenwehr. Er könne nimmt, um sie wahr werden zu lassen. Seit dem Wahlsonntag am 27. Januar ist sich einen ähnlichen Weg vorstellen, sagt Ypsilanti fest überzeugt, dass die Zeit reif ist der Parteichef. Die beiden vereinbaren abfür eine sozialdemokratische Ministerpräsi- solutes Stillschweigen. Mit Becks Zustimdentin in Hessen. Reif für eine linkere SPD. mung im Gepäck, kehrt Ypsilanti nach Reif auch für ein Bündnis mit der Linken, Wiesbaden zurück. Plan B kann in die falls das die Voraussetzung sein sollte. Ypsi- nächste Stufe gehen. Generalsekretär Norbert Schmitt erhält lanti fühlt sich als Wahlsiegerin, obwohl ihre Partei am Ende rund 3500 Stimmen weniger den Auftrag herauszufinden, ob die Parteihatte als die CDU. Doch aus den eigenen rechten den Kurswechsel mittragen. Schmitt Reihen wird sie ermuntert, alles dafür zu telefoniert sich die Finger wund, er führt viele Gespräche, macht Angebotun, dass Roland Koch nicht Mite. Am Ende signalisieren auch nisterpräsident bleiben kann. Da die FDP aber glaubwürdig versi- Beck ist dabei, die reformorientierten Netzdas Parteien- werker um Ypsilantis Rivalen Jürchert, eine Ampelkoalition nie und nimmer mitzumachen, be- gefüge neu zu gen Walter ihre Zustimmung – ginnen Ypsilantis Leute mit der justieren, aber unter einer Bedingung: Ypsilanti Operation „Plan B“. Gemeint ist er weiß nicht, soll Walter zum Fraktionschef eine rot-grüne Minderheitsregiewie es danach machen. Parallel lässt Ypsilanti sondierung unter Mithilfe der Linken. aussieht. ren, ob sie sich auf die heimliche Doch bevor Plan B in Kraft Zustimmung der Linken auch treten kann, muss Ypsilanti zwei Probleme lösen. Vor allem im Norden ih- wirklich verlassen kann. Offiziell wird beres Landesverbands drohen etliche Ge- hauptet, dass es keine Gespräche, keine nossen mit Boykott, falls sie mit den Lin- Sondierungen, keine Absprachen mit der ken paktiert. Im Berliner Willy-Brandt- Partei gebe. In Wahrheit pendelt ein hoher Haus will Parteichef Beck zudem den Gewerkschaftsfunktionär zwischen den „Sündenfall“ verhindern, das erste Bünd- Parteizentralen. Ypsilanti selbst redet plötzlich sehr lieb nis mit der Linken in den alten Bundesländern. Er hofft, mit diesem Bekenntnis über die Linken. Sie habe nie etwas davon bei der Bundestagswahl 2009 bessere gehalten, Leute zu verteufeln, sagt sie auf Chancen zu haben. Die rote Linie soll ihm einmal im kleinen Kreis. Auch Oskar LaGlaubwürdigkeit verleihen. Ohne Becks fontaine sieht sie nicht als Hindernis für Unterstützung aber kann Ypsilanti nicht eine Annäherung: Sie habe keine persönlichen Erfahrungen mit ihm, die sie irloslegen. Die Operation Plan B beginnt am 11. Fe- gendwie hemmen würden. Von den Linken kommen unterdessen bruar, einem Montag. Ypsilanti ist nach Berlin ins Willy-Brandt-Haus gekommen, gute Nachrichten. Selbstverständlich wersie will Beck in einem Vieraugengespräch de man Ypsilanti wählen, wenn sie sich zur überzeugen. Sie erläutert ihren Plan: Nach Wahl stelle, erklärt Linken-Fraktionschef der Wahl in Hamburg wolle sie zunächst Willi van Ooyen. Die Linke will ihr Wahlnoch einmal die FDP mit einem Koali- versprechen einlösen, dass Koch weggehötionsangebot locken, doch noch einer Am- re. Aber wie die Zusammenarbeit dann d e r

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heißen soll, Tolerierung oder Duldung, da ist sich van Ooyen noch nicht sicher. „Ertragen“ wäre das richtige Wort, sagt er. Am Montag der vergangenen Woche kann Ypsilanti endlich ziemlich sicher sein, dass Plan B in Hessen funktionieren könnte. Sie hält sich in Hamburg auf, wo das SPD-Präsidium zu einer Sitzung zusammenkommt, als ihr Generalsekretär die Botschaft überbringt, dass auch die Skeptiker im eigenen Landesverband mitmachen. Jetzt muss nur noch Beck Wort halten. Und Beck hält Wort. Er selbst ist es, der an diesem Tag das Geheimnis um Plan B lüftet, früher als geplant. Am Abend lädt der Parteivorsitzende nach einem Wahlkampfauftritt in ein Séparée des Restaurants „Parlament“ im Keller des Hamburger Rathauses. Günter Grass und seine Frau Ute Grunert sind unter den Gästen, auch fünf Journalisten lassen sich auf SPD-Kosten bewirten. Beck ist bester Laune, er wählt die Weine für seine Gäste aus, er selbst bleibt bei alkoholfreiem Weizenbier („Ich faste gerade“). Er sagt noch, dass er bereue, sich am Morgen auf die Hotelwaage gestellt zu haben, dann kommt er auf die Situation in Hessen zu sprechen. Die SPD könne nicht zusehen, wie Roland Koch einfach weiterregieren wolle. Deshalb müsste Frau Ypsilanti zur Wahl antreten. Man solle einen Blick in die Geschäftsordnung des Hessischen Landtags werfen, rät er, die sehe eine geheime Wahl des Ministerpräsidenten vor, und wer wisse schon, wer einen da wähle. Beck bemüht sich, den Tabubruch zur Selbstverständlichkeit zu erklären, er tut so, als könne er alle Aufregung darüber nicht verstehen. Nein, eine „schöne Lösung“ sei das nicht, aber es gehe eben auch darum, „den Schub“ von Hessen nicht zu verspielen. Zwei Tage später steht Plan B in den Zeitungen, und der Vorsitzende dementiert ihn nicht. Warum auch? Er ist längst zu einem „Plan Beck“ geworden. Es sieht so aus, als habe er sich, angeregt von der Lage in Hessen, zu einem spektakulären 23


Matthias Bartsch, Markus Deggerich, Markus Feldenkirchen, Roland Nelles

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TORSTEN SILZ / DDP

Politikwechsel entschlossen. Als wolle er die linke Mehrheit im Lande in eine echte Machtoption für seine Partei und für sich selbst umwandeln. Es scheint, als wolle Beck seinem inhaltlichen Schwenk nun auch einen strategischen folgen lassen. Die Frage ist nur, ob ihm das gelingt – der Protest auch prominenter Parteifreunde ist vehement. Beck dämmert, welche Lawine er mit seinem riskanten Schritt losgetreten hat. Er ist dabei, das deutsche Parteiengefüge neu zu justieren, aber er weiß nicht, wie es danach aussehen wird. Schon jetzt sind die ersten Verschiebungen zu beobachten. Bei der Linkspartei macht sich bei aller Freude über die eigene Stärke auch Angst vor der neuen Situation breit. Vorigen Donnerstag schrieb Ulrich Maurer, der Chef des West-Aufbaus der Partei, eine E-Mail an seine Genossen. „Achtung: Wir sind gefährlich“, heißt es darin. Er ermahnt seine Kollegen, von nun an besonders aufzupassen, was man öffentlich sage: „Man betrachtet uns jetzt in ganz anderem Licht.“ Plötzlich geht ein Gespenst um in der Linken, das Gespenst der Verantwortung. Manch einer fragt sich bereits, ob die Partei den ganzen Wahlerfolgen personell und inhaltlich überhaupt gewachsen ist. Mit höchstem Interesse verfolgt auch die Kanzlerin Becks Spiel. Seit die ersten Berichte darüber in den Zeitungen standen, beschäftigte sich die Morgenlage im Kanzleramt jeden Tag damit. Nach außen geben sich die führenden Christdemokraten empört bis fassungslos. In Wahrheit aber freuen sie sich, weil sie glauben, das Verhalten von Beck und Ypsilanti spiele der Union in die Hände. Eine Zusammenarbeit zwischen SPD und Linke würde der Union liefern, wonach sie bislang vergebens gesucht hat: ein Thema, mit dem man die eigenen Leute mobilisieren kann, ohne gleichzeitig den politischen Gegner aufzubauen. Bereits vor Wochen hatten die Wahlkampfplaner im Konrad-Adenauer-Haus überlegt, wie man mit dem Thema SPD und Linke umgehen solle. Der Befund war ernüchternd. Rot-Rot sei vielleicht geeignet, den harten Kern der eigenen Anhänger zu befeuern, so die Analyse. Zum großen Thema tauge es aber nicht, weil die Bevölkerung Beck abnehme, dass er nicht mit der Linkspartei zusammenarbeiten werde. Das sieht nun anders aus. Kurt Beck ist dabei, seine Glaubwürdigkeit gegen eine weitere Koalitionsoption einzutauschen, und es ist fraglich, ob ihm das bekommt. Wenn Ypsilanti sich mit Stimmen der Linken zur Ministerpräsidentin wählen lasse, freut sich ein Wahlkampfexperte der Union, „dann brauchen wir bei der Bundestagswahl nur alte Beck-Zitate auf unsere Plakate zu drucken. Das reicht“.

Ministerpräsident Beck*: So gemütlich wie ein angeschossener Grizzly

Aus der guten Welt Mit seiner Öffnung nach links lässt sich Kurt Beck auf ein riskantes Manöver ein. Der Pfälzer ist ein Mann, der seinen Zorn und seinen Trotz kultiviert. Von Christoph Schwennicke

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ls er fertig ist mit seiner kurzen Rede, bekommt Kurt Beck vom Wirt eine Schüssel hingehalten, aus der er sich bedienen soll. Wie alle Männer vor ihm seiht Beck mit der Kelle durch die Brühe und sucht: „Wo sind die Schnüffel?“ Wer Beck noch nie in heller Freude gesehen hat, muss ihn sich vor einer Schüssel voller Schweineschnauzen vorstellen. „Schnüffel!“, ruft er, fündig geworden, während er eine wabbelnde, zerschnittene Schweinenase auf seinen Teller hievt, das sei das Beste an der Wutz, wenn sie gut gemacht ist. Nicht zu weich und nicht zu hart dürfen „de Schnüffel“ sein, eben genau richtig. Dabei macht er mit gestrecktem Zeige- und Mittelfinger eine Handbewegung in Richtung seiner Nasenlöcher, * Bei der Fastnacht im Mainzer Landtag im Januar. d e r

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so wie man einen Stecker in die Steckdose steckt. Es ist Sonntag und Schlachtfest in Ilbesheim, einem adretten Dorf in den Weinbergen der Pfalz. Beck schwelgt in Schnüffeln. Auf den Schnüffel kommt es an, nicht nur in der Metzelsuppe in Ilbesheim. In der SPD im fernen Berlin gibt es spätestens seit vergangener Woche ernstzunehmende Leute, die an Becks Schnüffel zweifeln. Knapp zwei Jahre ist Kurt Beck nun Vorsitzender der SPD. Zwei Phasen hat er in dieser Zeit durchlebt, die dritte läutet er jetzt ein. In der ersten Phase erschien Beck wie ein Forrest Gump der deutschen Politik, als er den Kohlendioxidausstoß eines Kernkraftwerks für höher hielt als den eines Kohlekraftwerks. Es war die Zeit, als er auf der traditionellen Spargelfahrt der


Deutschland Rande des Pfälzer Waldes, ganz im Süden, den dortigen Sozialdemokraten vor der dort, wo Rheinland-Pfalz fast schon Ba- Kommunalwahl das Minderwertigkeitsgeden-Württemberg oder Elsass ist. Am Orts- fühl gegenüber der CSU zu nehmen. Noreingang erstreckt sich linker Hand ein malerweise würden immer 40 SteinfelAutohaus, dahinter verspricht Beate’s Fri- der SPD wählen, bei jeder Wahl. Wenn es mal 39 seien, dann machte man sich Sorsierstube die „Frisur nach Maß“. Steinfeld, wo Beck bis heute wohnt, ist gen, ob einer krank oder im Wirtshaus ein eher schmuckloser Ort, ein Ort der verhockt ist. Und doch wurde er als Sozi Zweckbauten und Eigenheime. In zwei dort Bürgermeister und machte sich sogar Vorgärten weht eine deutsche Fahne, in auf, Ministerpräsident im rabenschwarzen einem die des Fußballclubs von Kaisers- Rheinland-Pfalz zu werden. Seit 13 Jahren lautern. In der Alten Brauerei empfiehlt ist er es nun, inzwischen mit absoluter ein Schild ein Getränk namens „Orgas- Mehrheit. Beck ist nie weit weggegangen von mus“ für 1,60 Euro. Am frühen Abend sind ein paar Stammgäste da, vor denen leere Steinfeld. Mainz, der Regierungssitz, ist Schnapsgläser aufgereiht stehen. Die At- schon weit für ihn. Er ging daheim zur traktion der Ortschaft ist das Kakteenland Volksschule und machte anschließend eine Steinfeld, das ein Naturerlebnis mit über Lehre als Elektromechaniker. Nach dem tausend Kakteenarten zu „Super-Preisen“ Grundwehrdienst blieb er als Funkelektroniker bei der Bundeswehr im verspricht. Bis 1994 war Beck Heeresinstandsetzungswerk in Bürgermeister von Steinfeld, Seinen Bad Bergzabern, dem nächstfünf Jahre lang. Erst als der immensen größeren Ort unweit von SteinSPD-Fraktionschef des Landtages Ministerpräsident wurde, Machtwillen, feld. Beck büffelte für seinen gab er das Amt auf. seine Zähigkeit Realschulabschluss, trat der bei und wurde PersonalImmer wieder kommt Beck und Schläue ÖTV ratsvorsitzender. bei seinen Auftritten in der Resollte keiner Drei Kilometer ist die franzöpublik auf seine Kindheit und unterschätzen. sische Grenze von Steinfeld entJugend zurück. Wie er nicht auf fernt. Beck kann sich im elsässidie höhere Schule gehen durfte, weil sich nur der Arzt leisten konnte, sei- schen Dialekt mit den Leuten jenseits der ne Kinder aufs Internat zu schicken. In Grenze unterhalten, so dass keiner aus BerSteinfeld hat Kurt Beck erlebt, was Aus- lin oder Hannover ihn versteht. Französisch grenzung heißt. Als Ministrant wurde er aber spricht er nicht, Englisch auch nicht. Die Welt, von der Kurt Beck bei seinen wegen einer schuppenden Hautkrankheit geächtet, weil die anderen Eltern Angst Auftritten redet, ist eine gute Welt, eine hatten, die Kinder könnten sich anstecken, Welt, in der die Gesellschaft noch zusamwenn sie sein Gewand überstreifen. Hier menhält, in der man sich kennt, in der man hat er erlebt, wie seine Eltern geschnitten sich hilft. Er sagt, er sei „zornerfüllt“, wenn wurden, als der Kleine der Becks zu den er Ungerechtigkeit erlebe und sehe. Dieser Zorn ist sein Antrieb. Und Trotz. Trotz, Sozen gegangen war. Es sei immer so gewesen, sagt er bei der umso stärker wird, je mehr er Widereiner Rede im bayerischen Vilshofen, um stand verspürt. Seine Kraft schöpft Beck aus dem Trieb, es gerade jenen zu zeigen, die an seinem Wegesrand stehen und lachen: Da schau her, der Beck. Intellektuelle Hybris reizt ihn aufs Blut. Seinen immensen Machtwillen, seine Zähigkeit und Schläue sollte keiner unterschätzen. Seine innere Distanz zu Berlin hat er stilisiert. Es gibt eine Welt, an die er sich nicht gewöhnen will, eine Welt der Wichtigtuer. Seinen Redenschreibern bläut er ein, keine Zitate von Immanuel Kant einzubauen. Lieber beginnt er so: „Eher legt der Hund einen Wurstvorrat an, bevor …“ Er hasst steife Empfänge. Als er einmal zu einem genötigt wurde, herrschte er hinterher seine Leute an: nie wieder! Friede Springer habe ihm am Abend von ihren Problemen mit ihren vielen Zimmern erzählt. Er sei fast geplatzt. Es ist eine kleine Welt, aus der er kommt. Ein Deutschland, das mit der Strickjacke von Helmut Kohl ins Museum gehängt schien. Seit Beck die Agenda 2010 MARCUS BRANDT / DDP

SPD-Seeheimer auf dem Wannsee eine Rede hielt, die für sich genommen schon piesepamplig war und noch furchtbarer wirkte, als Franz Müntefering danach aus dem Stegreif eine Rede hinlegte, die vor politischem Feuer nur so sprühte. Die zweite Phase begann, als Kurt Beck beschloss, dass es reichte. Es reichte ihm, wie seine eigenen Genossen gegen ihn ätzten. Es reichte ihm, dass namhafte SPDPolitiker wie Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier und sein Amtsvorgänger Matthias Platzeck Bücher auf SPD-Papier schrieben, die gegen ihn und seine eher nostalgische Sicht der Dinge gerichtet waren. Es reichte ihm, dass Vizekanzler und Vorvorgänger Müntefering auch ihn, wie zuvor Platzeck, nicht als Chef akzeptierte. Also war Beck gegen Teile der Agenda 2010, die er vorher rundum verteidigt hatte. Geschickt bekam er die Masse der SPD hinter sich, er zwang Steinbrück und Steinmeier ins Glied und Müntefering in die Emigration. Plötzlich merkten sie alle: Vielleicht ist Beck manchmal tapsig wie ein Bär, er ist aber auch so gemütlich wie ein angeschossener Grizzly. Phase drei hat Beck nun eröffnet, indem er zu Beginn der vergangenen Woche im Hamburger Wahlkampf die Tür zur Linken mehr als einen Spalt aufstieß. Es ist ein hochriskantes Spiel, und es ist nicht sicher, ob es nach der jedenfalls innerparteilichmachtpolitisch erfolgreichen Phase zwei weiter bergauf geht mit Beck oder ob ein jäher Absturz bevorsteht. Denn seit vergangener Woche fragen sich hochmögende, ihm wohlgesinnte Sozialdemokraten: Was treibt der? Was denkt der? Wo kommt der her, wo will der hin, mit sich, mit uns? Kurt Beck kommt aus Steinfeld, einem kleinen Ort mit etwa 2000 Einwohnern am

Beck-Widersacher Müntefering*: In die Emigration gezwungen d e r

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* Nach dem Rücktritt von seinen Ämtern im November 2007.

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Deutschland annagt, erst recht jetzt, wo er sich der Linken öffnet, rätselt alle Welt: Wie links ist Kurt Beck? Es ist die falsche Frage. Die richtige lautet: Wie konservativ ist Kurt Beck? Und schon passt alles besser zusammen. Auf dem Friedhof von Steinfeld begreift man Kurt Beck und das, was ihn leitet. Dort stehen viele verschiedene Grabsteine, die die immer gleichen Namen tragen. Es ist vielleicht ein gutes Dutzend: Beck, Schwöbel, Bast, Katus, Aprill. Sie finden sich einzeln oder zusammen als Gravuren oder erhabene Buchstaben auf den letzten Steinen von Steinfeld. Hier wird man geboren, hier bleibt man, hier heiratet man, hier stirbt man. Das haben Johanna Schwöbel und der Maurer Oskar Beck so gemacht. Das macht deren Sohn Kurt mit seiner Roswitha so. 59 Jahre alt ist er gerade geworden. Am Tag nach seinem Geburtstag ziehen dunkle Wolken über den alten amerikanischen Militärflughafen von Mainz-Finthen. Frühmorgens zucken die Blitze eines Wintergewitters am Horizont. Am Tower rüttelt ein zorniger Wind. Der Ministerpräsident besteigt eine kleine Propellermaschine und betrachtet im Steigflug sein Land, das sich im graubraunen Kleid des späten Winters unter ihm erstreckt. „Wie in Abrahams Schoß“, brummt er, während die kleine Maschine durch ein Luftloch taumelt und die Hände seines Mitarbeiters sich in der Lehne verkrampfen. „So.“ Becks Sätze fangen oft mit „so“ an. „Dann wolle mer ma guggen, was wer da saggen.“ Drei Tage vorher hat in Ludwigshafen ein Wohnhaus von Türken gebrannt. Es gab Tote, Frauen und Kinder. Beck war dort, jetzt soll er nach Vilshofen an der Donau, witzig sein. Politischer Aschermittwoch. Er streift die Gummizüge einer Aktenmappe beiseite und holt ein paar Papiere heraus sowie einen kleinen Stoß Karteikarten. Auf einem Zettel steht: „Einige One-Liner für den politischen Aschermittwoch.“ Der Zettel ist von seinem Mainzer Sprecher Walter Schumacher. Schumacher hat ein Faible fürs politische Kabarett. Beck überfliegt einen Artikel aus dem SPIEGEL mit der Überschrift „Laptop und Dirndl“. Er kringelt auf den Karteikarten immer erst eine kleine Eins oder eine Zwei oder eine Drei im Eck ein und macht sich Notizen. Lange dauert das nicht. Dann greift er zu weißen Sandwiches. Ein wenig Zeit bis zur Landung bleibt, um ihm ein paar Fragen gegen den Lärm der Propeller zuzubrüllen. Er sei so verändert, teilweise so unerklärlich selbstzufrieden, wie etwa bei seinem Auftritt in der Bundespressekonferenz kurz vor Weihnachten, als stünde die SPD bei 40 Prozent. Woher kommt das? Er habe sich vor dem Hamburger Parteitag Sorgen gemacht, ruft Beck zurück. 26

Aber dieser Parteitag habe die SPD konsolidiert und ihn von Sorgen befreit. In Vilshofen, auf dem Flugplatz direkt neben der vormittags noch dampfenden Donau, warten Ludwig Stiegler und Franz Maget auf Kurt Beck. Die Rede kommt auf Angela Merkel. Beck redet dabei so, wie er mit ihr umgeht: geschäftsmäßig. Nicht schlecht, aber auch nicht überschwänglich. Es ist zu spüren: Das ist notgedrungen seine Partnerin für die Zeit der Großen Koalition, das ist aber vor allem seine Gegnerin. Beck geht es nicht um den Erhalt der Großen Koalition. Beck geht es um den Kampf 2009. Wenn man ihn bei einem TelANZEIGE

ler Linseneintopf fragt, ob er gegen Merkel antreten will, sagt er: „Essen Sie Ihr Supp. Des is nahrhafter.“ Aber es passt alles, auch ohne Antwort. Er hat alles getan, um nicht in die Pflicht zu geraten, Kompromisse der Koalition verkünden zu müssen. Um nicht in die Kanzlerdisziplin eingebunden zu sein. Er ist die Opposition in der Regierung. Und er fördert dieses Denken. Als Peter Struck, der Fraktionschef, gesagt hatte: Die kann mich mal, da hat er ihn nicht zur Ordnung gerufen. Weil er genauso denkt. Merkel und er, das sind zwei Welten, als hätte man sie absichtsvoll als Gegenwelten gestaltet, die d e r

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eine wie die Negativpause der anderen. Männlich, westlich, föderal, katholisch, volksnah er. Weiblich, Osten, zentralistisch, evangelisch, unnahbar sie. In Vilshofen wendet Beck das Thema ab und dreht sich zu seinem Mitarbeiter: „Wir müssen gleich noch den Peter Schösser anrufen. Der wird heut 60.“ Wenn Kurt Beck einen Saal betritt, stolziert er mit einem eigentümlichen Drehen aus der Hüfte heraus, wodurch sein Bauch hin und her schwankt wie der Stabilisator am Bug eines Schiffes in schwerer See. So marschiert er auch im Wolferstetter Keller ein. Der Auftritt misslingt. Am Abend im Fernsehen werden Bilder von einem verschwitzt glänzenden Beck zu sehen sein, der versucht zu sagen, dass die SPD mit der Linken nichts macht, auch wenn die Schwarzen das behaupten. Damals wusste man noch nicht, dass dieser Satz nicht stimmt. Aber auch ohne dieses Wissen war der Satz missraten, weil er sprachlich ins Nichts führte und einen erklärenden Untertitel gebraucht hätte. Am gleichen Abend hält Beck noch eine Aschermittwochsrede im Mainzer Schloss. Das Heimspiel gelingt ihm ungleich besser. Es ist zu spüren, wie wohl er sich fühlt. Die Union wolle den Kündigungsschutz abschaffen, sagt Beck im Mainzer Schloss. Da müsse man sehen, wohin das führe. Rheinland-Pfalz habe noch vor BadenWürttemberg, diesen Häuslebauern, die zweithöchste Eigenheimquote in Deutschland. Rheinland-Pfalz ist überhaupt oft das Maß aller Dinge bei Beck. Und wenn man nun zu einem Familienvater in Mainz sage, er könne in Mainz keine Arbeit mehr haben, aber in München – dann findet das Beck falsch, schon wegen der Eigenheime, wegen der sozialen Bindungen und wegen des Kitts der Gesellschaft sowieso. So denken auch viele Leute um ihn herum. In der Staatskanzlei stößt man auf den Satz: „Jeder will doch Beamter werden.“ Weil jeder Sicherheit wolle, Heimat und Geborgenheit. So denkt auch Beck, der erst bei der Bundeswehr war, dann Personalratsvorsitzender und dann in der SPD. In Ilbesheim beim Schlachtfest spricht Beck viel von früher, von früher, als die Metzger noch „mehr Durscht hatten, als es gut war“. Man müsse aufpassen, „dass wir nicht in eine Gesellschaft hineinlaufen, in der wir von allem den Preis, aber von nichts mehr den Wert kennen“. Das Schlachtfest, das es früher zu Hause gab und nicht in der Mehrzweckhalle, das steht für den Wert und nicht für den Preis: „Wenn die Wutz geschlachtet wurde, dann hatte man zu essen und hat sich gefreut und hat den anderen abgegeben.“ Das ist in Ilbesheim so, das war in Steinfeld so, wo sich ein Junge namens Kurt Beck über die „Wurschtsupp“ der Nachbarn gefreut hat. Im kommenden Jahr will dieser Junge Bundeskanzler werden. ™


LINKE

„Das Tabu muss fallen“ Fraktionschef Gregor Gysi über eine Zusammenarbeit mit der SPD SPIEGEL: Herr Gysi, was halten Sie von dem

CHRISTIAN CHARISIUS / REUTERS

Satz: „Wo linke Parteien Regierungsverantwortung übernahmen oder eine Tolerierungspolitik betrieben, wurden sie zu linken Feigenblättern“? Gysi: Das kann man so sehen. Aber wer die Wähler ernst nimmt, dem ist die Veränderung der Politik wichtiger als die eigene Reinheit. SPIEGEL: Der Satz stammt von Janine Wissler, Trotzkistin und nun linke Landtagsabgeordnete in Hessen.

Linkspolitiker Gysi

„Wir sind nicht homogen“ Gysi: Na und? Wir alle entwickeln uns, sie sich auch. Sie würde Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin wählen. SPIEGEL: Sicher? Gysi: Ich lege dafür meine Hand ins Feuer, dass alle sechs Abgeordneten der Linken Frau Ypsilanti wählen würden. Sie sind im Wahlkampf angetreten, Roland Koch abzulösen. Diese Chance würden sie nicht ungenutzt lassen. SPIEGEL: Sie haben schon anders über Ihre neuen Kumpane im Westen gesprochen. Gysi: Ich weiß, dass einige Linke im Westen auch aus Sekten stammen. Die staunen jetzt, dass ihre Worte nicht nur von der Nachbarsekte wahrgenommen werden. Aber die Leute in der hessischen Fraktion sind okay und lernen. SPIEGEL: Sie glauben also an eine tolerierte Minderheitsregierung? Gysi: Ich glaube nicht, dass Frau Ypsilanti von ihren eigenen Leuten ausreichend gewählt wird. Ihre Fraktion ist unzuverlässig, nicht alle Mitglieder sind für eine Tolerierung zu gewinnen. Die Wirrnis in der SPD ist doch riesengroß – auf jeden Fall größer als bei uns. d e r

SPIEGEL: Aber Ihr Angebot an die Sozialdemokraten steht? Gysi: Natürlich. Frau Ypsilanti muss aber klar sein, dass sie nach der Wahl zur Ministerpräsidentin mit uns reden muss. Einfach Anträge zu stellen und uns als Mehrheitsbeschaffer von Fall zu Fall zu nutzen, das wird nicht gehen. Wir wollen direkte Gespräche. SPIEGEL: Sie stellen Bedingungen? Gysi: Wir haben klare Forderungen: etwa die Abschaffung der Studiengebühren, Bildung von Gemeinschaftsschulen, Bezahlung von Mindestlohn bei öffentlichen Aufträgen. Das will ja angeblich alles auch die SPD. Mal sehen, wie sehr. Die Idee, nach einem Übergang kurzfristig Neuwahlen herbeizuführen, lehnen wir indes strikt ab. SPIEGEL: Welche strategische Bedeutung hätte ein Bündnis in Hessen für Sie? Gysi: Das Tabu muss fallen. Kurt Beck ist mit seinem Latein bezüglich der Linken am Ende. Es war von Anfang an unlogisch von ihm zu erklären, dem Osten seien rotrote Bündnisse zuzumuten, dem Westen jedoch nicht. Aber die SPD hat insgesamt keine Strategie, sie ist erst gegen Korrekturen bei Hartz IV, dann doch ein bisschen dafür. Die SPD ist durcheinander, und dazu haben wir erheblich beigetragen. SPIEGEL: Aber Wirrnis herrscht doch auch in Ihrer Partei. Sie ist im Westen radikal oppositionell, im Osten pragmatisch. Ein Programm hat die Linke nicht. Gysi: Wir haben programmatische Grundsätze, für das neue Programm nehmen wir uns Zeit. Wir sind nicht homogen. Wir sind Volkspartei im Osten, im Westen eine kleinere, aber nun gewichtigere Partei. Das gibt natürlich auch Spannungen. Aber wir sind noch nicht einmal ein Jahr vereinigt. Der Einzug in die Landtage verändert uns auch im Westen. SPIEGEL: Ist ein rot-rotes Bündnis im Bund nur noch eine Frage der Zeit? Gysi: Nein, eine Frage der Inhalte. Bei Hartz IV, Rente, Steuern und Bundeswehreinsätzen in Kriegen gibt es gewaltige Unterschiede. SPIEGEL: Die linke Mehrheit im Bundestag bleibt also handlungsunfähig? Gysi: In einem Land, in dem es sowohl den Staatssozialismus als auch einen ausgeprägten Antikommunismus gab, braucht das Zusammengehen von SPD und uns Linken Zeit und zunächst wieder eine sozialdemokratisierte SPD.

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Interview: Stefan Berg 9 / 2 0 0 8

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Deutschland

Druck von unten Während Wolfgang Clement seine Attacken auf SPD-Personal verschärft, betreiben Genossen aus dem Revier den Parteiausschluss ihres einstigen Spitzenmannes.

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Bochum-Hamme nach. Auch aus Ostwestfalen, Hessen-Süd und Schleswig-Holstein sollen Anträge eingegangen sein. Die Schiedskommission des Unterbezirks Bochum hat nun ein Parteiordnungsverfahren gegen Clement in die Wege geleitet. Es ging nicht mehr anders, denn an der Parteibasis im Ruhrgebiet drohen Genossen ganz unverblümt: „Der oder wir.“ Allein in der Elektrobandfertigung bei ThyssenKrupp Steel in Bochum wollen laut Vittinghoff 58 Arbeiter aus der SPD austreten, wenn „die Partei den Clement nicht endlich rauswirft“. Für den Betriebsrat sind die Querschüsse des früheren Spitzengenossen das vorläufige Ende einer Kette von Zumutungen. Agenda 2010,

er stattliche Mann mit dem weißen Schutzhelm erinnert sich noch gut an die Zeiten, als Stahlarbeiter und SPD zusammengehörten wie Topf und Deckel. In der von Motorenlärm dröhnenden Werkhalle, wo ein Kran gigantische Rollen mit gewickeltem Blech hin und her bewegt, hat sich daran einiges geändert. Besonders, seit „dieser Typ“ immer wieder „diese unerträglichen Sprüche klopft“, brüllt Elektromeister Karl Vittinghoff, 57, gegen den Maschinenlärm an. Gemeint ist Wolfgang Clement, 67, früherer Vize der Bundes-SPD, Ex-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Ex-Superminister für Wirtschaft und Arbeit und immer noch ein gefragter Medienmann. Seit der Genosse mit der langen Parteikarriere kurz vor der hessischen Landtagswahl indirekt davor warnte, die SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti zu wählen, ist für den Traditionssozi Vittinghoff, Betriebsratschef der ThyssenKrupp Steel AG in Bochum, der tägliche Werkrundgang zum Spießrutenlauf geworden. „Pausenlos angemacht“ werde er, klagt der seit 20 Jahren kommunalpolitisch aktive Sozi. Diesmal von einem Walzenbauer in grüner Arbeitshose, Bochumer SPD-Mitglied wie Clement. Wenn so einer wie Clement weiter dazugehöre, hält er Vittinghoff vor, dann könne sich „vor den Werktoren bald kein Sozialdemokrat mehr blicken lassen“. Über Wochen mühten sich Parteichef Kurt Beck und seine Strategen, die Forderung zahlreicher Mitglieder nach Clements Rauswurf abzufedern. Es komme nicht gut an, so das Kalkül in Berlin, wenn sich die SPD mit sich selbst statt mit dem po- Genossen Clement, Vittinghoff (unten M.) litischen Gegner befasse. Bis zur „Der oder wir“ Hamburg-Wahl galt deshalb Ruhe als erste Genossenpflicht. Danach aber, so die Hartz IV – all das habe er seinen Leuten Ansage im Willy-Brandt-Haus, werde in mit Mühe erklären können. Clement aber sei „nicht mehr vermittelbar“. Sachen Clement Klartext gesprochen. Auch ein paar Kilometer weiter gärt es Es bleibt der Parteiführung auch kaum etwas anderes übrig – zu groß ist mittler- an der Basis. Kneipenlärm, Pokale im weile der Druck von unten. Erst beantrag- Wandregal, Bäuche und Brillen: Bei der te Vittinghoffs Ortsverein Bochum-Voede Jahreshauptversammlung des SPD-Ortsden Parteiausschluss Clements, vergange- vereins Bochum-Hamme meldet sich vernen Donnerstag zogen die Genossen in gangenen Donnerstag ein 94-Jähriger mit 28

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Gehstock und Hörgerät zu Wort, bitter enttäuscht, dass er „so viele Jahre“ für Clement „gebuckelt“ habe. Ein anderer Genosse behauptet mit rotem Gesicht, Clement, Aufsichtsrat des Energiekonzerns RWE, bekomme von der Wirtschaft Geld, „damit er unsere Partei fertigmacht“. Mit kippender Stimme wirft Ortsvereinschef Rudolf Malzahn, 65, Clement „Charakterlosigkeit“ vor – und genauso den eigenen Parteifunktionären, die nicht konsequent dessen Rauswurf unterstützen: „Die sitzen mit dem Arsch an der Heizung!“ Im Ortsverein aber wolle niemand mehr SPD-Plakate kleben oder Flugblätter verteilen, solange „so einer“ nicht abgestraft werde. Bravo-Rufe, Tischeklopfen. Mit 25 Ja-Stimmen bei zwei Enthaltungen fordern die Genossen den Parteiausschluss. Längst wollen nicht nur altgediente Arbeiterführer Clement stoppen. Auch Nachwuchskräfte wie der Dortmunder Gymnasiast Horst Wenzel, mit 19 Jahren jüngster SPDOrtsvereinschef der Republik, unterstützen die Bochumer Aufrührer. Der blonde Unternehmersohn findet Clements Äußerungen pro Kernenergie und contra Ypsilanti „einfach nur superreaktionär“. Mit Hausbesuchen bei Genossen wirbt Wenzel für eine „breite Bewegung gegen den Parteischädiger“. Möglich ist ein Ausschluss laut SPD-Statut freilich nur, wenn ein Mitglied der Partei „vorsätzlich“ einen „schweren Schaden“ zugefügt hat. Im Willy-Brandt-Haus kamen Experten zu dem Schluss, dass im Fall Clement die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Seine Gegner hoffen nun, dass die Schiedskommission des Unterbezirks Bochum das ähnlich sieht. Sie wird sich mit dem Antrag befassen müssen, weil der Gescholtene in der Ruhrgebiets-Stadt als Mitglied gemeldet ist. Clement mag die Bemühungen um seinen Rauswurf indes nicht kommentieren. Erst vorigen Freitag ließ er sich im „Welt“-Interview die Stichworte liefern, um den Parteifunktionären Hubertus Heil und Klaus Uwe Benneter „Maulheldentum“ vorzuhalten und die Großartigkeit deutschen Unternehmertums zu preisen. Manche seiner Thesen sind leicht nachvollziehbar. Nur korrespondieren sie schwerlich mit der Beckschen SPD des Jahres 2008. Etliche Genossen fürchten, dass Clement mit seiner SPD-Kritik nachlegen wird – womöglich schon diesen Dienstag in Düsseldorf. Dort präsentiert der Wirtschaftsfreund für einen Zeitarbeit-Anbieter eine Studie über Unternehmen im demografischen Wandel. Andrea Brandt NORBERT ENKER (L.); MANUELA HARTLING / REUTERS (O.)

S O Z I A L D E M O K R AT E N


UBS Bank (München)

Hauck & Aufhäuser (München)

Dresdner Bank (München)

Bankhaus Metzler (München)

Berenberg Bank (Hamburg)

Durchsuchte Bankfilialen: Es geht um einige Milliarden Euro, die am Staat vorbeigeschleust wurden A F FÄ R E N

Ein braver Sohn E

r sei mal entführt worden, sagt der Mann den Leuten vom Bundesnachrichtendienst (BND), denen er mehrere DVDs mit geheimen Steuerdaten verkaufen will. 1997 sei das gewesen, in Argentinien. Die Kidnapper hätten ihn zehn Tage lang eingesperrt und misshandelt, auch mit Zigarettenglut. Die Narben der Brandwunden seien immer noch zu sehen. Das Lösegeld habe er selbst auftreiben müssen. Alle Bemühungen von ihm und den Liechtensteiner Behörden, das Geld zurückzubekommen, seien gescheitert. Braucht er deshalb so viel Geld? Ist das der Grund, warum er die DVDs für fast fünf Millionen Euro an die Agenten verkauft? Und was kann man einem Mann glauben, der Daten stiehlt und verhökert? Es gibt noch viele Fragen an diesen Mann, dessen Tat Deutschland seit über zehn Tagen in Atem hält. Aber so langsam 30

fügt sich ein Bild zusammen, von einem Menschen und der Affäre, die er ausgelöst hat. Es kommen immer mehr Details ans Licht über den Ablauf seiner Verhandlungen mit dem BND und den seltsamen Deal, den sie geschlossen haben. Die Identität des Mannes aus Liechtenstein steht nun fest. In seinem früheren Leben hieß er Heinrich Kieber, 42 Jahre alt. Mittlerweile hat er einen neuen Namen, verabreicht vom deutschen Staat. Er lebt jetzt irgendwo – reich, aber einsam. Dieser Heinrich Kieber, Spitzname „Henry“, übergab dem BND mehrere DVDs mit den Daten von 1400 Deutschen, von denen viele ihr Geld offenbar an der Steuer vorbei in Liechtensteiner Stiftungen angelegt haben. Der Erste, der am Donnerstag vorletzter Woche aufflog, war der Chef der Deutschen Post World Net, Klaus Zumwinkel. Es folgten zig Durchsud e r

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chungen in der vergangenen Woche, weitere Ermittlungen stehen bevor. Es geht um einige Milliarden Euro, die am Staat vorbeigeschleust wurden. Es geht auch um Deutschlands Verhältnis zu Staaten wie Liechtenstein oder der Schweiz, deren Banken zum Teil deutschen Steuerhinterziehern schöne Angebote machen. Sie wehren sich gegen die Vorwürfe. Liechtensteins Erbprinz Alois sprach vom „Angriff eines Großstaates“. Der Chefredakteur der Schweizer Wochenzeitung „Die Weltwoche“, Roger Köppel, sieht eine „Fatwa der deutschen Steuerfahndung gegen Unternehmer und Angestellte, die sich einem fundamentalistischen Fiskalsystem entziehen wollen“. Vor allem aber geht es um Deutschlands innere Verfasstheit. Das zeigen die erregten Debatten, die den Steuerskandal begleiten. Sofort rannten die Politiker an die

FOTOS: JÖRG KOCH/DDP (O.) C. STACHE/AP (L.U.); P. GUELLAND/DDP (M.U.); K.-U. KNOTH/AP (R.U.)

Geheimtreffen im Ausland, konspirative E-Mails – professionell hat der Datendieb Heinrich Kieber, 42, aus Liechtenstein sein Wissen an den BND verkauft, ehe er mit neuer Identität untertauchte. Die Steuerermittlungen in Deutschland vertiefen die politische und gesellschaftliche Konfrontation.


HERBERT KNOSOWSKI / AP

Deutschland

Politiker Hasler, Merkel: Treffen mit besonderer Würze

Mikrofone und zeigten ihren Unmut. SPDChef Kurt Beck erkannte ein „verbrecherisches Verhalten“. Angela Merkel fand die „Situation schwierig und bedrückend“. Es sah nach Einigkeit aus, aber in Wahrheit werden die DVDs dazu beitragen, dass sich Deutschland weiter spaltet. Sie sind schon jetzt ein Geschoss im politischen Kampf zwischen Rot und Schwarz, und sie werden die Debatten um Gerechtigkeit in den nächsten Wochen und Monaten prägen. Das war nicht absehbar, als am 24. Januar 2006 eine E-Mail beim BND eingeht, ganz normal über die Internet-Adresse des Dienstes. Der Absender versteckt sich hinter einem Pseudonym und brüstet sich, er besitze geheime Daten aus Liechtenstein, die er dem BND anbieten könne. Das Material umfasse Geldanlagen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro. Er melde sich nicht wegen eines Honorars, sondern weil er ein tiefes Unrechtsgefühl empfinde, wenn er sehe, wie Multimillionäre ihr Geld an der Steuer vorbei vermehrten. Der Unbekannte nennt eine Deckadresse, über die er den nächsten Kontakt abwickeln wird. Man schreibt sich, und ein paar Monate später, am 11. Mai, gibt es ein erstes Treffen der Agenten mit ihrem potentiellen Informanten. Er bringt ein Führungszeugnis mit. Eine Strafe ist dort nicht notiert. Der BND weiß

jetzt, dass er es mit Heinrich Kieber zu tun hat. Er weiß nicht, dass Kieber bereits rechtskräftig verurteilt ist. Spanische Ermittler waren ihm wegen eines Immobiliendeals in Barcelona auf den Fersen. 600 000 Franken hatte Kieber mit einem Betrug abgezockt, 1996 war das. Zuerst hatte er sich offenbar nach Argentinien abgesetzt, ehe er nach Liechtenstein zurückkehrte und im April 2001 bei der Bank LGT anfing. Niemand dort kannte seine Vorgeschichte aus Barcelona. Kieber galt als herausragender Computerspezialist, ein hochintelligenter, „unauffälliger und sensibler Mensch, der gut Spanisch spricht“, wie sein Anwalt Robert Müller sagt. Bei der LGT hatte er die Aufgabe, sämtliche Papierdokumente der LGT Treuhand zu digitalisieren. Das ist der Grund, warum die gestohlene Datensammlung alles umfasst: Verträge, Protokollnotizen, handschriftliche Vermerke, den gesamten Bestand der Bank eben. Kieber hatte einen einzigartigen Zugang zum Archiv der LGT Treuhand. Kieber wusste, dass er wegen der spanischen Betrügereien verurteilt war und gesucht wurde, und so war es wohl dieser Druck, der ihn dazu trieb, sich eine Kopie der Datensammlung zu machen. Damit erpresste Kieber die liechtensteinischen Behörden im Januar 2003, nachdem er gekündigt hatte und untergetaucht war. d e r

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Gegen freies Geleit und zwei gefälschte Pässe wolle er darauf verzichten, die gestohlenen Kundendaten an „ausländische Medien und Behörden weiterzugeben“, so der Liechtensteiner Staatsanwalt Robert Wallner. Vaduz blieb damals hart. Kieber stellte sich trotzdem – und kam glimpflich davon. Für den Betrug in Spanien handelte sein Anwalt Müller eine Strafe von einem Jahr auf drei Jahre Bewährung aus, die in Liechtenstein nicht ins Führungszeugnis eingetragen wird. Für den Datenklau wurde er nicht verurteilt. Am 7. Januar 2004 schlossen die Liechtensteiner Behörden die Akte Kieber. Die Bank und die Richter waren sicher, dass er aus Reue alle Kundendaten ungenutzt zurückgegeben hatte. Was für ein Irrtum. Kieber muss kurz darauf mit seiner finalen Mission begonnen haben. Er verhandelte erst mit den Amerikanern, dann mit den Briten. Mit den US-Behörden ist er sich offenbar handelseinig geworden. Seit Sommer 2007 sollen US-Steuerfahnder in rund 50 Fällen zugeschlagen haben. Die Regierung von Tony Blair wollte erst zahlen, wenn die Steuerschulden eingetrieben sind. Die deutschen Behörden hätten vermutlich niemals von dem Schatz aus Liechtenstein erfahren, wenn der britische Fiskus nicht eine halbe Ewigkeit brauchen würde, um seine Rückstände einzutreiben; deshalb bricht Kieber die Gespräche ab und meldet sich beim BND. Am 21. Juni 2006 gibt er die ersten Arbeitsproben weiter, mit 14 Datensätzen füttert der Liechtensteiner den BND. Zuerst lässt Kieber die Beamten nur auf einem Laptop lesen, dann überreicht er Auszüge. Am 10. Juli 2006 bestätigen die vom BND eingeschalteten Wuppertaler Steuerfahnder, es handele sich um „bedeutendes Zeug“. Sie bitten um eine weitere Zusammenkunft. Es ist eine Art Gipfeltreffen, das im Sommer 2006 stattfindet, vielleicht ist es das zentrale Datum dieser Affäre. Zwei Tage lang, am 16. und am 17. August, reden die Steuerfahnder mit Kieber, erst in Offenburg, dann jenseits der Grenze in Straßburg. Der BND ist vor Ort, hält sich aber zurück. Die Agenten haben sich um eine Legende für den Termin gekümmert, die Hotels angemietet, und sie sichern die Gespräche ab. Die Steuerfahnder bitten Kieber um eine Namensliste, möglichst von Personen aus Nordrhein-Westfalen, auf deren Akten sie zugreifen können. Zehn Tage später wird die Liste durch einen BND-Kurier übergeben: 150 Namen, aus Nordrhein-Westfalen, exklusives Material. Doch die Verhandlungen ziehen sich. Der Liechtensteiner Informant verlangt sechs Millionen Euro, die deutschen Behörden bieten ihm an, ihn in das Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamts (BKA) aufzunehmen, aber das ist 31


FALK HELLER / ARGUM (L.); BLICK (R.)

BND-Zentrale in Pullach bei München, Informant Kieber: Hehlerei im großen Stil?

Kieber zu wenig. Er will eine neue Identität. Er bekommt sie. Denn die Ermittler brauchen nicht nur die Rohdaten, sie brauchen auch eine Art Lesehilfe des Computerfachmanns, der die Daten nicht nur erfasst hat, sondern auch mit einer eigenen Software verwaltet. Am 14. Dezember 2006 schaltet der BND das Kanzleramt ein. Der Deal ist mittlerweile weit fortgeschritten, aber sowohl der Geheimdienst als auch das Kanzleramt wollen ganz sichergehen. Kieber hat sich in einer Phase gemeldet, in der der BND unter großem Druck steht. In Berlin examiniert ein Untersuchungsausschuss verschiedene Auslandseinsätze des Dienstes, an denen Ernst Uhrlau, der Präsident, maßgeblich beteiligt war. Uhrlau lässt deswegen genau prüfen, wie die Rechtsgrundlage ist. Die Juristen berufen sich auf Paragraf 116 der Abgabenordnung. Danach müssen Behörden „Tatsachen, die sie dienstlich erfahren und die auf eine Steuerstraftat schließen lassen“, den zuständigen Finanzbehörden mitteilen. Der BND sichert sich noch auf einer zweiten Ebene ab: Er lässt sich von den Steuerfahndern schriftlich geben, dass sie um Hilfe bitten. Betreibt der BND damit „Hehlerei im großen Stil“, wie Erbprinz Alois von und zu Liechtenstein vergangene Woche schäumte? In der Debatte mischen sich juristische Aspekte mit einem moralischen Unbehagen. Es gibt eine gefühlte Grenzverletzung: Der Auslandsgeheimdienst hat in einem Bereich gehandelt, wo er besser nicht hätte agieren sollen. Sauberer wäre es gewesen, wenn der BND lediglich den Kontakt zwischen dem Datendieb und den Steuerfahndern vermittelt und sich dann zurückgezogen hätte. „Der BND hat alles richtig gemacht“, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann, der dem Kontrollgremium des Bundestags vorsitzt, das den BND überprüft. „Er war nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, so zu handeln.“ 34

Nicht jede Behörde dürfe alles im Namen der Amtshilfe tun, wendet der Frankfurter Verfassungsrechtler Erhard Denninger ein, weil die nur in Einzelfällen vorgesehen sei. Aber wenn die Darstellung des Dienstes stimmt, dass der Zuträger sich aus freien Stücken gemeldet habe, dann hätten die Agenten tatsächlich die Pflicht zur Anzeige gehabt. Die Frage, ob die Daten rechtmäßig in den Besitz der Ermittler kamen und in Strafverfahren gegen die Steuersünder eingeführt werden dürfen, müssen wohl die Gerichte klären; es gibt eine Anzeige gegen den BND, auch eine Verfassungsklage ist angekündigt. Klaus Zumwinkels Anwälte haben sich bereits öffentlich empört. Die LGT hat ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das zu dem Schluss kommt, womöglich habe der BND „Beihilfe zum Verrat von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen“ geleistet, auch Untreue

FAST FÜNF MILLIONEN EURO HABEN DIE BEHÖRDEN BEZAHLT, ABGEBUCHT VON EINEM KONTO DES BND. kommt in Betracht. Sehr überzeugend klingt die Argumentation nicht. Einiges spricht dafür, dass das Material verwendet werden kann. Natürlich seien die DVDs als „Diebesgut makelbehaftet“, sagt Denninger. Allerdings sind solche „Früchte des vergifteten Baumes“, wie derartige Beweise in den USA heißen, nicht automatisch vor Gericht gesperrt. Für BND-Chef Uhrlau ist vor allem wichtig, ob er die DVDs an die Inlandsbehörden weitervermitteln darf, als er am 11. Mai 2007 die Amtshilfe genehmigt. Am 12. Juni 2007 übergibt Kieber persönlich die DVDs an die Steuerfahnder, der BND sichert das Treffen ab. Fast fünf Millionen Euro haben die Behörden für die Lieferung bezahlt, abged e r

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bucht von einem Konto des BND. Die Summe umfasst ein Informantenhonorar von etwas mehr als 4,6 Millionen Euro, das, Ironie der Geschichte, mit einem pauschalen Satz für Informanten von zehn Prozent versteuert werden muss; damit bleiben dem Zuträger effektiv 4,2 Millionen Euro. Dazu kommen staatliche Auslagen für Notargebühren oder die neue Identität, so dass der Dienst die Deckungszusage von fünf Millionen Euro, die das Bundesfinanzministerium dem BND gegeben hatte, fast vollständig in Anspruch nimmt. Der Geheimdienst stückelt das Honorar in drei Verrechnungsschecks bei drei verschiedenen Banken, die Beträge umfassen jeweils zwischen ein und zwei Millionen Euro. Bei zwei Geldinstituten gelingt der Finanztransfer unbeanstandet, bei dem dritten Bankhaus aber werden die Angestellten misstrauisch. Die Summe scheint ihnen zu hoch, das Procedere ungewöhnlich. Sie halten die Zahlung an und melden sich bei den Finanzbehörden. Der Verdacht: Es könnte sich um Geldwäsche handeln. Aber Kieber bekommt schließlich sein Geld. Das Material, das er dafür liefert, wird geteilt: Die inländischen Fälle arbeiten die Wuppertaler Steuerfahnder und Bochumer Staatsanwälte ab, um das Ausland kümmert sich der Bundesnachrichtendienst. Auf den Datenträgern sind Angaben über 4527 Liechtensteiner Stiftungen und Institutionen. 1400 davon gehören deutschen Anlegern. Ende vergangener Woche verbreitete sich in Berlin ein Gerücht, darunter seien auch mehrere Bundestagsabgeordnete, für die derzeit amtierenden Parlamentarier dementiert das die Bochumer Staatsanwaltschaft. Die Daten auf den DVDs reichen von den siebziger Jahren bis etwa 2003, vereinzelt bis Ende 2005; rund 65 Prozent der aufgelisteten Stiftungen gibt es auch Anfang dieses Jahres noch. Bei diesen Stiftungen liegt meistens geerbtes Geld, auch Schwarzgeld, auch inoffizielle Gewinne aus Firmen- und Immobilienverkäufen werden dort geparkt. Die


Deutschland Spannbreite reicht von sehr hohen zweistelligen Millionenbeträgen bis zu 100 000 Euro. „Da hätten sie ihr Geld besser auf der Postbank angelegt und nach Steuern noch mehr gehabt als jetzt in Liechtenstein“, kommentierte einer der Fahnder verblüfft den Fund einer so kleinen Summe. Normalerweise lohnt sich eine Stiftung erst ab 1,5 Millionen Euro, viele Vermögensverwaltungen akzeptieren Kunden erst ab drei Millionen. Ein weiterer, nicht ganz so großer Bereich dreht sich um sogenannte Anstalten oder Etablissements, die ebenfalls den Service der LGT-Treuhänder genießen. Das liechtensteinische Personen- und Gesellschaftsrecht sieht diese Formen ausdrücklich vor. Während die Familienstiftungen meist zur Weitergabe des Vermögens an die Nachkommen gedacht sind, bieten diese Anstalten viele Möglichkeiten gerade für aktive Geschäftsleute. So kann eine Anstalt oder ein Etablissement Rechnungen schreiben und Gutachten in Auftrag geben. Das alles kann dazu dienen, in Deutschland den Gewinn vor Steuern zu senken. Dieser Bereich macht den Steuerfahndern der EK (Einsatzkommission) Liechtenstein II viel Arbeit, da die ganze Buchhaltung von verdächtigen Betrieben kontrolliert werden muss. Über solche Anstalten liechtensteinischen Rechts lässt sich

SPIEGEL- UMFRAGE

„Der Bundesnachrichtendienst hat eine DVD mit gestohlenen liechtensteinischen Kontodaten gekauft. Halten Sie es für vertretbar, dass potentielle Steuersünder auf diesem Wege enttarnt werden?“

65 %

JA

28 %

NEIN weiß nicht

5%

TNS Forschung vom 19. und 20. Februar; 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe

auch relativ unverdächtig wieder Geld nach Deutschland einschleusen. Mehr als die Hälfte der Investoren und rund 3100 Stiftungen und Anstalten auf den DVDs stammen aus dem Ausland. Es geht auch um Organisierte Kriminalität auf dem Balkan und in Russland, es sind sehr bekannte und viele weniger bekannte Unternehmen dabei. Das ist die zweite, kaum beachtete Seite dieser Affäre, und das ist auch der Grund, warum das Leben des Informanten nach Einschätzung der Behörden gefährdet ist. Der BND sitzt auf einem Berg von Details über internationale

Geldströme, so viele, dass der Geheimdienst allein sie kaum verarbeiten kann. Deshalb wird das Bundeskriminalamt eingeschaltet. Die Polizisten prüfen, ob sie Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche einleiten können, erklären sich aber vorerst für nicht zuständig. Die Datensammlung birgt auch Material mit einer hohen politischen Brisanz für die deutsch-liechtensteinischen Beziehungen. Den Ermittlern zufolge gibt es regelrechte Schulungsunterlagen für Mitarbeiter der LGT, in denen Schritt für Schritt erläutert wird, wie man Anleger locken kann, ihr Geld in Liechtensteiner Stiftungen zu parken. Präzise wird in den internen Dossiers dargelegt, wie Betrugswillige die jeweiligen Steuergesetze umgehen können. Selbst einem Service der höchst ungewöhnlichen Art wollen die Fahnder auf die Spur gekommen sein: Danach überlegte die „EK Liechtenstein II“, sich einen Geldkurier der LTG-Group zu greifen, der Bares in den Alpenstaat transportiert haben soll. Ein Banksprecher hat die Vorwürfe, „entschieden dementiert“. Die BND-Dokumente sind politisch auch deshalb so explosiv, weil sie belegen, dass das Fürstentum mitnichten geläutert aus jener Geheimdienstaffäre hervorgegangen ist, die schon einmal, um die Jahrtausendwende, das deutsch-liechtensteinische Verhältnis belastet hatte. Damals hatte der


PHILIPP GÜLLAND / DDP

Residenz der Fürsten von Liechtenstein (Vaduz): Mitnichten geläutert

BND dem Zwergstaat in einem geheimen Report vorgeworfen, er sei „eine der bedeutenden Drehscheiben für Kapitalverschiebungen aller Art“, legaler wie illegaler. Aus dem Report wurde eine Staatsaffäre, mit heftigen gegenseitigen Vorwürfen zwischen den Regierungen in Berlin und Vaduz, ehe Fürst Hans-Adam II. in aller Stille im Kanzleramt sondierte, wie man den Streit beilegen könnte. Bei mehreren Spitzengesprächen mit dem damaligen BNDPräsidenten August Hanning und dem seinerzeitigen Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Ernst Uhrlau, versprach der Fürst, sein Land werde künftig strenger suspekte Finanzströme untersuchen. Das ist offenkundig nicht geschehen. Deshalb wurde vergangene Woche mit besonderer Spannung der Besuch des liechtensteinischen Ministerpräsidenten Otmar Hasler in Berlin erwartet. Das Treffen mit Angela Merkel war schon länger geplant, hatte nun aber besondere Würze. Am Mittwoch ist er gekommen, und da sitzt er nun in einer Suite des Berliner Luxushotels Regent. Er sieht so brav und bieder aus, als wäre er ein Bruder von Klaus Zumwinkel, graue Schläfen, treuer Blick. Verkörperte Harmlosigkeit, Redlichkeit. Er ist Realschullehrer, 54 Jahre alt. Eine Dreiviertelstunde sagt er immer das Gleiche, egal wie die Frage war: Liechtenstein reformiere sich und sei auf einem guten Weg. Wer reformiert, hat Reformbedarf. Das heißt doch, dass einiges im Argen war? Nein, dieser Logik folgt er nicht. Liechtenstein war prima, ist prima und wird höchstens noch mehr prima sein. Liechtenstein reformiere sich und sei auf einem guten Weg. Es ist nett mit ihm, er verliert nie die Ruhe, er redet langsam und nicht allzu laut. Er sagt nichts Böses, spricht nicht von Hehlerei, nicht vom „Angriff eines Groß36

staates“. Er könnte der Ministerpräsident eines Landes namens Heile Welt sein. Auch bei Angela Merkel war es sehr nett, bis ihm die Kanzlerin gesagt hat, Deutschland müsse den Beschluss, dass Liechtenstein dem Schengen-Raum beitreten darf, noch ratifizieren. Das sei nicht ganz leicht, es gehe umso leichter, je rascher Liechtenstein das Abkommen zur Rechtshilfe in Steuerstrafsachen unterzeichne. Das war eine Drohung, überreicht in einem Strauß Blumen. Liechtenstein reformiere sich und sei auf einem guten Weg, sagte der Ministerpräsident zur Bundeskanzlerin. Allerdings stehen einige deutsche Banken auch nicht besonders gut da. Sie haben

DAS LAGER LINKS VON DER MITTE HAT NUN EINEN GEGNER VON MANAGERN UND STEUERHINTERZIEHERN. das Spielchen offenkundig mitgespielt. Insgesamt wird gegen bis zu 20 Bankmitarbeiter, Stiftungsräte und Kundenbetreuer in Liechtenstein und Deutschland ermittelt, die an Steuersparmodellen gearbeitet haben sollen. Bei den Banken konzentrieren sich die Ermittlungen auf Metzler und Hauck & Aufhäuser. Die Hamburger Berenberg Bank wurde untersucht, nur weil die Ehefrau eines LGT-Kunden dort ein Bankschließfach besitzt. Altgediente Fahnder fühlen sich stark an die „Bankenverfahren“ erinnert, die schon Ende der neunziger Jahre nach spektakulären Razzien in mehreren deutschen Banken zu Tausenden Verfahren führten. Bankberater hatten ihren Kunden empfohlen, ihr Vermögen künftig von Tochterfirmen der deutschen Geldinstitute d e r

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in Luxemburg betreuen zu lassen, um der 1993 eingeführten Zinsabschlagsteuer in Deutschland zu entgehen. Der Vorteil der Banken: Das Geld der Kunden blieb dadurch im Konzern, zudem ließ sich unter Umständen sogar noch etwas an Transfergebühren für die Kontenbewegungen verdienen. Einige deutsche Banken bevorzugten jedoch offenbar Modelle, bei denen das Geld gar nicht erst das eigene Haus verlassen müsse, sagt ein Ex-Fahnder, der eng in die damaligen Bankenverfahren eingebunden war. In Deutschland vorhandenes Geld könne in diesem Fall von der Bank nur über diverse verschleiernde Buchungen ins Ausland und wieder zurück auf ein anderes Konto derselben Bank verschoben werden. Nur dass dieses neue Konto nach dem buchungstechnischen Ausflug via Liechtenstein formal nicht mehr dem in Deutschland steuerpflichtigen Kunden der Bank gehört. Vielmehr ist es nun im Besitz einer liechtensteinischen Stiftung, einer Anstalt oder einer ähnlichen Treuhandkonstruktion nach liechtensteinischem Recht, bei dem die echten Eigentümer des Vermögens nur wenigen Eingeweihten im Alpenstaat bekannt sind – und eventuell noch dem Berater der deutschen Bank. Die Betreuung ausländischer Vermögen deutscher Kunden sei „ein ganz normales Verfahren“, sagt ein Sprecher der Frankfurter Privatbank Metzler. Entscheidend für den Vorwurf krimineller Handlungen sei aber, ob die Bank von der Absicht der Kunden wisse, dadurch Steuern hinterziehen zu wollen. „Wir gehen davon aus, dass das bei uns nicht der Fall war“, so der Metzler-Sprecher. Die Privatbank war am vergangenen Montag von Fahndern durchsucht worden, gegen drei ihrer Mitarbeiter ermittelt die Staatsanwaltschaft Bochum wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Auch Hauck & Aufhäuser bestätigte staatsanwaltliche Ermittlungen, wollte dazu aber keine Stellung nehmen. Das alles wird nun in Deutschland Munition in einer gesellschaftlichen Konfrontation, die sich mehr und mehr zuspitzt. Hartz IV und die Debatten um allzu hohe Einkommen für Manager haben schon länger für den Eindruck gesorgt, die Gesellschaft spalte sich immer deutlicher. Unten herrschen Kargheit und Unsicherheit, oben Überfülle und Entsolidarisierung. Die Steueraffäre ist neuer Stoff in diesem Konflikt. Das Lager links von der Mitte hat nun einen Gegner, der sich aus Managern und Steuerhinterziehern zusammensetzt, und irgendwie sind auch die Politiker des anderen Lagers dabei. Kurt Beck hat diesen Weg geöffnet, als er dem „Stern“ sagte: „In den letzten Jahren hat sich offensichtlich schrittweise ein mangelndes Unrechtsbewusstsein entwickelt. Historiker werden in der Rückschau vermutlich feststellen, dass die Initialzündung


Deutschland

Beat Balzli, Matthias Bartsch, Dirk Kurbjuweit, Conny Neumann, Barbara Schmid, Holger Stark

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BILDUNG

„Schule heißt Anstrengung“ Forschungsministerin Annette Schavan, 52, über die Verkürzung der Schulzeit am Gymnasium und die Überlegungen der SPD, Gemeinschaftsschulen einzuführen

AMIN AKHTAR

dazu die CDU-Schwarzgeldaffäre war, die ja nie aufgeklärt wurde.“ So definiert sich gerade die Konfliktlinie für die kommenden Jahre. Beck macht einen Vorstoß nach links und bereitet der SPD und der Linken ein gemeinsames Bett (siehe Seite 20). Und die unverantwortlichen Teile der Elite liefern den Stoff für die Empörung, die sich das linke Lager zunutze machen kann. Das Land lädt sich gerade emotional auf. Es wird schwierig für die besonnenen Kräfte – womöglich ist der Steuerskandal der letzte Sargnagel für eine Reformstimmung in Deutschland. Heinrich Kieber kümmert das nicht. Ende vorvergangener Woche meldete er sich telefonisch bei seiner Mutter, die inzwischen im schweizerischen Bellach wohnt. Kieber gab den braven Sohn und erkundigte sich nach ihrem Gesundheitszustand. Im Januar hatte sich die gebürtige Spanierin einer Schulteroperation unterziehen müssen. „In dieser Zeit hat er sich sporadisch gemeldet“, sagt Maria Kieber. Sie hat ihn länger nicht mehr gesehen. Selbst an Weihnachten kam es nicht zu einem Treffen, ihr Sohn war in der Nähe von San Francisco. Mutter Kieber besitzt von ihrem Sohn weder eine Telefonnummer noch eine Adresse. So sei er schon immer gewesen, „seit er von der Schule weg ist“, sagt sie. „Er reist gern und ist sehr sportlich, er fährt gern Mountainbike.“ Ein paar Monate habe er in Australien verbracht, dort sei er rumgereist und habe auch gearbeitet. Er sei nur ab und zu bei ihr gewesen. Seine Eltern haben sich vor beinahe 50 Jahren in Barcelona kennengelernt. Der Vater, ein Pressefotograf aus Liechtenstein, verbrachte seinen Urlaub am Meer – im selben Hotel wie Maria und ihre Eltern. Dann kamen die Heirat und drei Kinder. Die Ehe hielt nicht lange. Bis zu seinem Tod lebte der Vater mit seiner zweiten Frau, einer Filipina, in Liechtenstein. Seine Ex-Frau zog in die Schweiz. Kieber junior führte ein unstetes Leben, arbeitete mal in Liechtenstein, mal in der Schweiz. Er jobbte im Computerzentrum der inzwischen pleitegegangenen Fluggesellschaft Swissair. Aus dieser Zeit stammt wohl auch die Freundschaft zu einem Piloten. Mit Frauen klappte es nie so recht. „Mein Sohn ist ein Perfektionist und sparsam, die Richtige hat er noch nicht gefunden“, sagt seine Mutter. Sie hält ihren Sohn für unschuldig. Die Daten habe er ja seinerzeit zurückgegeben. Und was in der Zeitung stehe, sei frei erfunden. Ihre Tochter habe keinen E-Mail-Kontakt mit ihrem Bruder, „sie hat wie ich von Computern keine Ahnung“. In diesem Jahr wird Maria Kiebers Sohn 43 Jahre alt. Wann genau, will sie nicht verraten. Sie hofft, dass er wieder anruft.

Christdemokratin Schavan

„Es geht auch um eine neue Pädagogik“ SPIEGEL: Frau Schavan, seit langem hat kei-

ne Schulreform die Eltern mehr so aufgeregt wie „G8“, also die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre. Viele Kinder kommen erst am frühen Nachmittag heim und haben dann noch einen Berg Hausaufgaben vor sich. Was haben die Kultusminister da angerichtet? Schavan: Wir vollziehen in Deutschland nach, was in andern Ländern längst Standard ist. Europa wächst zusammen, und das gilt auch für die Schule. SPIEGEL: Man hört Schreckliches: Kindergeburtstage, bei denen die Hälfte fehlt, Schulorchester, die mangels Teilnahme aufgeben. „Das neue System stiehlt den Schülern die Kindheit“, klagt selbst ein so wohltemperierter Mensch wie der TV-Moderator Reinhold Beckmann. Schavan: Wer meint, dass nun in acht Jahren all das gelernt werden muss, was vorher in neun Jahren gelehrt wurde, hat die Reform nicht verstanden. Es geht auch um eine neue Pädagogik, und damit um neue, der kürzeren Schulzeit angepasste Lehrpläne. Jetzt von einem Angriff auf die d e r

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Kindheit zu sprechen, das ist wirklich schräg. Für mich ist die zentrale Frage, wie muss Schule aussehen, damit Kinder gut lernen und ihre Talente entfalten können. SPIEGEL: Aber Kindheit ist doch mehr als Schule, sie ist auch Spiel und Zeit zur freien Verfügung. Ist es wirklich wünschenswert, wenn Kinder schon mit zehn ein Leben wie kleine Erwachsene führen müssen, eingezwängt in ein enges Terminkorsett? Schavan: Als die erste Pisa-Studie 2001 in Deutschland veröffentlicht wurde, bestand Konsens darüber, dass die Qualität der Schule verbessert werden muss. Und das heißt eben auch, dass Jugendliche am Ende der Schulzeit ein ordentliches Fundament haben müssen, um eine qualifizierte Ausbildung anzuschließen. Natürlich darf Kindheit nicht nur Druck sein, natürlich soll die Schulzeit auch Spaß machen. Allerdings erschöpft sich Schule nicht nur in Spaß. Schule heißt auch Anstrengung, Leistungswille. SPIEGEL: Wie haben Sie Ihre eigene Schulzeit erlebt? Schavan: Ich gehöre zu einem Jahrgang, der schon nach zwölf Schuljahren Abitur gemacht hat, und ich kann nicht sagen, dass mir das geschadet hat. Mir hat die Schule Horizonte eröffnet und Dinge möglich gemacht, die mir sonst verschlossen geblieben wären. Natürlich hat es Tage gegeben, an denen ich das Gefühl hatte, den Ansprüchen nicht zu genügen. Aber auch das ist eine elementare Erfahrung der Schulzeit: Sie lässt einen neben seinen Stärken seine Schwächen entdecken. SPIEGEL: Als eine erste Folge der G-8Umstellung haben nun die Nachhilfeinstitutionen Zulauf. Nicht jeder kann sich das leisten. Vertieft sich damit nicht die soziale Ungleichheit, die Sie doch gerade durch mehr Bildung für alle bekämpfen wollen? Schavan: Wir haben mittlerweile verlässliche Daten, warum Nachhilfe in Anspruch genommen wird. Die Fachleute sind sich einig: Mehr Nachhilfe ist kein Hinweis auf die steigende Angst, in der Schule zu versagen, sondern sie ist Ausdruck des Ehrgeizes, die Noten zu verbessern. SPIEGEL: In Hessen hat die Debatte um G8 gerade eine Landtagswahl mitentschieden, die zuständige Bildungsministerin ist vor wenigen Tagen zurückgetreten. Wissen all diese Eltern, die aus Protest Roland Koch


zur Empirie in der Bildungspolitik hat entscheidend dabei geholfen, von gefühlter Wirklichkeit wegzukommen. Bis zu Pisa konnte man ja behaupten was man wollte. Anfang 2020, also bereits in zwölf Jahren, wird Deutschland 13 Prozent weniger Schüler haben, das heißt weniger Ingenieure, weniger Techniker, weniger Wissenschaftler, wenn wir nicht gegensteuern. Ein Land, das eine solche demografische Entwicklung hat, muss den Ehrgeiz haben, bei der Bildung ganz vorn zu sein.

schon wieder Strukturen ändert und alles andere beim Alten lässt, versetzt dem Bildungssystem den zweiten Schlag. SPIEGEL: Die Einheitsschule scheint dennoch vor einer Renaissance zu stehen. In Hessen will die SPD unter Andrea Ypsilanti alle Schüler bis zur 10. Klasse in einer Gemeinschaftsschule versammeln, die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen haben Ähnliches vor. Schavan: Das alles hat die SPD vor 30 Jahren schon einmal beschlossen, mit kata-

VOLKER HARTMANN / DDP

ihre Stimme verweigert haben, nicht, wovon sie reden? Schavan: Wir haben uns lange genug beschwert, dass sich niemand so richtig für Bildungspolitik interessiert, wir sollten froh sein, dass sich das geändert hat. Und natürlich haben alle Eltern absolut recht, die nun sagen, wer eine Reform einführt, muss auch dafür sorgen, dass sie funktioniert. Aber wir dürfen deshalb doch jetzt nicht zu dem Kurzschluss kommen, die ganze Reform in Frage zu stellen, weil vor Ort Probleme auftauchen. Es gibt viele Schulen, die den Wechsel gut hinbekommen haben. SPIEGEL: Bringt die Stauchung der Schulzeit wirklich etwas? Was hat ein 18-jähriger Abiturient eigentlich einem 19-jährigen voraus? Schavan: Wir haben immer darüber geklagt, dass die Gesamtzeit der Ausbildung in Deutschland zu lang ist. Früher fertig zu sein bringt den Jugendlichen mehr Chancen, das gilt erst recht, wenn man sich in der internationalen Konkurrenz mit andern befindet. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass in der Schule alles vermittelt werden muss, was irgendwie wichtig ist. Schule schafft heute eine Bildungsbasis, und dann muss die nächste Phase der Ausbildung beginnen. Wir halten die jungen Heranwachsenden unnötig zurück, wenn wir sie künstlich in der Rolle von Schülern halten. SPIEGEL: Die neue Wirklichkeit sieht demnach so aus: Mit 18 Abitur, mit 21 einen Bachelor an der Uni, dann ab ins Arbeitsleben. Mit Humboldts Ideal des umfassend gebildeten Menschen hat das nichts mehr zu tun. Schavan: Wollen Sie damit sagen, dass im Rest der Welt nur bildungslose Arbeitskräfte produziert werden? Wir diskutieren die ganze Zeit über die Belastung von Gymnasiasten, wer diskutiert eigentlich über das Verschwinden der Kindheit bei Auszubildenden, immerhin zwei Drittel der Jugendlichen? Bei denen gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass sie ganztägig im Betrieb arbeiten und dann noch die Schule besuchen. Die Realität in Deutschland war bis vor kurzem doch folgende: Abitur im Durchschnitt mit 19,7 Jahren, das erste Staatsexamen zwischen 28 und 29. Unser Gedächtnis kann doch nicht so kurz sein, dass wir das alles schon komplett vergessen haben. SPIEGEL: Vor kurzem hat die Pisa-Kommission neue Ergebnisse vorgelegt, danach hat sich Deutschland im internationalen Vergleich in den Naturwissenschaften von Platz 18 auf Platz 13 vorgearbeitet, knapp hinter Slowenien und Liechtenstein. Es gab großes Aufatmen, aber reicht das Mittelfeld für die drittgrößte Industrienation der Welt? Schavan: Das reicht natürlich nicht. Wir sind mitten in der tiefgreifendsten Bildungsreform in der Geschichte des Landes, und es muss weitergehen. Die Wende

Abiturprüfung (am Essener Don-Bosco-Gymnasium): „Quelle künftigen Wohlstands“ SPIEGEL: In kaum einem anderen Industrie-

land hängt die Bildungskarriere so sehr von der sozialen Herkunft der Eltern ab. Warum ist das so? Schavan: Weil in der Vergangenheit die frühen Jahre nicht genutzt wurden. Es macht einen enormen Unterschied, ob ein Kind vor der Grundschule zu Hause intellektuell stimuliert wird oder eben nicht. Hier ist die eigentliche Quelle der Chancenungerechtigkeit, da müssen wir etwas tun. Das gilt erst recht für ausländische Kinder. Wer sprachlos in die Schule kommt, hat von Anfang an schlechtere Chancen. SPIEGEL: Sollte man die Kinder länger zusammenlassen? Viele Bildungsreformer meinen jetzt, nach der vierten Klasse könne man noch nicht sagen, wer aufs Gymnasium gehört und wer nicht. Schavan: Es gibt keine gesicherten Forschungsergebnisse, dass der Bildungserfolg steigt, je länger man diese Entscheidung herauszögert. Was wir allerdings genau wissen, ist, wie wenig Strukturdebatten aus den siebziger Jahren bringen. Wer jetzt d e r

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strophalen Ergebnissen übrigens. Die Eltern haben der Einheitsschule immer misstraut, und als die erste Pisa-Studie kam, zeigte sich eindeutig, dass es an Gesamtschulen nicht gerechter zugeht, und sie auch nicht erfolgreicher sind. Gerechter und leistungsfähiger wird ein Bildungssystem durch originelle pädagogische Konzepte, nicht durch die Zusammenlegung von Schulen. SPIEGEL: Für vieles, worüber wir hier reden, sind Sie als Bundesbildungsministerin strenggenommen gar nicht zuständig. Ärgert Sie das manchmal? Schavan: Erstens bin ich stellvertretende Parteivorsitzende der CDU und damit schon mal für alles zuständig, wenn ich will. Und zweitens sind die Beziehungen zwischen Bund und Ländern im Moment in einer sehr aufgeräumten Atmosphäre, die halten das aus. Die Vorstellung, dass eine Bundesregierung sagt, Bildungspolitik interessiert uns nicht, ist abwegig. Bildung ist die Quelle künftigen Wohlstands und damit auch eine Frage nationaler Strategien. Interview: Jan Fleischhauer, Dirk Kurbjuweit

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Glaubenskrieg ums Kind Nirgends wird über Kinderkrippen so ideologisch gestritten wie in Deutschland: Werden die Kleinen zu Seelenkrüppeln, wenn Fremde sie betreuen? Wissenschaftler klären, wie viel Mama das Kind wirklich braucht – und warum die Kitas dringend besser werden müssen. 40

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Kinder in Berliner Kita

GERO BRELOER / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Hauptsache, daheim läuft’s prima

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albe Sachen sind nicht Christa Müllers Ding. Als sie noch berufstätig war, damals im vergangenen Jahrhundert, ging sie ganz in ihrer Arbeit auf. Als Ökonomin wirkte sie in den Sozialausschüssen der EG, sie verfasste Wirtschaftsgutachten und schrieb mit ihrem Mann Oskar Lafontaine ein Buch über die Globalisierung. Doch dann bekam Christa Müller ein Kind. „Es gibt nichts, wofür ich mich von meinem Sohn trenne“, schwärmte sie nun.

Also gab sie ihren Beruf auf und stürzte sich in die neue Berufung: Die VollblutMutter kämpft seither fürs Kindeswohl. Wann immer Carl-Maurice, inzwischen elf, seine Mutter entbehren kann, bringt Müller, 51, ihre Botschaft unters Volk, zuletzt auch wieder zwischen Buchdeckeln. „Dein Kind will Dich“ heißt ihr neues Werk, es ist eine Streitschrift fürs Mutterglück und gegen den „Zwang zur Fremdbetreuung“. Selbst den Vergleich zur grausamen Beschneidung afrikanischer Mädchen scheut Müller nicht: „Bei der d e r

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Genitalverstümmelung handelt es sich um Körperverletzung, bei der Krippenbetreuung in einigen Fällen um seelische Verletzung – und die ist manchmal schlimmer als Körperverletzung.“ Mit ihren Ansichten steht Christa Müller in einer langen Tradition. „Mütter, ich kann euch den Weg zu euerer Bestimmung erleichtern“, schrieb schon der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi vor 200 Jahren. Viel mehr als die Väter sind Mütter für ihre Kinder da; erst recht in den ersten drei Jahren – so weit scheint sich die Mehrheit einig zu sein. Konsens liegt allerdings in weiter Ferne, wenn es darum geht, wie weit Mama sich entfernen darf vom Babybett. Und vor allem: wie lange. Muss sie ihr Kleines rund um die Uhr betüddeln? Reicht es, wenn sie ihm den Feierabend widmet? Oder entfremdet das den Nachwuchs, wie es der Augsburger Bischof Walter Mixa im Fall der Bundesfamilienministerin unterstellt, die selbst siebenfache Mutter ist? „Es könnte sein“, so Mixa kürzlich auf einer Podiumsdiskussion, „dass Frau von der Leyen gar nicht diese tiefe Mutterbeziehung zu ihren Kindern hat, weil diese von Ammen erzogen wurden.“ Es wird oft persönlich im Streit, der um den Krippenausbau tobt. Seit die CDUMinisterin Ursula von der Leyen verkündet hat, dass ab diesem Jahr bis 2013 bundesweit 500 000 neue Betreuungsplätze für unter Dreijährige geschaffen werden sollen, zanken sich Experten und solche, die es gern wären, um die eine Frage, die über Wohl und Weh eines Kindes bestimme: Mama oder Krippe? Auch in der Politik schwelt dieser Streit weiter, trotz des beschlossenen Krippenausbaus. Die Konservativen tragen ihn zwar mit, doch am langgehegten Rollenbild der Vollzeitmutter wollen sie dennoch festhalten – also kein Geld für Krippenplätze ohne Bonus für die traditionelle Unionsklientel. Vor allem auf Druck der CSU beschlossen die Koalitionäre vergangenen Sommer im Namen der Wahlfreiheit, die Einführung eines Betreuungsgeldes zu regeln: Mit monatlich 150 Euro könnten jene belohnt werden, die ihr Kind in den ersten drei Jahren zu Hause aufziehen – allerdings erst ab 2013. An dieser Geldleistung, von Kritikern als „Herdprämie“ geschmäht, droht nun der Krippenausbau zu scheitern. Zwar stehen in einem eigens eingerichteten Sondervermögen des Bundes schon seit Jahresbeginn 2,15 Milliarden Euro an Krippenmitteln für Länder und Kommunen bereit, doch diese Regelung ist an einen zweiten Gesetzentwurf gebunden: jenen zum Kinderförderungsgesetz. Ist dieses nicht bis Ende 2008 verabschiedet, so das Junk41


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PETER STEFFEN / DPA

gekehrt die Krippe seine soziale Entwicklung? Hier ist die Wissenschaft gefragt. Schwer ist es, die ideologische Tünche wegzuwischen, mit der beide Lager ihre Argumente eingefärbt haben. Beide berufen sich aufs Kindeswohl, beide zitieren wissenschaftliche Studien. In Wahrheit aber stecken meist andere Motive dahinter: Jeder möchte sein eigenes Lebensmodell rechtfertigen, jeder für seine Vorstellung einer idealen Gesellschaft werben. Die Ratlosen sind die Eltern. Mütter, die ihr Kind eben noch ganz unbesorgt betreuen ließen, beginnen plötzlich zu zweifeln: Ist mein Kind wirklich bestmöglich versorgt? Sollte ich doch den Job hinschmeißen? Was, wenn die Krippengegner recht haben? Bin ich eine Rabenmutter? Frauen wiederum, die ihre Berufstätigkeit um des Kindes willen aufgegeben haben, fragen sich: Wird es mir mein Kind am Ende überhaupt danken? Wird es mir nicht später vorwerfen, dass ich mich nicht um mich selbst gekümmert habe? Bin ich eine Glucke? Minister von der Leyen, Steinbrück: Wie viel ist dem Staat die Kinderbetreuung wert? Kein Zweifel: Mit ihrer Großoffensive tim, gibt’s kein Geld mehr aus dem KripZweitens: In welcher Gesellschaft möch- in der Krippenfrage befördert die Familipentopf. ten wir leben? Sollen Frauen und Männer enministerin einen gesellschaftlichen UmZurzeit hängt alles am Betreuungsgeld: gleichberechtigt am Berufsleben teilneh- bau. Und manch einer fürchtet SchreckDie Union will es im Kinderförderungsge- men? Müsste der Staat mehr Mittel in die liches: „Es dauert drei Jahre, bis Kinder setz verankern. Die SPD will, dass es nur Kinderbetreuung investieren? Wenn ja: wissen, wo sie hingehören“, meint etwa im Begleittext auftaucht; andernfalls droht Wie viel ist ihm die wert? Diese Fragen die schwedische Bestsellerautorin Anna Wahlgren. „Wenn man sie zu früh von der sie, das ganze Gesetz zu kippen. SPD-Fi- müssen politisch entschieden werden. nanzminister Peer Steinbrück und seine Schließlich drittens: Was eigentlich ist gut Familie trennt, riskiert man, dass sie Aliens Kabinettskollegin von der Leyen wollen fürs Kind? Schadet ihm die stundenlange werden, die nicht wissen, wo ihr Platz ist.“ noch in dieser Woche einen Kompromiss Trennung von der Mutter? Fördert gar um- In der Kita lauere Gefahr: „Dort regiert das Gesetz des Dschungels. Die schwächefinden – doch die Fronten sind verhärtet. ren Kinder haben keine Chance.“ Bestenfalls vordergründig geht es dabei Die 82-jährige Kinderpsychotherapeuum jene 2,7 Milliarden Euro, die das Betin Christa Meves, auch sie eine vokabeltreuungsgeld jährlich kosten könnte. In starke Wortführerin der Krippengegner, Wahrheit geht es um Ideologie: Nach wie Unter Dreijährige in Einrichtungen glaubt sogar, dass sich die engen vor stehen sich eifernde Krippengegner der Kindertagesbetreuung; und höhnische Gluckenverdammer unver- Anteil in Prozent dieser Altersgruppe 34,0 MECKLEN- Bande von Mutter und Nachwuchs BURGschon weit früher knüpfen als bisher söhnlich gegenüber. VORChrista Müller, deren Buch übrigens im POMMERN gedacht. Zwecks störungsfreier Hirnreifung des Fötus, findet sie, Bistumsverlag von Bischof Mixa erschien, SCHLESWIG- 6,1 sollte die Schwangere schon ab ist nur eine unter vielen Autoren, die in 51,4 36,1 HOLSTEIN 17,6 dem zweiten Monat in den Mutjüngster Zeit um die Deutungshoheit übers Kindeswohl kämpfen. In dem Werk „Müt38,1 terschutz gehen – das erst erlauBREMEN 8,7 HAMBURG be es, „der Natur wirkungsvoll terkriege“ fragt die Krippenkritikerin nachzulauschen“. Christine Brinck schon auf dem Cover BERLIN NIEDERSACHSEN 6,0 Erbittert prangert Meves eine bang: „Werden unsere Kinder verstaatBRANDEN„Ideologie der Entmutterung“ licht?“ Nein, widerspricht Krippenfan TanBURG an, der Nachwuchs leide unter ja Kuchenbecker in ihrem Buch „Glucken5,2 NORDRHEIN36,3 SACHSENANHALT WESTFALEN einer „Denaturierung der frümafia gegen Karrierehühner“. 31,7 SACHSEN hen Lebensjahre“. Die bibelEben weil sich hier jeder als Experte 9,9 THÜRINGEN fromme Buchautorin prophezeit fühlt – selbst wenn er wie etwa Bischof HESSEN 11,3 eine grässliche Zukunft: Die „Dressur in Mixa nie Elternfreuden kannte –, tobt der Massenpflegung“ werde Heerscharen binKulturkampf ums Kleinkindwohl so aufgeRHEINLAND-PFALZ dungsgestörter Kinder produzieren, die regt und hektisch wie kaum eine politische unter „Schizoidie, Panikattacken, BorDebatte der vergangenen Jahre. 11,4 derline-Not und anderem seelischen Es ist ein Glaubenskrieg. 9,5 9,5 SAARLAND Elend“ leiden werden. Weitere mögDrei völlig verschiedene Aspekte des BADENBAYERN liche Spätschäden des KrippenbeUmgangs mit den Kleinen werden dabei WÜRTTEMBERG suchs: Depressionen, Fettleibigkeit, munter durcheinandergeworfen. Erstens: Magersucht, Alkoholismus, Kriminalität. Wie möchte ich als Elternteil leben? Möch- Quelle: Durchschnitt Deutschland: 13,5 te ich ganztags ins Büro oder daheim sein Destatis, Das mag drastisch übertrieben sein. Früheres Bundesgebiet*: 8,1 Stand: bei meinem Kind? Diese Frage muss jeder 15. März 2007 Doch was, wenn Meves’ Schreckensvision Neue Länder*: 37,4 *ohne Berlin für sich beantworten. auch nur ein Körnchen Wahrheit enthielte?

Vorreiter Ost, Nachzügler West

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ANNE SCHÖNHARTING / OSTKREUZ

Mutter mit Kleinkind: Kulleraugen und Stupsnäschen plus Quengeln, Gurren und Lächeln, so übt das Baby seinen süßen Zwang aus

Ein Blick ins Ausland hilft, die Sorgen zu zerstreuen. Bei den Nachbarn der Deutschen, in Dänemark etwa oder in Frankreich, grassiert keineswegs die innere Zersetzung, obwohl dort seit langem die Betreuung kleiner Kinder außerhalb der Kernfamilie nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich begrüßt wird. Den Eltern geht es gut damit – und den Kleinen augenscheinlich auch. Lucia, 5, Victoria, 3, und Claudius, 1, wirken, wie man sich Kinder wünscht: fröhlich, wissbegierig, aufgeweckt. Die drei blonden Sprösslinge der Deutschen Kristin Abel, 35, und ihres Mannes Gernot, 41, wachsen in Kopenhagen auf; seit dem Krabbelalter werden sie werktags außer Haus betreut. Abends herrscht in der hellen Altbauwohnung der fünfköpfigen Familie dann das ganz normale Alltagschaos: Lucia fordert Aufmerksamkeit für ihr neues Computerspiel, Victoria türmt Bauklötze aufeinander, Bruder Claudius kullert sich übers Wohnzimmerparkett. Inmitten des Trubels ruht auf dem Sofa Kristin Abel und sagt: „Wären wir in Deutschland geblieben, wäre ich heute bestimmt keine dreifache Mutter.“ In Westdeutschland, von wo das damals noch kinderlose Akademikerpaar vor zehn Jahren wegzog, müsste sich Kristin Abel heute damit abfinden, dass gerade mal acht Prozent der unter Dreijährigen eine Krippe besuchen. In Dänemark hingegen ist die Regel, was in

Deutschland die Ausnahme ist: 87 Prozent der Ein- und Zweijährigen werden außerfamiliär betreut, im Schnitt sieben Stunden täglich. Die Krippe verändert nicht nur den Alltag der Kinder – sie erlaubt komplett andere Familienarrangements. So teilt sich Ehepaar Abel alle häuslichen Aufgaben, wie es in Dänemark unter Doppelverdienern üblich ist. Beide Abels arbeiten in der Biotech-Forschung. Papa Gernot bringt seine beiden Töchter und den kleinen Sohn morgens mit dem Lastenfahrrad in die Kita. Mama Kristin holt sie am späten Nachmittag nach Feierabend wieder ab. „Das deutsche Modell des Alleinverdieners würde mich total stressen“, sagt Vater Abel. Auch die Säuglingsbetreuung teilten er und seine Frau unter sich auf, bei Victoria und ihrem Bruder nahm der Vater jeweils einige Monate Elternzeit, ohne Angst vor dem Karriereknick: „Mein Arbeitgeber hat das sehr begrüßt.“ Dabei sahen die Abels anfangs die dänische Krippenbetreuung durchaus skeptisch. „Aber wir haben gemerkt, dass wir bloß mit ideologischem Ballast beladen waren“, sagt Gernot Abel. „Den sind wir hier ganz schnell losgeworden.“ Da ist er wieder, der Ideologie-Vorwurf, den sich Feind und Freund der Krippe wechselseitig machen. Wer ihn ausräumen will, wer wissen will, wie viel Mama das Kind wirklich braucht, der muss die Wissenschaft befragen: die Entwicklungsd e r

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psychologen, Frühpädagogen und Ethnologen. Im Verlauf der vergangenen vier Jahrzehnte haben die Forscher ein enormes Konvolut von Experimenten, Studien und Umfragen zur Kinderbetreuung und zur Mutterbindung zusammengetragen. Es lohnt sich nachzusehen, was übrig bleibt, nachdem fortschreitende Erkenntnis den Ideologiefilz Stück für Stück weggeschnippelt hat. „Den wichtigsten Einfluss auf die KitaForschung hatte bisher die Bindungstheorie“, erklärt Lieselotte Ahnert, Entwicklungspsychologin von der Uni Köln, eine quirlige Schnelldenkerin, die ihre Karriere in den berüchtigten Kinderkrippen der DDR begonnen hat und daher weiß, wo Wissenschaft aufhört und Ideologie beginnt. Die Theorie, von der sie spricht, geht davon aus, dass die Bindung des Kindes zur Mutter das Fundament seiner Persönlichkeitsentwicklung ist. Mitbegründet hat sie der britische Arzt und Psychoanalytiker John Bowlby in den sechziger Jahren. Beeinflusst durch Verhaltensforscher wie Konrad Lorenz, kam Bowlby auf die Idee, dass Menschenkinder, ähnlich wie Tierjunge, geboren werden mit einem Verhaltensprogramm, das darauf ausgerichtet ist, sich auf einen Erwachsenen zu fixieren. Dessen Fürsorglichkeit versucht das Kind zu wecken, denn nur so kann es das eigene Überleben sichern. Im Fall des unglaublich unreif geborenen Nesthockers Homo sapiens sieht das Pro43


CARSTEN KOALL (L.); O. SCHMITT / BABIRAD PICTURE (R.)

Titel

Frühpädagoge Tietze, Krippengegner Mixa, Müller: Es zanken sich Experten und solche, die es gern wären, um Wohl und Weh des Kindes

gramm ungefähr so aus: Kulleraugen und Stupsnäschen plus Quengeln, Gurren und Lächeln – das ist die Mischung, mit der das Baby seinen süßen Zwang ausübt. Diese Reize treiben Mutter wie Vater trotz nervenzehrendem Schlafentzug zu aufopferungsvoller Säuglingspflege. Das Baby belohnt die Mühe mit tiefem Urvertrauen: Im Alter von vier Monaten schon lässt es sich selbst aus der Ferne von der vertrautesten Person in seinem Leben trösten – und meistens ist dies eben Mama: Erklingt ihre Stimme, schwingt der Boden im vertrauten Rhythmus ihrer Schritte, dann stellen die Kleinen prompt das Weinen ein, schon bevor die Mutter das Bettchen überhaupt erreicht. Nummer zwei oder drei auf der Beliebtheitsliste des kleinen Schreihalses hingegen muss das Kind erst hochnehmen oder ihm den Schnuller geben, ehe es sich beruhigt. Im zweiten Lebenshalbjahr fangen die Säuglinge dann ganz offen an zu fremdeln. Aktiv versuchen sie, sich den Zudringlichkeiten Unbekannter zu entziehen. Die Mutter ist jetzt Schutzburg; zu ihr krabbeln sie im Eiltempo zurück, wenn die fremde Frau ihnen übers Köpfchen streicheln will. Erst wenn sich das Baby wieder sicher fühlt, wagt es, die Welt weiter zu erkunden. Ein Kind in der Krippe hingegen, fern vom Mamahafen, so fürchten die Bindungsforscher, bleibt furchtsam im Eckchen hocken. Klar, sagen die Babypsychologen, auch zu Oma, Tante oder Papa entwickeln Kinder enge Beziehungen. Diese sogenannten Helfer am Nest seien sogar herzlich willkommen. „Bis zu drei Personen können so vertraut sein, dass sie über ein kleines Unglück hinwegtrösten dürfen“, erklärt die Regensburger Bindungsforscherin Karin 44

Grossmann. „Aber wenn das Kind krank ist, müde oder zahnt, muss es die am häufigsten anwesende Person sein.“ Kleinkinder, so die Erkenntnis aller Bindungsforschung, brauchen ihre Mutter. „Aber deshalb muss die Krippe noch nicht des Teufels sein, wenn man sich dort fürsorglich kümmert“, schränkt die Kölner Psychologin Ahnert ein. Bemerkenswert differenziert scheinen selbst kleinste Kinder zwischen Mama und anderen zu unterscheiden. Dies gilt auch und gerade für ihre Betreuerin in der Krippe. „Die sind ja keine Waisen, die bei einem Erzieherwechsel eine Ersatzmutter verlieren“, erklärt Ahnert. Die Kleinen erwarteten gar keinen Mutterklon. „Sie sehen die Erzieherin eher als Spielpartner.“ Nimmt man diesen feinen Unterschied zur Kenntnis, entweicht der ideologischen Krippendebatte die ganze Luft. Keine Erzieherin soll und wird jemals eine Mutter ersetzen, keine Krippe an die Stelle der Familie rücken. In der Hauptsache geht es darum, Kinder werktags einige Stunden lang bestmöglich zu betreuen, zu fördern und die Eltern zu entlasten, indem sie quaSPIEGEL- UMFRAGE

„Halten Sie es für schädlich für die Entwicklung eines Kindes, wenn es in den ersten drei Lebensjahren stundenweise in einer Kinderkrippe oder von einer Tagesmutter betreut wird?“ JA 18 % NEIN

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TNS Forschung vom 10. und 11. Oktober 2007; 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“, keine Angabe

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lifizierte Unterstützer an die Hand bekommen. Es geht nicht um „entweder oder“, sondern um „sowohl als auch“. Ohnehin sehen sich die Bindungsforscher angesichts neuer Ergebnisse aus den Säuglingslabors gezwungen, manch eine ihrer Vorstellungen von der sozialen Reifung zu revidieren. Offenbar, so müssen sie nun einsehen, haben sie ihre kleinen Probanden unterschätzt. Mit raffinierten Methoden gelingt es Entwicklungspsychologen inzwischen, den Babys Antworten zu entlocken, längst ehe diese zu sprechen beginnen. Und dabei zeigt sich: Säuglinge sind weitaus schlauer als lange gedacht. Keineswegs erscheint ihnen die Welt nur als „blühende, summende Verwirrung“, wie noch der amerikanische Psychologe William James (1842 bis 1910) meinte. Schon von drei Monaten an wissen die Kleinen, dass etwas existiert, auch wenn es aus ihrem Blickfeld verschwunden ist. „Das heißt, sie können begreifen, dass ihre Mutter noch da ist, auch wenn sie sie gerade nicht sehen“, sagt Forscherin Ahnert. Lange dachten die Psychologen, die „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Phase dauere volle acht Monate. „Einmal aufgebaut, bleibt die Bindung erhalten, auch wenn zwischendurch eine andere Person das Kind betreut“, erklärt Ahnert. Wie stabil die Mutter-Kind-Bande sind, hänge dabei nicht so sehr von der bloßen Zeit ab, die beide miteinander verbringen. Weitaus wichtiger sei das innere Bild von der Beziehung, das sich beim Kind herausbildet. „Die Frage ist: Wie wird Intimität gelebt?“, erklärt Ahnert. „Feinfühligkeit“ heißt die Forderung der Bindungsforscher an die Erziehungsberechtigten: Wer prompt und angemessen


KURT HENSELER / LAIF

auf Babys Quäken und Blicke, auf sein Kreischen und Lächeln reagiert, wird seinen Nachwuchs sicher an sich binden. Aber wie wichtig ist die Sicherheit der Bindung überhaupt? Weit weniger, so wissen die Forscher inzwischen, als lange gedacht. Eine gestörte Bindung hat nämlich keineswegs immer lebenslang schwerwiegende Folgen. „Das Bindungssystem ist erstaunlich flexibel“, sagt Ahnert. Gleich vier Längsschnittstudien zeigten: Wie innig oder kühl das Kind mit seinen Eltern verbandelt ist, hat verblüffend geringe Auswirkungen darauf, wie innig oder kühl sich dessen späteres Liebesleben gestaltet. „Der Muttermythos der letzten 50 Jahre beruht auf der überholten Annahme, dass allein die sichere Bindung zur Mutter die entscheidende Basis für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ist“, resümiert Remo Largo, Kinderarzt in der Schweiz und Autor der elterlichen Standardlektüre „Babyjahre“. Heidi Keller, Kleinkindforscherin am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung in Osnabrück, das gerade erst vorige Woche seine Arbeit aufgenommen hat, findet die Bindungstheorie sogar „gefährlich“, weil sie „den Eindruck erweckt, man wisse, was das Beste für die Kinder ist“. Ungeduldig schüttelt sie den Kopf. Zu viele Kinder anderer Länder hat sie gesehen, zu viele Mütter afrikanischer Clans und indischer Familien gesprochen, um noch ans Credo der Bindungsforschung glauben zu können. „Das ist eine westliche Mittelschichtsphilosophie“, sagt Keller knurrig. Der „Mutterinstinkt“ sei weder instinktiv, noch sei er allen Müttern eigen – zu diesem Schluss kam, nach umfangreichen Recherchen, auch die amerikanische And e r

thropologin Sarah Blaffer Hrdy in „Mutter Natur“, ihrem Standardwerk zur Soziobiologie der Mutter-Kind-Beziehung. „Die Frage nach dem universalen, natürlichen Verhalten der Mutter ist schlicht falsch gestellt“, meint Psychologin Keller. „Wenn man sich eine afrikanische Bäuerin anguckt, die acht Kinder geboren und davon zwei oder drei verloren hat, und daneben die deutsche Frau Doktor stellt, die mit 36 ihr erstes Kind bekommt – wie kann man da annehmen, dass es ein Rezept für alle gibt?“ Kellers These: „Es gibt nicht das eine natürliche Muster. Es gibt Anpassungsstrategien.“ Und diese können sich von Land zu Land extrem unterscheiden: „Was in der einen Kultur adaptiv ist, gilt in der anderen als pathologisch.“ Tatsächlich ist das mütterliche Betreuungsmonopol, wie es in Deutschland praktiziert wird, weltweit die Ausnahme. „Wenn sich nur Kinder gut entwickeln würden, die in den ersten Jahren an ihrer Mutter kleben, dann wären die Kinder der Hausfrauen in den reichen Industrienationen die ersten und einzigen normalen Menschen auf der Erde“, spottet der amerikanische Gelehrte Jared Diamond. In der gesamten Menschheitsgeschichte sei die Erziehung ganz anders gelaufen: „Die meisten Kinder wurden in einem Netz von Tanten, Onkeln und Freunden erzogen, das hat unsere Spezies geprägt.“ Bis heute werden Kinder in jedem Volk anders großgezogen. „Und all die verschiedenen Betreuungsmodelle in der Welt generieren glückliche Menschen“, sagt Heidi Keller. Das kann nur heißen: Es ist die Kultur, die darüber bestimmt, wie der Mensch umgeht mit seinen Babys. So gesehen ist jede als Anpassung entstandene Betreuungsform „natürlich“. Denn die Kultur ist die Natur des Menschen. Die Üppigkeit an Varianten der Kinderbetreuung hat bei Keller eine zentrale Erkenntnis reifen lassen: „Die Mutter weiß in der Regel, was gut ist fürs Kind“ – zumindest wenn sie nicht verwirrt ist durch Stillbücher, Einschlaftipps und Spielplatzgespräche mit Müttern, die wieder andere Ratgeber gelesen haben. Nirgends wird beispielsweise die kognitive Entwicklung als so wichtig erachtet wie in den westlichen Industrienationen. Deshalb, so Keller, sei es nicht erstaunlich, dass hier die sprachliche Entwicklung besonders flott vonstatten geht: „Niemand labert seine Kinder so zu wie wir.“ Andererseits verstauen westliche Eltern ihre Säuglinge in Kinderwagen und Babyschalen, anstatt sie auf dem Leib zu tragen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, bereiten sie ihren Nachwuchs damit vor auf eine Welt, in der Individualität und Autonomie mehr zählen als das Verschmelzen mit der Gemeinschaft. Das heißt, die Eltern packen es automatisch richtig an – richtig im Sinne von: angepasst an die Kultur, in der das Kind auf-

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CHRISTIAN ALS

Leyen noch im Sommer in einem SPIEGEL-Streitgespräch (31/2007). Nach massiver Kritik aus den eigenen Reihen hält sie inzwischen still. Doch das Beispiel Thüringen zeigt, wie berechtigt ihre Befürchtungen sein könnten. Das östliche Bundesland zahlt Eltern von Zweijährigen, die keine Krippe beanspruchen, bereits seit Juli 2006 mindestens 150 Euro im Monat. Prompt sank die Zahl der Zweijährigen in den Kitas. Nach Einschätzung von Thomas Rauschenbach, Leiter des Deutschen Jugendinstituts, nehmen vor allem die ärmeren Familien die Leistung in Anspruch. Dabei „wollen wir gerade diese Kinder erreichen, da sie von guten Krippen am meisten profitieren“. Denn besser als schon im Windelalter stundenlang vor der Glotze deponiert zu werden, ist eine Krippe allemal. Auch Kinder depressiver Mütter können es genießen, wenn sie ein paar Stündchen in lebendiger Atmosphäre singen oder Bilderbücher gucken dürfen. MigrantenkinFamilie Abel (in Kopenhagen): „In Deutschland wäre ich keine dreifache Mutter“ dern wiederum erleichtert die Krippe wachsen wird. So wird es fit für die speziel„Schätzungsweise 10 bis 20 Prozent einen Start in die Zweisprachigkeit. Für Kinder wie den zweijährigen Baran le Ökologie seiner direkten Umgebung – der Kinder in Deutschland kommen aus eine beruhigende These in der deutschen Elternhäusern, die sozial in irgendeiner aus Gelsenkirchen kann sich der ganze Krippendebatte. Weise benachteiligt sind“, sagt der Er- Lebensweg verändern, wenn sich KitaWenn sich aber folglich die Sorge um ziehungswissenschaftler Wolfgang Tietze, Fachleute ihrer schon im Brabbelalter andie Mutterbindung im Licht der Forschung „etwa durch Arbeitslosigkeit, mangelnde nehmen. Beim „offenen Babytreff“ in der als unberechtigt erweist, dann fragt sich, Deutschkenntnisse, einen sehr niedrigen Turnhalle der Tagesstätte Ovellackerweg was denn bleibt von den Befürchtungen Bildungsgrad oder Suchtkrankheiten. Für sitzt der kleine türkische Junge auf dem der Krippengegner. Wirkt sich der tägliche diese Kinder ist jedes außerfamiliäre Be- Schoß seiner Mutter und betrachtet seit fünf Minuten ein Bilderbuch. Ein großer Umgang mit Erziehern und Altersgenos- treuungsangebot ein Segen.“ sen in der Krippe gar nicht auf die langfrisEbendeshalb fürchten viele Experten Fortschritt, sagt die Heilerzieherin Beate tige Entwicklung eines Kindes aus? das von der Union geforderte Betreuungs- Seemann. Noch vor ein paar Monaten sei Diese Frage zu beantworten, hat sich die geld: Gerade unter den Eltern der förder- das Kerlchen viel zu zappelig dafür geweempirische Sozialforschung zum Ziel ge- bedürftigen Kinder dürfte die Versuchung sen. Sie vermittelte Baran und seine Famisetzt. Zwar ist es ausgesprochen schwie- besonders groß sein, mit den 150 Euro die lie an eine Erziehungsberatungsstelle und rig, aus der Fülle der Einflüsse, die auf Haushaltskasse aufzubessern, statt ihr Kind in eine Spieltherapie. „Wenn wir nicht früh kleine Kinder einwirken, denjenigen der in die Krippe zu geben. Auch die Bundes- eingegriffen hätten, wäre er heute stark Krippe zu destillieren. Die Forscher schaf- familienministerin zählte ursprünglich zu verhaltensauffällig“, sagt Seemann. So kann die Krippe als Frühwarnsystem fen es trotzdem, denn sie verfügen über ein den Kritikern der „Herdprämie“. „Mit höchst wirksames Mittel: das Gesetz der dem Betreuungsgeld verstärken wir den funktionieren, für Kinder, deren Eltern großen Zahl. Teufelskreis, in dem Kinder, die von zu nicht wahrnehmen, dass die Kleinen sich In verschiedenen Studien haben sie, vor Hause keine Chance auf frühe Bildung, auf den Weg ins Abseits gemacht haben. Eindrucksvoll belegte die Auswertung allem in den USA, den Lebenslauf vieler gute Sprache, wenig Fernsehen, viel Betausend Kinder verfolgt und nach Auffäl- wegung haben, vom Kindergartenbesuch von 17 der sogenannten Early-Head-Startligkeiten von Krippenbesuchern gesucht. ausgeschlossen werden“, sagte von der Programme in den USA den Nutzen der Krippenförderung für die sozial Vor allem eine zentrale Erkenntnis Schwachen. Kinder aus armen Faförderten sie dabei zutage: Die milien, so das Ergebnis, können Krippe schadet Kindern nicht. Die sich dank früher Förderung besser von Christa Meves beschworene In der öffentlich geförderten Kindertagespflege ausdrücken und besser konzenKrise der Entmutterung bleibt in Deutschland arbeiten trieren als ihre Altersgenossen, wohl aus. 33 115 Tagespflegepersonen die zu Hause aufwachsen. Sogar „Mir ist kein seriöses Ergebnis davon sind: die emotionale Bindung der bein der Literatur bekannt, das be- ohne abgeschlossene % 8,7 treuten Säuglinge und Kleinkinder legen würde, dass Krippenbetreu- Berufausbildung zu ihren Eltern erwies sich als beung gegenüber dem Leben bei ohne fachlastbarer. Mama zu Hause irgendwelche mit fachpädagogischem bezogenen Und das amerikanische „Abecenachteiligen Effekte hätte“, kon- Berufsabschluss % Berufsdarian Project“ hat über hundert statiert der Persönlichkeitspsy- (inkl. noch in Ausbildung) abschluss Kinder aus sozial schwachen Famichologe Jens Asendorpf von der lien bis zu ihrem 22. Lebensjahr Humboldt-Universität in Berlin. verglichen. Die Hälfte der ElternIm Gegenteil: Kinder aus schwie- darunter diplomierte paare durfte weiterhin allein über rigen familiären Verhältnissen, Pädagogen/Sozialarbeiter % 1,5 % Alltag und Schicksal ihrer Kids entauch das ist deutlich belegt, profiQuelle: Destatis, Stand: 15. März 2007 scheiden; die anderen Teilnehmer tieren von der Krippe.

Nicht vom Fach

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BURT GLINN / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS BARRY HEWLETT / WASHINGTON STATE UNIVERSITY, VANCOUVER

kamen von Anfang an in eine Tageseinrichtung, wo Erzieher sie individuell förderten. Die Ergebnisse sind frappierend: Von Anfang an schnitten die kontinuierlich Fremdbetreuten in den kognitiven Tests besser ab. In der Schule lasen und rechneten sie besser, absolvierten mehr Schuljahre und schafften es mit größerer Wahrscheinlichkeit aufs College. Auch seelisch geht es den Kita-Kids besser: Sie leiden seltener an Depressionen. Bei Kindern aus Durchschnittsfamilien sind derartige Wundereffekte freilich nicht nachweisbar. Die größte Studie zum Thema, durchgeführt vom amerikanischen National Institute of Child Health and Human Development (NICHD), suchte nach langfristigen Wirkungen der Fremdbetreuung – und fand fast nichts. Seit 1991 verfolgen die Forscher den Lebenslauf von mehr als tausend Kindern unterschiedlicher Herkunft. Ihr wichtigstes Ergebnis: Hauptsache, daheim läuft’s prima. Sind die Kleinen bei Mama und Papa gut aufgehoben, entwickeln sie sich prächtig. Wie gut oder schlecht die anderen Betreuer mit ihnen umgehen, fällt im Vergleich dazu kaum ins Gewicht. Einen positiven Befund gab es immerhin: Verglichen mit den daheim bei Mum gebliebenen Söhnchen und Töchterchen, verfügen die fremdbetreuten Kinder in der Schule über einen größeren Sprachschatz – allerdings nur, wenn die Tageseinrichtung optimale Bedingungen bietet. Ein anderes Teilergebnis gab Anlass zur Sorge: Je mehr Zeit die Kinder in ihren ersten viereinhalb Lebensjahren in der Kita verbrachten, desto mehr Problemverhalten verzeichneten die Forscher in den ersten Schuljahren – sie waren aggressiver und aufsässiger als jene Kinder, die von Mutter, Kindermädchen oder Tagesmutter versorgt worden waren. Die Krippengegner jubelten: Endlich hatten sie einen wissenschaftlich belegten Beweis dafür entdeckt, dass die Kita schade. „Hort der Störenfriede“, triumphierte die „Welt“, „Fremdbetreuung macht Kinder aggressiver“, hieß es in der „FAZ“. Bei näherer Betrachtung allerdings verliert das Rabauken-Ergebnis an Bedeutung. „Die Aggressivität ist nur einer von Dutzenden Einzelaspekten, die das NICHD untersucht hat“, erklärt Susanne Viernickel, Hochschullehrerin für frühkindliche Pädagogik an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin. Bei allen anderen – Aufmerksamkeitsdefizite etwa, Einnässen oder Depressionen – blieb die Untersuchung ohne Befund. Und auch bei diesem einen Kriterium konstatiert die Kita-Spezialistin nur eine „sehr geringe Effektstärke“. Die in der Studie diagnostizierte Aggressivität bewegte sich im Rahmen dessen, was gesunde Mädchen und Jungen an Wut und Renitenz in sich tragen.

Kinderbetreuung in Alaska, Zentralafrika, Indien: Das mütterliche Betreuungsmonopol, wie es

Auch Jens Asendorpf winkt ab; für die Lümmel aus der frühen Dauerbetreuung hat der Berliner Psychologe eine andere Erklärung parat: „Was manchmal fehlinterpretiert wird als Aggressivität und Aufsässigkeit, ist schlicht Dominanz gegenüber Gleichaltrigen und Erziehern“, meint der Forscher. Kita-Erfahrung erleichtere es eben, sich in einer neuen Gruppe durchzusetzen. „Vertrautheitseffekt“ nennt Asendorpf das. Der Psychologe findet es „gefährlich“, aus diesem „situationsspezifischen Effekt gleich auf chronische Aggressivität zu schließen“. Fast scheint es, als verdampften auf diese Weise alle grundsätzlichen Bedenken SPIEGEL- UMFRAGE

„Meinen Sie, dass in Deutschland die Betreuung und Erziehung von Kleinkindern in Krippen weniger akzeptiert wird als in anderen europäischen Ländern?“ 52 % Weniger akzeptiert 27 % Kein Unterschied TNS Forschung vom 10. und 11. Oktober 2007; 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“, keine Angabe

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gegen die Krippe. Umso schwerer ist es da, den vehementen Widerstand zu erklären: Wie kann eine Überzeugung so hartnäckig den guten Erfahrungen vieler Nachbarländer und vor allem der wissenschaftlichen Erkenntnis trotzen? Die Münchner Romanistikprofessorin Barbara Vinken hat, um diese Frage zu beantworten, die Wurzeln des Muttermythos freigelegt. Der Forscherin zufolge haben vor allem drei große Gelehrte die deutsche Supermami heraufbeschworen: Martin Luther, Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi. „Denn soll man der Christenheit wieder helfen, so muss man führwahr an den Kindern anheben“, schrieb Luther. Der Reformator verklärte Ehe und Familie ins Religiöse. „Die eigentliche Berufung der Frau“, meint Vinken, „lag nicht mehr darin, Jungfrau und Märtyrerin, sondern Ehefrau und Mutter zu werden.“ „Am meisten kommt es auf die erste Erziehung an, die unbestreitbar Sache der Frauen ist“, befand auch Rousseau in seinem pädagogischen Werk „Emile“. Der Philosoph verknüpfte nicht weniger als das Wohlergehen des Staates mit dem rechten Verhalten des Weibes. Den eitlen, tiefdekolletierten Pariser Damen der höfischen


H. KUBOTA/MAGNUM/AGENTUR FOCUS

in Deutschland praktiziert wird, ist weltweit die Ausnahme

Gesellschaft stellte er die neue, bürgerliche Idealmutter entgegen, die ihr Kind nicht zur Amme gab, sondern selbst stillte. Die adlige Weiblichkeit war auch für Pestalozzi Inbegriff fehlender Mütterlichkeit. „Weltweiber“ nannte der wohl einflussreichste Pädagoge des deutschen Sprachraums jene selbstsüchtigen Geschöpfe, die sich auf Bällen und in Salons tummelten, statt durch ihre Kinder „selig“ und „vollendet“ zu werden. Es sei nicht möglich, schrieb er, „eine Weltfrau zu sein und dabei täglich zu tun und zu leben, wie wahre Muttertreu und Muttersorgen ein frommes und gutes Weib täglich zu leben heißt“. Alle drei Reformer trennen die Welt in öffentliche und private Sphäre, und wohin das Weib gehört, ist klar: Die Frau solle zu Hause bleiben „wie der Nagel in der Wand“, fand Luther. „Eine richtige Familienmutter“, dekretierte Rousseau, „ist in ihrem Heim kaum weniger eingeschlossen als eine Nonne in ihrem Kloster.“ Und Pestalozzi sieht ihren Platz „im Heiligtum ihrer Wohnstube“. Zum Einfluss der drei Denker kommt in Deutschland hinzu, dass noch immer das Schreckgespenst der DDR-Krippe durch die Erinnerungen geistert. Dort war

es Programm, den Nachwuchs im Schoß des Kollektivs groß werden zu lassen. Die Entmachtung der Eltern war gewollt. Auf die staatliche Zwangsbeglückung aller Kinder reagierte der Westen mit der radikalen Privatisierung der Erziehung. „In der derzeitigen Krippendebatte erleben wir die Nachwehen eines Glaubenskriegs“, meint Vinken. Die Folge: Immer noch scheint in Deutschland vielerorts die totale Hingabe ans Muttersein den Frauen einen Platz im öffentlichen Leben zu verbieten. „Hierzulande glaubt eine Bankdirektorin, beim ersten Kind ihren Job an den Nagel hängen zu müssen“, sagt Vinken. Alles wie zu Pestalozzis Zeiten, nur dass die Weltweiber inzwischen Rabenmütter heißen? Nimmt man die Tatsache ernst, dass glückliche, zufriedene Eltern in der Regel auch glückliche, zufriedene Kinder haben, steht einem Ausbau der Krippenbetreuung nichts entgegen – im Gegenteil: Wer sich für die Vorteile interessiert, braucht nur über die Grenze zu blicken. Die krippenverwöhnten Dänen etwa haben vor allem bei Kinderzahl und Müttererwerbsquote den Deutschen einiges voraus. Während die deutsche Geburtenziffer auf 1,3 Kinder pro Frau gesunken d e r

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ist, liegt sie in Dänemark bei 1,8. Das FünfMillionen-Volk gehört damit zu den vermehrungsfreudigsten in der EU. Gleichzeitig sind in Dänemark die meisten Mütter berufstätig. Nach der Geburt bleiben die Frauen selten länger als ein Jahr ihrem Arbeitsplatz fern. Die Erwerbsquote von Müttern, deren jüngstes Kind unter drei ist, liegt bei über 70 Prozent. Vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts gibt Dänemark für die Familien aus, fast zwei Drittel davon fließen an Kinderbetreuungsstätten. Einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Krippe oder bei der Tagesmutter haben Kinder in Dänemark schon ab dem neunten Lebensmonat. Selbst das dänische Kronprinzenpaar schickte letzten März seinen Stammhalter Christian in eine öffentliche Krippe; da war er gerade 17 Monate alt. „Gesellschaftlich ist es völlig akzeptiert, dass Kinder schon früh außerfamiliär betreut werden“, resümiert der dänische Kultursoziologe Kim Rasmussen. „Wir wollen, dass Mütter arbeiten gehen.“ Andererseits muss sich kein Vater als Wickelvolontär verspotten lassen, wenn er sich ein paar Monate um den Nachwuchs kümmert. Die Arbeitgeber sorgen gut für junge Eltern: Frauen bekommen nach der Geburt vom Arbeitgeber sechs Monate 51


Titel hungswissenschaftler Tietze. Mangels Angebot müssen die meisten Eltern ohnehin nehmen, was sie kriegen. Zweifel daran, dass die Kinder gut versorgt sind, werden lieber verdrängt. So zeigte sich bei Umfragen, dass Eltern die Qualität der genutzten Kinderbetreuung systematisch überschätzen. „Welche Mutter gibt schon gern zu, dass ihr Kind eine grottenschlechte Einrichtung besucht?“, sagt Tietze. Noch weniger Einblick als in die Kita haben Eltern in die Arbeit von Tagesmüttern, die bei sich zu Hause betreuen. Knapp ein Drittel der neu zu schaffenden Angebote soll in diesem Bereich bereitgestellt werden – doch gerade hier ist Tietze auf eine „unglaubliche Streubreite“ bei der Betreuungsqualität gestoßen. „Es gibt phantastische Tagesmütter, die den Kindern tolle Anregungen bieten“, sagt Tietze. „Aber wir kennen auch genügend Beispiele am anderen Ende.“ Wohnungen von „Nichtraucherinnen“, die auffallend verqualmt riechen, fehlendes Kindermobiliar und ungesicherte Treppen gehören noch zu den harmloseren Fällen. „Manche Tagesmütter achten auch zu we-

Verstohlen stecken sich manche Mütter auf dem Spielplatz die Telefonnummern ihrer Perlen zu. Eine institutionelle Qualitätskontrolle bleibt auf dem grauen Markt naturgemäß aus. Doch selbst im öffentlichen Sektor fehlen einheitliche Regeln: In der Kindertagespflege kocht jedes Bundesland sein eigenes Süppchen. „Die Debatte kreist immer um den Gegensatz Mutter versus Fremderziehung“, klagt der Bindungsforscher Klaus Grossmann. „Dabei sollte die Frage lauten: Wie qualifiziert sind die Betreuer?“ Tatsächlich belegen Studien wie die britische European Child Care and Education Study von 1999, dass die Kinder sich kognitiv und sozial umso erfolgreicher entwickeln, je besser das Betreuungspersonal qualifiziert ist. Und gerade hier sieht es düster aus in Deutschland: Bei den Tagesmüttern haben nach der neuesten Kinder- und Jugendhilfestatistik über 56 Prozent keinen pädagogischen und 9 Prozent überhaupt keinen Berufsabschluss. Und auch die deutsche Kita schneidet miserabel ab im Vergleich

PETER SCHINZLER

FRITZ STOCKMEIER

lang das volle Gehalt, einige Unternehmen zahlen sogar ein ganzes Jahr. Dass sich die Krippen in Dänemark so großer Beliebtheit erfreuen, liegt auch daran, dass ihre Qualität den deutschen Standard bei weitem übertrifft. „Ausstattung, Personalschlüssel und Qualifizierung der Erzieher sind besser als alles, was ich aus Deutschland kenne“, erzählt Jutta Bison, die vor zwei Jahren aus ihrer deutschen Heimat nach Kopenhagen gezogen ist. „Wenn ich meinen deutschen Freundinnen erzähle, dass in der Krippe meines Sohnes auf vier Kinder eine Erzieherin kommt, kriegen die feuchte Augen.“ Ein solcher Betreuungsschlüssel gilt unter Wissenschaftlern bei unter Dreijährigen als vorbildhaft. In Westdeutschland hingegen kümmert sich laut dem jüngsten Kinder- und Jugendbericht des Bundesfamilienministeriums eine Erzieherin derzeit um durchschnittlich 6,1 Krippenkinder, in den neuen Bundesländern sogar um 8,5. Die Familienministerin hat die Qualitätsdiskussion zunächst vernachlässigt. Die zwölf Milliarden Euro, die für den Ausbau der Krippenplätze vorgesehen sind,

Kleinkindforscherin Keller, Autorin Vinken: Wurzeln des Muttermythos freigelegt

beruhen auf Hochrechnungen der gegenwärtigen Betreuungskosten – die künftigen Plätze könnten also, wenn überhaupt, nur dieselbe Qualität haben wie die jetzigen. Experten wie der Münchner Erziehungswissenschaftler Wassilios Fthenakis sind alarmiert. In die Betreuung der unter Dreijährigen müsse flächendeckend mehr Geld fließen, so Fthenakis – „sonst nützt das den Kindern am Ende wenig“. Auch die Frankfurter Kleinkindforscherin Wiebke Wüstenberg fordert eine weitergehende Debatte: „Wir müssen dringend für einheitliche Standards kämpfen.“ In puncto Betreuungsqualität tappen Eltern hierzulande meist im Dunkeln. „Von außen ist schwer zu beurteilen, wie das in einer Kita wirklich abläuft“, sagt Erzie52

nig auf Hygiene“, berichtet Tietze. „Da leckt der Hund den Wasserkran ab, aus dem das Kind sein Trinkwasser bekommt.“ Dokumentiert sind auch Beispiele von Tagesmüttern, die kaum mit den Kindern reden. Ein Extremfall kam in Hamburg vor Gericht: Die Angeklagte, eine vom Jugendamt vermittelte Tagesmutter, hatte ihren Pfleglingen einfach mit Pflaster den Mund zugeklebt. Den Ämtern fehlt es oft an Personal, um die Zustände zu kontrollieren. Die Tagesmuttervermittlung aus öffentlicher Hand gleicht da einem Glücksspiel. Längst hat sich ein grauer Markt etabliert. Auf 100 000 Kräfte schätzen Experten die Zahl der privat organisierten Tagesmütter. Die guten sind heiß begehrt: d e r

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zu den übrigen EU-Ländern: Das Ausbildungsniveau der Erzieherinnen ist erschreckend niedrig. Nicht einmal drei Prozent des Betreuungspersonals haben einen Fachhochschuloder Hochschulabschluss. Viel später als die europäischen Nachbarn stellen sich nun auch deutsche Unis und Fachhochschulen allmählich auf den Berufszweig ein: Künftig soll das Fach Frühpädagogik an vielen deutschen Bildungsstätten gelehrt werden. Höchste Zeit, denn mit der Betreuung der unter Dreijährigen, die nun massiv ausgebaut werden soll, sind große Teile des Personals nach eigener Einschätzung überfordert. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung zur Qualifizierung von Erzieherinnen und Tagesmüttern gab knapp die


AKG

Familie Luther (Farblithografie, um 1890 nach Paul Pötzsch): Die Frau soll zu Hause bleiben wie der Nagel in der Wand

Hälfte der Befragten an, dass Erzieherinnen unzureichend auf die Arbeit mit Kindern unter drei Jahren vorbereitet seien. „Bildung beginnt bei der Geburt“: Diese Maxime des Kölner Frühpädagogen Gerd Schäfer hat sich in Deutschland noch nicht durchgesetzt. Gelernt und gelehrt, so die landläufige Meinung, wird von der Einschulung an. Die Arbeit mit unter Dreijährigen hingegen hat ein Imageproblem: Wickeln und füttern kann doch jeder. „Wer mit den Kleinsten arbeitet, hat meist die schlechteste Ausbildung“, konstatiert Kleinkindforscherin Keller. „Die Wertigkeit ist genau umgekehrt: Die ersten drei Jahre sind die wichtigsten.“ An der Geringschätzung der Kita-Arbeit wird sich jedoch vermutlich wenig ändern, solange sich dies nicht auch auf den Gehaltszetteln niederschlägt. Zwar arbeiten viele engagierte Kräfte weit über ihr Soll hinaus, doch der Lohn dafür ist bescheiden: Neu eingestellte Erzieherinnen bekommen im Schnitt 1800 Euro brutto. Nach den jüngsten Tarifregelungen ist die Bezahlung für Berufseinsteiger abgesenkt worden. Dagegen streikten die Erzieherinnen vergangene Woche in verschiedenen Städten. Welche tatkräftige Nachwuchskraft vermag das schon zu locken? „Die guten Realschülerinnen sehen im Erzieherinnenberuf keine Perspektive. Die gehen lieber zur Polizei oder zur Bundeswehr“, sagt Norbert Hocke von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW). Angesichts der geplanten 500 000 zusätzlichen Krippenplätze werden nach GEW-Prognosen bundesweit rund 100 000 geschulte Fachkräfte gebraucht. Und vor 54

allem im Osten wird der Bedarf noch wachsen: Zwei Drittel der Kita-Beschäftigten haben dort das Alter von 40 bereits überschritten. Gehen diese Kräfte in Rente, stehen zu wenige junge als Ersatz bereit. Es wird also sehr schwer werden, die Kinderbetreuung an europäische Qualitätsstandards heranzuführen. Dank jahrzehntelangen Rabenmutterdiskussionen hinkt Deutschland weit hinter seinen Nachbarn her. Bereits 1996 hatte das europäische Kinderbetreuungsnetzwerk 40 Qualitätsziele formuliert, etwa die Senkung der Gruppengrößen und die Verbesserung des Erzieher-Kind-Schlüssels. Zehn Jahre später hatte Deutschland die meisten davon noch immer nicht erfüllt. Dabei verdient der Staat langfristig an den Kindern, wenn er ihnen gute Bildung und Betreuung angedeihen lässt – je früher, SPIEGEL- UMFRAGE

„Beeinflusst die Betreuung in Kinderkrippen die Entwicklung des Sozialverhaltens von Kindern eher positiv, negativ, oder sehen Sie da keinen Zusammenhang?“ Positiv WEST: 67% OST: 80%

Negativ

8% Kein Zusammenhang

16 % TNS Forschung vom 10. und 11. Oktober 2007; 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“, keine Angabe

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desto mehr. Folgt man dem US-Ökonomen James Heckman, der unter anderem die Wirkung von Sozialprogrammen auf Gesellschaft und Wirtschaft untersucht hat, nimmt die Verzinsung von Investitionen in Humankapital mit abnehmendem Alter zu. Sprich: Teure Programme für postpubertäre Bildungsnieten sind rausgeschmissenes Geld, das besser in gute Krippenplätze investiert gewesen wäre. Allerdings müssen derzeit die Kommunen den größten Teil der frühkindlichen Betreuung zahlen – die Steuern aber, die etwa eine dank Kita-Unterstützung arbeitende Mutter zahlt, kommen zu über 80 Prozent Land und Bund zugute. Für die Kommune zahlt sich ihr Engagement also kaum direkt aus. Kein Wunder, dass mancher Bürgermeister seine knappen Mittel lieber in neuen Straßenbelag steckt. Wirklich gut wird die aushäusige Kleinkindbetreuung in Deutschland erst werden, wenn sich die Einsicht durchsetzt, dass sie nur Gewinner schafft: Manchen Kindern geht es in der Kita deutlich besser als zu Hause; das kann ihnen helfen, dem Schicksal als lebenslanger Sozialfall zu entgehen. Denjenigen Kleinen, die daheim ohnehin glücklich sind, schadet die Krippe nicht; ihren Müttern und Vätern aber ermöglicht sie echte Wahlfreiheit zwischen Vollzeiterziehung der Kleinen und Berufsleben. „Es ist an der Zeit“, findet Barbara Vinken, „den Blick auf die Fakten zu richten, statt sich blind von alten Idyllen leiten zu lassen, die nie wahr waren, sondern nur Ideologie hervorbrachten.“ Andrea Brandt, Rafaela von Bredow, Merlind Theile


Deutschland shington nämlich den Eindruck, ohne sie drohe Italien der PCI und damit dem Ostblock anheimzufallen. Für die USA ein Alptraum. Ihre 6. Flotte, Rückgrat amerikanischer Einflussnahme im Mittelmeerraum, hätte wesentliche Stützpunkte verloren. Auch unter Henry Kissinger, seit 1969 US-Sicherheitsberater, dann Außenminister, flossen Millionen an die Christdemokraten. Dennoch klagte ausgerechnet er, wie aus den freigegebenen Akten hervorgeht, dass „Korruption und Disziplinlosigkeit“ der DC das Hauptproblem in Italien seien. Die dortige Wirtschaft steckte Mitte der siebziger Jahre in einer tiefen Krise. Bei den Regionalwahlen 1975 lagen die Kommunisten infolgedessen mit 33,5 Prozent nur noch knapp hinter der DC.

wie ein kommunistisch regiertes Italien in der Allianz bleiben könne. Seine Mitarbeiter erwogen, eine PCI-Regierung durch ein Wirtschaftsembargo zu Fall zu bringen. Dabei hielt die PCI Distanz zur Sowjetunion und bekannte sich zur Mitgliedschaft In Italien schien 1976 den Italiens in Nato und EG. Paradoxerweise Kommunisten der Wahlsieg sicher. bedauerten das die Briten. Man könne ja Westliche Diplomaten dachten unter diesen Umständen Moskau nicht über den Nato-Ausschluss des Landazu bringen, die „Kommunisten … unter Kontrolle zu halten“, klagte Callaghan. des und einen Staatsstreich nach. Auch seien unabhängige Genossen für die s war eine Horrorvorstellung westWähler attraktiver als moskautreue Appalicher Strategen während des Kalten ratschiks. Krieges: Kommunistische Minister Bonn allerdings traute den Erklärungen sitzen in der Regierung eines Nato-Staats, von PCI-Chef Berlinguer nicht. „Sie wollen mit Zugang zu höchst geheimen Unterimmer noch die Diktatur des Proletariats. lagen, etwa den Plänen für den Einsatz Und darauf kommt es an“, sagte Außenmivon Atomwaffen. Und mit der nister Hans-Dietrich Genscher in Möglichkeit, einen Aufmarsch geheimer Runde mit den Westder Allianz in einer weltpolitimächten. Er verglich die Situation schen Krise zu behindern, indem mit der Lage in Berlin vor der sie die Mobilisierung der eigenen Kanzlerschaft Adolf Hitlers. Soldaten verweigerten. Dass die Briten erwogen, einen 1976 drohte dieses Szenario Staatsstreich italienischer Militärs Wirklichkeit zu werden, denn in verdeckt zu unterstützen, beleItalien standen Wahlen an, und gen Papiere aus dem PlanungsBundeskanzler Helmut Schmidt, stab, die der Publizist Mario J. US-Präsident Gerald Ford, der Cereghino im Archiv in London britische Premier James Callaggefunden hat. Auf diese Weise, han sowie Frankreichs Staatsso die Planer, „könnte die PCI führer Valéry Giscard d’Estaing aus der Regierung entfernt werfürchteten, die euro-kommunisden“. Der US-Geheimdienst hattische Partito Comunista Italiano Kommunist Berlinguer in Mailand (1972): Distanz zu Moskau te bereits im Vorjahr einen Putsch (PCI) würde Regierungspartei. „für durchaus möglich“ gehalten. Schon damals rätselten BeobUnd der britische Militärattachée achter, was Italiens Verbündete in Rom zählte im Frühjahr 1976 intern berieten, um die PCI von „den größten Teil“ der Offiziere der Macht fernzuhalten – und was politisch zur Rechten oder extresie planten, falls KP-Chef Enrico men Rechten. Berlinguer doch ins Kabinett einDie Nachteile eines Staatsziehen sollte. streichs sahen die Planer freilich Nun ermöglichen freigegebene auch. „Blutiger Widerstand“ der Unterlagen aus Großbritannien, Arbeiterbewegung, sogar ein Bürden USA und Deutschland erstgerkrieg könne die Folge sein, mals Einsicht. Sie zeigen, dass vor „und davon würde der Westen siallem die Briten auch über radicherlich nicht profitieren“. Auch kale Lösungen nachdachten: wäre ein „autoritäres Regime der einen Ausschluss Italiens aus der öffentlichen Meinung im Westen Nato oder sogar die Unterstütkaum besser zu vermitteln als zung eines Staatsstreichs durch eine Regierung mit PCI-Beteilirechte Militärs in Rom. Ein „saugung“. Ob damit alle Eventualberer chirurgischer Coup“ sei „in Westliche Staatsmänner (1976)*: Radikale Lösungen planungen beerdigt wurden, geht vielerlei Hinsicht attraktiv“, noaus den Akten nicht hervor. tierte am 6. Mai 1976 der Planungsstab des Die Deutschen jedenfalls – so viel ist geBritische Diplomaten sahen eine PCIbritischen Außenministeriums. Regierungsbeteiligung besonders pessimis- wiss – fürchteten britischen (und amerikaDass sich die Westmächte in Italiens In- tisch. Sie fürchteten den Verrat von Nato- nischen) Aktionismus. In einer vertraunenpolitik einmischen wollten, wäre kein Geheimnissen nach Moskau, das Ende der lichen Aufzeichnung aus dem Auswärtigen neues Phänomen gewesen. Seit Ende des Marktwirtschaft in Italien und ein drasti- Amt für Genscher heißt es, man müsse mit Zweiten Weltkriegs hatten die USA immer sches Zurückfahren des Verteidigungsetats. den USA und Großbritannien sprechen. wieder Millionen an Politiker und Parteien Londons Botschafter bei der Nato, John Nur so ließe sich verhindern, dass diese gezahlt. Ein Teil der Gelder landete bei Ge- Killick, schlug vor, Italien dann lieber gleich „unter dem psychologischen Schock“ eines heimdienstoffizieren, die mit rechtsextre- aus der Nato zu entfernen – eine Position, PCI-Wahlerfolgs „Schritte tun, die die Simen Terroristen kooperierten. Deren Bom- die Kissinger teilte. Er sehe nicht, erklärte tuation erschweren“. benattentate mit Dutzenden Toten wurden intern der US-Außenminister im April 1976, Zum Glück für Italien kam es anders. Bei dann radikalen Linken zur Last gelegt. den Wahlen im Juni 1976 gewann die DC Valéry Giscard d’Estaing, Helmut Schmidt, Japans PreDer Großteil der Beträge ging an die re- *mier überraschend mit 38,7 Prozent. Die PCI Takeo Miki, Gerald Ford, James Callaghan, Kanadas gierenden Christdemokraten der Demo- Ministerpräsident Pierre Trudeau, Italiens Ministerpräsident blieb mit 34,4 Prozent in der Opposition. crazia Cristiana (DC). Sie vermittelte in Wa- Aldo Moro auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Puerto Rico. Axel Frohn, Klaus Wiegrefe ZEITGESCHICHTE

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Bundesverfassungsgericht: Gegengewicht zu einer aus dem Lot geratenen Politik

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INNERE SICHERHEIT

Ringen um den Rechtsstaat Seit den Anschlägen vom 11. September gibt es in der Innenpolitik kein parlamentarisches Korrektiv. Wirksam steuert nur das Verfassungsgericht gegen – das nun über die Online-Durchsuchung entscheidet. Dabei geht es auch um die Grundsatzfrage, wie viel Sicherheit das Land braucht.

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s wird um ihr Thema gehen, an diesem Mittwoch. Sie sind beide Experten, sie haben unzählige Male öffentlich darüber gestritten, ein paarmal auch versucht, diskret eine gemeinsame Linie zu finden. Ohne Erfolg. Und doch werden beide, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD), nicht selbst dabei sein, wenn das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über einen der heißesten Konfliktherde der Großen Koalition fällt: die Online-Durchsuchung. Das Fernbleiben der beiden Minister ist verständlich, denn was die Richter in den roten Roben von den staatlichen Plänen für ein heimliches Ausspähen von Festplatten Verdächtiger halten, ließen sie schon in einer Anhörung im Oktober durchblicken: nicht viel. In beiden Ministerien verweist man vorsorglich seit Wochen darauf, es handle sich um ein Urteil über ein Landesgesetz aus Nordrhein-Westfalen – was stimmt. Doch Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier hat bereits ein Grundsatzurteil an58

gekündigt, das „weit“ über die NRW-Regelung hinausreiche. Wie auch immer Karlsruhe entscheidet, es wird sich in Berlin unmittelbar niederschlagen – und als Messlatte dafür dienen, ob und in welchen Grenzen Schäuble seine Pläne, den Bundesbehörden heimliche Einbrüche in Computer zu ermöglichen, verwirklichen kann. Besonders der Bundesinnenminister erwartet die Entscheidung deshalb mit einem gewissen Grimm: Denn die Richtlinien der Sicherheitspolitik bestimmt schon seit langem nicht mehr allein derjenige, den Schäuble dafür als zuständig und kompetent erachtet – also er selbst. Mindestens so prägend wie der Innenminister sind die 16 Richter in Süddeutschland. Deshalb geht es in Karlsruhe an diesem Mittwoch auch um die Machtbalance in der Republik. Über die Jahre sind die Verfassungsrichter zum Korrektiv der Sicherheitspolitik geworden. Die Richter kassierten gleich mehrere Sicherheitsgesetze, oder sie schränkten sie massiv ein. Die Welle von kritischen Richtersprüchen begann sich nach den Anschlägen von 2001 ausd e r

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zubreiten, und damit in einer Zeit, in der sich noch Schäubles Amtsvorgänger Otto Schily über die Sicherheit seiner schutzbefohlenen 82 Millionen Bürger Gedanken machte. Die Richter sind letztes Gegengewicht zu einer aus dem Lot geratenen Innenpolitik, die aus ihrer Sicht kein Maß mehr kennt, vor allem bei der Terrorismusbekämpfung. Von Schilys „Otto-Katalogen“ über das rotgrüne Luftsicherheitsgesetz bis zur OnlineDurchsuchung – die eigentliche, effektive Opposition in der Sicherheitspolitik sitzt nicht im Bundestag, sie sitzt in Karlsruhe, beim Bundesverfassungsgericht. Innenpolitiker aus den Regierungsparteien betonen seit Jahren die Sicherheit und schleifen Bürgerrechte. Karlsruhe hält als liberales Bollwerk genauso konsequent dagegen, indem es in jeder seiner Entscheidungen die grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte hochhält. Von einer „asymmetrischen Begegnungslinie zwischen Politik und Verfassungsgericht“ spricht Gerichtsvizepräsident Winfried Hassemer – im Klartext: Die Richter tun zwangsläufig nicht das, was die Politik von ihnen erwartet. Eine


Deutschland

THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK.NET

BERTHOLD STADLER / DDP

„Krise zwischen Verfassungsorganen“ konstatiert bereits der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP). Konfliktfrei war das Verhältnis zwischen Politikern und Richtern nie. In den Fünfzigern hatte Justizminister Thomas Dehler (FDP) dem Gericht im Streit über die Wiederbewaffnung vorgeworfen, „auf erschütternde Weise vom Wege des Rechts abgewichen“ zu sein. 20 Jahre später ging Herbert Wehner (SPD) im Rechtsstreit um Willy Brandts Außenpolitik in seiner ihm eigenen Art noch weiter: „Wir lassen uns doch von den Arschlöchern in Karlsruhe nicht unsere Politik kaputtmachen.“ Schäuble neigt nicht zu Ausfällen wie SPD-Urgestein Wehner, aber auch er teilt heftig aus: Seit Monaten betont er immer wieder, die Politik dürfe sich ihr Primat, zu gestalten, nicht aus der Hand nehmen lassen. „Ich verstehe, dass manche Verfassungsrichter gern Ratschläge geben würden“, stichelte er. „Dazu sind sie aber nicht demokratisch legitimiert.“ Für den Innenminister geht es nicht mehr nur um die Frage, ob ein Gesetz gut ist oder schlecht. Für ihn geht es auch um die Frage, ob die Messlatte der Richter noch die richtige ist: Für die „neuen Be- Sicherheitspolitiker Schäuble: Lektion aus Karlsruhe? drohungen“, argumentierte eine regelrechte Strategie daraus gemacht. er im SPIEGEL (28/2007) Die Sozialdemokraten fürchten den Vorim vorigen Sommer, brauche wurf, nicht genug für die Sicherheit des man im Zweifel auch VerfasLandes zu tun. Man werde den Richtersungsänderungen. Das Grundspruch wortgetreu umsetzen, hat Frakgesetz, so Schäuble, „würde tionschef Peter Struck bereits angekündigt. doch zerbrechen, wenn wir Rechtspolitiker wie Stadler blicken auch es nicht anpassen würden, gedeshalb so hoffnungsvoll nach Karlsruhe, rade bei solchen zentralen weil sie um dieses Dilemma wissen. Im Fragen“. Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit Die Botschaften aus Karlshaben es die Mahner schwerer als Koaliruhe waren im Ringen um den tionspolitiker wie Schäuble, die ständig richtigen Weg des Rechtsstaaneue, härtere Gesetze fordern. tes mindestens so klar wie die IT-Zentrum: Konfliktherd Computer-Ausspähung Der Bundesinnenminister hat eine klare der Innenminister. Im Nachgang der Anschläge in den USA hatte die sei nicht nur verfassungswidrig, sondern Vorstellung von seiner Rolle in dem FernPolizei Universitäten, Meldeämter und Aus- „schlechterdings unvorstellbar“. Außerdem duell mit den Richtern. Er ist der oberste länderregister nach jüngeren muslimischen erklärten die Richter das Gesetz über den Brandmeister des Landes. Er trägt die VerMännern abgefragt. Grundgesetzwidrig sei Europäischen Haftbefehl für nichtig. Alle antwortung dafür, dass das Gebälk der das, urteilten die Verfassungsrichter 2006, Anzeichen deuten darauf hin, dass in die- Bundesrepublik nicht Feuer fängt. Seine ohne konkrete Gefahr sei die präventive ser permanenten „verfassungsgerichtlichen Aufgabe ist es, schon Funken auszutreten. Rasterfahndung ein nicht hinzunehmender Nachhilfe“ (Ex-Verfassungsgerichtspräsi- Ein Bundesinnenminister muss in WorstEingriff in das Grundrecht auf informatio- dentin Jutta Limbach) am Mittwoch eine Case-Szenarien denken, er betreibt eine weitere Lektion erfolgt. Konjunktiv-Politik. nelle Selbstbestimmung. „Das wird eine GrundsatzentscheiEs liegt wohl in der Natur der Sache, dass Noch härter fiel die Entscheidung zur akustischen Wohnraumüberwachung aus. dung“, schwant dem Sozialdemokraten da ein anderer Teil seiner Verantwortung zu Der Große Lauschangriff verletze in Teilen Dieter Wiefelspütz, „mit größter Bedeu- kurz kommt: Als Verfassungsminister hat die Menschenwürde, befanden die Richter tung nicht nur für die Frage, wie wir mit er die Grundrechte zu verteidigen. Aber im März 2004 und definierten einen „ab- der Online-Durchsuchung umgehen, son- dieser Auftrag rückt in den Hintergrund in solut geschützten Kernbereich privater Le- dern mit dem Phänomen Terrorismus aufgeheizten Zeiten, in denen im Lagezenbensgestaltung“, der frei von staatlichen überhaupt.“ Und auch der FDP-Innen- trum des Innenministeriums in den allmorEingriffen zu sein habe. Seitdem ist der experte Max Stadler erwartet „eine klare gendlichen Sitzungen immer neue SchreLauschangriff aus Sicht der Sicherheits- Entscheidung auf der Linie der bisherigen ckensszenarien aus aller Welt einlaufen. Die behörden ein stumpfes Schwert geworden. Rechtsprechung zu Sicherheitsfragen“, wo- Antwort der Politik ist ein Wettlauf um imAndere Vorhaben wie die noch unter bei das Gericht womöglich „seine strikte mer mehr und immer härtere Gesetze. Von der rot-grünen Bundesregierung zustande Lesart der Grundrechtsbindung sogar noch einer „Spirale des Absurden“ spricht Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD). gekommene Abschuss-Ermächtigung im verstärken“ werde. Die SPD ist nicht für die Online-DurchSchäuble ist ruhiger, er formuliert filiLuftsicherheitsgesetz kippte Karlsruhe gleich komplett. Denn den Abschuss eines suchung, aber auch nicht dagegen. Sie ver- graner als sein Vorgänger Otto Schily Passagierflugzeugs gesetzlich zuzulassen, schanzt sich hinter den Richtern, sie hat (SPD), aber er funktioniert, was die Sid e r

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JÖRG KOCH / DDP

Alarmrotte der Bundeswehr: Ein Passagierflugzeug abschießen – unvorstellbar!

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cherheit betrifft, nach einer ähnlichen Lo- die Idee eines Feindrechts stehe, das sich gik wie Schily. Diese Logik hat wenig mit „wie hinter Burgzinnen verschanzt“. Das dem Parteibuch und viel mit dem Amt an war eine deutliche Anspielung auf die gläsich zu tun. Schäuble hat in den vergange- sernen Bürotürme des Berliner Innenminen Monaten Fragen in den Raum gestellt, nisteriums am Moabiter Werder. Die Sprache der Sicherheitsapologeten die eigentlich keine Beantwortung brauchen, weil schon die Frage ein politisches in Berlin, fügte Di Fabio an, bestehe aus eiStatement ist. Er hat etwa gefragt, wie man ner „nicht zufällig an den scharfsinnigen mit Personen umgehen soll, die die Si- Geistesverwirrer Carl Schmitt erinnernde cherheitsbehörden für gefährlich halten: Terminologie“. Das war ein harter Schlag. „Kann man solche Gefährder behandeln Denn dieser Schmitt ist jener umstrittene Staatsrechtler, der als „Kronjurist des Dritwie Kombattanten und internieren?“ Der Minister hat darüber räsoniert, wie ten Reiches“ gilt. Mehr „Sittlichkeit“, so Di es rechtlich bestellt wäre, wenn deutsche Fabio weiter, und die Begrenzung bei der Beamte die Gelegenheit hätten, Osama Bin Wahl der Mittel seien dagegen das Gebot, Laden zu töten, und öffentlich angeregt, denn wer weiter so ungezügelt rede, „setzt „man könnte beispielsweise einen Straftat- das zivilisatorische Niveau des Westens bestand der Verschwörung einführen, so aufs Spiel“. Der Innenminister, ein Nawie in Amerika“. Nicht ohne tionalkonservativer in der Trahinzuzufügen, er sei „ein dition Carl Schmitts, der an glühender Anhänger der freiden Grundfesten der Verfasheitlichen, rechtsstaatlichen sung sägt? So tief war die VerVerfassung. Aber wenn wir sie stimmung zwischen Richtern uns von Terroristen nicht nehund Politikern noch nie. „Die men lassen wollen, müssen wir Welt sieht aus Karlsruher Sicht handeln“. ziemlich anders aus als aus Die Antwort aus Karlsruhe Berliner“, sagt Justizministerin kam an einem Dienstagabend Zypries. „Die Richter sitzen im November, seither hat der weit entfernt in Karlsruhe und Konflikt zwischen Karlsruhe haben auch dadurch eine hinund Berlin eine neue Qualität. reichende Distanz zum aufgeDer Bundesverfassungsrichter regten Berliner Politikbetrieb.“ Udo Di Fabio trug sie vor, als Richter Di Fabio Am Tag nach der BrandFestrede bei einem Abend- Überraschende Worte rede trafen Di Fabio und empfang der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Di Fabio ist Schäuble zufällig aufeinander, bei einem ein Wertkonservativer. Umso überraschen- Abendessen des Bundeskabinetts mit den der war die Wucht, die seinen Worten in- Richtern in Karlsruhe. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich auszusprechen. newohnte. Aber Finanzminister Peer Steinbrück „Die intellektuelle Lust am antizipierten Ausnahmezustand ist kein guter Ratgeber“, hielt ein Impulsreferat über die Föderalishielt Di Fabio Schäuble entgegen, sie ver- musreform. Di Fabio saß Schäuble schräg fehle zudem „ihr erklärtes Ziel, durch har- gegenüber. Beide plauderten über dies te Maßnahmen mehr Sicherheit für die und jenes und genossen Lachshäppchen Freiheit zu schaffen“. Für den Verfas- und Filet an Kartoffeln. Als Schäuble am Morgen danach die safsungsrichter sind solche Gedankenspiele „betörende Sirenengesänge“, hinter denen tigsten Auszüge aus Di Fabios Vortrag in 60

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der Zeitung nachlas, ärgerte er sich maßlos über den mangelnden Mut des Richters, ihm seine Meinung ins Gesicht zu sagen. Seitdem darf das Verhältnis als zerrüttet gelten, seitdem gibt es eine ganze Kaskade von Äußerung und Gegenäußerung, wie sie in der Geschichte des Berlin/Karlsruher Verhältnisses wohl einmalig ist. „Die ganze Diskussion über einen rechtsfreien Status und eine Feindstellung von Personen“ sei „völlig unangebracht“, rügte Hans-Jürgen Papier, der Präsident des Gerichtes, Mitte Januar im SPIEGEL (3/2008). Gefahren dürften „nur mit den Mitteln des Rechtsstaates“ bekämpft werden. „Den Respekt hat sich das Verfassungsgericht auch erarbeitet, weil sich die Richter aus der Tagespolitik herausgehalten haben“, keilte der CDU-Fraktionschef Volker Kauder zurück. Und Schäuble? Der Minister sitzt in einer „Challenger“ der Bundeswehr, er ist auf dem Rückflug aus der Türkei. Schäuble hat die Krawatte gelockert und einen Pullover übergezogen, er ist müde, aber er lächelt, wenn er an seine Reaktion denkt. Er fühlt sich auch persönlich herausgefordert, schließlich ist er selbst Jurist. Er hat gegen Karlsruhe noch einmal heftig nachgelegt. In Amerika „und anderen reifen Demokratien“ gebe es den Spruch: „Richter sprechen durch ihre Urteile.“ Er glaubt, dass die Botschaft angekommen ist. Karlsruhe mache nicht die Gesetze, sondern überprüfe sie nur. „Es gibt kein Monopol auf die Verfassung“, sagt er. „Ich bin als Innenminister genauso für die Verfassung zuständig wie das Verfassungsgericht.“ Er hat in der Auseinandersetzung mit Karlsruhe aufgerüstet, er umgibt sich mit Verfassungsrechtlern, die bereit sind, Tabus zu brechen. Wenn ihm die Verfassungsrichter nicht folgen, das ist die Botschaft, tun es eben andere Juristen, Männer wie Otto Depenheuer. Der Kölner Professor


hat unlängst ein Buch vorgelegt, in dem er Guantanamo als „verfassungstheoretisch mögliche Antwort im Kampf der rechtsstaatlichen Zivilisation gegen die Barbarei des Terrorismus“ rechtfertigt – es liest sich wie eine Abrechnung mit Karlsruhe. Der Minister diskutiert Thesen wie die von Depenheuer ganz offensiv, erst unlängst am brandenburgischen Schwielowsee, an den der Innenminister Experten geladen hatte, zusammen mit seinem amerikanischen Kollegen Michael Chertoff. Es ging mal wieder um „neue Bedrohungen“ und die „Verwischung der Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit“. Im Krieg ist fast alles erlaubt, nichts schränkt den Rechtsstaat stärker ein als der Kriegszustand, niemals sonst hat die Exekutive mehr Macht in Händen. Im Verteidigungsfall, sagt der Minister, „gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit“, die Menschenwürde stehe mithin nicht mehr über allem. Schäuble hat diesen Satz erst Ende Januar gesagt, in einem Interview, es ist ein Satz, der seine Grundposition zusammenfasst, und es ist ein Satz mit Sprengkraft. Denn er stellt letztlich die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Frage – und damit den Kernbestand des Grundgesetzes. Und er verunsichert, obwohl Schäuble doch für Sicherheit sorgen will. Der Minister will, dass im Kampf gegen mutmaßliche islamistische Attentäter ein bisschen dieser außergewöhnlichen Machtfülle des Kriegsrechts auf die Sicherheitsbehörden übergeht, auch ohne Krieg. Am Ende könnte der Westen bei einer dritten Kategorie jenseits von Straf- und Kriegsrecht landen. Runden wie die am Schwielowsee sind auch der Versuch, ein Gegengewicht aufzubauen und die Festung Karlsruhe zu schleifen. Intern haben Schäubles Ministeriale gedroht, die Karlsruher Richter mit ihren Gesetzen so lange herauszufordern, „bis die sich ändern“. Die nächsten Streitfälle sind schon terminiert. Es liegen Verfassungsbeschwerden gegen die automatische Massenüberwachung von Autokennzeichen zu Fahndungszwecken vor, über die das Verfassungsgericht am 11. März entscheidet. Zudem stehen Klagen über die Vorratsdatenspeicherung von Internet- und Telefonverbindungen an, die bei Verfassungsrechtlern als fragwürdig gilt. Die Richterin Christine HohmannDennhardt hat bereits davor gewarnt, durch übertriebene Vorbeugung den Datenschutz auszuhöhlen: Es gebe „Sicherheit durch den Staat“, aber auch „Sicherheit vor dem Staat“. Und Gerichtsvizepräsident Winfried Hassemer konstatierte Ende vergangenen Jahres besorgt den Niedergang der „Kultur der Privatheit“. Es scheint so, als lasse sich Karlsruhe nicht einschüchtern. Dietmar Hipp, Marcel Rosenbach, Holger Stark

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Abschied von Vorurteilen Die Erweiterung der EU und der Wegfall der Grenzkontrollen zeigen Wirkung: Dem armen Vorpommern bringen polnische Pendler aus dem boomenden Stettin den Aufschwung.

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n seinem legeren Leinenjackett und dem schwarzen Hemd erinnert Lothar Meistring ein wenig an den Schauspieler Jack Nicholson. Seinem Büro im Bürgerhaus von Löcknitz fehlt allerdings jede Spur von Glamour. Über dem Schreibtisch hängt eine große Deutschlandkarte. Vorpommern, an dessen östlichem Rand Löcknitz liegt, ist gerade noch drauf, ganz oben rechts. Meistring, 59, ist gelernter Matrose, studierter Gesellschaftswissenschaftler und ehrenamtlicher Bürgermeister des 3000Seelen-Städtchens. Ob Löcknitz nur eine Randerscheinung sei, das komme eben auf die Perspektive an. „Entweder wir sehen uns als das Ende Deutschlands“, sagt er, „oder als den Anfang einer Großstadt.“ Der Mann spricht von Stettin, das 19 Kilometer östlich von Löcknitz beginnt. Zu der polnischen Stadt mit ihren mehr als 400 000 Einwohnern gehört der zweitgrößte Seehafen des Nachbarlandes, von hier aus starten Direktflüge nach London und Dublin. „Ohne Stettin“, sagt der Bürgermeister, „säßen wir hier doch am Arsch der Welt – wenn ich das mal so drastisch sagen darf.“ Das darf er, denn die Lage im Landkreis Uecker-Randow ist nur mit drastischen Worten zu beschreiben. Er gehört zu den ärmsten Landkreisen ganz Deutschlands. In d e r

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den letzten Jahren machte die vergessene Gegend vorwiegend mit Spitzenwerten in puncto Arbeitslosigkeit, Abwanderung und NPD-Wahlerfolgen auf sich aufmerksam. Die Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent. Und doch ist in Löcknitz ein kleines Wunder geschehen. „Der scheinbar unaufhaltsame Abstieg ist gestoppt“, freut sich der Bürgermeister. Die Wende brachte der Beitritt Polens zur EU. Seit dem Wegfall der Grenzkontrollen Ende vergangenen Jahres geht es in Löcknitz und den benachbarten Gemeinden deutlich aufwärts. Lothar Meistring kann auf für Vorpommern untypische Erfolgszahlen verweisen: Vor zwei Jahren wohnten noch weniger als 3000 Menschen in Löcknitz, jetzt 3226. Meistring lebte schon vor der Wende hier, als 40 000 Soldaten in der Region stationiert waren. Er erlebte den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch, sah die Jungen abwandern, besonders die Frauen und die Gebildeten. Lange schien es, als würde irgendwann der Letzte in Löcknitz das Licht ausmachen – bis die Osterweiterung der EU im Mai 2004 den Polen die Möglichkeit eröffnete, problemlos nach Deutschland zu ziehen. Wenn Meistring aus dem Fenster seines Dienstzimmers im Bürgerhaus sieht, fällt sein Blick auf eine fünfgeschossige Plat-


Deutschland Für die Deutschen entlang der Grenze bringt diese neue Art der Nachbarschaft den Abschied von lange gepflegten Urteitriebe, schicken ihre Kinder auf die Schu- len und Vorurteilen. Die Polen, das waren len. Das wichtigste Motiv für den Umzug für sie die armen Schlucker, die ungeliebnach Deutschland ist der noch getrennte ten Konkurrenten, die für jeden Lohn in Immobilienmarkt. „Bei uns“, berichtet Deutschland arbeiteten. Nun verkehren eine Stettiner Krankenschwester, die west- sich die Verhältnisse. Ein Schweißer kann wärts ziehen will, „sind die Mieten nicht auf einer Werft in Stettin 1200 Euro im Moviel höher, aber man muss jahrelang war- nat verdienen. Da auf deutscher Seite in ten.“ Zudem seien die deutschen Woh- vergleichbaren Jobs oft schlechter bezahlt nungen „in besserem Zustand“, sagt sie. wird, ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann Deutsche in Stettin anheuern. „Es sieht alles ordentlicher aus hier.“ Jan Rybski, 52, ist so ein Pole, der nicht Die meisten umzugswilligen Polen schätzen traditionelle deutsche Tugenden. ins Klischee passt. Er hat sich in Löcknitz Bei den Behörden, betont die Kranken- als Wirtschaftsberater und Immobilienschwester, wisse man, woran man sei. Es entwickler niedergelassen. Der Mann im gebe weniger Kriminalität und Korruption blauen Blazer hatte zuvor mehr als zehn als zu Hause. Sie und andere Einwanderer Jahre in Hamburg gelebt. Rybski hat ein Projekt mit Einfamilien- und Doppelhäusern aufgelegt. Auf 50 km der polnischen Seite kostet Rügen OSTSEE Bauland mindestens 50 Euro pro Quadratmeter und ist nicht Rostock ordentlich erschlossen, auf der deutschen Seite ist es schon Löcknitz Szczecin ab 25 Euro zu haben. MECKLENBURG(Stettin) Rybski, dessen Sohn auf das VORPOMMERN Deutsch-Polnische Gymnasium DEUTSCH- Prenzlau POLEN geht, ist nur einer von insgesamt 80 Polen, die in Löcknitz LAND Templin ein Gewerbe angemeldet haBRANDENBURG ben. Nächsten Monat nimmt eine Firma, die GewürzmiBERLIN schungen herstellt und vier Jobs schafft, die Produktion Förderunterricht für polnische Kinder in Löcknitzer Grundschule: „Unsere Zukunft heißt Stettin“ auf. Und ein vermögender Pole tenbauzeile. Anderen ostdeutschen Bür- aus Stettin stammen zumeist aus dem Mit- will nicht nur am idyllischen See einen germeistern sind diese DDR-Relikte ein telstand, aber es sind auch Besserverdiener Vergnügungspark mit an die 20 ArbeitsKlotz am Bein, in Pasewalk mussten ganze dabei, etwa der Leiter der McDonald’s- plätzen aufmachen, sondern auch ein Autohaus für englische Luxuskarossen. Blocks abgerissen werden, weil sie unver- Filiale in der Nachbarstadt. Die Pläne dafür hat ImmobilienmanaIn der Löcknitzer Grundschule wurden mietbar waren – nicht so in Löcknitz. Die Geschäfte der Wohnungsverwal- im Herbst 13 polnische Kinder eingeschult. gerin Odendall schon auf dem Tisch lietungsgesellschaft laufen so gut wie noch Nach langen Bemühungen ist es Bürger- gen. Die fröhliche Migrantin aus dem nie. „Kein Leerstand“, freut sich die Ge- meister Meistring gelungen, eine zusätz- Rheinland kann allerdings auch von der schäftsführerin Maria-Theresia Odendall. liche Lehrerstelle zu organisieren, damit Kehrseite der deutsch-polnischen Erfolgs„Unsere 1300 Wohnungen sind alle ver- die polnischen Schüler Förderunterricht in geschichte berichten. Im vergangenen Deutsch bekommen. Jetzt versucht er, rund Sommer fand sie eines Morgens am Sitz ihmietet.“ Es sind Polen aus dem boomenden Stet- zwei Millionen Euro für den Bau einer res Büros ein großes Graffito: „Polenhure, gib Acht! SS“. Mehrmals verteilten NPDtin, die in der ärmsten Region Deutsch- neuen Kita aufzutreiben. Deutschkenntnisse sind für viele Polen Männer Flugblätter mit der Parole „Grenlands für neues Leben sorgen. Zu Beginn des Jahres 2005 hatten 35 Polen ihren ers- der Schlüssel zur Welt. Besonders attraktiv zen dicht, Löcknitz den Deutschen!“ Bei ten Wohnsitz in Löcknitz, ein Jahr später ist für sie in Löcknitz deshalb das Liceum den letzten Landtagswahlen kam die NPD 97 und zu Beginn dieses Jahres schon 210. Polsko-Niemickie, das Deutsch-Polnische im Ort auf 21 Prozent. Und erst neulich schlugen RechtsextreIn den 13 Gemeinden des Amtsbereichs Gymnasium. „Unsere Zukunft heißt StetLöcknitz-Penkun haben sich über 600 Po- tin“, glaubt Schulleiter Gerhard Scherer. misten bei sechs Autos mit polnischen len angesiedelt. Sogar beim VfB Pommern Derzeit besuchen 280 deutsche und 150 Kennzeichen die Scheiben ein. Noch vor Löcknitz, der in der Bezirksliga spielt, polnische Schüler die Europaschule, an der Polizei traf ein polnisches TV-Team der sowohl das deutsche Abitur als auch aus Stettin ein. Der Tenor der Berichte kicken vier polnische Fußballer. Bis zu zehn wohnungsuchende Polen die polnische Matura abgelegt werden in den Hauptnachrichtensendungen: Hier sprechen pro Tag bei der Wohnungsgesell- kann. Die Hälfte der deutschen Schüler sind Polen unerwünscht. Odendall riet daraufhin einem Arzt, der schaft vor. Für die Betreuung der neuen lernt Polnisch. „Es gibt schon ein paar deutsch-polni- Mieter bei ihr ist, er brauche sein Auto Kundschaft hat Geschäftsführerin Odendall einen Polen eingestellt; die Website sche Paare“, berichtet die Polin Ania Wlo- doch nur in Deutschland anzumelden, um ist auch auf Polnisch verfügbar. „Hier darczyk, 18, aus der 13. Klasse. Allerdings vor solchen Anschlägen sicher zu sein. Das hielt der Mediziner für einen unherrscht eine Aufbruchstimmung wie nach ist die neue Zeit nicht frei von Anfeindungen. Im Bus sei sie unlängst von einem tauglichen Vorschlag: „Mit deutschen Kennder Wende“, verkündet die Managerin. Zumal Polen nicht nur als Mieter kom- deutschen Jungen mit „Scheiß-Polin, steig zeichen wird es mir in Polen geklaut.“ men. Sie kaufen Häuser und gründen Be- aus“ angepöbelt worden. Michael Sontheimer Windjammer-Treffen in Stettin

CARSTEN KOALL

RIGAMONTI / EASTWAY

Reger Grenzverkehr

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Gesellschaft

Szene INTERNET

Schöne Leich’

Figueroa

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PSAILA / DOUBLEVUE.FR

eiße Rosen am Sarg, die Frauen treten an mit schwarzem Schleier, es dürfen keine Tränen fließen, dafür spielt die Band „The Show Must Go On“ von Queen: Auf der Website yourdeathwish.com kann man sein eigenes Begräbnis bis ins letzte Detail planen. Die gleichnamige Firma, mit Sitz in Großbritannien, bietet eine Art Gebrauchsanleitung für eine schöne Leich’ – was man auf den Grabstein schreibt, welche gemeinnützige Einrichtung wie viel Geld bekommt, welches Trauerlied am Grab gespielt werden soll. Außerdem können sich Interessierte die Profile anderer Nutzer anschauen und sich im Forum austauschen. „Vor allem“, sagt Victoria Vanstone, Erfinderin und Chefin des Netzwerks, „wollen wir einen normaleren, unbefangeneren Umgang mit dem Tod ermöglichen – allein schon dadurch, dass man weiß, dass der Verstorbene sich alles genau so vorgestellt hat.“ Die beliebtesten Beerdigungssongs im Moment: Robbie Williams’ „Angels“ vor Frank Sinatras „My Way“ und Monty Pythons „Always Look on the Bright Side of Life“.

Was war da los, Herr Figueroa?

NORBERT MILLAUER / DDP

Der argentinische Biotechniker Gabriel Figueroa, 39, über eine echte Cashcow

Urnen

„Die Kuh hinter mir heißt Patagonia, sie ist eine Klonkuh. Als Embryo schwamm sie in einer solchen Flasche in Kochsalzlösung. Wir haben sie mit derselben Methode hergestellt wie seinerzeit Dolly, das Klonschaf. Aber während Dolly eigentlich zu nichts nütze war, wird Patagonia hoffentlich Tausenden Zuckerkranken helfen können. Wir haben nämlich menschliche

SACH BÜCH ER

Törichte Toleranz

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WOLFGANG BORRS

ie verlor ihren Glauben, als sie 16 war: den Glauben an Allah, an das Paradies – und an die Minderwertigkeit der Frau. Das war in Iran, vor über 30 Jahren, damals regierte dort noch der Schah. Heute ist Mina Ahadi 51 Jahre alt, lebt in Köln und zählt spätestens seit einem Jahr zu den schärfsten Islamkritikern Deutschlands. Anfang 2007 nämlich gründete sie den „Zentralrat der Ex-Muslime“ und startete eine Kampagne, in der sie sich gemeinsam mit rund 40 ehemaligen Muslimen öffentlich zu ihrem Unglauben beMusliminnen (in Berlin) d e r

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DNA in ihr Erbgut eingeschleust. Noch ist Patagonia zu jung, aber wenn sie anfängt, Milch zu geben, können wir Insulin daraus gewinnen. Wir denken, dass dieses Insulin mindestens 30 Prozent billiger sein wird als das bakteriell erzeugte, das derzeit hauptsächlich verwendet wird. Patagonia und ihre Schwestern, die auch alle Patagonia heißen, sind sehr ergiebig. Wir hoffen, dass in Zukunft 25 Kühe den Insulinbedarf der 1,5 Millionen argentinischen Diabetiker decken können.“

kannte. „Wir haben abgeschworen“ hieß die Aktion, woraus sie den Titel ihres ersten Buches ableitete. Darin erzählt sie von ihrer Jugend, wie sie Sartre las und ihre Zweifel an Allah wuchsen, wie später ihr Mann von Schergen der Mullahs hingerichtet wurde und sie schließlich nach Europa floh. Ausdrücklich kritisiert sie ihre neue Heimat: Die Deutschen seien viel zu tolerant gegenüber einer Religion, die Frauen unterdrücke und Homosexuelle diskriminiere. Die Hoffnung vieler deutscher Meinungsmacher nach einer europäischen, aufgeklärten Version des Islam hält Mina Ahadi schlicht für töricht. Mina Ahadi, Sina Vogt: „Ich habe abgeschworen. Warum ich für die Freiheit und gegen den Islam kämpfe“. Heyne Verlag, München; 272 Seiten; 19,95 Euro.

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Gesellschaft

Szene

Rubbel dich frei Wie der dümmste Bankräuber der Welt Millionär wurde

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ls Timothy Elliott an diesem kalbisschen Behindertenstütze, die ihm ten Wintertag loszieht, um das bleibt, legt er ihr zehn Dollar auf den Glück zu suchen, stehen seine Tresen, so viel kostet ein Spiel. Ein Los hat zehn Felder, Gewinnchance eins zu Chancen denkbar schlecht. Er geht in 1,2 Millionen. Manchmal reicht das eine Bankfiliale in Hyannis, MassachuGeld für mehrere, meistens nur für eine setts, und fingert einen Zettel aus seiner Chance. Hosentasche. „Geben Sie mir das So auch an dem Tag im November Geld!“, hat er darauf gekritzelt, eine 2007. Timothy Elliott steht am LotteWaffe hat er nicht. Elliott schiebt den Zettel über den Schalter, die Bankangestellte liest ihn und ruft die Polizei. Fünf Minuten dauert es, dann ist Elliott festgenommen. Er habe niemandem weh tun wollen, wird er später sagen. Er brauchte lediglich ein paar Dollar für seinen Traum: Einmal im Leben wollte er gewinnen. Elliott, der Bankräuber mit dem handgeschriebenen Zettel, ist ein Abhängiger. Er ist süchtig nach Losen – Rubbellosen. Timothy Elliott, 55, sieht nicht aus wie ein gefährlicher Bankräuber. Er ist ein dicker Mann, seine Brillengläser vergrößern die Augen, als lägen sie unter einer Lupe. Er sei sehr schüchtern, meinen die Leute, die ihn kennen; schüchtern, aber liebenswert. Vielleicht, so sagt man sich im Ort, vielleicht ist er als Kind mal auf den Kopf gefallen. Ein paar Monate nach dem Elliott, Lotteriechef Überfall wird Elliott verurteilt: fünf Jahre auf Bewährung. Er zieht in eine Therapie-Einrichtung in Bourne, einem kleinen Ort in Massachusetts, 20 000 Einwohner. Viel los ist hier nicht, es gibt eine Schule, einen Supermarkt, im Sommer kommen Touristen. Elliotts Zimmer ist einfach möbliert: Einzelbett, Nasszelle, hell und steril. Er fühlt sich wohl hier, die Türen stehen offen. Nur Aus der „FAZ“ zu den Therapiezeiten muss Elliott da sein. In der Zwischenzeit, so denkt er, rieschalter und kratzt mit einem Centkann er machen, was er will. stück die silbrige Beschichtung von den Und Elliott weiß genau, was er will: Feldern. Ein Richtiger. Zwei. Drei. Das Er will spielen, endlich gewinnen. Unglaubliche geschieht: Elliott gewinnt. Der Supermarkt, in dem er sein Eine Million Dollar. Er ist reich. Glück zu finden glaubt, liegt in HyanWie benommen stolpert Elliott noch nis, an der Independence Road. Er am selben Tag in das Hauptgebäude der kauft hier nie viel ein, er hat ja kein Massachusetts State Lottery. Mit seinem Geld, er kann nicht einmal die 65 weißen Rauschebart habe er ausgeseDollar für seinen Bewährungshelfer hen wie der Gitarrist von ZZ Top, sagt zahlen. Deshalb geht Elliott direkt zur der Lotteriechef später, nur älter und Dame am Lotterieschalter. Von dem ein bisschen verwirrt sei er gewesen. 66

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Die Lotterieangestellten vom Empfang lotsen Elliott mit seinem Rubbellos in einen Raum, den „Winner’s Circle“. Der Lotteriechef kommt mit schnellen Schritten in den Raum, greift nach Elliotts Hand und schüttelt sie. Dann macht er ein paar Scherze über das Glück und reicht dem Gewinner einen Scheck: die erste 50000-Dollar-Rate von seiner Million. Es gibt keinen Grund für die Lottogesellschaft, Elliott den Gewinn zu verweigern. Der Mann hat eine Sozialversicherungsnummer, keine Schulden, amerikanischer Staatsbürger ist er auch. Nur dass er ein verurteilter Bankräuber ist, weiß der Lotteriechef nicht. Da steht Elliott also und hält den Scheck in beiden Händen. Ein bisschen sieht er dabei aus wie ein Sträfling, der mit einer Nummer vor der Brust vor dem Gefängnisfotografen steht. Fast scheint es, als ahnte er, dass Glück flüchtig ist, dass es ihn so plötzlich, wie es kam, auch wieder verlassen kann. Wenige Wochen später schneidet Elliott seinen Bart ab und nimmt sich einen Anwalt. Er braucht jetzt Hilfe, man hat ihn vorgeladen: Mit dem Loserubbeln hat er gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen. Glücksspiel ist in Amerika verboten, wenn man eine Bank überfallen hat, um Rubbellose zu kaufen. Die Lottogesellschaft nimmt sein Foto von ihrer Web-Seite. Gewinnen, das hatte Elliott sich ganz anders vorgestellt. Am 18. Januar sitzt Timothy Elliott wieder einmal vor dem Richter. Den Scheck hat er inzwischen zurückgegeben, die Hoffnung auf die Million aufgegeben. Er sagt nicht viel während der Verhandlung, meist redet sein Anwalt. Der Richter schaut über seine Brille hinweg und sieht einen Mann ohne Hoffnung. Einen armen Tropf. Er macht dem Theater ein Ende: Timothy Elliott, erfolgloser Bankräuber, darf sein Geld behalten. Eine Million Dollar, in 50 000-Dollar-Raten pro Jahr, wie versprochen. Pläne macht Timothy Elliott vorerst lieber nicht. Er verspricht, von seinem Gewinn die 65 Dollar für seinen Bewährungshelfer von nun an selbst zu übernehmen. Er wird seinem Anwalt Geld geben, die Behandlungen und das Zimmer in seiner Anstalt bezahlen. Und sich, wenn es erlaubt ist, noch ein paar Lose im Supermarkt kaufen. MASS STATE LOTTERY

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE

Dialika Krahe


Gesellschaft

Therapeut Gruber, Sexualtätergruppe in Viersen: „Wenn Babys so niedlich sind, so süß, das macht mich wütend“

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Die allerletzte Station Vierzehnjährige, die ihre Schwester vergewaltigen, Fünfzehnjährige, die sich an Babys vergehen, Sechzehnjährige, die das Nachbarskind missbrauchen: Die Zahl junger Sexualtäter steigt. Eine Klinik in Viersen versucht, solche Straffälligen zu heilen. Wenn möglich, für immer. Von Barbara Supp

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ie lehnt an der Hauswand und zieht Luft in die Lungen, schweigsam, wahrscheinlich sortiert sie die Bilder im Kopf, die Menschen, die Geschichte, das, was man ihr eben erzählt hat. Sie hat zugehört und nachgefragt, das ist ihr Job hier in der Psychiatrie. „Da wird mir kalt, wenn ich das höre“, sagt Karin Arneaud. Es war ein Vorstellungsgespräch. Ein Junge, 16 Jahre alt, rund 150-mal hat er seine Schwester missbraucht. Mit elf fing er damit an, sein Bruder tat dasselbe, hat aber vor einem Jahr etwa damit aufgehört, deshalb soll er anders behandelt werden, ambulant, deshalb ist der Bruder nicht hier. Keine Unterschicht, sondern gute Wohnung, eigene Zimmer, Sportunterricht, Mu68

sik. Und ein Stiefvater, der sich wie seine Stiefsöhne dieses Mädchen vornahm, jahrelang. Die Mutter sollte nichts wissen. Man müsse sie schützen, fand das Mädchen. Die Scheidung damals war so schwer für sie. Dann kam eine Cousine zu Besuch, und der Stiefvater wollte die Cousine, doch die Tochter ging dazwischen, „nimm lieber mich“. Die Cousine schlief im Bett der Tochter, nachts kam wie üblich der Bruder, und die Cousine, unter Schock, hat alles erzählt. Dies ist der richtige Ort für solche hässlichen Geschichten, von Halbwüchsigen, die ihre Schwester vergewaltigen, Nachbarskinder missbrauchen, in der Gruppe über ein Mädchen der Clique herfallen. Dies ist das Gerhard Bosch Haus, die Station für junge Sexualstraftäter in Viersen, d e r

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und Karin Arneaud ist Stationsleiterin hier und kennt viele solcher Geschichten, aber diese – sie atmet durch. Wie die Mutter dasaß und nach der Hand des Sohns griff. Man stumpft nicht ab, sagt sie. Nein, man stumpft nicht ab. Man nimmt die Schlagzeilen, die Debatten draußen zur Kenntnis und macht weiter. Die Schlagzeilen: immer jünger die Täter, immer brutaler, eine Generation Hardcore, verseucht durch Pornografie. Die Debatten: wegsperren? Oder doch nicht? Diese Jungen zwischen 14 und 18, die sich an Jüngeren und Wehrloseren vergangen haben; die sind es, die man ins Bosch-Haus aufnimmt, mit der Hoffnung, dass sie zurückzuholen sind. Euer Delikt lässt uns nicht kalt.


FRANK LOTHAR LANGE / ROBA PRESS

OLIVER TJADEN / LAIF

Jugendidol Sido: Hässliches Bild von Liebe und Sex, von Männern und Frauen

Zu lesen ist das als einer von zehn Merksätzen, aufgehängt unter Glas auf einer Tafel im Flur. Den Jungen zur Kenntnis und den Betreuern zum Selbstschutz. Aufgeschrieben, damit klar ist, dass es nicht gut sein kann, wenn man als Betreuer die Wut, den Ekel, die Fassungslosigkeit über solche Taten schluckt und an zu viel Verständnis erstickt. Wie können Sie da arbeiten, wird Karin Arneaud häufig gefragt, neulich erst wieder beim Friseur. Weil es sich lohnt, denkt sie, aber sie denkt auch, dass das Außenstehenden schwer begreiflich zu machen sei. Mit ihrem Kaffeebecher findet man sie im Betreuerzimmer, unbeirrbar besonnen nach 16 Jahren Erfahrung mit solchen Taten, sie könnte Stationsschwester in einer normalen Kinderklinik sein, nur dass sie oder ihre Kollegin immer den Blick auf die offene Türe halten. Weil immer kontrolliert werden muss, was auf dem Flur geschieht. Sie schaut in ihren Kaffee und will keine schnellen Antworten geben. Stimmt das? Sind die Täter brutaler als früher? Mitleidloser? „Ich glaube schon“, sagt die Kollegin, „da ist mehr Drohen, Würgen, Schlagen.“ „Ich weiß nicht“, sagt Frau Arneaud, „erinnerst du dich, dieser Riese damals? Der 150-Kilo-Typ? Der sich den Vierjährigen vom Spielplatz geholt und vergewaltigt

hat? Der mit diesem Glanz in den Augen, mit den Gewaltphantasien …“ Sie schluckt es weg, professionell. Sie lacht, als sie nach einem Aktenordner gefragt wird, auf dem eine Art Kondom zu sehen ist und die Beschriftung „Billy Boy“. „Das ist für die Aufklärung. Jeden Samstag ist Kurs.“ Für diese Jungs? Die eher zu viel über Sex wissen als zu wenig? „Ganz viele wissen gar nichts. Die wissen, wie gepoppt wird, sonst nichts. Einer sagte neulich: Meine Mutter hat zwei Gebärmütter. Weil sie zwei Kinder hat.“ Einen hatten sie da, der hatte seine Mutter vergewaltigt. Rheinische Kliniken, Viersen-Süchteln, einmal quer durchs Gelände; ganz am Rand, gleich bei der Drogenstation, da sind sie, in einem Flachbau aus den siebziger Jahren. Im Erdgeschoss die Täter, elf sind es zurzeit, zwei ausländische Namen darunter, die anderen deutsch. Im oberen Stock die sieben von der „Schleusengruppe“, die ihre acht oder zehn Monate Erdgeschoss hinter sich haben und auf dem Rückweg sind in die Normalität. Sein sollen, jedenfalls. „Man sieht es ihnen nicht an“, so die Kollegin. „Nein, natürlich sieht man das nicht.“ Man sieht, kurz vor Mittag, eine Gruppe Jugendlicher, von Schule oder Beschäfd e r

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tigungstherapie kommend, von einer Betreuerin überwacht. Nette Jungs. Sie grüßen freundlich. Ein paar schreiben ihren Namen an eine Tafel im Essraum, David, Sascha, Ahmed, Dominik*, das bedeutet: Ich will einen Einzeltherapietermin. Sie setzen sich zum Essen. Mittagsmahl in der Jugendherberge, so sieht das aus. Und dann steht ein ziemlich großer, ziemlich entschlossener Mann in Jeans und Pullover im Raum und geht die Namen durch, die an der Tafel stehen, jeder muss ein Thema angeben können für sein Gespräch, zu einem sagt er, in hartem Ton: „Warum willst du mit mir sprechen? Sag es. Über deine pädophilen Neigungen willst du sprechen, oder nicht?“ Thomas Gruber, Heimleiter und Cheftherapeut, sitzt nach dem Essen in einer aprikosenfarbenen Wohnlandschaft, im Fernsehzimmer, und gegenüber ein Fünfzehnjähriger mit stumpfen Augen, stockender Sprache, er spricht über Babys, Sascha sagt: „Wenn die so niedlich sind, so süß, das macht mich wütend.“ Was macht dich wütend, Sascha? „Wie die so niedliche Augen haben, wie sie essen ohne Zähne, und alle sagen, die sind süß.“ Was macht dich noch wütend? * Die Namen der Jugendlichen sind geändert.

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Gesellschaft

OLIVER TJADEN / LAIF

„Wenn man mich schlägt.“ Wärst du gern niedlich? Süß? „Nicht süß, nein. Cool. Oder doch, ich weiß nicht, ein Mädchen könnte sagen: Der ist süß.“ Saschas Opfer waren Babys. Er ist seit drei Monaten da, ist am Ende der Probezeit, er muss sich entscheiden, ob er mitmacht oder geht. Sascha stammt aus russlanddeutscher Familie, er ist still, verschlossen, meistens mit seinem Gameboy im Zimmer, den anderen fällt das ungut auf. Er redet nicht. Es ist schwer einzuschätzen, was er denkt. Die Neuen, sagt Gruber, sehen sich als „Besucher“. Sie werden ja wieder gehen. Sie kommen und sagen nicht: Das habe ich getan. Sondern: Das ist passiert. Sie haben, so sagen sie, nichts Schlimmes getan. Und tun es gewiss nicht wieder. Dem Kind habe es nicht geschadet. Das Mädchen habe es so gewollt. Sie kommen ins Bosch-Haus, und aus der Station 22, gleich nebenan, der Drogenentgiftung, schreit es herunter: „Kinderficker!“ Sie kommen, und im Normalfall sind sie nicht freiwillig hier, es ist ihre letzte Alternative zum Knast. Sie wissen, wie man sie im Knast behandeln würde. Niemand ist hier ohne Strafandrohung, jeder Einzelne ist angezeigt oder schon verurteilt wegen Missbrauch, Nötigung, Vergewaltigung. Wer nicht mitmacht, fliegt. Wird rausgeworfen, oder gleich abgeholt von der Polizei. Das macht großen Eindruck auf die, die bleiben. Der Knast gehört dazu. Das ist einer der Leitsätze im Flur. Bei Gruber ist jetzt ein Siebzehnjähriger, den gleichaltrige Mädchen wahrscheinlich als süß bezeichnen würden, aber er mag lieber Kinder. Philipp sagt, dass er zurzeit keine Phantasien in dieser Richtung habe, aber er habe ja zurzeit auch wenig Gelegenheit, Kinder zu sehen. Er sagt, er glaube aber, dass seine Alarmanlage im Kopf funktioniert. Dass sie klingelt, wenn es Gefahr gibt. So dass man weggehen kann. Oder jemand dazuholen. Oder vielleicht versuchen, dazubleiben und nichts Verbotenes zu tun.

Heimleiter Gruber

„Therapie muss weh tun“ 70

Wer hierherkommt, muss sprechen über das, was er getan hat, wovon er phantasiert, was er dabei fühlt. Er wird hartnäckig konfrontiert mit seiner Tat, muss allen Mitbewohnern Auskunft geben, gleich am ersten Tag. Manchmal, sagt Gruber, haben andere geweint, wenn ein Neuer sein Delikt beschrieb. Kann man sie zurückholen? Man kann, sagt Thomas Gruber. „Es sind nur so viele.“ Die Kriminalstatistik zählt 2006 bei Vergewaltigung 768 Tatverdächtige zwischen 14 und 18 Jahren, zehn Jahre davor waren es noch 355. Beim Missbrauch von Kindern hat sich die Zahl in derselben Zeit mehr als verdoppelt, 1996 wurden 887, im Jahr 2006 rund 1600 Tatverdächtige gezählt. Manches ging früher vielleicht noch als Doktorspiel durch, wurde nie erzählt, nie angezeigt; aber dass die Zahlen steigen – zu leugnen ist es nicht. Seit 18 Jahren leitet Gruber die Tätertherapie im Bosch-Haus, rund 200 Jugendliche aus ganz Deutschland hat man ihm bisher geschickt. Und von den zwei Dritteln, die durchhielten, wurden nur fünf Prozent wieder auffällig mit einem Sexualdelikt. Bleibt einer, dann hat er gute Chancen. Aber bei keinem kann man sicher sein, dass er bleibt. Er kommt in kein Gefängnis, er muss lernen, einen Käfig zu respektieren, der aus d e r

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unsichtbaren Gittern besteht. Der Neue darf nicht einmal vom Flur in die Küche, ohne um Erlaubnis zu fragen. Wer mitarbeitet, darf bis auf den Hof. Wer weiter dabeibleibt, aufs Klinikgelände. Dann bis nach Süchteln, in den Ort. Dann am Wochenende nach Hause, wenn es denn ein Zuhause gibt. Dann, irgendwann, nach anderthalb Jahren vielleicht, ist er frei. Dann wird er entweder rückfällig, oder er kann beweisen, dass das Bosch-Haus funktioniert. Einen fürchterlichen Fall gab es, vor gut zehn Jahren, da missbrauchten zwei Ehemalige eine Frau und brachten sie um. Es ist wie überall, wo Schuldigen der Schritt zurück ins Leben der anderen beigebracht werden soll; Angst und Misstrauen draußen sind nachvollziehbar groß. Jeden Ausgang müssen Gruber und seine Leute belegen können. Wenn irgendetwas geschieht im Umfeld von Viersen, irgendetwas, das mit sexuellen Übergriffen zu tun hat, dann kommt als Erstes die Frage ans Bosch-Haus: Wo waren eure, an diesem Tag, zu dieser Zeit? Erst kommt die Kontrolle, dann die Therapie. Gruber sagt: „Wir haben ein hohes Gewaltpotential heute, fast bei allen. Ein Unterschichtsproblem ist das aber nicht.“ Gruber ist ein aus dem Schwäbischen stammender Diplompsychologe, 52-jährig


Jugendzimmer in der Täterstation

„Ein Unterschichtsproblem ist das nicht“

OLIVER TJADEN / LAIF

dern weil der kindliche Körper ihm das Maximum an Befriedigung verspricht. Als sicher gilt, dass solch ein echter Pädophiler nicht geheilt werden kann. Aber Kontrolle lernen, das kann er. Er muss sich dazu bringen, ein Leben lang auf das zu verzichten, was ihn am meisten erregt. Therapie muss weh tun. So steht es an der Wand im Flur. Das tut sie. Man kann das sehen. Man geht spazieren mit der Gruppe und einem Betreuer, der über sie wacht, ein flaches Land, Bauernland, man stampft über schlammige Feldwege, und einer ist dabei, knapp 18, der kennt jeden Grashalm beim Namen, weiß den Unterschied zwischen Raps und Senfsaat, bleibt bei jedem Traktor stehen. Er kam als Kind von zu Hause weg, weil es sein musste, zu einer Pflegefamilie mit Bauernhof. Er sollte den Hof übernehmen, Kühe, Ackerland, das war sein Traum. Dann hat er Pflegegeschwister missbraucht. Nun geht es nicht mehr. Da draußen im Matsch fragt er den Betreuer nach einer Sondererlaubnis, und dann darf er: einmal über den Acker gehen. Einen kostbaren Moment lang allein. Ein kleines Zugeständnis. Ein großer Sieg. Wenn der Neue kommt, lässt er einen Skandal hinter sich, der eine scheinbar intakte Familie zerreißen kann. Manche Eltern wollen nie wieder etwas zu tun haben bisher nicht eindeutig geklärt. Bekannt mit diesem Sohn. Andere leugnen, immerhin sind biografische Risikofak- schließen sich zusammen gegen die Vorwürfe der Umwelt draußen, oft auf Kosten toren. Dieses Ohnmachtsgefühl, das sich in des Kindes, das zum Opfer geworden ist. Machtrausch wandelt, wenn Wehrlose zu Diese Eltern gilt es zu gewinnen, das hilft. Der Junge will sich ja meist nicht ändern. Willen sind, die kleine Schwester, die CouEr kommt auf die Station und hat ein Prosine, das Nachbarskind. Pornos, ja, aber nicht als Ursache, son- blem, aber er leidet nicht. Er soll aber leidern eher als Indiz dafür, dass ein Leben den, soll sich danach sehnen, dass das Leiden ein Ende nimmt. Dann erst, wenn er so aus dem Ruder läuft. etwas wie ein Kunde geworEinsamkeit, die Nähe den ist, der um Hilfe nachsucht und diese Nähe sexuaEin Ohnfragt, hat er selbst genug Inlisiert. teresse daran, dass sein Leben Fehlende Väter. Überformachtsgefühl, eine andere Richtung nimmt. derte Mütter. Chancenlosigdas sich in Schwer zu sagen, in welcher keit. Gewalt. Kaputte FamiPhase David jetzt ist; hat er lien in allen Schichten und Machtrausch begriffen, worum es hier geht? ein Sohn, der sich in sich wandelt. Will er das? selbst verschließt, zu unsiDavid, der vor sechs Mocher, um mit Gleichaltrigen naten kam, schmal, mit Brille umzugehen. Missbrauch, der selbst erlebt worden ist, und einer der lautesten Stimmen der Station, David hat etwas zu sagen an diesem nicht immer, aber oft. Sehr häufig findet sich das alles bei de- Tag, in der Tätergruppe, vor Gruber, einen, die ins Bosch-Haus kommen, aber es nem Arzt aus der Klinik und den anderen ist nicht immer so, Regeln, sagt Thomas zehn. Er habe, sagt David, bisher etwas verschwiegen. Gruber, gibt es nicht. Nämlich alles, was nicht in seiner AnZu klären ist, ob einer tatsächlich pädophil ist, ob seine Gier nach Kindern ein zeige stand. Das mit dem Klo. Und das mit dem Gefestes Muster ist, keine vorübergehende Lust. Ob er Kinder nicht nur deswegen büsch. Und das mit dem Fernglas und noch missbraucht, weil sie verfügbar sind, son- ein paar Sachen, also, er wollte damals un-

und so etwas wie der Erfinder dieser Art von Therapie, inzwischen folgen ein Dutzend Einrichtungen in Deutschland einem ähnlichen Prinzip. Die Öffentlichkeit ist wacher geworden, interessierter an dem, was sie tun. Denn es geht nicht nur darum, Kinder vor Tätern zu schützen, die selbst fast noch Kinder sind. Wer die Kinderschändergeschichten in den Zeitungen liest, der weiß es ja: Jeder zweite Pädophile ist noch jung, wenn er zum ersten Mal auffällig wird. Behandelt man ihn früh, gibt es vielleicht keine Opfer mehr – Opfer, die womöglich später selbst zu Tätern werden. Wegsperren, für immer, das war die Idee des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Aber keine Gesellschaft kann es sich leisten, alle Täter für immer wegzusperren, und es wird ja keiner geheilt, nur weil er im Gefängnis sitzt. Es ist nicht so, dass Heimleiter Grubers Ehemalige alle brave Staatsbürger geworden sind. Aber bei denjenigen, die eine solche Chance nicht bekommen, ist die einschlägige Rückfallquote dreimal so hoch. Fragt man die Neuen: „Wer bist du“, dann kommt häufig die Antwort: „Ich bin der letzte Dreck.“ Es gilt zu begreifen, wer sie sind und wie sie so wurden; die Forschung hat es

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OLIVER TJADEN / LAIF

Jugendlicher beim Ausgang: Es ist gut, wenn sie Alpträume haben, wenn sie weinen und wach liegen in der Nacht

bedingt ein Mädchen, „ich hab alle in der Klasse gefragt. Aber keine wollte. Keine“. Er blickt ratlos drein. „Also, dann hab ich mich in meinem Zimmer auf den Stuhl gestellt und das Mädchen angeguckt, von gegenüber.“ Mit dem Fernglas. Weiter. „Ich stand auf dem Stuhl. Die Hose unten. Hab mit dem Pullover gewunken.“ Warum? „Damit sie mich sieht.“ Die Sache mit dem Klo. „Ich hab Pornos geguckt. Dann bin ich zu einem Mädchen, das ich kannte, und hab dort geklingelt. Hab gesagt, ich muss aufs Klo. Hab gefragt, willst du mein Glied sehen?“ Und? „Die ist schreiend davongerannt. In ihr Zimmer. Hat sich eingeschlossen und kam nicht wieder raus.“ Er guckt frustriert. Er wirkt sehr jung jetzt, ein enttäuschtes Kind, die Sätze passen nicht zu diesem Gesicht. Ein andermal ist er im Gebüsch gehockt, vor dem Fenster eines Mädchens. Um Kontakt aufzunehmen. „Warum hast du sie nicht einfach angesprochen?“ „Ich hatte Angst, dass sie nein sagt. Ich wollte doch nur Geschlechtsverkehr.“ „Was hätte jemand gedacht, der dich dabei sieht?“ „Der hat einen an der Marmel.“ Kurzes Zucken im Mundwinkel. „Diese bekloppten Umwege“, fragt dann Gruber, „warum machst du die“? „Aber ich hab doch die Mädchen gefragt! Es wollte ja keine!“ „Schon mal drüber nachgedacht, dass die sich verarscht fühlen? Durch deine Regelanfrage?“ David schweigt. Wenigstens, sagt er dann, sei das alles nicht gewalttätig gewesen. Und hört von Gruber in plötzlich scharfem Ton: „Das ist später anders geworden, wie du sehr gut weißt.“ Das waren dann die Dinge, die in der Anzeige stehen. Liebe ist etwas Schönes, und Sexualität gehört dazu. Auch einer der Leitsätze an der Wand. 72

Viele haben, wenn sie hierherkommen, hab sie gebeten, dass sie ihre Hose runterein hässliches Bild von Liebe, Sex, von ziehen soll“. Und dann alles andere. „Und Männern und Frauen. Frauen sind Schlam- dann hab ich sie gebeten, dass sie es niepen, und Männer müssen brutal sein, da- mandem sagt.“ mit man ihnen das Mannsein glaubt. So Zu Hause Schweißausbrüche, jedes Mal, lernt man das im Porno oder im Porno- wenn das Telefon ging, und der panische Rap von Sido und Bushido und, in den Blick aufs Display. traurigsten Fällen, in der Familie daheim. Dann war die Tante dran und fragte, ob Es ist ein verzerrtes, aber doch noch er- es stimmt. Die Tante sagte: „Ich zeig dich kennbares Spiegelbild der Gesellschaft nicht an.“ Der Vater sah das anders. draußen, die stetig für Nachschub im „Eine Woche später bin ich zur Polizei.“ Bosch-Haus sorgt, es mangelt ja draußen Drei Stunden saß er in der Zelle, allein, nicht an kaputten Familien und verlore- bis jemand Zeit hatte fürs Verhör. nen Kindern und an Pornografie. Christopher spricht über einen Freund, Dass es andere Männer und Frauen gibt, der es im Bosch-Haus nicht aushielt. Der erfahren manche zum ersten Mal bei Men- sagte, lieber geh ich in den Knast. Dort ist er schen wie Thomas Gruber oder Karin Ar- jetzt. Ob er es schaffen wird? „Dass der seineaud. Es gilt zu lernen, dass Vertrauen ne Aggressionen in den Griff kriegt, da möglich ist. Und ein Ich zu entwickeln, das müsste schon ein Weltwunder geschehen.“ Er spricht über Mädchen, mit Stolz kann Respekt vor sich selbst hat und den Machtrausch nicht braucht. Und es gilt zu begrei- er die Fotos von vielen präsentieren, die fen, was das macht mit einer kleinen Schwes- seine Freundinnen waren, insgesamt zwölf in sieben Jahren. Fast alle waren jung, eher ter, die man 150-mal vergewaltigt hat. Kind als Frau. Das ist ihm Es ist gut, wenn sie dann aufgefallen, kürzlich. Alpträume haben, wenn sie Zwölf Er schweigt kurz. Zupft am weinen und wach liegen in Jackenärmel. „Eigentlich wider Nacht. Es schadet nicht, Freundinnen derlich, wenn man so drüber wenn sie in der Klinik auch hatte er bisher. nachdenkt. Dass man so sein Mädchen kennenlernen, die Beuteschema hat.“ selbst Opfer sind. Mancher Alle jung, eher lernt zum ersten Mal, was Er beobachtet sich, um zu Kind als Frau. ein Übergriff bedeutet, wenn wissen, ob er gefährlich ist. Hat ein Mädchen ihm davon ersich selbst eine Diagnose gezählt. stellt und hofft, dass sie stimmt: Die schwerste Aufgabe: Opferempathie. Er sei auf seine eigene Art „bi“, also er möge Wer es schaffen will, muss sich diesem Lei- Kinder, aber Gleichaltrige auch. Er glaubt, er den stellen. weiß jetzt, was Kontrolle ist. Selbstkontrolle. „Ich habe meine neunjährige Cousine Hofft es. Er ist jetzt 18 und hat einen Beruf missbraucht.“ gefunden, Gebäudereiniger, das will er lerChristopher sagt es leise, aber deutlich, nen, wenn er hier rauskommt, er putzt ja so er verschluckt keine Silbe, kein Wort. gern. Und eine Frau wünscht er sich, unbeChristopher ist 18 und spricht gern, flüs- dingt. Kinder? Nein. Alles auf Anfang, ein sig und viel, vor zehn Monaten kam er her. ganz neues Leben; das geht nicht. Für ihn Jetzt sitzt er oben, im Fernsehraum der nicht, und schon gar nicht für die Cousine. Schleusengruppe, Gel im Haar, BaseballEr macht sich Sorgen um sie. „Sie hat jacke, er ist einer von denen, die dem- viele schlaflose Nächte gehabt, um sich genächst den Weg nach draußen gehen. schrien, viel geweint.“ Soweit er weiß, „Wenn du hier rausfliegst oder abhaust“, kriegt sie keine Therapie, und er versteht sagte sein Vater, „schlepp ich dich eigen- das nicht. händig zur nächsten Polizeistation.“ Es scheint der Cousine jetzt besserzuGut ein Jahr ist es her, da war er bei der gehen, ein bisschen jedenfalls, so hört er. Tante zu Besuch und allein mit der CousiAber nur, wenn man seinen Namen ne, nachts, im Fernsehzimmer, „und ich nicht nennt. ™ d e r

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Gesellschaft

Im Schlupfloch Ortstermin: Ein Besuch bei der politischen Opposition in Vaduz zeigt, wie schwer es im Moment ist, ein Liechtensteiner zu sein.

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Andrea Matt und die Freie Liste könnten für einen anderen Weg kämpfen, weg von Schlupfloch und Steueroase. Die Frage ist, was dann von Liechtenstein noch übrigbliebe. Wozu man es braucht. So als Land. „Jeder hier weiß, was er dem Finanzplatz Liechtenstein verdankt“, sagt Matt. „Jede Veränderung kann dazu führen, dass es uns nicht mehr so gutgeht.“ Andrea Matt ist eine sehr freundliche Frau, sie hat in Deutschland gearbeitet. Sie hat in Deutschland Steuern gezahlt. Das macht die Sache nicht einfacher. „Die Menschen haben nicht das Gefühl, dass sich ihre Arbeit lohnt. Klaus Zumwinkel hatte das vielleicht auch nicht.“ Aber Zumwinkel verdiente Millionen? „Man darf sein Verhalten nicht entschuldigen. Aber man kann es vielleicht erklären“, sagt Matt. Vor dem Bürofenster scheint die Sonne, in der Ferne liegen die Berge, schneebedeckt. Matt spricht vom deutschen Rechtsempfinden, von den liechtensteinischen Anstrengungen der vergangenen Jahre, die Worte OECD, Geldwäschegesetz und Rechtshilfe schweben im Zimmer wie schwerer Staub. Andererseits, sagt Matt, dürfe man Liechtenstein nicht ausschließlich mit Banken und Treuhändern in Verbindung bringen. „Kennen Sie die Hilti?“, fragt Matt. Hilti? „Die Bohrmaschine Hilti ist die Bohrmaschine. Kommt aus Liechtenstein!“ Vor ein paar Jahren gab es in Liechtenstein eine Imagekampagne. Man entwarf dabei die „Marke Liechtenstein“. Es ging um die Kernbotschaften, die das Land vermitteln wollte. Man entschied sich für Finanzen, Industrie, Heimat, Dialog und Natur. Im Moment sieht alles wieder nur nach Schlupfloch aus. Als Kernbotschaft. Andrea Matt, die Oppositionsführerin, hat noch keinen Plan, wie man das ändern könnte, langfristig. Sie schaut nach draußen auf die Berge und die Sonne und den Schnee. „Vielleicht ist die Affäre ja auch eine Chance für Liechtenstein“, sagt Andrea Matt. Es klingt wie eine Frage. STEFFEN SCHMIDT / KEYSTONE (L.); ARND WIEGMANN / REUTERS (O.)

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raußen, vor dem „Vaduzer-Saal“, die Tür. Andrea Matt spricht leise. Es ist stehen drei Fernsehübertragungs- ein bisschen wie bei einem Geheimtreffen. wagen. Drinnen, hinter einer klei- „Das Thema trifft Liechtenstein ins Herz“, nen Wand aus Kameras, steht Klaus sagt Matt. „Es geht um unsere Existenz.“ Eigentlich sind es ja keine schlechten Tschütscher. Auf dem Tisch vor ihm ist ein Schild aufgestellt, mit seinem Namen und Zeiten für Matt und die liechtensteinische seiner Funktion. Klaus Tschütscher, Re- Opposition. Es gibt ein großes Thema. Die Schlupflöcher. Die Freie Liste kämpft, gierungschef-Stellvertreter. Tschütscher spricht über die Änderun- unter anderem, für soziale Gerechtigkeit, gen im Stiftungsrecht von Liechtenstein. nachhaltige Umweltpolitik und Solidarität Der WDR ist hier, N24, Journalisten deut- mit der Dritten Welt. Harte Oppositionsscher Zeitungen. Sie schreiben Tschütscher- politik war in Liechtenstein immer eher Sätze wie „Steuerhinterziehung und Stif- schwierig. Die Arbeitslosenquote in Liechtungsrecht haben nichts miteinander zu tenstein liegt bei rund drei Prozent, das tun“ in ihre Notizblöcke. Es könnte eine heißt 600 Arbeitslose. Es gibt, sagt Andrea Nachricht sein. Alles aus Liechtenstein Matt, ungefähr 30 Liechtensteiner, die zu könnte im Moment eine Nachricht sein. Etwas hinten im VaduzerSaal sitzt Andrea Matt. Sie ist 46 Jahre alt und Fraktionssprecherin der Freien Liste, der Oppositionspartei in Liechtenstein. Die Freie Liste muss man sich politisch ungefähr so vorstellen wie die Grünen in Deutschland. Die liechtensteinische Opposition ist zugegebenermaßen sehr klein. Drei Abgeordnete. Im ganzen Parlament sitzen 25 Abgeordnete. So gesehen ist die Opposition wiederum recht groß. Matt schaut auf Tschütscher. Zwei Politiker aus Liechtenstein. Ein bisschen Politikerin Matt: „Kennen Sie Hilti?“ muss man sich jetzt gegenseitig stützen. Das Land, so sieht es aus, ist den „working poor“ gehören, also vom Arbeitseinkommen nicht leben können. unter Druck. Jetzt, mit der Affäre, könnte man sich Vor wenigen Tagen noch war das Interesse an Liechtenstein und den Liechten- oppositionspolitisch auf den Finanzplatz steinern überschaubar. Vergleichbar mit Liechtenstein stürzen. Auf merkwürdige dem Interesse an Luxemburg und den Lu- Geldgeschichten. Aus deutscher Sicht ist Liechtenstein ein xemburgern. Dann wurde aus Liechtenstein plötzlich eine Art deutsches Schlüs- Schlupfloch und eine Steueroase. Deutselwort. Liechtenstein steht für den Betrug sche Steuergelder versickern hier. Aus durch Klaus Zumwinkel, für den deutschen liechtensteinischer Sicht lebte man als Steuerskandal, für das moralische Versa- Steueroase jahrzehntelang sehr gut. Das gen deutscher Eliten und für die Steuer- kleine Land wurde reich. Steueroase und flucht der deutschen Reichen. Das Wort Schlupfloch zu sein war somit das Beste, „Liechtenstein“ fasst auf einmal einen was Liechtenstein und den Liechtensteinern überhaupt passieren konnte. Es passHaufen deutscher Probleme zusammen. Tschütscher beantwortet die letzten Fra- te zu den Möglichkeiten, auch geografisch gen, dann gehen die Journalisten zu den gesehen. Schlupflöcher müssen klein sein, Übertragungswagen und Andrea Matt unauffällig und versteckt gelegen. Wahrscheinlich ist es schwierig, sich vor zurück in ihr neues Büro im gerade eingeweihten Parlamentsgebäude. Sie schließt diesem Hintergrund neu zu positionieren.

Jochen-Martin Gutsch


Wirtschaft

Trends

V O R R U H E S TA N D

Mit 60 aufs Altenteil undesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) plant ein neues Modell zur B Altersteilzeit. Laut einem internen Arbeitspapier seines Ministeriums soll der früheste Beginn der Altersteilzeit von 55 Jahre auf 57 Jahre angehoben und mit dem Bezug einer Teilrente ab dem 60. Lebensjahr kombiniert werden. Arbeitnehmer könnten dann zum Beispiel zwischen 57 und 60 zunächst voll weiterarbeiten, um anschließend ganz aus dem Berufsleben auszusteigen. Mit 63 würden sie dann – mit Abstrichen – in die reguläre Altersrente wechseln. Während dieser sechs Jahre würden sie aus der Kombination von halbem Arbeitsentgelt, Aufstockungsbeträgen ihrer Arbeitgeber und vorgezogener Teilrente rund 70 Prozent ihres bisherigen Nettos verdienen. Der Staat fördert das Modell, indem er wie bisher die Aufstockungszahlungen der Arbeitgeber von Steuern und Sozialabgaben freistellt. Dennoch werden die künftigen Vorruheständler finanziell schlechter dastehen, da die heutige Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit wie in der Koalition vereinbart Ende 2009 ausläuft.

KON Z E R N E

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eitungsboten anstelle von Briefträgern sollen künftig Millionen unadressierter Werbesendungen austragen. Ein entsprechendes Pilotprojekt mit der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ („WAZ“) will die Deutsche Post AG bereits Anfang März starten. Dann sollen „WAZ“-Zusteller zunächst im Großraum Essen Werbesendungen für die Post ausliefern. In weiteren Schritten könnte das Projekt auf große Teile Nordrhein-Westfalens und auf andere Zeitungsverlage im Bundesgebiet ausgedehnt werden, heißt es beim Logistikkonzern. Konkurrenten und Gewerkschafter sehen in der Auslagerung vor allem einen Versuch der Post, den eigenen Mindestlohn zu unterlaufen. Insbesondere bei der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di stößt der Plan deshalb auf massiven Widerstand. In einem harschen Schreiben vom 21. Februar forderte die Gewerkschaft das Unternehmen ultimativ auf, die Planungen einzustellen. Mit der Auslagerung werde nicht nur der Mindestlohn ausgehebelt, sondern die Post würde auch gegen „Verträge verstoßen“, in denen sie sich verpflichtet habe, auf Dienstleistungen fremder Zustellfirmen zu verzichten. Die Post will davon nichts wissen: Bei den an die Zeitungsverlage gegebenen Mengen handele es sich nicht um Briefe, sondern um Werbesendungen, deren Zustellung nicht unter das Mindestlohngebot falle, behauptet die Post. Briefzusteller

Siemens plant erneut Personalabbau us dem Debakel um den Verkauf und die spätere Pleite seiner ehemaligen Handy-Tochter unter dem neuen BeA sitzer BenQ hat der Siemens-Konzern offenbar gelernt – und plant nun selbst harte Einschnitte, bevor er eine weitere Tochterfirma in fremde Hände gibt. Nach Informationen von Arbeitnehmervertretern sollen beim Ableger Siemens Enterprise Communications (SEN), der Telefonsysteme für Unternehmen herstellt, weltweit gut ein Drittel der 17 500 Stellen wegfallen, darunter rund 2000 in Deutschland. Mit der Entscheidung will der Konzern

STEFAN KIEFER / VARIO IMAGES

Scholz

Mindestlohn ausgehebelt?

seine Chancen erhöhen, für das Restgeschäft noch einen Käufer zu finden und die verbleibenden rund 11 000 Arbeitsplätze sichern zu können. Nach den aktuellen Überlegungen wird nur ein Teil der überzähligen Jobs komplett verschwinden. Knapp 3000 Mitarbeiter in der Produktion, wie etwa im SENWerk Leipzig, soll demnächst ein neuer Eigentümer übernehmen. Den übrigen Angestellten will der Konzern den Wechsel in die Altersteilzeit oder eine Beschäftigungsgesellschaft anbieten. Der avisierte Personalabbau dürfte das Unternehmen nach Schätzungen von Betriebsräten allein in Deutschland rund 370 Millionen Euro kosten. Ein Siemens-Sprecher bezeichnet die Zahlen als „Spekulation“ und wollte sich zu dem Vorgang nicht äußern. WALTRAUD GRUBITZSCH/PICTURE-ALLIANCE/DPA

HENNING SCHACHT / ACTION PRESS

POST

SEN-Fabrik in Leipzig 77


Trends

THOMAS RUFFER / CARO

Wirtschaft

Aktionärsversammlung (in Berlin) AIRLINES

Stühlerücken im Kontrollzentrum I

m Aufsichtsrat der Deutschen Lufthansa steht eine der größten Personalrochaden der Firmengeschichte bevor. Bei der nächsten Hauptversammlung Ende April dürfte die Mehrheit der zehn Kapitalvertreter ausscheiden und so den Weg für eine weitgehende Neuordnung des Kontrollgremiums frei machen. Gleich vier Aufseher treten ab, weil sie die inoffizielle Altersgrenze für Aufsichtsräte von 70 Jahren erreichen, darunter der frühere Finanzchef Klaus Schlede und der langjährige Henkel-Vorstand Hans-Dietrich Winkhaus. Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel dürfte nicht mehr kandidieren, nachdem seine Verstrickung in die liechtensteinische Steueraffäre bekanntwurde. Vakant werden vermutlich auch die Stühle von Werner Schmidt, der diese Woche seinen Posten als Chef der BayernLB räumen muss, sowie von DeutscheBank-Aufsichtsratschef Clemens Börsig – das Geldinstitut ist inzwischen nämlich mit gut 14 Prozent am Lufthansa-Konkurrenten Air Berlin beteiligt. Zu einem regen Stühlerücken könnte es auch auf der Arbeitnehmerbank kommen. Neben der Gewerkschaft Ver.di, die bislang einen Großteil der Sitze hielt, treten bei den Wahlen diesmal zusätzlich ein halbes Dutzend weitere Organisationen an. Mit wie vielen Vertretern sie in den Aufsichtsrat einziehen können, klärt sich bis zum 1. März.

KARTELLE

zer gegen Schokoladenproduzenten, Müller oder Drogeriewarenhersteller in den vergangenen Wochen sind unter anderem auf eine deutlich verbesserte Bonusregelung im Kartellrecht zurückzuführen. Danach können Firmen, die Verstöße gegen das Kartellrecht zugeben und bei der Aufdeckung helfen, im günstigsten Fall völlig unbehelligt bleiben. Selbst die Zahlung von Bußgeldern kann ihnen erlassen werden. 2006 hatten lediglich 7 Firmen von der neuen Regelung Gebrauch gemacht, im vergangenen Jahr waren es bereits 41 Unternehmen. So ist auch der erst vergangene Woche bekanntgewordene Fall von verbotenen Preisabsprachen bei 78

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ROLF VENNENBERND / DPA

Bonusregelung greift ie spektakulären Razzien und BußD geldbescheide des Bundeskartellamts und seines Chefs Bernhard Heit-

Heitzer

großen Kosmetikherstellern auf eine Art Selbstanzeige zurückzuführen. Konkret hatte der US-Konzern Colgate-Palmolive den Bonner Wettbewerbshütern Hinweise auf Preisabsprachen mehrerer Hersteller bei Duschgels, Geschirrspülmitteln und Zahncreme gegeben.

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Wirtschaft

Tankerterminal (in Saudi-Arabien): Jede noch so kleine Nachricht reicht aus, um die Ölkurse auf Achterbahnfahrt zu schicken

ENERGIE

Die Ölpreis-Treiber Binnen Monaten hat sich der Preis für Rohöl von 50 auf 100 Dollar verdoppelt. An den Fundamentaldaten kann das nicht liegen, die haben sich kaum verändert. Und wegen der drohenden Rezession müsste Öl sogar eher billiger werden. Warum wird es trotzdem immer teurer?

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an würde sich nicht wundern, wenn im nächsten Augenblick ein Cowboy um die Ecke geritten käme und sein Pferd vor der Buckhorn Bar anbände. Cushing, mitten in der Prärie von Oklahoma gelegen, ist ein verschlafenes 8000-Einwohner-Nest im Mittleren Westen der USA. Die Hauptstraße sieht wie eine Western-Kulisse aus, zu den größten Attraktionen gehören ein stillgelegter Bahnhof und ein heruntergekommenes Kino, das für den Eintritt 1,50 Dollar verlangt. 80

Robert Felts, ein freundlicher alter Herr von der Cushing Industrial Authority, zeigt Besuchern gern die historische Ölpumpe im Zentrum und erzählt dann von 1912, als in der Nähe ein riesiges Ölfeld gefunden wurde und dem Ort für gut zwei Jahrzehnte ein goldenes Zeitalter bescherte. Bis zu 50 Millionen Barrel pro Jahr sprudelten damals aus dem Boden. „Unsere Raffinerien kamen kaum mit dem Verarbeiten hinterher“, sagt Felts – deshalb setzten die Ölbarone jener Zeit große Tanks in die Steppe. Mehr gibt es aus der Kleinstadt eigentlich nicht zu melden. Trotzdem versetzen d e r

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Berichte zur Lage in Cushing jeden Mittwochmorgen um 10.30 Uhr die Weltmärkte in Bewegung. Denn dann veröffentlichen US-Behörden den Pegelstand in Hunderten Tanks, die sich hier mittlerweile meilenweit am Horizont erstrecken. Es ist das größte Öllager der USA, direkt am Knotenpunkt des nordamerikanischen Pipelinesystems. Hier wechselt das an der weltweit führenden Rohstoffbörse von New York gehandelte Öl konkret den Besitzer. Sind die Tanks prall gefüllt, sinken die Preise; fallen jedoch die Pegel, dann steigen die Kurse. So lautet die Faustregel


HANS-JÜRGEN BURKARD / BILDERBERG

Organisation der Erdöl exportierenden Länder (Opec) erstmals ein Embargo verhängte, 1979 infolge der iranischen Revolution, ein Jahr später beim Einmarsch des Irak in Iran und 1990, als Saddam Hussein Kuweit überfiel. Eine der zurzeit spannendsten Fragen der Weltwirtschaft lautet deshalb: Warum explodieren die Preise jetzt wieder? Antworten gibt es viele. Manche machen die Krise im Nahen Osten und die stetig steigende Nachfrage im boomenden China verantwortlich. Andere geben den Förderländern die Schuld, die den Ölhahn nicht weit genug aufdrehen. Überzeugend ist das alles nicht. „Angebot und Nachfrage können die hohen Preise nicht begründen“, sagt einer der renommiertesten Rohstoffanalysten, Fadel Gheit von Oppenheimer & Co. Gheit hält wie viele seiner Kollegen Finanzinvestoren für die wahren Preistreiber im Ölgeschäft. Er fühlt sich an die Internet-Blase der Jahrtausendwende erinnert. Auch beim Öl gebe es nun „exzessive Spekulation“. Die Opec kommt zum selben Ergebnis. „Die Fundamentaldaten stimmen“, so die Botschaft von Opec-Präsident Mohammed al-Hamli. Seit Anfang Februar erwartet das Kartell sogar ein Überangebot auf den Märkten – als Folge der amerikanischen Wirtschaftskrise. Der Preis pro Barrel müsste deshalb eher fallen. Stattdessen haben die Händler nun schon zum zweiten Mal binnen weni-

Aktien bis Anleihen immer weitere Teile des Kapitalmarkts infiziert, suchen Investoren weltweit nach Alternativen. Öl mit seinen vermeintlich einfachen Marktgesetzen und erfreulich steigenden Kursen scheint da das perfekte Instrument zur Risikostreuung und Gewinnmaximierung – vielen Anlegern steht die Einsicht, dass sie nur einen anders dekorierten Casinosaal betreten haben, noch bevor. Die New York Mercantile Exchange, kurz Nymex, ist der zentrale Austragungsort dieses Spiels. 100 Jahre lang haben die Händler hier, an der Südspitze Manhattans, direkt am Hudson, ihre Warentermingeschäfte getätigt, mit Butter, Käse und Kartoffeln; bis sie 1978 erkannten, dass im Öl die Zukunft liegt. Wie eine römische Arena sieht der Handelsraum der Rohstoffbörse Nymex aus, in den Rängen stehen, schreiend, gestikulierend, die Händler und vollführen ein fast archaisches Ritual. Wenn zwei sich auf einen Deal geeinigt haben, schreiben sie die Eckwerte auf einen Zettel und schmeißen ihn ins Zentrum der Bühne. Dort steht ein stämmiger Börsenmann mit Schutzbrille, damit die Papierflieger nicht seine Augen verletzen. Er hebt die Fetzen auf, stempelt sie, und schon haben etliche Barrel Öl den Besitzer gewechselt. „Ich handle mit Nachrichten“, sagt Chris Motroni, 29. Er verdient sich als kleiner, unabhängiger Händler in der

Ölpreis

100

in Dollar je Barrel, Sorte WTI

80

Quelle: Thomson Financial Datastream

60

121,5

40 71,1 52,9

59,7 XINHUA / ACTION PRESS

20 45,7 45,4

Gehandelte Futures-Kontrakte* an der Nymex, in Millionen Stück *Sorte WTI Quelle: Nymex

2002 2003 2004 2005 2006 2007

der Händler. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage bestimmt das Geschehen. So jedenfalls sollte es sein. Doch in den vergangenen Monaten sind die Dinge ziemlich durcheinandergeraten. Binnen Jahresfrist verdoppelte sich der Ölpreis von 50 auf 100 Dollar in der vorigen Woche. Nichts scheint mehr unmöglich. Manche Analysten sehen die Kurse schon auf 120 bis 150 Dollar steigen – mit dramatischen Folgen für die Weltwirtschaft. Vergleichbar spektakuläre Preisentwicklungen hat es in den vergangenen Jahrzehnten nur viermal gegeben: 1973, als die

Rohstoffhändler in New York

ger Wochen die magische 100-Dollar-Grenze geknackt. Von globalen Rezessionsängsten gänzlich unbeeindruckt herrscht Partylaune bei den modernen Ölbaronen. Gerade erst meldete Exxon Mobil seinen Jahresgewinn für 2007. Es waren 40,6 Milliarden Dollar, ein Rekordwert für den weltgrößten Energiekonzern – und die internationale Wirtschaftsgeschichte: Nie zuvor hat ein Unternehmen so viel verdient. Riesige Geldmengen fließen derzeit in den Handel mit Ölkontrakten. Während das amerikanische Immobiliendebakel von d e r

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Nymex sein Geld, mit niedrigen Einsätzen und großem Selbstbewusstsein. „Die Preise werden noch bis 115 Dollar steigen“, sagt er. Motroni liebt die Stimmung auf dem Parkett, schon sein Vater und sein Bruder haben hier gearbeitet. Doch sie haben sich längst vom Präsenzhandel verabschiedet. Genauso wie die großen Akteure: Banken, Hedgefonds und Pensionskassen spielen über ihre Computerleitung mit. Die Umsätze sind explodiert. Pro Tag verbraucht die Welt 86 Millionen Barrel Öl, doch das Handelsvolumen ist 15-mal so 81


Wirtschaft Die Folge: Das Handelsvolumen in Rohöl hat sich in den vergangenen fünf Jahren fast verdreifacht, während die Nachfrage nach dem echten, flüssigen Stoff jährlich nur um 1,9 Prozent stieg. Endgültig vorbei sind damit die Zeiten, in denen es allein um Fördermengen und um den Verbrauch der Industriestaaten ging. Öl gehört inzwischen in jedes gutstrukturierte Portfolio, nicht anders als bis vor kurzem jene abstrakten Papiere, welche die Teilnahme am amerikanischen Immobilienboom sichern sollten. Auf den Rohstoffmärkten ist seither nichts mehr, wie es war. Jede noch so kleine Nachricht reicht aus, um die Ölkurse auf Achterbahnfahrt zu schicken – so wie im Januar das gewaltfreie Zusammentreffen von US-Kriegsschiffen mit iranischen Schnellbooten in der Straße von Hormus.

Klassische Erklärungsmuster dagegen spielen kaum noch eine Rolle. Dass sich das Verhältnis zu Iran etwas entspannt hat, ist den Händlern genauso egal wie die vorsichtig verbesserte Lage im Irak. Sie beschwören ungerührt mal die Krise im Nahen Osten, mal den Winter, Unruhen in Nigeria oder die explodierende Nachfrage der Chinesen. „Nichts davon ist neu“, sagt Fadel Gheit, „im Nahen Osten hat es seit biblischen Zeiten noch keinen Frieden gegeben. Und der Konflikt in Nigeria dauert auch schon seit 40 Jahren an.“ Von der regelmäßigen Wiederkehr des Winters ganz zu schweigen. Gheit ist seit 30 Jahren im Geschäft, er hat bei Mobil Oil und JP Morgan gearbeitet, bevor er zu Oppenheimer kam: Er kann sich noch an Ölpreise von neun Dollar pro Barrel erinnern. Bei der Anhörung im USKongress war er eine Art Kronzeuge wider

DAVID CRENSHAW / WPN

hoch – die Differenz steht für Wetten auf die künftige Preisentwicklung. Selbst im US-Kongress, eigentlich kein Feind der Ölindustrie, sorgt das Treiben der Händler schon für scharfe Kritik. „Spekulation auf dem Rohölmarkt“ lautete der undiplomatische Titel einer Anhörung im Dezember. Ergebnis: Bis zu 45 Prozent aller Ölkontrakte werden inzwischen von Spekulanten gehalten, dreimal so viele wie noch zur Jahrtausendwende. „Die Preise werden verzerrt“, schimpfte der zuständige Ausschussvorsitzende, Carl Levin; wären allein Angebot und Nachfrage entscheidend, würde Öl mindestens 20 Dollar weniger kosten. Wie konnte es dazu kommen? Eines der weltweit zehn größten Handelshäuser, Mercuria, sitzt an der Place du Molard in Genf. 70 Mitarbeiter analysieren von hier aus den Markt, sie kümmern

Öllager in Cushing, Oklahoma: Der Pegelstand in den Tanks bewegt die Weltmärkte

sich um Tankerrouten und Lagerbestände, 30 Milliarden Dollar pro Jahr fließen durch die Konten des Unternehmens. Firmenchef Daniel Jaeggi handelte einst für Goldman Sachs Terminkontrakte. Er weiß noch genau, wie sich Ende der neunziger Jahre das Geschäft veränderte. „Die großen Pensionskassen begannen, ihre Mittel zu diversifizieren und zunehmend auch in Öl zu stecken“, sagt er, so wurden sie zum „treibenden Faktor im Markt“. Die Wall-Street-Banken haben diese Nachfrage nur zu gern bedient, Goldman Sachs an erster Stelle. „Die haben eigens einen Rohstoffindex erfunden, der auch Öl enthält“, sagt Jaeggi. Der neue Index wurde zum Selbstläufer: Je mehr Großanleger in das Produkt investieren, desto mehr Ölkontrakte kauft Goldman und desto höher steigen die Preise. Eine gewaltige Marktmacht entstand. Und alle machen mit. Morgan Stanley, Deutsche Bank und etliche andere Finanzriesen haben ihr Handelsvolumen mit Ölkontrakten dramatisch ausgebaut. Investmentbanken wie Goldman halten sich sogar, als wären sie ein Energiekonzern wie BP, eigene Ölvorräte – und versprechen sich davon einen besseren Einblick ins tatsächliche Marktgeschehen. Es könnte ja ihre Wettsicherheit erhöhen. 82

Und immer wieder sorgt die Lage in Cushing für Hochspannung unter den Händlern. Nebel legt tagelang den Hafen von Houston lahm, so dass der Ölnachschub aus Übersee nicht in amerikanische Pipelines fließen kann? Schon leeren sich in Oklahoma die Tanks. Versorgungsengpass. Hoch mit den Preisen! Die McKee-Raffinerie in Texas muss wegen eines Brands zeitweise den Betrieb einstellen und fällt als Großkunde aus? Da steigen die Pegel in Cushing, und aus den Kursen entweicht der Druck. Regelmäßig kommt es so zu merkwürdigen Preisverzerrungen. Die gesamten Öllagerbestände der USA befinden sich seit langem über dem Fünfjahresdurchschnitt, doch für die Rohstoffbörsen zählen aus historischen Gründen allein die Pegelstände in Cushing und die dort gelagerte Ölsorte West Texas Intermediate. „Es ist schon verwunderlich, dass eine Sorte, von der täglich nur rund 300 000 Barrel gefördert werden, die Richtgröße für die gesamte Welt vorgibt“, sagt Commerzbank-Analyst Eugen Weinberg. Er vermutet gar, dass Marktteilnehmer die maßgeblichen Cushing-Statistiken „durch gezielte Handlungen zu beeinflussen versuchen“. d e r

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den Irrsinn der Spekulanten. „Die Händler nutzen jeden Vorwand, um die Preise nach oben zu peitschen“, sagt er, „das ist pure Hysterie.“ Manchmal kommt er morgens in sein Büro in Manhattan, da haben Londoner Händler die Kurse über Nacht um vier Dollar nach oben getrieben, weil irgendwo eine Pipeline platzte. „Ich bin gelernter Ingenieur“, sagt Gheit, „so was ist keine Herztransplantation, es ist ein Klempnerjob, kinderleicht.“ Bevor er überhaupt davon erfährt, ist der Schaden repariert – und die Händler haben schon ihren Gewinn gemacht. Fragt sich nur, wie lange dieser Preisgalopp noch anhalten kann, ohne US-Konjunktur und Weltwirtschaft nachhaltig zu schaden. Weiter steigende Preise für Sprit, Heizöl oder Flugtickets werden den Inflationsdruck erhöhen und kurz- bis mittelfristig die Nachfrage abkühlen. Es ist, sagt Gheit, ein gebürtiger Ägypter mit Sinn für drastische Vergleiche, wie bei einem schwerbeladenen Kamel: „Am Ende bricht ihm ein Strohhalm den Rücken.“ Oder wie bei einem Gewichtheber, der 20, 40, 100 Kilo stemmt – dann legt man noch einen Stift obendrauf, und er kracht zu Boden. „Dies ist eine Blase“, sagt er, „und sie wird platzen.“ Beat Balzli, Frank Hornig


Wirtschaft Hauptbahnhof in Köln

MARKUS HANKE / VISUM

Die Schulden bleiben beim Staat

S TA AT S KO N Z E R N E

Fragwürdiges Geschäft Der Börsengang der Bahn droht endgültig zu scheitern. Die SPD-Linke verstärkt den Widerstand, auch in der Union werden Bedenken laut. Die Suche nach Alternativen hat begonnen.

W

er in diesen Tagen ein SPD-Parteibuch sein Eigen nennt, kann sich der besonderen Aufmerksamkeit von Bahn-Chef Hartmut Mehdorn sicher sein. Vertreter des linken Parteiflügels müssen befürchten, dass sie der Konzernboss bei zufälligen Begegnungen spontan in seine Unternehmenszentrale einlädt („Wir müssen unbedingt mal reden“). Mitglieder der Bundestagsfraktion werden gruppenweise zu opulenten Abendessen in den Berliner Bahn-Tower gebeten. Die Parteispitze nimmt Mehdorn beinahe täglich am Telefon ins Gebet. „Der hat uns“, sagt ein führender Genosse, „unter fürsorgliche Belagerung gestellt.“ Eine Woche vor der entscheidenden Sitzung des SPD-Parteirats zum geplanten Börsengang der Bahn steht die älteste Partei des Landes vor einer Zerreißprobe. Mit aller Macht versuchen Konzernchef Mehdorn sowie der SPD-eigene Regierungsflügel den Genossen die vorgesehene Teilprivatisierung des Staatsbetriebs schmackhaft zu machen. Doch ein breites Bündnis

Mögliches Modell

aus SPD-Linken und Basisinitiativen unter Führung des Umweltexperten Hermann Scheer ist nicht weniger entschlossen, das Vorhaben zu torpedieren. Das SPD-Establishment hofft, mit dem Börsengang des Staatskonzerns Milliarden für den Bundeshaushalt sowie den Ausbau von Schienenstrecken oder Bahnhöfen erlösen zu können. Die Linke dagegen fürchtet, das Eisenbahnnetz des Landes langfristig dem Diktat des Kapitalmarkts auszuliefern. Es drohe nichts weniger als „eine Zerschlagung der Bahn“, heißt es in einem Schreiben der Privatisierungsgegner an die SPD-Abgeordneten. Ganz gleich, wer sich am Ende durchsetzt – eine fühlt sich schon heute als Siegerin: Kanzlerin Angela Merkel. Sollte die SPD zustimmen, könnte sie ein wichtiges Reformversprechen auf die Habenseite ihrer Regierungsbilanz setzen. Legen sich die Sozialdemokraten quer, will sie die Partei im Wahlkampf als wirtschaftspolitische Dilettantentruppe vorführen. Entsprechend eilfertig lobte Wirtschaftsminister Michael Quelle: Bundesverkehrsministerium

Bund

Die geplante Struktur der Bahn 100%

Deutsche Bahn AG 100%

51%

INFRASTRUKTURUNTERNEHMEN SCHIENENNETZ / BAHNHÖFE

Private Investoren 49%

HOLDING VERKEHR UND LOGISTIK VERKEHR

TRANSPORT/ LOGISTIK

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DIENSTLEISTUNGEN

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Glos das Konzept vergangene Woche als „richtigen Weg“. Merkels Kalkül hat einen gravierenden Haken. Das Projekt ist in den eigenen Reihen längst nicht so unumstritten, wie sie glauben machen will. In den Fachabteilungen der Bundesregierung wachsen die Bedenken, seit ein Rechtsgutachten für Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee gleich eine ganze Serie konzeptioneller Schwachstellen, juristischer Fallstricke und finanzieller Risiken aufgelistet hat. Und auch unter den Bahnexperten ihrer eigenen Partei werden zunehmend Zweifel laut: „Die wichtigen verkehrspolitischen Ziele“, kritisiert der hessische Wirtschaftsminister Alois Rhiel, „werden so nicht erreicht.“ Nach dem Regierungskonzept soll der heutige Konzern in eine staatseigene Holding mit zwei angeschlossenen Tochterunternehmen umgewandelt werden: eine staatseigene Netz AG, die den Schienenstrang, die Bahnhöfe und Signalanlagen verwaltet, sowie eine sogenannte Betriebsgesellschaft für die komplette Verkehrs- und Logistiksparte. An diesem Unternehmen dürfen sich private Investoren beteiligen (siehe Grafik). Anfangs wurde das Konzept noch parteiübergreifend als Durchbruch gefeiert. Doch je länger die Fachleute die Details der verschachtelten Konstruktion unter die Lupe nahmen, desto klarer wurde ihnen, dass sie vor allem eines sichern sollte: die Position Mehdorns. So teilte der Konzernchef dem eigenen Aufsichtsrat wie auch Mitgliedern der Bundesregierung mit, dass er gleichzeitig Chef der Holding und der teilprivatisierten Tochter zu werden gedenke. So könnte Mehdorn sich im neuen Konzernverbund praktisch selbst kontrollieren und noch unumschränkter herrschen als heute schon. Für den Bahnkonzern dagegen würde eine „vollständige Personenidentität nicht mehr auflösbare Interessenkollisionen“ schaffen, heißt es in einem Rechtsgutachten für das Tiefensee-Ministerium. So müsste Mehdorn als Boss der Holding möglichst hohe, als Chef des Zugbetriebs aber möglichst niedrige Preise für die Schienennutzung verlangen. „Eine Entscheidung im Interesse eines der Unternehmen würde gleichzeitig eine Pflichtverletzung bei dem jeweils anderen darstellen“, heißt es in der Expertise. Wer am Ende das Nachsehen hätte, lässt sich ebenfalls erahnen: der Steuerzahler. So erlaubt es die verschachtelte Konstruktion, einen Großteil der Schulden, Kosten und Risiken bei der staatseigenen Holding, die Gewinne dagegen bei der teilprivatisierten Betriebs AG abzuladen. Und was Verkehrsexperten noch mehr fürchten: Das neue Modell erhöht den Anreiz, unrentable Zugverbindungen einzustellen. Ausgemacht ist nicht einmal, ob der Bund wenigstens seinen geplanten Erlös95


anteil aus dem Börsengang vollständig einstreichen kann. Diesen nämlich kassiert zunächst einmal die Bahn-Holding. Wie viel davon am Ende an den Staat weitergeleitet wird, hängt davon ab, wie die Verkaufsanteile in der Bilanz bewertet sind. Nicht weniger fragwürdig sind die Folgen für den Wettbewerb. Weil der Konzernverbund erhalten bleibt, enthalte „das Modell keine echte Trennung von Netz und Betrieb“, heißt es in einem Positionspapier des hessischen Wirtschaftsministeriums. Entsprechend bekomme die Holding „einen Anreiz sowie die Möglichkeit, über die Infrastrukturunternehmen die eigenen Verkehrstöchter zu Lasten von Wettbewerbern und Kunden zu bevorzugen“. Die Autobahnen, so das Papier weiter, gehörten schließlich auch „dem Staat und nicht einer marktbeherrschenden Großspedition“. Schon wird unter Kritikern wie Befürwortern des Börsengangs über eine naheliegende Alternative nachgedacht. Wenn der Widerstand gegen eine Privatisierung des Schienenverkehrs so groß ist, so lautet die Frage, warum schlägt der Staat dann nicht einfach das bahneigene Transportund Logistikunternehmen DB Schenker los? Das hat mit dem politisch sensiblen Eisenbahnnetz wenig zu tun und würde dem Staat ebenfalls milliardenschwere Verkaufserlöse eintragen. Eine solche

MARCEL METTELSIEFEN / PICTURE-ALLIANCE/ DPA

Wirtschaft

Bahn-Chef Mehdorn, Kanzlerin Merkel*

Vollständige Personenidentität

„kleine Privatisierung“ empfiehlt nicht nur Hessens Wirtschaftsminister Rhiel, auch der SPD-Linke Scheer sowie Verkehrspolitiker der Unionsfraktion hegen ähnliche Pläne. Wer sich dem Vorschlag um jeden Preis entgegenstemmen wird, ist jedoch ebenfalls schon absehbar: die starken Männer im Bahnkonzern. Vorstandschef Mehdorn würde sich die wachstumsträchtigen Tochterbetriebe kaum kampflos entreißen lassen, und auch die Bahngewerkschaft Trans* Mit Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee bei der Einweihung des neuen Hauptbahnhofs in Berlin am 26. Mai 2006.

net droht mit Widerstand. „Eine Privatisierung der Logistiksparte wäre mit unserem Beschäftigungssicherungsvertrag nicht vereinbar“, sagt Transnet-Chef Norbert Hansen. „Wir müssten dann Arbeitskampfmaßnahmen prüfen.“ Welches Konzept sich am Ende durchsetzt, hängt nun vor allem vom Votum von SPD-Chef Kurt Beck ab. Der Parteivorsitzende würde gern den Privatisierungsbefürwortern aus dem SPD-Regierungsflügel entgegenkommen. Zugleich aber hat er der Parteilinken signalisiert, dass er einen Konsens anstrebt. Einen Sonderparteitag zu dem Thema, so hat er intern bereits klargestellt, werde er nicht zulassen. Und so sind die zuständigen SPD-Minister derzeit vor allem damit befasst, den ungebrochenen Tatendrang Mehdorns zu bremsen. Der Konzernchef hatte in den vergangenen Wochen den Zorn von Koalitionspolitikern auf sich gezogen, weil er den Börsengang ungeachtet der politischen Debatten konzernintern vorantrieb. Eine Entscheidung in der Angelegenheit sei „weder gefallen noch präjudiziert“ und werde allein „von der Politik getroffen“, schrieb ihm vergangene Woche Verkehrsminister Tiefensee. Der Vorstand möge künftig „bei allen sich bietenden Anlässen auf dieses abgestimmte Vorgehen Roland Nelles, hinweisen“. Wolfgang Reuter, Michael Sauga


BayernLB Freistaat Bayern und Sparkassenverband Bayern halten jeweils 50 % 5149 Beschäftigte Strukturierte Wertpapiere davon Subprime-Segment Abschreibungen/Verluste

32 Mrd. ¤ * 4 Mrd. ¤ * 1,9 Mrd. ¤ * *Angaben BayernLB

Die größten deutschen Landesbanken

PHILIPP GUELLAND / DDP

nach Bilanzsumme 2006, in Mrd. ¤ LBBW BayernLB WestLB Nord/LB HSH Nordbank

428 353 285 203 189

BayernLB-Zentrale in München: Das drohende Minus ins kommende Jahr verschoben LANDESBANKEN

Ganz legale Tricks Der wahre Schaden der BayernLB durch die US-Kreditkrise wird weiter verschleiert. Derweil nutzen die Sparkassenchefs die Affäre – und setzen Finanzminister Erwin Huber unter Druck.

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ie Verbannung aus dem Reich der Zahlen dauerte genau neun Jahre. Bei der Kabinettsbildung 1998 hatte Erwin Huber sein geliebtes Finanzministerium verlassen müssen – um in die Staatskanzlei zu wechseln sowie später ins Wirtschaftsressort. Der Steuerexperte aus Niederbayern litt still. Er ist ein kühler Rechner, ein schlauer Tüftler. Einer, der die unteren Posten aus dem Haushaltsplan aufsagen kann, selbst wenn man ihn nachts aus dem Schlaf reißt. Erst im vergangenen Oktober durfte Huber zurückkehren. Da war er CSU-Chef geworden und – für ihn fast noch wichtiger – wieder Finanzminister des reichen Freistaats Bayern. Die Machtfülle schien nun so unendlich, die Kassen so gut gefüllt, dass der kleine Mann aus Reisbach schon den nächsten Karriereschritt plante: 2009, nach der Bundestagswahl, wollte er mehr sein als Kassenwart der Bayern. Er wollte nach Berlin, ins Bundesfinanzministerium, und ganz Deutschland zeigen, was er für ein großer Herr der Zahlen ist. Doch Erwin Huber, 61, hat sich grob verrechnet. Sein überhebliches Kalkül hat ihm eine wuchernde Affäre eingebrockt, die ausgerechnet im bayerischen Wahljahr die CSU schwer beschädigt. Plötzlich droht er über die Zahlen zu stolpern, die ihn sein politisches Leben lang begleitet haben. Huber hat gemeinsam mit der Spitze der BayernLB versucht, Wertberichtigungen in Milliardenhöhe zu verschwei-

gen. Der Grund: Vor den Kommunalwahlen am 2. März, und nicht mal vor der Landtagswahl Ende September sollten die Bürger konkret erfahren, wie viel ihre obersten Banker auf dem US-Kreditmarkt verzockt haben. Die Affäre wird die Partei und das Kabinett von Ministerpräsident Günther Beckstein noch Monate unter Druck setzen. Und das nicht nur, weil die Opposition nun einen Untersuchungsausschuss zu der Vertuschungsaktion vorbereitet: Unter Experten ist klar, dass Huber, Vize-Chef des LB-Verwaltungsrats, und die Bayern-Bank weiter tricksen. Das wirkliche Minus ist offenbar viel höher als jene 1,9 Milliarden Euro, die jetzt eingeräumt wurden. Dabei reichen schon die Vorgänge seit dem 12. Februar aus, die zweite Amtsperiode des Finanzministers Huber als persönlichen Bankrott zu bewerten. Bis zu diesem Tag, so erklärte der CSU-Chef den Parlamentariern, sei vom Vorstand der Bank keine Auskunft gegeben worden, wie hoch die tatsächlichen Wertberichtigungen nach der Kreditkrise ausfallen. Die Antwort lautete angeblich: Man habe das noch nicht genau ausgerechnet. Schließlich seien es 1200 Einzelpositionen, die nun geprüft würden. Das dauere bis Mitte April. Huber und die LB-Spitze vereinbarten, erst mal gar keine Zahl zu nennen. Am 12. Februar berichteten Medien jedoch erneut von Milliardenabschreibungen aus dem US-Geschäft der BayernLB. d e r

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Werner Schmidt, Chef der Bank, stieg deshalb bei der Vorstandssitzung am Vormittag die Zornesröte ins Gesicht – die verbreiteten Zahlen stimmten angeblich nicht. Er ging in die Offensive, plötzlich ließ sich die Wertminderung doch berechnen, mit einer Genauigkeit von 95 Prozent. 1,89 Milliarden Euro betrug demnach der Schaden. Schmidt verfasste mit dieser Zahl um 16 Uhr eine Pressemeldung. Eine Stunde zuvor hatte Huber dem Haushaltsausschuss des Landtags jedoch noch die alte Sprachregelung verkauft: Die Verluste betrügen 100 Millionen Euro, zur Wertberichtigung gebe es keine belastbare Zahl. Um 16.10 Uhr verließ Huber den Sitzungssaal – und musste auf seinem Handy die Nachricht lesen, dass Schmidt eine belastbare Zahl verkünden wird. Der Finanzminister fühlte sich brüskiert. Er rief Schmidt an und blaffte: „Was soll das jetzt? Ich dachte, es gibt keine Zahl?“ Er habe eben einen Teil gerechnet und den Rest geschätzt, konterte Schmidt. Am Tag danach wurde die Zahl nochmals nach oben korrigiert, auf 1,9 Milliarden Euro. Die Opposition nutzte den Widerspruch prompt, bezichtigte den CSU-Chef der Lüge – woraufhin die Union sechs Tage lang propagierte, alles sei nur eine Informationspanne und der Vorwurf lächerliche Wahlkampftaktik. Bankchef Schmidt wurde in diesen Tagen immer nervöser und zum Kettenraucher. Ihm war klar, dass Huber dastand wie ein Trottel, der die Kasse seiner eigenen Bank nicht kennt. Am 19. Februar musste Schmidt zurücktreten. Für die Kommunikationspleite hatte man nun zwar einen Schuldigen; doch aus dem Schneider war Huber damit keineswegs. Denn Stunden später musste der Finanzminister zugeben, als Verwaltungsrat der LB wöchentlich über die aktuell geschätzten Belastungen informiert worden zu sein. Hubers stete Einlassung, die Landesbank habe Wertberichtigungen von 100 Millionen „plus x“ zu verkraften, sorgte 97


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„Die BayernLB schiebt eine riesige Bugwelle kaschierter Verluste vor sich her“, analysiert ein Frankfurter Banker die Bilanztricksereien, „die in einem Jahr, bei der Bekanntgabe der Zahlen, unweigerlich das Ufer erreichen wird.“ Welche Zerstörungskraft die Welle dann haben wird, bleibt abzuwarten. Den Finanzplatz München kann sie wohl kaum noch größer schädigen, als das Huber und seine Vorgänger unter der Regierung Edmund Stoibers bereits getan haben. Die Landeshauptstadt hat im vergangenen Jahrzehnt gleich zwei private Banken verloren, die beide im Dax waren. Zunächst fusionierte 1998 die Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank mit der Bayerischen Vereinsbank – weil beide sonst von Frankfurter Konkurrenten übernommen worden wären. Doch der politisch eingefädelte und zunächst gefeierte Deal hatte ebenfalls keine große Zukunft. Die neu entstandene HypoVereinsbank wurde zuerst durch das marode Immobilien-Portfolio der ehemaligen Hypo-Bank mit weit über fünf Milliarden Mark belastet – und später kamen hohe Wertberichtigungen auf Firmenkredite der ehemaligen Vereinsbank hinzu. 2005 übernahm die italienische UniCredit das Institut, das seither praktisch aus Mailand geführt wird. Als einziges eigenständiges – wenn auch nicht börsennotiertes – Geldhaus bleibt der Isarmetropole also die angeschlagene Bayerische Landesbank. Erwin Huber wehrt sich auch deshalb vehement gegen die von seinem Miteigentümer, den bayerischen Sparkassen, gewünschte Fusion mit der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Viel ist Huber wahrlich nicht geglückt, seit er im Herbst den Rivalen Horst Seehofer ausstach und Parteichef Stoiber beerbte. Umso empfindlicher trifft ihn, dass die Sparkassenchefs im Windschatten der Milliardenaffäre nun neuen Druck erzeugen. Sollte die Fusion mit der leistungsstarken LBBW weiter verhindert werden, wollen sie ihren 50-prozentigen Anteil an der Landesbank dem Freistaat überlassen – und sich ganz zurückziehen. „Dann soll der Huber mit dem Laden anstellen, was er will“, schimpfen die Sparkassenvertreter. „Bei uns ist die Stimmung jedenfalls extrem schlecht.“ Conny Neumann, JÖRG KOCH / DDP

bei Finanzexperten ohnehin über Wochen für unverhohlene Heiterkeit. Jeder wusste, dass diese Zahl nicht stimmen kann – und jeder wusste, dass auch Huber das wissen muss. Hubers Ahnungslosigkeit lässt sich schon mit einer simplen Rechnung widerlegen: Rund 30 Milliarden Euro hat die Bank in sogenannten strukturierten Verbriefungen angelegt – also in gebündelten Firmen- und Konsumentenkrediten, Hypothekendarlehen und sonstigen Forderungen. Die Wertabschläge auf diese Anlagen betragen derzeit selbst für Papiere mit der allerbesten Güte sechs bis sieben Prozent. Bei 30 Milliarden Euro ergibt sich ein Wertberichtigungsbedarf von mindestens 1,8 Milliarden Euro. Die BayernLB hat aber, wie sie am vorvergangenen Wochenende überstürzt bekanntgab, nicht nur Anlagen bester Bonität. Die Unwissenheit Hubers war umso unglaubwürdiger, da es für viele Landesbanken derzeit ums nackte CSU-Regenten Beckstein, Huber: Grob verrechnet Überleben geht. Dass sich der bayerische Finanzminister, der 50 Pro- ohnehin unweigerlich ans Licht kommen – zent der Anteile an seiner Landesbank aber eben nicht in diesem Jahr. Denn sollhält, nicht tagtäglich über die neuesten ten die Preise für derartige Papiere auch Buchverluste informieren lässt, ist schlech- nur gleich bleiben, müsste die BayernLB in einem Jahr jene weiteren Abschreibunterdings undenkbar. Huber musste auch klar sein, dass die gen veröffentlichen, die sie heute bereits Zahlen keineswegs vorläufig sind. Denn kennt. Fraglich ist, ob die Bank dann überhaupt wie hoch die Risiken aus der Krise sind, lässt sich aus Marktdaten und mit noch Gewinne macht. Denn eigentlich hätHilfe von Modellen exakt ermitteln. Eher te sie das Jahr 2007 bereits mit einem Verunwahrscheinlich, dass der Minister ge- lust abgeschlossen – doch die Banker nutzhofft hat, die globale Finanzkrise löse ten einen weiteren ganz legalen Trick, um sich binnen weniger Wochen in Luft auf das drohende Minus ins kommende Jahr und seine Bank könne im April besser zu verschieben: Von den Abschreibungen in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro dastehen. Die Opposition vermutet vielmehr, der packten sie 1,3 Milliarden in die sogeCSU-Chef habe massiven Druck auf die nannte Neubewertungsrücklage. Das ist Landesbank ausgeübt, um die Veröffent- eine Art virtuelles Konto für Papiere, delichung der Zahlen zu verschieben. Zumal ren Bewertungsverluste als vorübergehend selbst die jetzt präsentierten Abschreibun- angesehen werden. Die Risiken der dorthin gen mit zwei Kniffen aufgehübscht sind. verschobenen Engagements sind abgesiSo legte das Geldinstitut die Bewertungen chert – sie werden jedoch nicht ergebniszum Bilanzstichtag am 31. Dezember zu- wirksam. grunde. Tatsächlich hätte es laut geltender Einziger Schönheitsfehler: Alle PositioBilanzbestimmungen die Möglichkeit ge- nen in dieser quasiseparaten Kasse müshabt, die geringeren, aktuellen Werte des sen binnen eines Jahres entweder verkauft Februars als Grundlage zu nehmen – wie sein – oder dann tatsächlich ordnungses sich für jeden vorsichtigen Kaufmann gemäß wertberichtigt werden. Tatsächlich geziemt. sind alle diese Engagements längerfristig Dann aber wären die Bewertungsverlus- praktisch unverkäuflich. Damit ist die gete wohl noch einmal um die Hälfte höher winnmindernde Wertberichtigung dieser als bisher zugegeben, also zwischen 2,5 1,3 Milliarden Euro im kommenden Jahr und 3 Milliarden Euro. Die Wahrheit wird wohl unausweichlich.

Wolfgang Reuter


Wirtschaft

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Alle haben doch profitiert“

MANFRED WITT / VISUM

Der ehemalige VW-Betriebsratschef Klaus Volkert, 65, über die einst organisierten Rotlicht-Abenteuer des Wolfsburger Konzerns sowie seinen Absturz ins gesellschaftliche Nichts

Ex-VW-Größe Volkert: „Wir fanden, dass wir dieselbe Rundumbetreuung erwarten durften wie das Topmanagement“ SPIEGEL: Herr Volkert, vor drei Jahren galten Sie noch als mächtigster Betriebsratschef des Landes. Nun wurden Sie vom Braunschweiger Landgericht wegen Anstiftung und Beihilfe zur Untreue und Verstoßes gegen das Betriebsverfassungsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Das Urteil ist der vorläufige Schlusspunkt der VW-Affäre um Lustreisen und Puffbesuche auf Firmenkosten. Warum legen Sie Revision ein? Volkert: Das Urteil ist für mich nicht akzeptabel. Wenn Sie sehen, dass der einstige Personalvorstand Peter Hartz mit einer deutlich niedrigeren und auf Bewährung ausgesetzten Strafe davonkam, muss ich von einer Zwei-Klassen-Justiz ausgehen. Im Gegensatz zu Hartz hat mir die Staatsanwaltschaft nie einen Deal angeboten. SPIEGEL: Sie haben wegen der Affäre alles verloren – Geld, Job, Ansehen. Wie haben Sie Ihren eigenen Absturz erlebt? Volkert: Was soll ich sagen … es war eine Katastrophe. Dass meine Familie mit reingerissen wurde, die ja von nichts wusste, trifft mich am meisten, weil ich ja durchaus mit Schuldgefühlen zu kämpfen habe. SPIEGEL: Wo halten Sie sich für schuldig? Das Gespräch führten die Redakteure Dietmar Hawranek und Thomas Tuma.

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Volkert: Ich habe über Jahre meine Ehe

aufs Spiel gesetzt und meine Frau betrogen. Das ist eigentlich das Schlimmste. SPIEGEL: Dass Ihre brasilianische Geliebte Adriana Barros über Scheinaufträge von VW mitfinanziert und zu Treffen mit Ihnen auf Konzernkosten durch die Welt geflogen wurde, finden Sie akzeptabler? Volkert: Wissen Sie, ich bin dafür durch die Hölle gegangen. Aber das Schlimmste ist wirklich, was ich meiner Familie angetan habe. Auch was die danach an Ächtung ertragen musste. Wenn ich mir diese Folgen je vor Augen geführt hätte, wäre es nie so weit gekommen. SPIEGEL: Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gingen über die bezahlte Geliebte und von VW beglichene Puffbesuche im Betriebsratskreis weit hinaus. Sie haben vom Konzern allein 1,9 Millionen Euro an Sonderboni kassiert – und wirkten am Ende wie ein gekaufter Betriebsrat. Volkert: Ich bin nie gekauft worden und hätte mich nie kaufen lassen. Mir hat auch nie jemand einen Scheck in die Hand gedrückt und dafür eine bestimmte Gegenleistung erwartet … SPIEGEL: … aber vielleicht bekommen? Volkert: Auch das nicht. Das wäre für mich unvorstellbar gewesen. SPIEGEL: Ihre persönliche Vorzugsbehandlung begann, nachdem Ferdinand Piëch d e r

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1993 an die VW-Spitze rückte und Hartz Personalvorstand wurde. Sie verdienten schon knapp 200 000 Euro, verlangten aber bald mehr. Volkert: Damals sorgte die Truppe um den neuen Vorstand José Ignacio López plötzlich für Unmut. Sie operierte an allen Hierarchieebenen vorbei und kassierte teils enorme Bezüge. Ich warnte Piëch, dass das Thema auch im Gesamtbetriebsrat für Ärger sorgen würde, und sagte, er sollte sich nur zum Vergleich mal meine eigenen Bezüge anschauen – damit er ein Gefühl für die Verhältnisse bekommt. Piëch gab mir recht. Ich

Ehemalige Volkert-Geliebte Barros, Rotlichtviertel


FABIAN BIMMER / AP

solle künftig bezahlt werden wie ein Markenvorstand. Hartz sagte dann, er überlege sich dazu eine Lösung. Ich fand das nur fair angesichts meines weltweiten Aufgabengebiets als Chef des Gesamtbetriebsrats. SPIEGEL: Hartz nannte Sie während seines eigenen Prozesses einen „Terrier“, der immer gieriger nach mehr verlangte. Volkert: Da kann ich nur lachen. Ich brauchte nie irgendetwas zu fordern … SPIEGEL: … haben es aber dennoch bekommen, und das auch noch heimlich. Über die Sonderboni an Sie gibt es keine schriftliche Mitteilung, nichts. Volkert: Auf mein Gehalt schauten zu viele Leute. Hartz hatte Angst, das könnte Begehrlichkeiten wecken. Deshalb schlug er den Weg über die Boni vor. Mir wäre ein höheres Gehalt lieber gewesen, denn ich hatte keine Lust, bei ihm einmal pro Jahr auf die Knie fallen zu müssen für eine Sonderzahlung, die nicht mal rentenwirksam ist. SPIEGEL: Ganz wohl kann Ihnen selbst nicht gewesen sein, sonst hätten Sie sich nicht auf diese Geheimniskrämerei eingelassen. Volkert: Ich würde es heute anders machen, ja. Aber solche Zahlungen sind nun mal eine sehr diskrete Sache. Sie werden bis heute niemanden bei VW finden, der sagt: Hey, mein Bonus ist wieder gestiegen. SPIEGEL: Sie waren sogar Mitglied einer Kommission zur Vergütung von Betriebsräten. Nicht mal Ihren Kollegen dort haben Sie von Ihren Gratifikationen erzählt. Volkert: Eine normale Gehaltserhöhung hätte ich meinen eigenen Leuten schon erklären können. Aber noch mal: Nicht ich wollte diese Heimlichkeit, sondern Hartz. SPIEGEL: Der VW-Betriebsrat ist auch deshalb so mächtig, weil Niedersachsen 20 Prozent der Aktien hält. Mit den beiden Vertretern des Landes hatten die Arbeitnehmer die Mehrheit im Aufsichtsrat. Es ist also kein Wunder, dass der Konzern alles tat, seine Betriebsräte zu umgarnen. Volkert: Bei VW war es immer gute Tradition, dass Betriebsrat und Management wichtige Reisen gemeinsam unternahmen. So kriegte man sich weniger in die Haare. Ist das schon schlimm? Und Herr Piëch

BERND SCHÖNBERGER

Prozesszeuge Piëch (am 9. Januar in Braunschweig): „Es gab wenig, was er nicht wusste“

in Hannover: „Durch die Hölle gegangen“

achtete eben auch darauf, dass Leute wie ich mit auf dem roten Teppich standen. SPIEGEL: Sie haben das auch genossen. Volkert: Ja, habe ich. Und es hat richtig gutgetan, auch wenn ich heute jeden warnen würde: Pass auf, ein Tanz macht noch keine Freunde! Aber in meiner Position damals fehlte es an kritischen Stimmen … SPIEGEL: … auf die Sie zu jener Zeit doch gar nicht gehört hätten. Volkert: Jedenfalls wäre ich heute froh, wenn es diese Stimmen gegeben hätte. Ich selbst war zugegebenermaßen nicht in der Lage, die Gefahr zu erkennen. SPIEGEL: Es gibt etliche Indizien dafür, dass man Sie letztlich finanziell gefügig gemacht hat. Erster Fall: 1994 drohte Piëch wegen der López-Affäre die Ablösung. Sie haben ihm im Aufsichtsrat den Rücken gestärkt. Die anschließende Erhöhung Ihrer Bezüge wirkte wie ein erstes Dankeschön. Volkert: Ich selbst habe das so nie gesehen. Da war die Arbeitnehmerseite doch nicht allein. SPIEGEL: Verstehen Sie wenigstens heute, dass Sie sich angreifbar gemacht haben? Volkert: Allenfalls bei denen, die einem eh Böses wollen. SPIEGEL: Zweiter Fall: 1998, damals lag Ihr Jahreseinkommen schon bei 440 000 Euro, bereitete Piëch die milliardenschwere Übernahme von Bentley vor. Der Hang d e r

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zum Luxus wurde im Arbeitnehmerlager durchaus kritisiert, nur von Ihnen nicht. Volkert: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Natürlich haben manche gefragt: Passt das zu VW? Wir haben im unteren Preissegment kein Einstiegsauto und machen oben den dicken Max. Aber nicht nur Herr Piëch, sondern auch die Vertriebs- und Finanzexperten haben sich für den Deal ausgesprochen, der zudem unserem Massengeschäft viel Know-how bringen sollte. Da waren sich alle einig. SPIEGEL: Dritter Fall: Ende 2002 haben Sie im Aufsichtsrat mit dafür gesorgt, dass Hartz’ Vertrag bis zu dessen 66. Geburtstag verlängert wurde – und vorher schnell die VW-Regel abgeschafft, dass mit 64 Schluss ist. So was ist kein Dankeschön? Volkert: Wenn es eines war, dann von allen Aufsichtsräten. Hartz hat schließlich viel für den Konzern getan. Denken Sie nur an die Viertagewoche. Mit Hartz wurde die Arbeitslosenquote in Wolfsburg halbiert … SPIEGEL: … und Ihre heimlichen Boni wuchsen sich ebenso aus wie das System der Lustreisen und Puffbesuche. Volkert: Heute wird so getan, als seien wir bei jeder Reise im Bordell gelandet. Wir reden über einen Zeitraum von 15 Jahren. Das war viel harte Arbeit. Und es lief ja. Alle haben doch profitiert. Der Konzern brummte, nie gab es bessere Tarifverträge 101


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„In der Oktave vergriffen“ Die Urteile in den VW-Prozessen erinnern an eine Zwei-Klassen-Justiz. Von Gisela Friedrichsen

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IG Metall kleingehalten wurde, sei Teil der Konzernpolitik gewesen. Die Ex-Vorstandschefs Ferdinand Piëch und Bernd Pischetsrieder lobten vor Gericht Volkerts Bedeutung in höchsten Tönen. Piëch: „Die Vier-TageWoche wurde in unglaublichen vier Wochen auf den Weg gebracht. Ohne Mitwirkung des Betriebsrates wäre dies nicht möglich gewesen.“ Pischetsrieder schrieb ihm gar „die Rettung von VW“ zu. Die 6. Große Strafkammer des Landgerichts Braunschweig, die den Argumenten der Verteidigung, dass angesichts des enormen Nutzens dem Konzern durch Lustreisen und Sonderboni kein Schaden entstanden sei, schon im Zwischenverfahren nicht zugänglich war, hat vergangenen Freitag gegen Volkert

JÖRG SARBACH / AP

ie Generalbundesanwältin mag Der ehemalige VW-Personalmanaihn gar nicht. Sie bezeichnet ger Klaus-Joachim Gebauer, 63, und ihn als „Missgeburt“, als einen der gelernte Schmied und spätere BeFlächenbrand, dessen man nicht mehr triebsratschef Klaus Volkert, 65, die Herr werde. Er korrumpiere den Straf- eher nicht die Verursacher der Affäre prozess und die Richterschaft dazu, und schon gar nicht Erfinder jenes wobei der Angeklagte auf der Strecke intransparenten Abrechnungssystems bleibe, der nur die Wahl habe zwischen waren, durch das die Sexsausen den „friss, Vogel, oder stirb“. Die Rede ist Blicken der Revisoren entzogen wurvom Deal, der Urteilsabsprache hinter den; die nicht so hasenfüßig gestanden den Kulissen, für die ein „schlankes“ haben wie Hartz, sondern umfassend Formalgeständnis ausreicht. Rasche Rechtskraft ist erwünscht, damit der Bundesgerichtshof nicht prüft, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Doch es gibt immer wieder Angeklagte, die trotz aller Nachteile eine Aufklärung des Anklagevorwurfs in der Hauptverhandlung scheuen wie der Teufel das Weihwasser; die etwa in panischer Angst vor den Medien oder ihrer Familie vieles schlucken, damit nur nicht öffentlich verhandelt wird. Peter Hartz, Ex-Personalvorstand des VW-Konzerns und eigentlicher Verursacher der Affäre um Lustreisen, Sexpartys und sonstige Wohltaten für den Betriebsrat, war so ein Angeklagter. Sein Verteidiger Egon Müller handelte für ihn im Januar 2007 zwei Jah- Verurteilter Volkert (am vorigen Freitag in Braunschweig): „Die Rettung von VW“ re auf Bewährung und 576 000 Euro Geldstrafe aus. Das war der Preis dafür, und schonungslos – sie glaubten sich wegen Anstiftung und Beihilfe zur Undass der Prozess nur zwei Tage dauer- mit guten Gründen an einer Bewäh- treue und Verstoßes gegen das Betriebste, kein Detail über Prostituiertenbe- rungsstrafe plus Geldzahlung orientie- verfassungsgesetz eine Freiheitsstrafe suche und spezielle Vorlieben fiel und ren zu dürfen. Bis zum Schlussvortrag von zwei Jahren neun Monaten verder Staatsanwaltschaft. Drei Jahre neun hängt. Ein solches Strafmaß kann nicht auch die Damen außen vor blieben. Das Gericht hielt Hartz zugute, Monate für Volkert wurden gefordert – zur Bewährung ausgesetzt werden. Die „dass er mit den Zahlungen an Dr. das bedeutete Strafhaft. Und für Verteidiger werden für die Revision nicht Volkert letztlich nicht das Vermögen Gebauer, den die Herren gescheucht lange nach Dissonanzen suchen müssen. der Volkswagen AG schädigen wollte, hatten („Gebauer, wo bleiben die Gebauer wurde zu einem Jahr auf sondern in dem von ihm als wohlver- Weiber?“), mit einem Jahr und acht Bewährung verurteilt. Da er auch standenen Interesse der Volkswagen Monaten kaum weniger als für Hartz. höchstpersönlichen Aufwand auf VWDa habe sich die Staatsanwaltschaft, Kosten bestritt, ist dies hinzunehmen. AG gehandelt hat, dass Dr. Volkert als Betriebsratsvorsitzender den Interes- so Verteidiger Johann Schwenn, wohl Aber hatte Gebauer eine besondere sen des Unternehmens aufgeschlossen „unter dem von ihr selbst immer wie- Vermögensfürsorgepflicht für VW? gegenüber stehen sollte“. Geht es Vol- der erzeugten Erwartungsdruck der ÖfDieselbe Kammer hatte Hartz zugute fentlichkeit in der Oktave vergriffen“. gehalten, dass er sich nicht selbst bereikert gut, geht es auch VW gut. Wenn die Staatsanwaltschaft Monate Und Gebauers Anwalt Wolfgang Ku- chert habe. So kann nur argumentieren, später weitere an der VW-Affäre Betei- bicki fragte: „Welche Entscheidungs- wer übergeht, dass Hartz maßgeblich ligte anklagt und dieselben Richter über freiheit hat jemand, wenn ihm der Per- von den Entscheidungen eines gutgesie zu Gericht sitzen, darf, wer vom sonalvorstand, mehrere Aufsichtsräte launten Betriebsrats profitierte. Das DaGlauben an den Rechtsstaat noch nicht sowie Mitglieder des Gesamtbetriebs- menprogramm verachtete er wohl auch vollends abgefallen ist, hoffen, dass von ratsausschusses ihre Wünsche nach nicht. Offenbar ging es in Braunschweig den Maßstäben des Vor-Urteils nicht all- Zerstreuung mitteilen?“ Das „System nach dem Motto: Quod licet Jovi, non zu weit abgewichen wird. Denn, so heißt umfassender Begünstigung von Be- licet bovi (was Jupiter erlaubt ist, steht es ja, vor dem Gesetz seien alle gleich. triebsräten“, mit dem der Einfluss der dem Ochsen noch lang nicht zu).

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Volkert: Ich kann mir das nicht vorstellen; nein. Wenn ich Gebauer gefragt habe, wie machst du das mit der Abrechnung, hat er gesagt: Wir haben das Go vom Vorstand. Ob er damit nur Hartz meinte oder die gesamte Spitze, weiß ich nicht. SPIEGEL: Und all diese Geschichten sollen ausgerechnet hinter dem Rücken eines Kontrollfreaks wie Piëch stattgefunden haben? Volkert: Wissen Sie, ich habe gestandene Manager erlebt, denen bei Piëchs leisen Nachfragen sofort der Schweiß auf die Stirn schoss. Wer die damalige Gesamtkonstellation im Unternehmen kennt, kann sich schwer vorstellen, dass all das ohne Piëch gelaufen ist. Es gab wenig im VW-Konzern, was er nicht wusste. SPIEGEL: Fürchten Sie ihn? Volkert: Ich habe ihn nie gefürchtet – damals nicht und heute nicht. Aber man ist gut beraten, ihn sich nicht zum Feind zu machen. SPIEGEL: Haben Sie noch Kontakt zu ihm? Volkert: Nein, weder zu ihm noch zu Hartz. Die haben sich auch nicht bei mir gemeldet. Ich will auch mit Gebauer nichts mehr zu tun haben, der das damals alles im Hartz-Auftrag abrechnete mit diesem System von Eigenbelegen, die keiner gegenzeichnen musste. Obwohl Gebauer selbst ein armer Teufel ist. SPIEGEL: Auch Ihr Nachfolger als Betriebsratschef, Bernd Osterloh, wusste angeblich von nichts. Volkert: Er wuchs wie ich bei VW auf. Was mich ein bisschen ärgert: Vor einer unserer letzten Reisen nach Mittelamerika – wohlgemerkt ohne Puffbesuch – meldete sich Osterloh bei mir und sagte, das passe doch alles nicht mehr so richtig in die Welt. Vielleicht machte er sich wirklich Sorgen. Vielleicht wusste er da aber auch schon mehr. SPIEGEL: Die ganze Affäre lässt zwei Deutungen zu: Entweder war der Auslöser ein gieriger Betriebsratschef namens Volkert, der nicht genug kriegen konnte. Oder die Konzernspitze baute ein System der Abhängigkeiten auf wie eine Falle, in die der Betriebsrat tappte. Ziel des Managements: ungestört agieren zu können. Volkert: Ich brauchte nichts zu fordern und niemanden zu irgendwas anzustiften. Insofern halte ich aus heutiger Sicht eher Ihre zweite Deutung für glaubhaft. Ja, am Ende waren wir vielleicht alle nur Teil eines sehr großen Spiels. Und wahrscheinlich habe ich dabei vielen geschadet. Den Belegschaften. Der Gewerkschaft. Auch der Idee der Mitbestimmung. Aber aus den Fehlern, die ich gemacht habe, wurden leider keine Lehren gezogen. HOLGER HOLLEMANN / DPA

für die Beschäftigten. Es ging nach vorn mit SPIEGEL: Und bei Ihnen hat sich nie so diesem Trio: Piëchs Dominanz im Vorstand, was wie ein Gewissen geregt? Hartz’ Innovationsfreude und mein Einfluss Volkert: Doch, natürlich. Aber man hat im Betriebsrat – das brachte den Erfolg … derlei Fragen genauso schnell verdrängt. SPIEGEL: … den man auch kritisch sehen SPIEGEL: Sie haben sich nie gefragt, was kann. Die Bilanzen mögen gestimmt ha- eine Konzernspitze letztlich mit den ben. Innerlich wurde das Unternehmen Millionen bezweckt, die sie da invesimmer brüchiger. Einerseits konnte der tiert? Vorstand ohne Gegenwind seine Luxusprojekte ausleben, andererseits gluckte der Betriebsrat auf den alten, hohen Tarifverträgen. Man tat sich nicht weh. Volkert: Einem Piëch hätte so oder so kaum jemand zu widersprechen gewagt. Und vielleicht habe auch ich ihm zu wenig Paroli geboten. Aber bei Modellpolitik oder Plattformstrategie war mit ihm nicht zu reden. SPIEGEL: Das ganze System glich einem Nichtangriffspakt, der langfristig dem Unternehmen schadete. Volkert: Sie mögen das aus heutiger Sicht so sehen. Aber VW hat seinen Börsenkurs damals verdreifacht. Die Belegschaft bekam gutes Geld. Ich kann da bis heute keinen Schaden erkennen. SPIEGEL: Sie klingen fast, als würden Sie den jetzigen VW-Akteuren empfehlen, mal wieder einen draufzumachen auf Firmenkosten, dann stimmen auch die Zahlen. Volkert: Ich kann Ihnen Ihre Häme nicht nehmen. Aber wir haben die Interessen der Arbeitnehmer vertreten. Im Übrigen: Im Aufsichtsrat saßen und sitzen ja auch integre Leute von Ex-VW-Manager Hartz*: Man tat sich nicht weh der Kapitalseite. Die waren doch wohl in jeder Hinsicht frei. Aber niemand Volkert: Meine Güte, verstehen Sie das hat widersprochen. doch! Es ging um Augenhöhe, um GleichSPIEGEL: Fünf der zehn Arbeitnehmer- behandlung. Wir fanden, dass wir dieselbe vertreter im VW-Aufsichtsrat waren bei Rundumbetreuung erwarten durften wie Bordellbesuchen dabei. Wie sollten die das das Topmanagement. Management noch kritisch kontrollieren? SPIEGEL: Soll das heißen, der Vorstand ließ Volkert: Diese Gedanken gab’s gar nicht, sich auch verwöhnen? weder auf der einen noch auf der anderen Volkert: Keine Ahnung. Aber ums AusSeite. Bei unseren Gesprächen mit dem checken beim Hotel oder Flugkosten mussVorstand ging es oft ruppig zu. Da hat nie te sich von denen sicher auch nie jemand jemand versucht, uns mundtot zu machen. kümmern. SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie möglichst vie- SPIEGEL: Puffbesuche, Einkaufsgutscheine le Betriebsratskollegen zum Mitmachen ani- für Betriebsratsgattinnen, die Flüge Ihrer miert haben? Angeblich um zu verhindern, Geliebten – das Abrechnungswesen hat erdass am Ende doch mal jemand auspackt. staunlicherweise gegen alle VW-internen Volkert: Ich nehme wirklich viel auf meine Regeln verstoßen. Konnte ein PersonalvorKappe. Aber das ist absurd. Es fing damit an, stand wie Hartz das alles allein anordnen? dass man sich abends einfach sagte: Mensch, Volkert: Gute Frage. Ich hatte jedenfalls nie lass uns noch irgendwo ein Bier trinken! Da das Gefühl, dass wir etwas Unrechtes tun. Der zuständige Manager Klaus-Joachim wurde doch niemand gezwungen. SPIEGEL: Mit Verlaub: Am Ende waren Gebauer hat alles organisiert und abgePuffbesuche, Spaßspesen und die Verwal- rechnet. Es lief alles durch den Apparat. tung heimlich angemieteter Liebesnester SPIEGEL: Angeblich hat im Vorstand außer offenkundig generalstabsmäßig organisiert. Hartz niemand was gewusst. Glaubhaft? Volkert: Stellen Sie sich meinen damaligen Job vor: Hotels, Flüge, Taxis, Essen – das * Am 17. Januar vor dem Braunschweiger Landgericht, von Demonstranten bedrängt. war alles immer schon vorbereitet.

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SPIEGEL: Sie meinen, auch die IG Metall und erhält weiter seine volle VW-Betriebsrente von monatlich 16 000 Euro … ging zu schnell zur Tagesordnung über? Volkert: Nach meiner Kenntnis wird doch Volkert: … während meine von VW um 50 alles totgeschwiegen. Dabei gibt es viele Prozent gekürzt wurde. Begründung: Man offene Fragen: Wie sieht das eigentlich in wolle den Prozess abwarten und behalte anderen Unternehmen aus? Wie halten es sich mögliche Ansprüche vor. Wenn all das Betriebsräte mit der Transparenz ihrer keine Vorzugsbehandlung ist – vom Gericht Bezüge? Da könnte man vieles moderni- wie von VW –, dann weiß ich nicht mehr. sieren. Aber, wissen Sie: Diese Mitbe- SPIEGEL: Sie waren einst Teil jener gesellstimmung fordert letztlich einen derart schaftlichen Elite, die gerade wieder großen Spagat, dass es einen irgendwann schwer in Verruf geraten ist durch die zerreißt, egal wie charakterfest man ist. Steuerhinterziehung von Post-Chef Klaus Die Schmerzen setzen erst ein, wenn es schon zu spät ist. SPIEGEL: Wegen Verdunkelungsgefahr kamen Sie drei Wochen in Untersuchungshaft. Wie haben Sie die Zeit erlebt? Volkert: Es war grauenvoll. Seither weiß ich, dass auch kurze Knastaufenthalte wirklich abschreckende Wirkung haben. Dass dort drin manch einer durchdreht, kann ich mir gut vorstellen. Ich durfte ein einziges Mal mit meiner Familie tele- VW-Betriebsrat Volkert (M.)*: „Es ging um Augenhöhe“ fonieren. Und dabei hatte ich in der Zeit Geburtstag. Selbst für eine zwei- Zumwinkel. Stinkt der Fisch immer vom te Decke musste ich einen Antrag stellen. Kopf? SPIEGEL: Fühlten Sie sich besonders ruppig Volkert: Kann ich so pauschal nicht sagen. behandelt? Man kann noch so tüchtig sein. Sobald Sie Volkert: Mit den Vollzugsbeamten bin ich mehr verdienen als jene, mit denen Sie heute noch in gutem Kontakt – auch wenn einst groß wurden, beginnt der Neidkomich sie ungern dienstlich wiedersehen plex. Über Auswüchse schreien immer die möchte. Weh getan hat vor allem, wie am lautesten, die weniger kriegen. Ich verversucht wurde, einen Kontrast aufzubau- stehe das durchaus. Aber in der Debatte ist en zwischen der angeblichen Glaubwür- auch viel Scheinheiligkeit. digkeit von Herrn Gebauer und meiner SPIEGEL: Sie hatten eine Vorbildfunktion, eigenen Unglaubwürdigkeit. Kann ja wohl der Sie schlicht nicht gerecht wurden. nicht sein, dass der eine immer lügt und der Volkert: Vollkommen klar. Mit den Funkandere immer die Wahrheit sagt. Ich war tionen, in die man hineinwächst, wird der der Erste, der bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt hat. Genutzt hat es mir nichts. * Im November 2002 mit Wirtschaftsminister Wolfgang SPIEGEL: Hartz kam mit zwei Jahren auf Clement, VW-Chef Bernd Pischetsrieder, Kanzler GerBewährung sowie einer Geldstrafe davon hard Schröder und VW-Vorstand Peter Hartz in Wolfsburg.

WALTER SCHMIDT / NOVUM

Wirtschaft Heiligenschein leider nicht mitgeliefert. Ein anständiger Kerl wird man nicht durch den Job, den man macht. SPIEGEL: Sind Sie noch VWler? Volkert: Das werde ich immer bleiben. VW ist nicht Piëch, nicht Hartz und nicht Volkert. Das Unternehmen ist so stark, dass es uns alle überstehen wird. Ich habe einfach den richtigen Zeitpunkt verpasst, mich aufrecht zu verabschieden. SPIEGEL: Sie sind jetzt 65. Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor? Volkert: Mit dem Hut in der Fußgängerzone. SPIEGEL: Zu Hause in Wolfsburg? Volkert: Die Versuchung war groß, wegzugehen. Aber nach Rücksprache mit meiner Familie bin ich in Wolfsburg geblieben. Es kann ja nicht sein, dass die Medien bestimmen, wer wann aufgehängt wird. Durch diese Vorverurteilungen wollte ich mich nicht kriminalisieren lassen. Deshalb habe ich mich jeden Tag selbst ermahnt: Geh raus! Zeig dich! Stell dich! Das hat viel Überwindung gekostet. SPIEGEL: Fahren Sie noch VW? Volkert: Zurzeit einen Passat Variant. Geleast. Solange ich mir das leisten kann, werde ich immer VW fahren. SPIEGEL: Wovon leben Sie jetzt? Volkert: Frage ich mich auch. Es kommen ja möglicherweise noch enorme Kosten auf mich zu. Das Finanzamt will, dass ich die Gelder, die meine damalige Geliebte über VW bekam, versteuere, und fordert von mir 470 000 Euro. Ich überlege, privat Insolvenz anzumelden. Bezahlen kann ich das nicht. SPIEGEL: Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt, abzuhauen – oder … auch Schluss zu machen? Volkert: Ich … also … ja, klar. Meiner Familie wäre eine Menge erspart geblieben. Das ist die Situation. So sieht’s aus. SPIEGEL: Herr Volkert, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


BANKEN

Zum eigenen Vorteil MARKUS HANSEN / ACTION PRESS

Die HSH Nordbank verklagt die UBS. Der Weltmarktführer in der Vermögensverwaltung soll sich auf Kosten der kleinen Landesbank bereichert haben.

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ie schweizerische Großbank UBS hat einen recht eigenwilligen Stil, unzufriedene Kunden abzuwimmeln. Diese Erfahrung jedenfalls machte Wolfgang Gößmann, der Chefjustitiar der HSH Nordbank. Seit Oktober versuchte der Jurist, mit David Aufhauser, seinem Counterpart bei dem größten Vermögensverwalter der Welt, einen Termin zu vereinbaren. Schließlich hatte das Institut für die Hanseaten ein Portfolio von einer halben Milliarde Dollar an verbrieften Kreditforderungen gemanagt – und dabei Hunderte Millionen Dollar Verlust eingefahren. Aufhauser, so stellt es Gößmann dar, hat ihn einfach hingehalten, Termine erst zu-, dann kurzfristig immer wieder abgesagt. Am 17. und am 19. Dezember sei er verhindert, schrieb Aufhauser schließlich in einer E-Mail, weil er mit seiner Frau am darauffolgenden Wochenende Gastgeber eines Adventssingens sei, das umfangreicher Vorbereitungen bedürfe. „So eine Frechheit“, schimpft Gößmann noch heute, „habe ich noch nie erlebt.“ Die UBS habe in der Finanzkrise 16 Milliarden Euro abgeschrieben. „Denen kommt es auf eine halbe Milliarde mehr oder weniger

HSH-Chef Berger

Die Anlage wurde immer weniger wert

vielleicht nicht an“, erregt sich der Banker, „aber für uns ist das viel Geld.“ Gößmann ließ die Sache nicht auf sich beruhen. Stolz klopft er mit der Faust auf einen roten Ordner. Darin befindet sich die fertige Klageschrift der HSH Nordbank gegen die UBS, die er – in Abstimmung mit Vorstandschef Hans Berger – bis Ende des Monats bei einem New Yorker Zivilgericht einreichen wird. Das fragliche Engagement stammt aus dem Jahr 2002. Damals wollte die Kieler Landesbank, die 2003 mit der Hamburgischen Landesbank zur HSH Nordbank fusionierte, eine halbe Milliarde Dollar in eine konservative Anlage stecken. Nach intensiven Gesprächen mit mehreren institutionellen Vermögensverwaltern entschied sie sich für das von der UBS aufgelegte Investment-Vehikel „North Street 2002/-4“.

Darin waren US-Hypothekenkredite, aber auch Firmendarlehen und andere Forderungen gebündelt. Das Institut investierte 500 Millionen Dollar. Für die Forderungen übernahm sie das Ausfallrisiko und erhielt im Gegenzug eine Prämie. Eine ganze Weile ging das Geschäft gut. Bis die Banker merkten, dass die Manager der UBS immer wieder Kredite aus dem Portfolio herausnahmen und gegen andere eintauschten. Formal blieb die Qualität der Anlage gleich, „doch jeder wusste, auch damals, dass die Ratings der Agenturen nicht verlässlich waren“, sagt Gößmann. Seit vergangenem Sommer wollten die HSH-Banker von ihren Vermögensverwaltern wissen, wie sich die Transaktionen auf den Wert des Portfolios ausgewirkt haben. Eine Antwort erhielten sie nie. „Heute ist uns klar“, so Gößmann, „dass unsere Anlage immer weniger wert wurde.“ Zudem stellten die Hanseaten fest, dass die UBS schon am ersten Tag des Investments einen hohen Buchgewinn verzeichnet habe. Dies deute darauf hin, dass die Großbank dem kleinen Institut einen überhöhten Preis abverlangt habe. Alles in allem wirft die HSH der UBS vor, • ihr trotz der ausdrücklichen Anweisung keine konservative Geldanlage verkauft zu haben; • bei der Verwaltung der Anlage auf ihren eigenen Vorteil geachtet – und nicht die Interessen ihres Kunden gewahrt zu haben; • sich ungerechtfertigt bereichert zu haben. Die UBS wollte sich am vorigen Freitag zu den Vorwürfen nicht äußern. Sollten die Anschuldigungen jedoch zutreffen, hätte die Bank ein Problem. Denn all dies ist auch in den USA nicht erlaubt. Die HSH hätte dann gute Chancen, vor Gericht durchzusetzen, dass die UBS ihr den entstandenen Wolfgang Reuter Schaden ersetzt.


Medien „BERLINER ZEITUNG“

Redakteure klagen gegen Chefredakteur eplant war die Klage gegen Chefredakteur Josef Depenbrock schon länger, doch nun macht die Redaktion der „Berliner Zeitung“ Ernst: Noch diese Woche soll Rechtsanwalt Thomas Gerchel den vorbereiteten Schriftsatz beim Berliner Arbeitsgericht einreichen. „Wir tragen im Moment noch letzte Details für die Klagebegründung zusammen. Weil Depenbrock nicht einlenkt, muss jetzt das Gericht entscheiden“, sagt Thomas Rogalla vom Redaktionsausschuss, der mit seiner Kollegin Regine Zylka stellvertretend für die Redaktion klagt. Finanziert wird der Rechtsstreit je zur Hälfte vom Deutschen Journalisten-Verband und von Ver.di, die in der Klärung der Frage einen Präzedenzfall sehen. Depenbrock wird vorgeworfen, gegen das von ihm unterzeichnete Redaktionsstatut zu verstoßen. Das verlangt nach Auffassung der Redakteure die Trennung von Verlag und Redaktion. Seit August 2007 ist Josef Depenbrock jedoch nicht nur Chefredakteur der „Berliner Zeitung“, sondern auch Geschäftsführer des Berliner Verlags und vertritt damit ebenso die Interessen der britischen Mutterholding Mecom. Bereits in der vorvergangenen Woche hatten

MICHAEL KAPPELER / DDP

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Depenbrock

die Redakteure der „Berliner Zeitung“ in zwei offenen Briefen an Mecom-Chef David Montgomery und Depenbrock geschrieben. Letzterer wurde darin aufgefordert, wegen seines „mangelnden Verständnisses der Aufgaben des Chefredakteurs einer Qualitätszeitung“ zurückzutreten. Montgomery selbst wird hingegen erst in der kommenden Woche zu Gesprächen in Berlin erwartet. Zuvor wird diesen Mittwoch ein neuer Redaktionsbeirat gewählt.

T V- Q U O T E N

Journalisten vor dem Haus von Post-Chef Zumwinkel in Köln ZDF

Brender verteidigt Zumwinkel-Bilder

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DF-Chefredakteur Nikolaus Brender wehrt sich gegen Vorwürfe, sein Sender habe sich bei der Hausdurchsuchung von Deutsche-Post-Chef Klaus Zumwinkel an Schau-Ermittlungen der Staatsanwaltschaft beteiligt. „Wir haben uns von niemandem vor den Karren spannen lassen“, sagt Brender. Die Redaktion hätte vielmehr „ihre journa106

listische Pflicht verletzt, wenn sie dem Hinweis nicht nachgegangen wäre“. Die Unterstellung, das ZDF habe sich in den Dienst der Staatsanwaltschaft begeben, gehe davon aus, dass der Tipp von Staatsanwälten gekommen sei, so Brender. „Der Kreis derer, die über die Aktion Bescheid wussten, war jedoch viel größer.“ Zudem sagt Brender, dass das ZDF seinem Informanten kein Geld gezahlt habe. Der Sender war über die Aktion noch vor Zumwinkel selbst informiert und mit einem Ü-Wagen vor Ort gewesen. Auch der SPIEGEL hatte vorab Bescheid gewusst. d e r

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das Zuschauerinteresse kühlte im Laufe der Sendungen merklich ab. Hatte die erste Folge noch einen Marktanteil von 20,0 Prozent bei der für die Privatsender wegen der Werbung wichtigen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen, so erreichte die bisher letzte Ausgabe nur noch 14,3 Prozent. In absoluten Zahlen verlor die Sendung rund 800 000 Zuschauer in dieser Altersgruppe. Beim Gesamtpublikum fiel die Quote von 3,85 Millionen auf 2,68 Millionen. Ob es trotz dieser Zahlen eine weitere Staffel geben wird, ist noch nicht geklärt. „Wir setzen uns nach der letzten Folge zusammen und entscheiden dann“, sagt ein ProSieben-Sprecher.

PATRIC FOUAD / PEOPPICT

FREDRIK VON ERICHSEN / DPA

Uri Geller entzaubert it großem Aufwand hatte ProSieben die Zaubertalentshow „The M Next Uri Geller“ angekündigt, doch

Geller


Fernsehen

TV-Vorschau Pop-Odyssee: Die Beach Boys und der Satan

Der große Tom Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD

Kindesverwahrlosung mal nicht als Schreckensgeschichte aus der Unterschicht, sondern als Fall aus bürgerlichen Kreisen. Die verlassene Mutter dreier Kinder (Aglaia Szyszkowitz) wirkt so gar nicht wie eine rabenmütterliche Schlampe. Sie ist nur immer weniger zu Hause, weil sie als verarmte Frau einem reichen Knacker (Herbert Knaup) zugetan ist, dem sie aus Feigheit nichts von der Existenz ihrer Kinder erzählt. Tom, 12 (WolfNiklas Schykowski), der Sohn, muss die Mutter im Haushalt und bei der Betreuung seiner beiden Schwestern ersetzen. Das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Niki Stein (Buch und Regie) hat einen Film gedreht, der unterkühlt, aber sehr gut beobachtend diese moderne Tragödie erzählt. Herausragend neben Szyszkowitz als durch innere Unsicherheit zu Tode gehetztes Muttertier spielt Sandra

Szyszkowitz, Schykowski (r.) in „Der große Tom“

Borgmann eine nachbarliche Singlefrau, die erst spät begreift, was sich abspielt. Moralisieren über falsches Wegsehen der Gesellschaft fällt nach diesem genauen Film schwerer.

Die Gustloff Sonntag/Montag, 20.15 Uhr, ZDF

Es war die schlimmste Schiffskatastrophe, die es je gegeben hat. Am 30. Januar 1945 ertranken in der eisigen Ostsee 9000 Menschen, darunter 4000 Kinder, nachdem drei Torpedos eines sowjetischen U-Boots das deutsche Flüchtlingsschiff „Wilhelm Gustloff“ getroffen hatten. Joseph Vilsmaier (Regie) und Rainer Berg (Buch) legen einen

TV-Zweiteiler vor, der das Desaster bezeugen soll. Vorzügliche Schauspieler (Kai Wiesinger, Valerie Niehaus, Heiner Lauterbach, Ulrike Kriener) und aufwendige Montagen können nicht verdecken, dass sich Historie im Fernsehen die Zumutungen des Genres gefallen lassen muss (SPIEGEL 3/2008). Dass da eine Liebesgeschichte erdichtet wurde, kann man eher hinnehmen als die Erfindung eines von den Sowjets gedungenen verräterischen Bordfunkers (Detlev Buck), dessen Falschmeldung das Schiff in die Katastrophe treibt. Wem die Fiktion nicht genügt, der sollte die nach der Ausstrahlung des Zweiteilers laufenden Dokumentationen sehen.

TV-Rückblick

vorweisen. Auch Ulrich, gelernter Seelenheiler und bekennender Hypochon37°: Mein Symptom und ich der, wirkt zunächst wie ein typisches 19. Februar, ZDF Produkt der Psycho-Szene. Doch die Dokumentation zeigt schnell, wie zerDer Hypochonder gilt gemeinhin als störerisch und lebensbedrohlich Furcht Witzfigur. Von Molière bis zu Harald vor Krankheit für die Betroffenen werSchmidt sind Gags mit eingebildeten den kann. Ulrich erkrankte tatsächlich Kranken uneingebildet erfolgreiche an einem früh erkannten Hodenkrebs, Nummern. Und wenn diese Reportage wurde geheilt, aber die Ein(Buch: Wolfram Dinkel, Rebildung verstärkte sich unergie: Claudia Willke) anhebt, träglich. Seinen Leidensgeglaubt man zunächst an eine nossen führte die HypochonFortsetzung der lustigen drie an den Rand des Suizids. Hypochondritis. Der gezeigte Nur die Angst, nach dem Tod Literat Jörn mit seiner Baskeine Angst mehr zu haben, kenmütze sieht aus, als würde hielt den unglücklichen Dicher gleich wie der unsterbliche ter Jörn zurück. Die eingeKomiker Diether Krebs sagen: bildete Krankheit, so lautete „Ich bin der Martin“ und seidas Fazit dieser ruhig-nachnen Norweger-Pullover als denklichen Reportage, kann alternativen Ausweis für die zur echten Krankheit werden. Mitgliedschaft in der lebensMan muss sie behandeln. langen Therapiegesellschaft Hypochonder Jörn AXEL SCHÄFFLER / ZDF

Odysseen sind normalerweise Rückkehrgeschichten aus abenteuerlichem Elend ins heimatliche Glück. Hier geht es andersherum. In Originalaufnahmen aus den Sechzigern und Interviews schildern Mitglieder der Beach Boys um Produzent und Sänger Brian Wilson ihr frühes Angekommensein. Der Zuschauer surft (Buch und Regie: Christoph Dreher) mit den fünf Sonnyboys vor kalifornischen Stränden: dazu „Pet Sounds“, das niemals vollendete Album „Smile“ – herrlich einfältige Hymnen auf die Californian Dreams. Doch dann geht es zu Skylla und Charybdis, und Heimat wird es nie mehr geben. Die Beach Boys sprechen von Drogenerfahrungen, vom Verwelken der Flower-Power. Die Mitglieder der Manson Family begehen ihre Mordrituale. Eines der Opfer: Sharon Tate, die schwangere Frau Roman Polanskis. Bilder der Toten und Interviewsequenzen von „Satan“ Charles Manson, der mit Dennis Wilson, dem Bruder Brian Wilsons, bekannt war, schocken. Von frühem Glück und späterem Zerschellen handelt dieser eindrucksvolle Film über den Verlust der Unschuld.

BETTINA MÜLLER / HR

Dienstag, 0.30 Uhr, ZDF

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Medien

RTL-Hilfsprogramm „Teenager außer Kontrolle“, TV-Sozialarbeiter Sonnenburg*, Zwegat: Wenn der Staat nicht hilft, was bleibt einem Vater

T V- P R O G R A M M

Helden der Sozialarbeit Der Wohlfahrtsstaat geht in die Binsen. Die Jugendlichen enden in Suff, Drogen und Kriminalität, und mit dem Geld ist auch kein Auskommen mehr. Da ist es beinahe ein Trost, dass wenigstens das Sozialstaatsfernsehen von RTL mit allen diesen Problemen neuerdings spielend fertig wird.

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ass es einer im Fernsehen zu ein bisschen Ruhm gebracht hat, erkennt man spätestens daran, dass er irgendwann auf allen Kanälen parodiert wird. In letzter Zeit konnte man ziemlich oft Persiflagen auf Peter Zwegat sehen, den Schuldnerberater von RTL. Harald Schmidt hat ihn nachgespielt, wie er mit baumelnder Aktentasche am Arm und Sorgenfalte auf der Stirn ein tadelndes „Mann! Mann! Mann!“ ausstößt und saumselige Schuldner zu mehr Sparsamkeit anhält. Auch Günther Jauch und Bastian Pastewka haben Zwegat nachgeahmt, und es ist nicht schwer, den Reiz, den diese Figur auslöst, zu erahnen. Der Schuldnerbera108

ter personifiziert in seiner väterlichen Strenge und Hilfsbereitschaft so etwas wie die Idealform des guten alten Sozialstaats. Wenn er in die Wohnung tritt, sich die Probleme anhört und Lösung in Aussicht stellt, dann ist das auf altmodische Weise beruhigend. So wie zu Zeiten, als der Arzt noch zu Hausbesuchen kam oder das Volk Norbert Blüm noch traute, wenn er sagte, die Rente sei sicher. Doch während Blüm sich heute nur noch auf Kabarettbühnen in Rückzugsgefechten übt oder auf der Couch von Sandra Maischberger im Takt federt, spielt Schuldnerberater Zwegat eindeutig die Heldenrolle. * Mit dem am 8. Februar verstorbenen David. d e r

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Jede Geste belegt und jede Kameraperspektive bekennt: Hier kennt einer den Ausweg aus der Misere. Diese Inszenierung funktioniert nur, weil Zwegat, der seit 20 Jahren als Schuldnerberater in Berlin arbeitet, ebenso erfahren wie glaubwürdig ist. So ähnlich wie Zwegat machen beim Privatsender RTL auch der Streetworker Thomas Sonnenburg („Die Ausreißer“), die Pädagogin Katharina Saalfrank („Die Super Nanny“) und die Jugendtherapeutin Annegret Fischer Noble („Teenager außer Kontrolle“) Fernsehkarriere. Die Quoten aller dieser Sendungen sind gut oder sehr gut. Jedes Mal schauen drei, vier, manchmal fünf Millionen Menschen zu.


FOTOS: RTL

schließlich anderes übrig, als einen Vertrag mit einem Fernsehsender zu unterschreiben?

Es ist erstaunlich: Der Sozialstaat ist auf dem Rückzug. Das Vertrauen der Deutschen in seine Leistungen, etwa in ihre Altersvorsorge, sinkt. In Umfragen beklagt sich eine wachsende Mehrheit über steigende Ungerechtigkeit. Im Wahlkampf malen Politiker das Bild eines Landes, das seiner kriminellen Jugendlichen nicht mehr Herr wird. Und im Fernsehen steigen Sozialarbeiter zu Helden auf und vermitteln die Botschaft: Wenn du ein Problem hast – mit ein bisschen eigener Anstrengung und unserer Hilfe kommst du da raus. Anders als in einer Unzahl von HelpTV-Formaten, in denen Wohnungen und Beziehungen ein bisschen neue Farbe bekommen, geht es hier nicht mehr allein um das private Glück, sondern um soziale Probleme, mit denen sich auch die Politik herumschlägt. Am Mittwoch dieser Woche startet die zweite Staffel der Doku-Soap „Teenager außer Kontrolle“. Genau auf dem Feld, auf dem Hessens Ministerpräsident Roland Koch vor ein paar Wochen einen Wahlkampf für sich zu entscheiden suchte, tritt Annegret Fischer Noble auf, als eine Art Jeanne d’Arc im Kampf mit Jugendlichen, die saufen, treten, dealen und ihre Mutter „Fotze“ nennen. Wo sonst keiner mehr helfen kann – sie schafft es.

Vielleicht ist dieses Kunststück gar nicht mal so groß, wenn man bedenkt, dass die Jugendlichen 8000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt in der amerikanischen Wüste mit Zelt und Rucksack ausgesetzt werden und ziemlich abhängig sind von ihren Betreuern. Die Outdoor-Therapie von Fischer Noble ist weit entfernt von jeder Kuschelpädagogik. Am Anfang werden erst einmal Piercings, Zigaretten, Schmuck und Handys eingesammelt, die eigenen Klamotten werden gegen Einheitskleidung eingetauscht. Selbstverständlich sind die jugendlichen Biografien die reinsten Katastrophen, bis Fischer Noble eingreift. Selbstverständlich ist sie erfolgreich. Widerspenstige Kotzbrocken werden innerhalb weniger Wochen zum Entzücken ihrer Eltern. Das Teenager-Camp ist ein Mittelding zwischen luxuriösem Therapie-Wandern für ausgeflippte Kinder und „Unterwerfungsritualen“, wie es ein kritischer Erziehungswissenschaftler zur ersten Staffel anmerkte. Die bayerische Familienministerin Christa Stewens fühlte sich damals an „Dressur und Drill“ erinnert und meinte, das Format tauge nicht zum Vorbild für verunsicherte Eltern. Doch das war lange vor Roland Kochs Wahlkampf. d e r

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Die Eltern, die ihre Kinder in die Obhut von RTL geben, haben offenbar ohnehin keine andere Hoffnung mehr und nur noch Reste von Stolz. Man sieht das daran, wie sich die Familien den Zuschauern vorstellen: „Mein Name ist Jürgen Eckert“, sagt ein Vater, zeigt erst auf die Frau neben sich: „Das ist meine Ex-Frau Evi Eckert“ – und dann auf seinen Sohn, der sich im Hintergrund rumdrückt: „Und das dahinten ist der Serieneinbrecher Andreas.“ Der Vater eines Sohnes, der in die rechte Szene abgedriftet ist, sagt dann auch, warum das RTL-Camp der letzte Ausweg ist für seinen Sohn: „Sämtliche Schulpsychologen und Jugendämter – es hilft dir ja keiner.“ Die Deutschamerikanerin Fischer Noble findet diese Haltung ziemlich passiv: „Die deutschen Eltern erwarten immer, dass der Staat ihnen hilft.“ Und wenn er es nicht tut, was bleibt einem als Vater da schließlich anderes übrig, als einen Vertrag mit einem Fernsehsender zu unterschreiben? Das Sozialstaatsfernsehen hat wenig zu tun mit dem „Unterschichtenfernsehen“, das der Historiker Paul Nolte vor drei Jahren anprangerte und in dem Arbeitslose sich selbst gegenübersaßen und zelebrierten, wie sie sich eingerichtet hatten am unteren Rand der Gesellschaft. Beinahe missionarisch vertreten dagegen Zwegat, Sonnenburg, Saalfrank und Noble die Überzeugung, dass sich die Dinge auch ändern können. Gefilmt werden nicht einfach mehr Asoziale und Schmarotzer, sondern Menschen, die Hilfe brauchen – und einen Anstoß, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Rund vier Millionen Deutsche schauen im Schnitt zu, wenn der Streetworker Thomas Sonnenburg in der RTL-Reihe „Die Ausreißer“ versucht, Jugendliche von der Straße zu holen. Seine Fälle enden nicht immer gut. Vor zwei Wochen etwa starb David, einer der Jugendlichen, die in der Reihe zu sehen waren, vermutlich durch Selbstmord. Eine andere Ausreißerin, Jenny, die mit 17 Jahren den Schnaps flaschenweise soff, unterzog sich zwar einem Entzug, machte dann aber eine Kehrtwende und landete wieder auf der Straße. Was Sonnenburg zeigt, ist keine leichte Unterhaltung. Weil er aber unerschütterlich freundlich und zuversichtlich auftritt, macht er das Abstoßende sympathisch. Sein erklärtes Ziel: „Ich will zeigen, dass der Penner an der Ecke kein Arschloch ist, sondern ein Mensch mit einer Geschichte.“ Die 45-minütigen Filme, die sich jeweils mit einem Jugendlichen beschäftigen, sind zusammengeschnitten aus monatelanger Dauerbegleitung mit und ohne Kamera. Sonnenburg arbeitet seit 15 Jahren als Streetworker, und er hat beobachtet, „dass die Menschen sensibler geworden sind, weil immer mehr selbst ein Problem haben“. Die gleiche Erfahrung macht er, 109


MONTAG, 25. 2. 22.50 – 23.20 UHR SAT.1

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REPORTAGE

Flammendes Fanal – 75 Jahre Reichstagsbrand

Kommunistische Verschwörung oder ein von Hitler in Auftrag gegebener Brandanschlag? Verurteilt und hingerichtet wurde ein Einzeltäter: der Holländer Marinus van der Lubbe. Rekonstruktion eines politischen Kriminalfalls, der als Vorwand zur brutalen Verfolgung von NS-Gegnern diente. DIENSTAG, 26. 2. 23.15 – 0.10 UHR VOX

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EXTRA

Tuning-Kult – Von PS-Protzern und Luxusschlitten

Auf Deutschlands Straßen sind immer mehr Individualisten unterwegs, die nichts so sehr verachten wie eine Serienausstattung. SPIEGEL TV begleitet Hardcore-Schrauber, Airbrush-Meister und Geschwindigkeits-Freaks. FREITAG, 29. 2. 22.45 – 0.45 UHR VOX

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THEMA

Die Chemie des Todes – Mordermittlung im Labor, Teil 3/3

Verbrechen, die noch vor wenigen Jahren ein Fall für die Akten waren, können Experten heute mit Hilfe modernster Kriminaltechniken aufklären. SAMSTAG, 1. 3. 22.15 – 0.20 UHR VOX

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SPECIAL

Verbotene Rettung – Die Flüchtlingsfahrt von U 3505

Millionen flohen in den letzten Kriegsmonaten vor der anrückenden Roten Armee aus Ostpreußen. SPIEGEL TV erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Rettung. SONNTAG, 2. 3. 23.00 – 23.45 UHR RTL

SPIEGEL TV

MAGAZIN Trotz Zölibat – die heimlichen Kinder der katholischen Priester; Die Schläfer sind unter uns – al-Qaida-

Nachwuchs in Deutschland; Der

KNP

Traum vom Riesennugget – Goldrausch in Alaska; Wertarbeit auf vier Pfoten –

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Exportschlager Schäferhund.

seit seine Arbeit im Fernsehen zu sehen die Pelle, spricht mit der weiten Verist. Ausreißerin Jenny etwa, die früher wandtschaft der Schuldner. „Ich dachte, Sie sind so gut wie der von auf der Straße von Passanten öfter getreten worden sei, könne sich jetzt, wenn sie RTL“, nölte da schon mancher Ratsuchenvor McDonald’s schnorre, „vor Cheese- de, wenn er seine Unterlagen selbst ordnen burgern kaum noch retten“, seit ihr Fall musste oder erfuhr, dass es keinen dieser Verhandlungstermine mit der Bank gebe, zu sehen war. Vor ein paar Tagen, erzählt Sonnenburg, die bei Zwegat immer wie ein Showdown habe er, als er Jenny aufsuchen wollte, inszeniert sind, sondern bloß Briefverkehr. In der Realität warten Schuldner in beobachtet, wie „so ein Anzugträger, vermutlich ein Banker“, sich auf Augenhöhe Großstädten manchmal ein Jahr bis zum zu Jenny hinhockte und sie zu überreden versuchte, doch wieder Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als er bei „Stern TV“ im Internet-Chat Fragen beantwortete, schalteten sich 80000 User dazu. Fast 7000 hatten Fragen an ihn. „Ich bin kein sozialer Hero“, sagt Sonnenburg. Trotzdem fragte ihn neulich eine Frau, ob er nicht den Nintendo ihres Sohnes signieren könne. Das fand der Streetworker eher lästig. Vielleicht ist diese Entwicklung auch nur folgerichtig. Wenn man die Bundesbürger fragt, welchen Menschen sie am meisten vertrauen, dann landen die RTL-Stars Günther Jauch und Peter Kloeppel auf den Plätzen eins und drei, vor Bundespräsident Horst Köhler (5.) und Altkanzler Helmut Schmidt (17.). Vor allen aktiven Parteipolitikern rangieren sie sowieso. Warum sollten die Deutschen dann nicht auch in Sachen Sozialstaat lieber Fernsehstars vertrauen? Die Protagonisten des realen Sozialstaats finden die Pädagogin Saalfrank: Hilfe wird zu einem Luxusgut Konkurrenz auf dem Bildschirm indes eher hilfreich. „Das wertet ersten Beratungsgespräch. Es bleibt wenig unsere Arbeit auf“, sagt Tina Rehder, Zeit für den einzelnen Fall. Jedenfalls viel Schuldnerberaterin der Arbeiterwohl- zu wenig, um Verhalten zu ändern. „Vor zehn Jahren“, sagt Schuldnerbefahrt Schleswig-Holstein. Es kommen Ratsuchende auf sie zu, erzählen von der raterin Mechtild Kuiter-Pletzer, „habe ich Schuldenshow und sagen, da hätten die noch Hausbesuche gemacht.“ Doch das Leute aber großes Glück gehabt, den gibt es heute nur noch im Fernsehen. Die Kassen werden leerer. Die sozialen Herrn Zwegat von RTL zu bekommen. „Das meiste, was er macht, machen wir Risiken steigen. Viele Kommunen sparen die Stellen von Sozialarbeitern ein. Hilfe auch“, sagt Rehder dann. Manchmal allerdings schraubt der Fern- wird knapp und zu einem Luxusgut. Und sehmann auch die Ansprüche der Klienten Luxus lieferte das Fernsehen schon immer am liebsten. in die Höhe. Am Ende ist dann das Fernsehen Denn so intensiv wie sich Peter Zwegat mit einem TV-Sender im Rücken um je- tatsächlich besser als der Sozialstaat. In den Einzelfall kümmert, können es die Moskau lieferte dafür eine skurrile TVSchuldnerberater des Alltags nicht leisten. Show den Beweis. Der Sender NTW koDer Fernsehmann hat viel Zeit. Er fährt zu operierte mit einem privaten Rettungsden Gläubigern. Ihm kippen die Schuldner dienst, der oft schneller am Einsatzort war ihren ganzen Papierkram einfach auf den als staatliche Notdienste. Der Preis für die Tisch – die Arbeit erledigt er quasi in der rasche Hilfe: Die Lebensrettung war im Werbepause. Zwegat rückt den Banken auf Fernsehen zu sehen. Markus Brauck d e r

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RTL

Medien


Ausland

CNN (L.); AL JAZEERA (R.)

Panorama

Fernsehbilder vom türkischen Einmarsch im Nordirak

terpartei PKK, wie sie vorgibt, sondern uns, den irakischen Staat. Wir haben den türkischen Vertreter noch am heiligen Freitag einbestellt und ihm eine starke Protestnote überreicht. SPIEGEL: In ersten Berichten hieß es, bis zu 10000 Mann sei- Sebari en in den Nordirak eingerückt. Sebari: Eine solch breite Offensive können wir nicht erkennen. Die dichtbevölkerten Landstriche im Nordirak, unsere Städte, sind von den Operationen nicht betroffen. Was immer dort passiert, spielt

sich in sehr entlegenen Regionen ab. SPIEGEL: Ist also alles nur halb so schlimm? Sebari: Nein. Die Situation ist ernst. Und falls die Türkei vorhaben sollte, die Grenze künftig routinemäßig zu überschreiten, wird die Lage eskalieren. Dann steht alles auf dem Spiel, was wir in Kurdistan, unserer friedlichsten Region, erreicht haben. Wir können und werden es nicht dulden, wenn die türkische Armee hier nach Belieben ein- und ausmarschiert.

Offensive im Schnee T

rotz aller Vorwarnungen kam sie am Donnerstag überraschend, die größte türkische Bodenoffensive gegen kurdische PKK-Rebellen im Nordirak seit Jahren. Zwar hatte das Parlament in Ankara schon im Oktober die Erlaubnis zum Angriff gegeben, zwar hatten türkische Kampfjets seit Dezember immer wieder Stellungen der PKK bombardiert. Doch mit dem Einsatz von Bodentruppen wolle man warten, „bis der Schnee in den Bergen schmilzt“, hieß es stets aus Militärkreisen. Es war aber immer noch tiefster Winter, als sich die türkischen Soldaten am Donnerstagabend in Bewegung setzten – die Panzerkolonnen, die Gebirgsjägereinheiten und Hubschrauber, die man auf türkischen TV-Kanälen in einer Endlosschleife sehen konnte. Welches Ausmaß die Militäraktion hatte, war zunächst unklar: Während türkische Medien meldeten, zwei Brigaden von je 5000 Mann seien bis zu 30 Kilometer hinter die Grenze ausgerückt und wollten

„Die Türken schädigen unseren Staat“ Iraks Außenminister Hoschjar Sebari, 54, über Ankaras Vorstoß SPIEGEL: Herr Minister, Sie sind selbst Kurde – wie beurteilen Sie den Einmarsch der Türken im Nordirak? Sebari: Sie haben zwei Brücken über den Sab-Fluss bombardiert. Wenn die türkische Armee Infrastruktur vernichtet, schädigt sie nicht die Kurdische Arbei-

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ALI ABBAS / AP

zwei Wochen im Land bleiben, gingen die irakische Regierung und US-Militärkreise in Bagdad nur von „einigen hundert Soldaten“ aus. Beim Bundesnachrichtendienst sprach man von höchstens 3000 Soldaten und erwartete ein schnelles Ende der Aktion. Bis Freitagabend gab es Berichte über 5 türkische und mehr als 40 kurdische Todesopfer. Unklar ist, welches Ziel die Türken mit der Offensive eigentlich verfolgen: Die großen Camps der PKK liegen im Kandil-Gebirge, weit außerhalb der Reichweite des jetzigen Vorstoßes. Und die grenznahen Stellungen dürften im Winter weitgehend verlassen sein. Ein hohes Mitglied der irakischen Zentralregierung sah die Sache am Freitag gelassen: „Ich vermute, es ging der Armeeführung darum, mit ihrer Kampferlaubnis etwas anzufangen und sich gegenüber der türkischen Öffentlichkeit zu legitimieren“, sagte er dem SPIEGEL. Für die amerikanische Diplomatie ist der

Einmarsch der Türken eine bittere Niederlage. Die Regierung in Washington gibt zwar an, man sei vorher in Kenntnis gesetzt worden und habe die Türken gebeten, ihre Operation zeitlich zu begrenzen sowie direkt mit den Irakern zusammenzuarbeiten. Doch bei den Amerikanern in Bagdad ist der Missmut groß. Seit Monaten hatten Pentagon und Weißes Haus versucht, Ankara vom Schaden einer Bodenoffensive zu überzeugen. In seltener Klarheit hatte USVerteidigungsminister Robert Gates gewarnt, ein Angriff „würde eine internationale Krise heraufbeschwören und die Stabilität des Irak weiter untergraben“. Die türkische Regierung hatte sich in letzter Zeit um Annäherung an den Irak und die kurdische Autonomieregierung bemüht. Noch in der vergangenen Woche äußerte sich der Nationale Sicherheitsrat, das wohl wichtigste Machtzentrum der Türkei, versöhnlich: Man sei angesichts der positiven Entwicklungen im Irak an guten Beziehungen interessiert. In der Zeitung „Hürriyet“ stand tags darauf, die Türkei reiche Bagdad einen Olivenzweig zum Frieden – da waren die Soldaten längst einmarschiert.

IRAK

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Panorama

Giovanni Strangio von der ’Ndrangheta wurde nach den Duisburger Morden vorigen Sommer ergriffen

Vincenzo Licciardi, führender Kopf der Camorra, bei seiner Festnahme am 7. Februar in Neapel

I TA L I E N

Kräftige Tentakel D Elia Giuseppe Giosafatte ging bei der Fahndung nach den Duisburger Morden in Süditalien ins Netz

Joseph Corozzo, „Consigliere“ der amerikanischen Cosa Nostra, am 7. Februar in New York

IRAN

Stille Revolution

B

ei der Parlamentswahl in gut zwei Wochen bahnt sich eine Überraschung an. Für die 290 Sitze im Madschlis kandidieren diesmal mehr Angehörige der radikalen Revolutionswächter als je zuvor im Gottesstaat. Politische Beobachter in Teheran rechnen damit, dass die Pasdaran das Abgeordnetenhaus künftig sogar dominieren werden – das käme ei114

ie mächtigste Mafia hat ihr Stammland gibt Femegerichte, und auch geheiratet wird nicht mehr in Sizilien, sondern in Kala- nur untereinander. Die ’Ndrangheta, die auf brien. Sie heißt ’Ndrangheta und ist auf- einen Jahresumsatz von 35 Milliarden Euro gebaut wie das Terrornetzwerk al-Qaida. geschätzt wird, steckte auch hinter den Duis„Eine Tentakel-Struktur ohne strategische burger Rachemorden. Führung, aber mit einer Art organischer In- Die klassische Mafia in Sizilien konkurriert telligenz“, so beschreibt sie der Chef der inzwischen mit der ’Ndrangheta und der Caparlamentarischen Anti-Mafia-Kommission, morra um Neapel auf dem kriminellen DroFrancesco Forgione: „Es sind kriminelle genmarkt. Noch immer zahlen die meisten Moleküle, die auseinanderspritzen und sich sizilianischen Betriebe auch Schutzgelder an die Cosa Nostra. In Kampanien kontrolliert in der Welt verbreiten.“ die Camorra große Teile Während die Sicherheitsbehörden gegen die siziITALIEN A p u l i e n der Abfallwirtschaft, den lianische Cosa Nostra zuRom Sacra Handel mit gefälschten Markenprodukten, den letzt spektakuläre ErfolCorona Bari ge vorweisen konnten, Unita Drogenmarkt und über Strohfirmen den Bausekgriffen sie in Kalabrien Neapel tor bis hinauf in den Norzumeist ins Leere. Vorige Kamp anien den. Vergleichsweise unWoche allerdings gelang Camorra spektakulär ist in Apues ihnen, den „Supremo“ lien die Sacra Corona (den „Höchsten“) zu verKalab rien 100 km Unita aktiv, die enge haften: Pasquale Condel’Ndrangheta Kontakte zur Organisierlo. Trotzdem, in den 143 Catanzaro ten Kriminalität in OstClans zwischen CatanzaPalermo europa unterhält. Auch ro und Reggio di Calabria sie gilt nach etlichen funktioniert sie noch, die Mafia- Fahndungserfolgen als Familie. Kronzeugen fin- Sizilien den sich kaum welche. Es Cosa Nostra Syndikate geschwächt.

ner stillen Revolution gleich. Im noch amtierenden Parlament werden ihnen etwa 50 Mandatsträger zugerechnet. Die Eiferer-Truppe wurde 1979 von Ajatollah Chomeini als paramilitärische Einheit gegründet, um innere wie äußere Feinde der Islamischen Republik zu bekämpfen; in der Bevölkerung sind die Radikalen als Sittenwächter gefürchtet. Zu den größten Förderern der 125 000 Mann starken Garde, die dem Chomeini-Nachfolger Ajatollah Chamenei untersteht, zählt Staatschef Mahmud Ahmadinedschad. Er bed e r

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gann seinen Aufstieg als Kommandeur der Pasdaran; mehr als die Hälfte der 21 Ministerämter in seinem Kabinett hat er mit ehemaligen Offizieren der Garden besetzt. Bei der Wahl kandidieren die Pasdaran vor allem auf der Liste der „Prinzipientreuen“ – so nennt sich die Fraktion um Ahmadinedschad. Zahlreiche hohe Militärs, darunter der oberste Chef der Revolutionsgarden, Mohammad Ali Dschaafari, werben offen für die ultrakonservative Gruppe. Die Unterstützung der Prinzipientreuen, so Dschaafari, sei


Ausland PA K I S TA N

„Musharraf muss gehen“

Francesco Vottari von der ’Ndrangheta am 12. Oktober 2007 im süditalienischen Loccri

Camorra-Boss Edoardo Contini wird am 15. Dezember vorigen Jahres in Neapel abgeführt

„von Allah gewollt“. Die Reformer und die gemäßigt Konservativen, die bei den Kommunalwahlen 2006 noch einen Erdrutschsieg feiern konnten und auf ein Comeback hoffen, wurden fast komplett ausgebootet. Das Innenministerium verweigerte mehr als 2000 Kandidaten die Zulassung zur Wahl. Selbst etliche Konservative dürfen nicht antreten, weil sie als zu kritisch gelten. Ausgerechnet die Revolutionsgardisten sollen nun am Wahltag, dem 14. März, auch noch die Wahlurnen kontrollieren – um Manipulationen zu verhindern.

LANDOV / INTERTOPICS

Pasquale Condello, Führer der ’Ndrangheta, wurde Montag voriger Woche in Reggio di Calabria gestellt

unserem Volk vor. Wenn er politisch überlebt, wird es nie wieder unabhängige Richter geben; Extremismus und Terrorismus würden weiter gedeihen. SPIEGEL: Wird die neue Koalition den Terrorismus an der Grenze zu Afghanistan erfolgreicher bekämpfen können? Ahsan: Sicher wird auch diese Regierung beim Kampf gegen den Terror mit dem Westen kooperieren. Die Rückkehr zur Demokratie und eine breite Koalition allein werden den Extremismus nicht ausradieren. SPIEGEL: Bhuttos Witwer Asif Ali Zardari als Führer der Volkspartei PPP und Ex-Premier Nawaz Sharif, Chef der Muslimliga, wollen koalieren, können wegen anhängiger Korruptionsvorwürfe derzeit aber nicht selbst Regierungschef werden. Sie waren enger Vertrauter von Benazir Bhutto, haben einen untadeligen Ruf und gelten als aussichtsreicher Kandidat für das Amt des Premiers. Ahsan: Noch hat mich keiner gefragt. Aber ich hoffe, dass meine Landsleute und meine Partei PPP das Gleiche wollen. Ich bin bereit, jede Verantwortung zu übernehmen.

SPIEGEL: Bedeutet der klare Erfolg der Opposition bei der Parlamentswahl das Ende für Präsident Pervez Musharraf? Ahsan: Die Ermordung Benazir Bhuttos war tragisch, und die Verantwortlichen sind noch immer nicht gefasst. Musharraf hat den Obersten Richter des Landes, Iftikhar Chaudhry, und 60 seiner Kollegen entlassen und samt Familien unter Hausarrest gestellt. Die Empörung über beide Vorgänge hat unser Land geeint. Musharraf ist der unpopulärste Mann unserer Geschichte, er muss gehen. SPIEGEL: Aber er ist der wichtigste Alliierte der USA im Kampf gegen den Terror, und der Druck aus Washington ist groß. Ahsan: Amerikas bisherige PakistanPolitik ist völlig falsch. Die wichtigsten Waffen gegen den Terrorismus sind demokratische Rechte und eine unabhängige Justiz. Beides enthält Musharraf

FRANKREICH

Späte Lehre

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napp 22 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl berät die Regierung in Paris erstmals über konkrete Konzepte, wie mit Langzeitfolgen eines vergleichbaren Super-GAU umzugehen sei. Die Debatte rührt an ein Tabu: In dem Land mit der neben Belgien und Slowakei größten Atomkraftdichte in Europa – 20 Anlagen mit 59 Reaktorblöcken produzieren 78 Prozent des Stroms – galt ein vergleichbarer Unfall bislang offiziell als „wenig denkbar“. Der künftige Katastrophenplan soll nicht nur die kritische Phase unmittelbar nach einer Kernschmelze umfassen, auf die sich die Übungen für Feuerwehr, Polizei und medizinisches Personal bisher beschränkten. Er soll auch über die Notstandspläne für einen Radius von zehn Kilometern um den Meiler hinausgehen. Damit wird die neue Sicherheitsdoktrin erstmals die Konsequenzen eines atomaren Fallout auf Wohn- und Industriegebiete einschließen sowie den Umgang mit verseuchtem Grundwasser oder kontaminierten Agrarböden. Die Experd e r

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ten gehen dabei von einem Rohrbruch im Dampfkreislauf oder einer Teilschmelze in einem Reaktorkern aus. Wie überfällig solche Pläne sind, zeigt ein Expertenpapier, das die Grünen im Europaparlament präsentierten. Es spricht von jährlich 600 bis 800 „signifikanten Zwischenfällen“ in französischen Kernkraftwerken.

EYEDEA / LAIF

Domenico Nirta wurde im Zusammenhang mit den Morden in Duisburg als Verdächtiger festgesetzt

V.L.N.R.: FRANCO CUFARI/DPA; FRANCO CASTANO'/AP; POLIZIA SCIENTIFICA/AFP; AFP; ADRIANA SAPONE/AP; REUTERS; JASON B. NICHOLAS/ATLASPRESS; RICCARDO SIANO/ROPI

Aitzaz Ahsan, 62, Vorsitzender der renommierten Anwaltskammer und aussichtsreicher Kandidat für den Posten des Premiers, über die Zukunft des Landes

Atomkraftgegner 115


Ausland

Präsidentschaftskandidat Medwedew: „Niemand sollte seine Höflichkeit mit Schwäche verwechseln“

DIMITRY ASTAKHOV / ITAR-TASS

RUSSLAND

Der Traum des Zarewitsch Dmitrij Medwedew will am Sonntag neuer Präsident werden. Aufgestiegen als Zögling Wladimir Putins, wirbt er plötzlich für mehr Rechtsstaat, Markt und Medienfreiheit. Doch in Moskau gibt es Zweifel, dass aus dem Neuen ein vollwertiger Staatschef werden wird.

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icht an der Kreml-Mauer, im senfgelben Gebäude des ehemaligen Senats, hat Russlands Staatsoberhaupt sein Arbeitszimmer: zweiter Stock, Blick zum Roten Platz, spärliche Insignien der Macht. Auf dem Schreibtisch liegen gespitzte Rotstifte griffbereit für letzte Korrekturen. Vor der holzgetäfelten Wand, unter aufgepflanzter Präsidenten-Standarte, steht ein Tisch mit goldverzierten Beinen. An dessen unterem Ende haben sich, dokumentiert vom Staatsfernsehen, regelmäßig die Schuldigen für Pannen und Versäumnisse im russischen Riesenreich einzufinden: Gouverneure, Minister, Vizepremiers, auch der Regierungschef selbst. Sie drücken dabei nach Kräften das Kreuz durch und rapportieren. Am oberen Tischende sitzt währenddessen der Präsident, zurückgelehnt zwar 116

im Ledersessel, dabei aber spannungsgeladen wie eine gestauchte Sprungfeder. Dauert ihm ein Vortrag zu lang, etwa über Bildungspolitik, dann schnappt er kurz zu: „Und, kommt die Arbeit voran?“ Oder er befiehlt im Handstreich mehr Gehalt für Hunderttausende im Gesundheitssystem. Und erhält daraufhin eilfertig zur Antwort: „Die Regierung steht bereit.“ So lief das im Kreml bisher. So hat das, wortwörtlich, Dmitrij Medwedew vor einiger Zeit erlebt, Russlands Erster Vizepremier. Er war der Mann am unteren Tischende. Oben saß Wladimir Putin. Die bewährte Tischordnung gilt noch bis Sonntag. Dann soll der bislang eher lichtscheue Medwedew auf Putins Vorschlag hin zum neuen Präsidenten gewählt werden. Nach der offiziellen Amtsübergabe im Mai wiederum will Putin, seit acht Jahd e r

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ren im höchsten Staatsamt, auf Medwedews Vorschlag hin den untergeordneten Posten des Regierungschefs übernehmen. Dass Koch und Kellner einträchtig verkünden, die Schürzen tauschen zu wollen, kommt in der Politik selten vor. In den streng hierarchisch gegliederten russischen Führungszirkeln galt es bisher als undenkbar. Nun, da beim anstehenden Rollentausch nichts weniger als die Macht im Land auf dem Spiel steht, geraten selbst erprobte Kreml-Astrologen ins Grübeln. Was treibt Wladimir Putin, den populärsten Kreml-Herrn seit langem, nach Ende seiner verfassungsgemäßen Amtszeit ins zweite Glied zu wechseln? Was spricht für den Nachfolger Dmitrij Medwedew, 42, einen bisher vor allem als dienstbar bekannten Juristen aus St. Petersburg? Nur die Fähigkeit, sich unterzuordnen? Droht


MIKHAIL KLIMENTYEV / AP

Mentor Putin: Eine Mimik, die beständig latente Angriffslust verrät

Russland eine Doppelherrschaft unter veränderten Vorzeichen – mit Putin, nun als Premier, weiter auf der Kommandobrücke und Bootsmann Medwedew im Kreml? In einer Ansprache vor dem Staatsrat gab Wladimir Putin der wiedererwachenden Supermacht Russland zuletzt noch einmal ehrgeizige Ziele vor – und zwar gleich für den Zeitraum bis 2020. Und hat damit, einmal mehr, Köder ausgelegt für die hungrige Meute der Kreml-Interpreten: Nach vier Jahren Medwedew-Interregnum stünden ab 2012 dem dann 59-jährigen Putin zwei weitere Amtszeiten zu. Es geht beim Moskauer Positionsschach derzeit darum, wer langfristig das Sagen haben wird im größten Flächenstaat der Erde. Wer bestimmt, was mit den gewaltigen Reichtümern des Landes an Öl, Gas und Diamanten geschieht, mit Gold- und Devisenreserven im Wert von fast einer halben Billion Dollar, mit dem zweitgrößten Atomwaffenarsenal der Welt und Giftschränken voller Geheimdienstakten. Wird es der schmächtige Medwedew sein, der bald mit den Größten der Welt auf den G-8-Gipfeln über die Weltfinanzkrise oder das iranische Atomprogramm debattiert? Wird er Zar – oder bleibt er Zarewitsch, wie die Zarensöhne einst hießen? Eine Spurensuche muss in St. Petersburg beginnen. In jener Stadt, die nicht nur die Heimat von Wladimir Putin ist, sondern auch der Geburtsort seines Nachfolgers.

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edwedew ist in Kuptschino geboren, einer lieblos hingewürfelten Vorstadt im Süden von St. Petersburg. Zwischen den fünf- und neunstöckigen Plattenbauten, trostlos graue Schlafstatt von 420 000 Menschen, und den prunkvollen Kathedralen und Palästen in der Innenstadt liegen nicht nur 30 Minuten Fahrt in der überfüllten Metro. Zwischen beiden liegt eine ganze Welt. Petersburg-Touristen werfen auf die Betonwüste bestenfalls einen gleichgültigen Blick: wenn sie von Osten den Flughafen Pulkowo anfliegen. Der Fabrikarbeitersohn Putin wurde in den fünfziger Jahren als Gassenjunge in der noch von Krieg und Zerstörung gezeichneten Altstadt groß, in einer überfüllten Kommunalwohnung nahe dem Schlossplatz. Sein Nachfolger aber ist ein Ziehkind der jüngeren Sowjetzeit und Professorensohn: Vater Anatolij hat am Technologischen Institut gelehrt, Mutter Julija war Philologin an der Pädagogischen Hochschule. Die Intelligenzlerfamilie bekam in Kuptschino eine eigene Wohnung, in einem Haus mit Lift. Der funktioniere

„Dass Dima schon lesen konnte, als er zu uns in die erste Klasse kam, hat früh zu Hoffnung Anlass gegeben“, sagt seine Lehrerin. d e r

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kaum noch, wie eine Nachbarin klagt, aber das werde sich „nun hoffentlich ändern“. Auch der verdreckte Eingang und der Hof bedürften einer pflegenden Hand – „bevor man eine Gedenktafel zu Ehren des neuen Präsidenten anbringt“. Kuptschino ist heute eine Bastion des Petersburger Arbeitermilieus. Wer es sich leisten konnte, ist weggezogen, hat sich eine Wohnung in der Innenstadt gekauft und schickt seine Kinder auf die Privatschule. Die dageblieben sind, haben jetzt allerdings Grund, stolz zu sein: auf Dmitrij Medwedew, den nun berühmtesten Sohn des Plattenbauviertels. Im Zimmer der Direktorin von Schule 305, einem Zweistöcker aus Sowjetfabrikation, steht das Foto des einstigen Schülers bereits gerahmt im Regal neben einem Puschkin-Porträt und einer Büste von Marschall Schukow. „Überaus erfolgreich“ sei ausgerechnet Medwedews Jahrgang gewesen, sagt die Direktorin. „Dass Dima schon lesen konnte, als er zu uns in die erste Klasse kam“, habe früh zu Hoffnung Anlass gegeben, ergänzt die ehemalige Klassenlehrerin. Auch in der Polit-Information sei er „hervorragend“ gewesen, interessiert habe er sich für Bücher und Musik. „Alle Schüler und Lehrer wünschen Dmitrij Medwedew Erfolg bei der Präsidentenwahl“, steht unter seinem Foto gleich beim Schuleingang. Nur jetzt nichts falsch machen, lautet das Motto, kein krummes Wort, jeder Bür117


Ausland ger ein Zacken im Zahnrad der Propagandamaschine, die den vorigen Dezember erst installierten Thronfolger nun in günstiges Licht tauchen muss. 75 Prozent aller Russen sind bereits entschlossen, am Sonntag für den Kreml-Kandidaten zu stimmen. Stolz prägt die Stimmung auch an der Juristischen Fakultät der Petersburger Staatsuniversität. Nach Kerenski, Lenin und Putin sei Medwedew der vierte unter den „russischen Führern seit dem Sturz des letzten Zaren, der hier studierte“, sagt Nikolai Kropatschow, der Dekan, der seit voriger Woche auch amtierender Uni-Rektor ist. Der Junge aus Kuptschino sei ihm

Fleiß gepaart mit Talent und guten Beziehungen sind Medwedews Trümpfe beim steilen Aufstieg bis in die Moskauer Machtelite. sofort aufgefallen: „Ein klarer, kluger Kopf, der scharf formulierte und unbequem war für die Lehrer. Wo andere aufhörten, da fing Medwedew an.“ Zwischen Legendenbildung und ehrlichem Lob zu unterscheiden fällt derzeit schwer. Immerhin gibt es wiederkehrende Muster in der Biografie, die den Schluss nahelegen, dass Medwedew an seinen Aufgaben wächst. Als „blatnoi“ galt er anfangs an der Uni, als einer von denen, die ihren Studienplatz guten Beziehungen nach oben verdankten. Der Vater hatte ihm zunächst eine Stelle als Laborant verschafft, gleichzeitig schrieb sich Medwedew als Abendstudent an der Jura-Fakultät ein. Die begehrte Bildungsanstalt liegt auf der Wassilij-Insel, zwischen der Großen und der Kleinen Newa, dort, wo die Straßen nur „Linien“ heißen. Haus Nummer 7 in der 22. Linie ist für Russland vielleicht das, was für Frankreich die Ecole nationale d’administration oder für England die Uni von Cambridge ist: eine Eliteanstalt. Sie ist die älteste Juristenschule Russlands, ihre Gründung hat Peter der Große angeregt, im Jahr 1724. Bemerkenswert, dass Medwedew hier bald und von allein den Sprung ins Direktstudium schafft. „Er war kein Einstein, er war Pragmatiker“, sagt seine frühere Mitstudentin Marina Lawrikowa, die heute dort Dozentin ist, „aber er fiel tatsächlich durch sein Wissen auf.“ Andere Ex-Kommilitonen sagen, es habe „wesentlich charismatischere Leute gegeben in jenem Studienjahr“. Schon im zweiten Jahr wird er für einen Konferenzbeitrag über den „Wirtschaftsmechanismus des entwickelten Sozialismus“ ausgezeichnet. Auch den Pflichtteil Militärausbildung im karelischen Dorf Chuchojanjaki absolviert er mit Erfolg – ein Foto zeigt einen Jungen mit ernstem Gesicht, der die viel zu große Kalaschnikow vor der schmalen Brust präsentiert. 118

Am Ende ist er Unterleutnant. Als kurz vor Studienende die Werber von den Gerichten, aus der Staatsanwaltschaft und vom KGB die Fakultät überschwemmen, entscheidet er sich zu bleiben: Er hat ein „Rotes Diplom“, er schafft mit drei anderen die Aspirantur – den Zugang zur Promotion. Seine Dissertation befasst sich mit dem Rechtsstatus von Staatsbetrieben in der Marktwirtschaft – Grundlagenforschung, die ihm später zugutekommen wird. Fleiß gepaart mit Talent und guten Beziehungen sind Medwedews Trümpfe beim steilen Aufstieg bis später hinein in die Moskauer Machtelite. Ein paar seiner Kommilitonen von einst hat er sich inzwischen nachkommen lassen: Chef des Obersten Schiedsgerichts, Vertreter des Präsidenten am Verfassungsgericht, Stellvertretender Generalstaatsanwalt oder Gasprom-Vorstand sind sie geworden.

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edwedews politische Karriere beginnt 1990 im Rathaus von St. Petersburg, damals noch Leningrad – beim Abgeordneten Anatolij Sobtschak. Der Juraprofessor war dem Studenten Medwedew vier Jahre zuvor aufgefallen, als Brigadeleiter beim gemeinsamen Kartoffelsammeln im Sowchos „Kommunar“ an der estnischen Grenze. Für Sobtschak sprach aus Medwedews Sicht, dass er nicht nur Tacitus und Plutarch gelesen hatte, Brodsky und Mandelstam. Er leitete auch den Lehrstuhl für Wirtschaftsrecht an der Universität. Der für Sowjetverhältnisse schillernde Jurist sprach früh von Mehrparteiensystem und Marktwirtschaft, er hatte Verbindung zum Nobelpreisträger Andrej Sacharow, und als er 1989 um ein Mandat als Volksdeputierter kämpfte, war unter den Helfern in seinem Wahlkampfstab der junge Medwedew: Er druckte Flugblätter und warb beim Volk für sein Vorbild. Als Sobtschak 1991 Oberbürgermeister wurde, holte er Medwedew zu sich in den Smolny. In den cremefarbenen Palast mit dem gleichnamigen Kloster nebenan, der dem Stadtoberen als Amtssitz zusteht und wo, wie kaum irgendwo sonst, die wechselvolle Geschichte der glanzvollen Metropole in Stein gefasst ist. Der Smolny, zu Zarenzeiten „Institut für höhere Töchter“, war 1917 von den Bolschewiki in Beschlag genommen worden. Von hier aus leiteten die Revolutionäre ihren Aufstand, hier rief Lenin den Sowjetstaat aus. Und hier wurde schließlich, am 1. Dezember 1934, der Leningrader Parteichef Kirow ermordet – das Attentat lieferte Stalin den Vorwand zum Startschuss für den „Großen Terror“. In den letzten Monaten der Sowjetunion aber, und in den Monaten danach, entsteht im Smolny die Keimzelle des späteren Putin-Staats. Die letzte Stunde der Planwirtschaft hat geschlagen, es ist die Zeit für Jungkapitalisten wie Glückssucher, und der Oberbürgermeister holt frische, fähige d e r

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Zukünftiger Oberbefehlshaber Medwedew im

Wahlkämpfer Medwedew in einer Farm bei St.

Köpfe in sein Team. Auch andere der heute Mächtigen sammeln sich damals an diesem Ort: German Gref, der spätere Wirtschaftsminister, Alexej Kudrin, heute Chef des Finanzressorts, oder Alexej Miller, nunmehr Vorsteher des Gasprom-Konzerns. Medwedew hat sich zu diesem Zeitpunkt in Juristenkreisen bereits einen Ruf als Zivilrechtler erworben. Im Umfeld Sobtschaks halten ihn Besucher seiner Unauffälligkeit wegen für den Telefonisten – in Wahrheit hat sich der 26-Jährige als juristischer Beistand der Stadtoberen verdingt. Welche Akten Medwedew damals zu begutachten hatte, ist strittig. Zeitzeugen wie der schwerreiche Petersburger Bauunternehmer Sergej Nikeschin, dem die Zeitung


Medwedew, der junge Jurist, so urteilt spöttisch einer der damals leitenden Moskauer Ermittler, sei beim postsowjetischen Monopoly im Petersburger Rathaus nur Mitläufer gewesen. Er selbst spricht von einer romantischen Zeit: „Wir spürten den ,wind of change‘. Die damaligen Jahre waren wichtig für unseren Weg hin zu einer zivilen Bürgergesellschaft.“

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FOTOS: DIMITRY ASTAKHOV / ITAR-TASS

Fliegerinstitut in Woronesch: In die meisten großen Machtkämpfe der letzten Jahre verstrickt

Petersburg, in der Waffenfabrik Ischewsk: Kinder küssen, Kühe streicheln, Eier braten

„Nowoje wremja“ vorwirft, dubiose Millionenaufträge unter Mitwirkung Medwedews erhalten zu haben, reagieren auf Fragen nach der Vergangenheit des künftigen Präsidenten schmallippig: „Medwedew? Sie werden verstehen, dass ich dazu derzeit gar nichts sagen kann.“ Verbürgt ist immerhin, dass es dem aufstrebenden jungen Mann nicht gelang, seinen Chef Sobtschak dauerhaft vor juristischen Nachstellungen zu schützen. Die Generalstaatsanwaltschaft diagnostizierte 1995 eine „Atmosphäre der allgemeinen Korruption“ in der Stadtverwaltung und entsandte eine Ermittlergruppe an die Newa. Mitbetroffen von den Vorwürfen war der Vizebürgermeister, ein schmaler, un-

scheinbarer Blondschopf, der in den Wirren der aufblühenden Marktwirtschaft das einflussreiche Komitee für Außenbeziehungen leitete – der also seine Finger an der Öse hatte, durch die Geschäfte auf dem lukrativen Petersburger Markt eingefädelt werden mussten. Der Blonde war Wladimir Putin. Medwedew stand dem 13 Jahre Älteren beratend zur Seite, blickte zu ihm auf, wie es Weggefährten empfanden, und war begeistert. Putins Stärken, so beschrieb Medwedew es dem SPIEGEL, seien schon im Smolny deutlich geworden: „Er konnte zuhören, sich in Einzelheiten vertiefen und kümmerte sich sogar darum, wenn Anrufer einen Wasserrohrbruch meldeten.“ d e r

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napp ein Jahrzehnt später sind die hoffnungsvollen Marktwirtschaftler aus dem Petersburger Smolny an den Schaltstellen der Moskauer Zentralmacht angekommen. Darunter auch Medwedew, den Putin 1999 zu sich in den Regierungsapparat holt, im Jahr darauf zum Vize der Präsidialverwaltung macht, dann zu deren Chef und 2005 zum stellvertretenden Ministerpräsidenten. Aber auch die Bataillone aus dem „Großen Haus“, der Geheimdienstzentrale am Petersburger Liteijny Prospekt, sind nun in Moskau: Außer Putin begannen der heutige Vizepremier Iwanow, der FSB-Chef Nikolai Patruschew, dazu zwei graue KremlKardinäle und der Chef der Drogenpolizei ihre Laufbahn beim Leningrader KGB. Die Grabenkämpfe zwischen beiden Lagern, die Medwedew als künftigen Präsidenten erwarten, hat er in den vergangenen acht Moskauer Jahren studieren können: „alte“ gegen „neue“ Petersburger, frühere Mitarbeiter der Sicherheitsorgane – die „Silowiki“ – gegen „Liberale“ und, neuerdings, die „Öl-“ gegen die „Gas-Partei“. Denn während aus der Staatsduma inzwischen alle unabhängigen Parteien eliminiert wurden, sind im Kreml selbst zwei Fraktionen entstanden. Die „Öl-Partei“, angeführt von Putins mächtigem Verwaltungsvize Igor Setschin, verteidigt eisern ihre Pfründen rund um den staatlichen Erdölkonzern Rosneft. Die „Gas-Partei“ wuchert mit Einfluss beim staatlich kontrollierten Monopolisten Gasprom. Medwedew zählt zur Gas-Partei. Denn seit 2000 führt er, mit kurzer Unterbrechung, auch den Vorsitz im Aufsichtsrat von Gasprom. Der Marktwert des Unternehmens ist seither um das 50fache gestiegen. Es liegt jetzt unter den weltweit größten Konzernen an vierter Stelle. Mit Medwedew an der Spitze des Aufsichtsrats und Alexej Miller als Vorstandsvorsitzendem ist Putin dabei, den Erdgas-Riesen zum zentralen Werkzeug der Innen- wie Außenpolitik umzuschmieden. Medwedew stellte klar, der Staat sei „von allen möglichen Eigentümern der denkbar schlechteste“ und befürwortete, die Obergrenzen für die Beteiligung ausländischer Anteilseigner aufzuweichen. Doch auch Putins Wunsch nach einer Aufstockung des staatlichen Aktienbesitzes an Gasprom auf über 50 Prozent war ihm Befehl. Als Leiter der Kreml-Verwaltung frisch im Amt, kritisierte Medwedew im November 2003 noch das Vorgehen gegen den verhafteten Öl-Magnaten Michail Chodor119


Ausland zwischen Russland und der Ukraine steht. Es geht um den Vorwurf, die Gesellschaft zweige mit Duldung von Gasprom märchenhafte Gewinne aus dem Gashandel ab. Auch als der Bankier Oleg Schukowski am 6. Dezember grausam ums Leben kam, fiel schnell der Name Medwedew. Stranguliert und gefesselt im Swimmingpool seiner Villa vor den Toren Moskaus, wurde der Spezialist für Großkunden im Holzund Zellulosegeschäft aufgefunden – wenige Monate nachdem der russische Branchenkrösus Ilim Pulp seine teils von Schukowskis Bank zurückerworbenen Aktien für 650 Millionen Dollar hochprofitabel an einen US-Investor weitergereicht hatte. Die

rechnet 10,55 Euro Guthaben aus. Dazu rostet in der Garage ein neun Jahre alter Volkswagen vor sich hin. Dabei ist es gerade sie, Medwedews frühere Mitschülerin, die er seit der ersten Klasse kennt und mit der er seit 18 Jahren verheiratet ist, die sich seit längerem gezielt auf ihre Rolle als First Lady vorzubereiten scheint. Sie nahm ab, bestellte sich Kostüme à la Jacqueline Kennedy und tauchte medienwirksam häufiger in der Kirche auf. Eingeweihte, die ihre Allüren kennen, warnen vor einer zweiten Raissa Gorbatschowa – das selbstbewusste Auftreten der früheren Präsidentengattin hatte die konservativen Russen einst schwer verärgert.

YURI BELINSKI / ITAR-TASS (L.); MAX SHER / ANZENBERGER (R.)

kowski. Was ihn dann nicht hinderte, Kernstücke des gewaltsam zerschlagenen Jukos-Konzerns unter die Kontrolle von Gasprom zu bringen. Medwedew billigte die Eingliederung des unabhängigen Senders NTW ins Medien-Imperium von Gasprom wie auch den Erwerb und späteren Weiterverkauf der einstigen Regierungszeitung „Iswestija“ an einen mit Putin befreundeten Banker. Sein Erfolgsrezept, bei Gasprom wie im Kreml, geht bisher so: Er ist immer im Bilde, aber nie wirklich schuld. Weder an der Zerschlagung des Parteienspektrums, die seinem Vize im Kreml zugeschrieben wird, noch am bisher mäßigen Erfolg der „natio-

Medwedew (l.) bei seiner Einschulung 1972, Medwedew-Haus in Kuptschino: Trostlos graue Schlafstatt von 420 000 Menschen

nalen Projekte“ zur Verbesserung der Infrastruktur, deren Leitung Putin ihm 2005 übertragen hat: Drei von vier befragten Russen sind überzeugt, die unter Medwedews Regie verteilten Gelder, allein im vergangenen Jahr 7,6 Milliarden Euro, würden „verschwendet oder gestohlen“. Putins Favorit macht sich durch diskretes Wirken im Hintergrund das Teflon-Prinzip zunutze: Was er auch anrührt, nichts bleibt an ihm kleben. „Medwedew war in die meisten großen Machtkämpfe von 1999 bis 2007 verstrickt, ohne direkt mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden“, schreibt der „Kommersant“. Und folgert daraus, der Einfluss des Petersburger Juristen werde womöglich überschätzt – verantwortlich sei er häufig nur nominell.

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och da sind, im Hintergrund, die alten Seilschaften, die Zündstoff bergen – die von Medwedew wie die von Putin. Medwedews früherer Mitstudent Konstantin Tschuitschenko, später KGB-Offizier, ist ein Paradebeispiel dafür. Er dient als Direktor beim berüchtigten Gashändler RosUkrEnergo, der mit bloßem Weiterverkauf von zentralasiatischem Gas Milliarden scheffelt und seit 2004 im Zentrum von Scharmützeln 120

Anteile, die Dmitrij Medwedew bis 1999 an Ilim Pulp hielt, schrieb daraufhin das russische Magazin „SmartMoney“, entsprächen nach aktuellem Stand einem Gegenwert von „300 Millionen Dollar. Ob er seine Aktien verkauft oder in eine Stiftung überführt hat, bevor er 1999 nach Moskau überwechselte, ist nicht bekannt“. Medwedews Partner von einst bestreiten, dass der Kreml-Aspirant direkt oder über sie als Mittelsmänner noch Anteile halte. Am Firmensitz in der nordrussischen Taiga, wo Europas größtes Zellulosewerk seine Chemikalienschwaden über umliegende Mischwälder verteilt, in Korjaschma, sprechen sie lieber über den jungen Juristen Medwedew, der hier im dritten Stock des Verwaltungsgebäudes als Leiter der Rechtsabteilung seine ersten Schritte als Geschäftsmann machte. Und der die Firma 1999 verließ, als Ermittler der Staatsanwaltschaft die Privatisierung der Papierfabrik zu durchleuchten begannen. Ganze 76 111 Euro Vermögen sind dem ehemaligen Großaktionär Medwedew laut jener Eigenerklärung geblieben, die er im Vorfeld der Präsidentschaftswahl abgeben musste. Trostloser noch sieht es bei Ehefrau Swetlana aus. Ihr Konto weist umged e r

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Familie Medwedew ist in einer 364-Quadratmeter-Bleibe (Verkaufswert sechs Millionen Dollar) an der Minsker Straße in Moskau untergekommen. Die „Goldene Schlüssel“ genannte Anlage beherbergt neben den Medwedews und diversen Multimillionären aus Öl- und Lebensmittelindustrie auch den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche.

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on den Moskauer „Goldenen Schlüsseln“ aus 730 Kilometer nordwestlich, am Komsomolzen-See unweit der finnischen Grenze, haben sich jene niedergelassen, die schon länger mit den Hebeln der Macht hantieren. Die Straße, die durch Birken- und Kiefernwälder zur Datschensiedlung Osero führt, wird Putinka genannt. Den Zugang zum See, an dessen Ufer Wladimir Putin in den Neunzigern sein Wochenendhaus gebaut hat, versperrt ein Schlagbaum, freilaufende Schäferhunde verbellen Unbefugte. Ansonsten ist es still hier, wochentags. Zu den Gründern der Kooperative zählen der Chef der Russischen Eisenbahnen, der Generaldirektor eines Atomhandelskonzerns und der Aufsichtsratschef der Bank Rossija. Dazu Russlands Bildungsminister und sein


der ihnen noch immer zugeschrieben wird, Medwedew wäre wohl gar nicht Kandidat fürs höchste Staatsamt geworden. Dann wäre es auch kaum zu jener Brandrede gekommen, die der angehende russische Präsident am 15. Februar im sibirischen Krasnojarsk hielt: Es müsse endlich Schluss sein mit dem „Rechts-Nihilismus“ in Russland, eine unabhängige Justiz und bessere Haftbedingungen im Land seien nötig, freie Medien auch, und: Hohe Staatsbeamte sollten ihre Plätze in Vorständen und Aufsichtsräten räumen. Es klang wie die freiwillige Selbstenttarnung eines heimlichen Dissidenten im innersten Zirkel der Macht. Deswegen treibt

Am Bild vom „Westler“ Medwedew malen liebevoll die Kreml-Strategen. Sie wollen ein Signal aussenden an ausländische Polit- und Wirtschaftseliten. Und deshalb darf der Kandidat sich immer häufiger auch im Fernsehen mit gewählten Worten vom Gassenjungen-Slang Putins absetzen. „Niemand sollte seine Höflichkeit mit Schwäche verwechseln“, sagt GaspromAufsichtsrat Burckhard Bergmann über Medwedew, den er schon lange kennt. Ruhig und auf steife Art verbindlich setzte sich der schon während der inoffiziellen Vorausscheidung über die Putin-Nachfolge von seinem Konkurrenten, Vizepremier Sergej Iwanow, und dessen machohafter

DIMITRY ASTAKHOV / ITAR-TASS

Bruder, Chef der Gasprom-Tochter Lentransgas. Wie die Kerntruppen der „Kreml AG“ da abgeschottet auf ein paar tausend Quadratmetern Grund zusammenkleben, als könnten sie nicht einmal in ihrer Freizeit ohne einander sein, das hat in seiner Arglosigkeit Seltenheitswert. Es fügt sich zu einem Röntgenbild des Systems, dessen Schöpfer Putin und dessen Teil Medwedew ist. Der Geist vom Komsomolzen-See, das ist der männerbündlerische Geist des Putin-Staats: die wohlige Gewissheit, vieles im kleinsten Kreis steuern zu können. Milliardenschwere Unternehmen, Banken, Fußballvereine, Pipeline-Deals. Während Mitarbeiter der Kreml-Verwaltung streuen, dem blassen, 1,65 Meter großen Medwedew sei durchaus zuzutrauen, dass er „in ein bis zwei Jahren“ aus dem Schatten seines Lehrmeisters Putin trete, hält das Gros der politischen Beobachter schnelle Veränderungen für wenig wahrscheinlich. Im Land wüchsen „die sozialen Spannungen“, der neue Präsident werde „keinen leichten Start“ haben, urteilt Walerij Fadejew, Chefredakteur des Magazins „Expert“. Die hohe Inflation verlangt nach Liberalisierung der Märkte. Doch beim anstehenden Gesetz über Auslandsinvestitionen drängen Kreml-Falken darauf, weitere Sektoren der Industrie für ausländische Mehrheitsbeteiligungen zu sperren. Anatolij Tschubais, Galionsfigur der Wirtschaftsliberalen, warnt vor größerer Abschottung: „Wie viel“, so fragt er, „kostet Russland seine konfrontative Außenpolitik?“ Denn unter Putin ging es ja nicht nur um die Wiederverstaatlichung von Schlüsselindustrien, es ging auch um eine neue Diplomatie: Widerstand gegen die Unabhängigkeit des Kosovo, Balanceakt in Fragen des iranischen Atomprogramms, Dauerkonflikte mit ex-sowjetischen Bruderstaaten und lautstarker Protest gegen US-Pläne, ein Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien zu errichten. All das steht nun auf dem Prüfstand. Nur: Was Medwedew plant, weiß niemand. Hinter dieser Schweigsamkeit steckt auch die Vorsicht vor jenen, die bis zur letzten Sekunde versucht haben, ihn als Putin-Nachfolger zu verhindern, und die auch jetzt nichts unversucht lassen, ihn zu beschädigen – der verschwiegene byzantinische Männerbund im Kreml unter Führung des Ex-KGB-Offiziers Igor Setschin. In dessen Ecke wird die Quelle der Geschichten vermutet, die sich mit Medwedews Vergangenheit als Geschäftsmann befassen und die via Internet nun unters Volk gebracht werden. Ebenso wie die Quelle der Gerüchte, David Aaronowitsch Mendel, Sohn der jüdischen Eltern Aaron und Zilja Mendel, habe sich den Namen Dmitrij Medwedew nur aus Karrieregründen zugelegt – eine Blüte des allgegenwärtigen Antisemitismus. Hätten aber die „Silowiki“ tatsächlich den Einfluss im Kreml,

Partner Putin, Medwedew im Moskauer Kreml: „Und, kommt die Arbeit voran?“

derzeit viele die Frage um, ob Medwedew ernst meint, was er sagt. Ob da tatsächlich einer angetreten ist, um künftig an der Spitze des Staats durchzusetzen, was ihm in der zweiten Reihe nicht möglich schien. Ein Zarewitsch, der davon träumt, es dem alten Zaren zu zeigen? Medwedew sei der richtige Mann für die „Fortsetzung“ der bisherigen Politik, beschwichtigt Wladimir Putin. Er selbst wer-

Der männerbündlerische Geist des Putin-Staats bedeutet: die wohlige Gewissheit, vieles im kleinsten Kreis steuern zu können. de im Übrigen als Premier der Garant für Kontinuität sein: das Budget entwerfen, den außenwirtschaftlichen Kurs bestimmen und die Wehrbereitschaft garantieren. Für Medwedew, den vom Westen so freudig wie vorschnell als artverwandt, weil marktfreundlich und liberal, begrüßten Anwärter auf die Nachfolge im Kreml hieße das: bloßer Blickfang zu sein im Schaufenster der russischen Demokratie. d e r

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Körpersprache ab. Er flog fleißig über Land, küsste Kinder, streichelte Kühe und briet fernsehwirksam Eier in Holzhäusern armer Bauernfamilien. Am Ende lag er vorn. Deutlich schlanker, dynamischer und sicherer kommt er inzwischen daher. Die beständig latente Angriffslust verratende Mimik Putins aber ist ihm fremd geblieben: Der Karrierebeamte Medwedew wirkt noch immer wie einer, der auf seinem Weg nach ganz oben weniger einer Bestimmung als einer dienstlichen Anordnung folgt. Zwei Dinge sind im künftigen Machtgefüge Russlands noch ungeklärt. Die Frage, wer sich am hölzernen Besprechungstischchen im Büro des Staatschefs wird zurücklehnen dürfen, wenn die Fernsehkameras anrücken, und wer rapportiert. Dazu die Frage, wie das Problem mit dem Präsidenten-Porträt gelöst werden soll. Wird Putin als Premier, wie es sich gehört, ein Foto des neuen Kreml-Herrn im Amtszimmer aufhängen? Ja, heißt es neuerdings im russischen Volksmund. Unter einer Bedingung: „Das Bild muss Medwedew zeigen, wie er vor einem Putin-Porträt an der Wand steht.“ Uwe Klussmann, Walter Mayr, Christian Neef, Matthias Schepp

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Ausland

G e fä h r l ich e s Ta n de m von Christian Neef

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schließlich 1991: Die UdSSR aufzulösen wurde auch deswegen so kompliziert, weil sich Sowjetpräsident Gorbatschow und Russlands Staatschef Jelzin, der Rechtsnachfolger, spinnefeind waren. Zu anderen Zeiten war die Machtübergabe oft nichts weiter als eine klassische Palastrevolution. Freiwillige Rücktritte vom höchsten Amt gab es so gut wie nie. Selbst Josef Stalin (1941 nach Kriegsbeginn) und in den siebziger Jahren Leonid Breschnew, der sieche Generalsekretär, machten den angekündigten Rückzug nicht wahr. Lediglich Jelzin gab sein Amt 1999 friedlich ab – an den heimlich auserkorenen Erben: Wladimir Putin. Gut, es geht inzwischen zivilisierter zu im Kreml, und das schon seit Chruschtschow. Der begann seine Karriere zwar mit dem traditionellen Mord am ärgsten Rivalen: 1953, nach Stalins Tod, ließ er Innenminister Berija in einem Moskauer Keller erschießen. Andere Konkurrenten aber wurden nur im Rang herabgestuft – was Chruschtschow das Leben rettete, als auch seine Zeit vorüber war. Putin verlässt aus eigenen Stücken den Kreml – das ist tatsächlich ein Novum in der russischen Geschichte. Dass Gorbatschow und Jelzin ebenfalls freiwillig ihren Schreibtisch räumten, zählt hier nicht; beide waren politisch am Ende, Jelzin sogar gesundheitlich. Putin dagegen ist auf der Höhe seiner Popularität. Die Verfassung zu ändern, um weiter Präsident zu bleiben – verübelt hätten ihm das die Russen nicht. Die Mehrheit des Volkes hält ihn für den Prototyp des guten Zaren, der den russischen Geist genau zu erspüren vermag. enn jedes Land so etwas Aber er tritt ja nicht ab, er wird wie einen eigenen genenun Ministerpräsident – eine Lötischen Code habe, sasung, die plötzlich landauf, landab gen die Russen, dann sei es bei als die ideale gilt. Auch der Wesihnen die Sehnsucht nach einer Ermordung der Zarenfamilie in Jekaterinburg (Juli 1918) ten atmet auf. Die Weichenstelungeteilten Macht. Ob Iwan der Schreckliche, Zar Alexander oder Josef Stalin – Russland sei im- lung des Kreml sei ein Zeichen der Stabilität, behauptet selbst der deutsche Außenminister: „Wir sollten davon ausgehen, dass mer auf eine einzige Person fixiert gewesen, den „Woschd“. Dabei war es nie wirklich wichtig, ob der Kreml-Herr in Über- Putin mit der Veränderung seiner Zuständigkeit seine Macht nicht einstimmung mit dem Gesetz oder durch Wahl ins höchste Amt ge- verlieren wird.“ kommen war: Stalin hatte Mitte der dreißiger Jahre überhaupt keine Staatsfunktion. Aber er war der starke Mann. Einer, den das ber was bedeutet es denn, dieses Versprechen von der Volk selbst dann noch verehrte, wenn der eigene Vater in den StaDoppelspitze? Es soll erst einmal nur gewährleisten, dass linschen Folterkellern ums Leben gekommen war. Es gibt nur eine die Machtübergabe so glatt wie möglich vonstattengeht, Sache, die die Russen an ihren Führern nicht lieben: Schwäche. das Tandem ist ein Produkt der Furcht. Ein abrupter Abgang PuSchwierig wurde es immer, wenn es um die Machtübergabe tins gefährdet die fragile Balance, die in den letzten Jahren zwiging: Fast alle russischen Staatskrisen entstanden, weil das Land schen den verschiedenen Gruppen der russischen Elite hergenie einen effektiven Mechanismus für einen reibungslosen Re- stellt worden ist. Hinter den Kulissen geht es vor allem ums Geld: gierungswechsel besaß. Die 15-jährige Smuta, die „Zeit der Wir- Fast nirgendwo ist die politische Szene mit der wirtschaftlichen so ren“, war voll von Meucheleien und falschen Zaren, neuen Re- verquickt wie im neuen Russland. gierungen und Gegenregierungen. Sie wurde 1598 ausgelöst, als Was Putin in den vergangenen vier Jahren umgetrieben hat, war die bis dahin regierende Dynastie plötzlich ausstarb und Russland Machterhalt. Das Land ist – nicht zuletzt deswegen – gar nicht so nicht wusste, woher ein neuer Herrscher zu nehmen war. stabil, wie das Szenario der harmonischen Machtübergabe glauben Auch die Februarrevolution 1917 führte zum abrupten Ende ei- machen soll. Ja, Russland besitzt wieder internationale Autorität, ner Dynastie; von den Kriegsereignissen überfordert, verzichte- die Wirtschaft wächst. Das tut sie aber auch in Ländern wie Aserte der letzte Romanow auf den Thron. Das Ergebnis war jenes baidschan oder Kasachstan, wo die Zahlen des Aufschwungs noch Vakuum, das die Bolschewiki zur Machtergreifung nutzten. Und beeindruckender sind. Was wir in Russland sehen, ist eine ScheinMARY EVANS PICTURE LIBRARY

ussland wählt: Knapp 109 Millionen Menschen sollen am Sonntag darüber befinden, wer im Mai als Präsident in den Moskauer Kreml einzieht. „Wählen“ ist natürlich nicht das passende Wort, denn „wählen“ heißt auswählen. In Russland aber gibt es keine TV-Debatten, keine Clinton-Tränen und keinen Obama-Hype. Der Europäer mag sich über den amerikanischen Wahlzirkus amüsieren, basisdemokratisch ist er allemal. In Russland dagegen erleben wir ein Einpersonenstück. Seit Wladimir Putin seinen Vertrauten Dmitrij Medwedew zum Nachfolger küren ließ, steht das Ergebnis der Abstimmung fest. Sie hat eine einzige Funktion: die Entscheidung des Kreml-Chefs zu legitimieren. Es wählt also nur einer am 2. März: Wladimir Putin. In Moskau hält man das für einen historischen Vorgang. „Medwedew – das ist die stabilste, die ruhigste und die am wenigsten überraschende Variante“ für die Präsidentennachfolge, sagt der Kreml-nahe Publizist Michail Leontjew. Russlands künftiges Herrscher-Duo – Medwedew als Staatsoberhaupt und Putin als Ministerpräsident –, das sei eine „absolut organische“ Lösung. Der historische Kern dessen, was Putin mit dieser Operation bezwecke, sei der Versuch, aus einem Teufelskreis auszubrechen: nämlich die Machtfrage endlich einmal ohne irgendeine Metzelei zu klären. Ohne dass in Russland eine neue Zeit der Wirren anbricht. Die Frage ist nur: Ist diese Lösung wirklich eine Garantie für Stabilität?

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stabilität, schrieb ein Moskauer Blatt: Es sei, als hätte jemand sein Haus aufgeräumt und den Müll nur unters Sofa gefegt. Von Putin angekündigte Reformen wie die des Rentensystems, der Sozialfürsorge oder des Wohnungsbaus sind in Wahrheit gar nicht richtig in Gang gekommen. Jeder zweite Armeeoffizier muss seine Familie noch immer mit Privatgeschäften durchbringen, jeder fünfte Russe zwischen 25 und 54 stirbt am Alkohol, die Richter sind weiter abhängig von Staatsanwaltschaft und Exekutive, und die Korruption galoppiert. Die Förderung von Öl und Gas geht zurück, die Verschuldung der Industrieunternehmen hat sich verzehnfacht und die Inflation zwölf Prozent erreicht, weswegen der Kreml die Preise für wichtige Lebensmittel eingefroren hat. Und der Kaukasus ist unsicher wie eh und je. Schon der nächste Sicherheits-GAU, das Absacken des Ölpreises, jede Abschwächung des Wachstums, jeder Protest gegen die wachsende soziale Ungleichheit kann Turbulenzen auslösen. Auch Putin weiß das. Seine Aggressivität nach außen ist der Versuch, die innere Schwäche zu kompensieren. Deswegen auch will der Kreml gleich nach Medwedews Amtseinführung wieder Militärs mit Panzern und Raketen über den Roten Platz marschieren lassen – erstmals seit Ende der Sowjetunion.

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cherheitswahn des Kreml ersetzt –, lässt sich an einer internen Rede von Putins Chefideologen, Wladislaw Surkow, ablesen. Surkow hatte vorigen Sommer Grundsätze russischer Politik definiert, und die offenbaren ein erschreckend skurriles Weltbild. Die russische politische Kultur zeichnet sich demnach durch drei Besonderheiten aus: das Streben nach Zentralisierung aller Machtfunktionen, nach Idealisierung der Ziele im politischen Kampf und schließlich nach Personifizierung der politischen Institutionen – eine charismatische Persönlichkeit sei wichtiger als ein politisches Programm. Und: Idealismus, sagt Surkow, komme vor Pragmatismus. Das russische Denken orientiere sich nicht an den Gegebenheiten des heutigen Tages: Russland sei auf der Suche nach seiner, nach der besonderen Wahrheit. Es gibt Leute, die das für politisches Gift aus dem ideologischen Urschlamm des beginnenden 20. Jahrhunderts halten. Nicht zu Unrecht. Wenn dieser quasireligiöse Konservatismus Russlands Staatsdoktrin sein soll, braucht man auf den vermeintlichen Liberalismus des nächsten Staatschefs keinen Cent zu geben. Surkow hat nebenher auch den Kern Putinscher Außenpolitik erklärt: Der „gegenwärtige beispiellose Druck des Westens“ habe nichts mit den Mängeln russischer Demokratie zu tun, sagt er. Er ziele auf Kontrolle der russischen Bodenschätze, auf Schwächung der staatlichen Institutionen, der Verteidigungsfähigkeit, ja der russischen Souveränität. Moskauer Zugeständnisse in internationalen Angelegenheiten würden nur zusätzlichen Druck provozieren. Russland und der Westen – das seien zutiefst unterschiedliche Kulturen. Mit diesem Evangelium soll Medwedew nach Kompromissen mit dem Westen suchen?

amit das von ihm selbst so raffiniert gewobene Machtgeflecht nicht zerreißt, muss Putin weitermachen, und weil er das laut Verfassung nicht darf, hat er sich Medwedew dazugeholt. Seit Wochen treten beide wie das doppelte Lottchen auf: Der Noch-Staatschef preist seine tolle Wirtschaftsbilanz – und verschweigt meist die Schattenseiten; sein Protegé dagegen überschüttet das Land mit liberalem Vokabular – er redet über Freileibt das Problem der Dopheit, Mitbestimmung und den pelspitze, wenn sie denn noch zu schaffenden Rechtsstaat. zustande kommt. Woher So, als hätte er nicht jahrelang diese Gewissheit, dass ein Zarenzum System Putin gehört. NieDuo Stabilität mit sich bringt? mandem fällt auf, dass diese konEine Doppelherrschaft hat in zertierte Aktion einen gravierenRussland nie funktioniert. Als den Fehler hat: Putins Erfolgsmel1993 das linke Parlament gegen dungen und Medwedews Kritik Jelzin aufbegehrte und sich als bilden einen Widerspruch in sich. Gegenmacht ausrief, ließ der PräAber diese Reden offenbaren sident die Volksvertreter mit Panetwas Entscheidendes: dass beide zern aus ihrer Festung schießen. in den autoritären Mustern des alKeinen Konkurrenten außerhalb ten Regimes denken. Sie haben – des Kreml stark werden zu lassen ganz in sowjetischer Diktion – eiwar 2004 auch der Grund für die nen „Plan“ aufgestellt, der bis Ablösung Michail Kassjanows, des Aufbahrung des toten Stalin in Moskau (März 1953) 2020 gilt: In dieser Zeit wollen sie letzten Premiers von Gewicht. Die die Lebenserwartung auf durchschnittlich 75 Jahre heben, die Kombination starker Premier / schwaches Staatsoberhaupt gab es Arbeitsproduktivität um das Vierfache steigern und Russland zu in der Geschichte nur ein einziges Mal: als der Reformer Stolypin einer der führenden technologischen Mächte der Welt machen. unter Nikolai II. Russland in eine moderne europäische Macht Den Westen einzuholen ist seit Zarenzeiten oberstes Ziel. Was ummodeln wollte. Die Folge: Stolypin wurde ermordet, und tot Putin und Medwedew planen, ist die Fortsetzung eines jahr- war bald darauf auch der Zar. zehntealten Sozialexperiments, bei dem alles Störende schon im Zwei Machtzentren statt eines sind eine Gefahr für ein Land, Vorfeld beseitigt oder gleichgeschaltet wird: Parteien, politische dessen Beamte dazu erzogen worden sind, selbst kleinste EntInstitutionen, die Opposition sowieso. Putin hat aus Gorbatschows scheidungen der Obrigkeit zu überlassen. Welcher der beiden Niederlage gelernt: Modernisierung von oben nach unten setzt Pole schlichtet künftig Auseinandersetzungen im Apparat? Und Machtkonzentration und einen funktionierenden Obrigkeitsstaat was ist, wenn die Muskelspiele auf den Korridoren der russischen voraus. Der aber wird verwundbar, wenn es zu Fraktionsbildun- Macht einhergehen mit sozialen Spannungen im Land? gen kommt. Gorbatschows Glasnost öffnete den Raum für FlügelPutin und Medwedew kennen sich seit 17 Jahren und verstünkämpfe, die nicht rechtzeitig erstickt werden konnten, sondern den sich deswegen aufs Wort, sagen die Verteidiger der Tandemhinaus in die Gesellschaft schwappten. Die Folge: ein nunmehr un- lösung. Und: Der Neue sei seinem Vorgänger gegenüber rundum verdeckter Machtkampf, der Staat wurde gelähmt. Damit das loyal. Heißen will das gar nichts. Jene, die Medwedew groß wernicht noch einmal passiert, ist Politik seit Putin nicht mehr öf- den sahen, kennen ihn als strategisch denkenden Mann. Beide befentlich und das Machtsystem wieder sakral. geben sich mit der Idee von der Doppelspitze auf neues Terrain Dem Russen ist das erst einmal egal. Das Schema funktioniert – insofern ist das wirklich ein historischer Einschnitt. Aber keiner so lange, wie das Volk vom Aufschwung profitiert. von ihnen weiß, wie das Experiment ausgehen wird. Nicht ausDass Russland auf seinem Sonderweg bleiben will – einem geschlossen, dass einer der beiden Opfer dieser Nachfolgeregelung Weg, der politischen Wettbewerb durch den Kontroll- und Si- wird. Und Putin zum Totengräber seines eigenen Systems. ™ VOLLER ERNST

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DIMITRIJE GOLL / AFP (L.); CAMUS THIBAULT / ABACA (R.)

Serbische Nationalisten vor brennender US-Botschaft in Belgrad, Kosovo-Albaner in PriΔtina: Der Präzedenzfall ist geschaffen KOS OVO

Der Preis der Freiheit Europas jüngster Staat hat schon Probleme. Gewalttätige Serben protestierten in Belgrad gegen die Abspaltung. Ihre Regierung fordert 220 Milliarden Euro Entschädigung.

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elgrad hat viel Blutvergießen und Gewalt erlebt, seit es Serbiens Hauptstadt ist. Deshalb erinnerte der Aufruhr am vorigen Donnerstag, als Nationalisten Autos anzündeten, ausländische Fahnen verbrannten und ein halbes Dutzend Botschaften angriffen, darunter die deutsche und die der USA, an die Zeiten der Jahrtausendwende und des KosovoKrieges. Dessen Ungeist schien zu neuem Leben erweckt. Mit schierer Muskelkraft rissen junge Männer Fenstergitter aus ihren Verankerungen, randalierten in den vom Personal vorsorglich verlassenen Räumen der USVertretung und legten Feuer. Für einen Täter wurden die Flammen zur tödlichen Falle, sein Leichnam verkohlte in einem Hinterzimmer. „Serbien! Serbien!“, skandierte währenddessen draußen die Menge. Premierminister Vojislav KoΔtunica hatte eigentlich zu friedlichem Protest aufgerufen gegen die Abspaltung des Kosovo. Seine Sicherheitskräfte aber hielten sich zunächst zurück, so dass der Volkszorn toben konnte – ein Doppelspiel, das schon Diktator Slobodan MiloΔeviƒ perfekt beherrschte. Offenbar glaubte der Premier, Serbiens kochende Seele bedürfe nach dieser neuerlichen Erniedrigung eines Ventils. 124

„Jeder normale Mensch weiß, dass die tatsächliche Ursache die unerhörte Gewalt ist, welche die Mächtigen der Welt gegen Serbien anwenden“, erklärte KoΔtunicas Parteisprecher. Viele Landsleute tadelten ihre Politiker jedoch dafür, dass sie die Exzesse geduldet hätten und aller Welt den Eindruck vermittelten, Vandalismus sei das serbische Verständnis von Demokratie. Auch der Uno-Sicherheitsrat mahnte Serbien zur Besonnenheit. In einer Dringlichkeitssitzung verurteilte er „in schärfster Form“ die Randale in Belgrad. Ihren Auslöser, die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, kritisierte er nicht, obwohl sie ein mehr als problematischer Akt gewesen war. Am 17. Februar hatte der kosovarische Regierungschef Hashim Thaçi die serbische Provinz zum 47. Staat Europas ausgerufen. Es war das Ende einer fast neunjährigen Diplomatie des Verzögerns, Taktierens und des vergeblichen Versuchs der internationalen Gemeinschaft, Belgrad und PriΔtina zu einem Kompromiss zu nötigen. Serbien hatte sich die Unterstützung Russlands gesichert, das dem slawischen Bruderland Rückhalt gab. Moskau verhinderte im Sicherheitsrat das Konzept des finnischen Uno-Vermittlers Martti Ahtisaari, das eine bedingte Souveränität des Kosovo vorsah. Daraufhin segneten die führenden westlichen Nationen es eigenmächtig ab – ohne Rücksicht auf die Uno und auf geltendes Völkerrecht. Den Kosovo-Albanern war das nur recht. Am Unabhängigkeitstag schien ihr Land in einem Fahnenmeer zu versinken. Neun Jahre ist es her, dass die Nato unter amerikanischem Druck mit ihrem Bombardement eingriff und die Provinz dem Einfluss Belgrads entzog. Nun ist der Traum vom Hoheitsgebiet ohne fremde Herren endgültig wahr – auch wenn die Europäer vorerst die Oberaufsicht führen. d e r

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Schon wenige Tage nach dem großen Freudentaumel flattern nur noch wenige Flaggen im Kosovo. Die Albaner scheinen eher irritiert, dass sich ihr Alltag so gar nicht ändert – während in Belgrad der Mob auf der Straße ist. Sie leben weiter in Anspannung und Ungewissheit. Nato-Hubschrauber knattern über Mitrovica. Von den Dächern spähen Uniformierte mit Ferngläsern zur gegenüberliegenden Seite der geteilten Kommune. Dort beginnt nicht nur der serbische Stadtteil, sondern auch der meist serbisch besiedelte Norden, die Schwachstelle des Kosovo. Yeber Durmishi, Chef der Zivilverteidigung im albanischen Südteil von Mitrovica, erfährt im Zehn-Minuten-Takt per Sprechfunk, was jenseits der Brücke über den Ibar passiert. „Ich traue den Serben nicht“, sagt der Albaner mit dem tief ins Gesicht gekämmten Haar. Er war Studentenführer, als Serbiens Diktator MiloΔeviƒ 1989 dem Kosovo die 15 Jahre zuvor von Tito eingeräumte Autonomie wieder entriss, förmlich über Nacht. Auf einem Zettel skizziert Durmishi die Enklaven seiner Volksgruppe in Nord-Mitrovica. Mehrmals hätten serbische Extremisten in den vergangenen Nächten versucht, mit Gewehrsalven Kämpfe zu provozieren. Er hoffe, sagt Durmishi, dass die Kfor unbarmherzig eingreife, falls es zu Zusammenstößen komme. Ein neuer Funkspruch geht ein. Das Trinkwasser im Wasserwerk sei nicht vergiftet, erfährt er. Stündlich prüft ein Chemielabor das Reservoir: Man fürchtet Sabotage. Tief sitzen Hass und Misstrauen. Adili etwa, auch er ein Albaner, will „gerne neben, aber niemals zusammen mit den Serben leben“. Er hat sich deshalb einer neuen Untergrundorganisation angeschlossen, der Albanischen Nationalarmee (ANA), deren Vorbild die UÇK ist. „Wir stehen als Reserve bereit, falls die Nato-Truppen den


Ausland serbischen Nordteil nicht zur Integration zwingen.“ Die ANA-Zentrale in Tirana würde den kaum unabhängig gewordenen Staat am liebsten in eine große Blutsgemeinschaft einbetten. Sie kämpft für einen Zusammenschluss aller albanischen Gebiete auf dem Balkan, und solange der nicht vollzogen ist, trauen Adili und seine Leute den neuen Zeiten nicht. Skeptisch ist auch Albin Kurti. „Ich war wohl der Einzige, der die Unabhängigkeit nicht gefeiert hat“, sagt der blasse Mann mit den schwarzen Locken. Seine Organisation Vetevendosje („Selbstbestimmung“), die für die bedingungslose Souveränität des Kosovo eintritt, mobilisiert massenhaft Jugendliche, darunter viele Arbeitslose. Die nun anrückende EU-Mission, sagt Kurti, werde nicht besser sein als die bisherige Uno-Verwaltung. Sie werde das Kosovo auf lange Sicht nicht nur zum Protektorat degradieren, sondern am Ende auch nach bosnischem Vorbild teilen. Derweil schließt Belgrad eine Anerkennung der abtrünnigen Provinz kategorisch aus. Premier KoΔtunica und Präsident Boris Tadiƒ sind sich darin ausnahmsweise einig. Sie riefen ihre Botschafter aus jenen Ländern zurück, die das Kosovo anerkannt haben, auch aus Berlin. Im Norden Mitrovicas eröffneten die Serben kurz vor dem 17. Februar ein Büro,

das das Nordkosovo verwalten und die Regierung in PriΔtina herausfordern soll. Symbolisch wurde, direkt an der Ibar-Brücke, der US-Präsident begraben. „Bush“ steht auf einem Holzkreuz. Der Versuch, auch die Grenze zu Belgrads Territorium unter serbische Kontrolle zu bringen, schlug fehl. Zwar zündeten Reservisten Autoreifen an und verjagten vorübergehend die kosovarischen Zöllner. Sie scheiterten aber an 500 Kfor-Soldaten. Die haben nun, um ähnliche Vorfälle zu unterbinden, ihre Patrouillen verstärkt. Die meisten der rund 80 000 Serben in den Enklaven warten nur darauf, ihre Häuser günstig an Albaner zu verkaufen. Dies weiß auch Belgrad. In serbischen Medien wird bereits eine Inventur des serbischen Vermögens im Kosovo gemacht. Allein die Flüchtlinge hätten bisher Sachwerte von vier Milliarden Euro zurückgelassen. Insgesamt werden 220 Milliarden beansprucht, vor allem für die „illegale Privatisierung“ ehemaliger Staatsbetriebe. Belgrad treibt den Preis der Freiheit hoch – dabei ist der Zwergenstaat ohnehin kaum existenzfähig. Die halbe Bevölkerung ist arbeitslos, in manchen Regionen sind es bis zu 80 Prozent. Mit einem geschätzten Bruttoinlandsprodukt von knapp 1300 Dollar pro Kopf liegt das Kosovo annähernd auf Dritte-Welt-Niveau. Die 2,1 Millionen Einwohner, zu 90 Prozent Alba-

ner, leben hauptsächlich von den Überweisungen der rund 400 000 Gastarbeiter. Die Vorräte an Braunkohle, Zink oder Blei dürften die Handelsbilanz kaum aufbessern. Importen im Wert von 1,5 Milliarden Euro standen voriges Jahr Ausfuhren für 100 Millionen Euro gegenüber. Eine geplante Geberkonferenz wird nur erste Übergangshilfe leisten können. Europa wird tief und lange in die Kassen greifen müssen, um langfristig Erfolge zu erzielen. Allein die Kosten für die EU-Mission Eulex mit ihren rund 2000 Polizisten, Juristen und Beamten werden bis 2010 auf 1,5 Milliarden Euro geschätzt. Größte Sorge der Europäer ist jedoch ein Dominoeffekt, den sie selbst anstoßen. Spanien, Zypern, Griechenland, die Slowakei oder Rumänien verweigern deshalb dem Kosovo bislang die Anerkennung. Aus triftigem Grund: Während man in PriΔtina noch auf den Straßen feierte, sprachen spanische Basken bereits von einer „beispielhaften Lösung“. Ein Wortführer der ungarischen Minderheit in Rumänien bezeichnete das Kosovo als „Vorbild“, und das Parlament der bosnischen Teilrepublik Srpska drohte ein Unabhängigkeitsreferendum an. Denn die Entscheidung im Fall Kosovo, da sind sich alle gewiss, ist unumkehrbar. Der Präzedenzfall ist geschaffen. Rüdiger Falksohn, Renate Flottau


LEWIS WHYLD / PA WIRE/ PA PHOTOS

Ausland

Kläger Al-Fayed vor dem Londoner High Court: „Das ist mein Moment“

Wühltisch der Verdächtigungen Als Ergebnis eines Mordkomplotts wollte Kaufhauskönig Mohammed Al-Fayed den Tod von Diana entlarven. Vor Gericht erlebt er nun ein Debakel.

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ormalerweise trägt Mohammed AlFayed bei seinen großen Auftritten gern abscheuliche Hemden in grellen Farben. Menschen, die sich darüber wundern, pflegt der ägyptische Multimillionär dann stets mit der Antwort zu erheitern: „Gibt’s bei Harrods. Wenn du eins brauchst, gebe ich dir 50 Prozent Rabatt.“ Von Geschenken und Sonderangeboten war keine Rede mehr, als Al-Fayed vergangene Woche vor dem Londoner High Court erschien. Der Zeitpunkt der Abrechnung war da. Über zehn Jahre – seit jenem 31. August 1997, an dem sein Sohn Dodi zusammen mit Diana, der Princess of Wales, im Tunnel unter der Place d’Alma in Paris ums Leben kam – hatte Al-Fayed auf diesen Tag gewartet. „Das ist mein Moment“, sagte er, und seine Augen blitzten vor Ergriffenheit. Dann legte er die Hand aufs Herz – wie ein Hütchenspieler, der beteuert, dass alles mit rechten Dingen zugehe. Und als er drin war im Gericht, sagte er: „Es war eine Schlachtung, kein Mord.“ An dem Verschwörungsgemälde, das AlFayed in den darauffolgenden fünf Stunden dem High Court präsentierte, hat er seit jener tragischen Nacht im Sommer 1997 gearbeitet. Er hat mehrere Millionen Pfund in Detektive und Nachforschungen investiert, er hat in Frankreich, England und Amerika prozessiert. Niederlagen, wie jene vor dem 126

Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg vergangenes Jahr, so scheint es, haben seinen Zorn nur noch steigern können. Dort hatte man seine Klage gegen die französische Justiz zurückgewiesen mit einer Begründung, die an Eindeutigkeit kaum zu überbieten war. „Nichts“, so hieß es, lasse den Schluss zu, „dass die Ermittlungen nicht sorgfältig genug geführt worden sind“. Nun also der letzte Akt im Drama eines Unbelehrbaren. Dass er überhaupt zur Aufführung kommt, im Londoner High Court, Saal 73, hat mit der Besonderheit der britischen Justiz zu tun. Jeder Inselbewohner, der auf unnatürliche Weise ums Leben kommt, hat das Recht auf eine Untersuchung der Todesumstände – oder besser gesagt: seine Hinterbliebenen. Normalerweise ist die Angelegenheit in ein paar

TELEPRESS

G R O S S B R I TA N N I E N

Medienprinzessin Diana (1994)

Dodis Heirat hätte alles geändert d e r

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Tagen erledigt. Da aber im Fall Diana inzwischen allein die Protokolle der vorangegangenen Untersuchungen fast 8000 Seiten umfassen und die Zahl der gehörten Zeugen im mittleren dreistelligen Bereich liegt, hat das Gericht sechs Monate veranschlagt. Bisherige Kosten für den britischen Steuerzahler: 2,5 Millionen Pfund. Dumm nur für Al-Fayed, dass sich auf dieser großen Bühne ausgerechnet jene zwei Männer als Totalausfälle präsentierten, die er für die wichtigsten Stützen in seinem Verschwörungsmärchen hielt. John Macnamara, der den stolzen Titel „Sicherheitschef von Harrods“ führte, musste zugeben, nach dem Unfall in Paris erst einmal gelogen zu haben. Er verschwieg eine Rechnung aus dem Ritz, wonach Henry Paul – der Chauffeur des Unglücksfahrzeugs – vor Antritt der Fahrt zwei Anisschnäpse trank. Macnamara aber hatte immer wieder erzählt, der Chauffeur habe lediglich Ananassaft intus gehabt. Auch seinen damals „festen Glauben“, Diana sei von Dodi schwanger gewesen und die beiden hätten geplant zu heiraten, nahm Macnamara vor dem High Court zurück. Kleinlaut gab er zu, keine Beweise dafür zu haben. Ebenso kläglich wirkte der frühere Scotland-Yard-Mann, als ihn Richter Scott Baker fragte, ob er sich inzwischen bei Dianas Bodyguard Trevor Rees-Jones entschuldigt habe. Der war beim Unfall im Tunnel schwer verletzt worden; Macnamara aber hatte ihn bezichtigt, ein Komplize gewesen zu sein. Mit dürren Worten erwiderte der Sicherheitschef, Rees-Jones seither nicht mehr gesehen zu haben. Die Blamage der Al-Fayedschen Verschwörungsspezialisten vervollständigte Richard Tomlinson – jener Mann, von dem der Kaufhauskönig vor ein paar Jahren behauptet hatte: „Gott hat ihn gesandt.“ Tomlinson, ein ehemaliger MI6-Agent, der nach seiner unehrenhaften Entlassung sechs Monate im Hochsicherheitsgefängnis von Belmarsh einsaß, hatte Al-Fayed nach


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CAROLYN KASTER / AP

dem Unfall von Paris überhaupt erst auf die Idee mit dem Mordkomplott gebracht. Er schrieb ihm einen Brief, in dem von einem Plan die Rede war, der dem Pariser Tunnelcrash ähnelte. Aufgeschnappt hatte er ihn angeblich beim Auslandsgeheimdienst MI6. Der habe, behauptete er, Anfang der neunziger Jahre nach Wegen gesucht, um den damaligen serbischen Diktator MiloΔevic zu liquidieren: mit Hilfe eines Blitzlichts, in einem Tunnel und mit einem Chauffeur, der daraufhin die Orientierung verliert. Als ihm nun vorgehalten wurde, es habe niemals einen solchen Plan im Zusammenhang mit Diana gegeben – vielmehr sei er selbst wohl nur sauer gewesen wegen seines Rausschmisses beim MI6, beschränkte sich der Gehilfe Al-Fayeds auf ein lakonisches Grunzen. Weitere Nachfragen brachten nichts, da Tomlinson sich plötzlich nicht mehr erinnern konnte. Es lag wohl auch am Versagen seiner Vorderleute, dass Al-Fayed selbst im Zeugenstand die Contenance verlor. Er rasselte ein Potpourri wilder Behauptungen herunter – konsistent nur darin, streng jenseits der Vernunftgrenze beheimatet zu sein. Der Kaufhauskönig beließ es nicht dabei, Prinz Philip als Anführer des Mordkomplotts von Paris zu bezichtigen. Er beschimpfte ihn auch als „Nazi“ und „Rassisten“ aus dem Hause „Frankenstein“. Als der Richter darauf hinwies, dies sei falsch – der Gemahl der Königin stamme aus dem Geschlecht derer von Schleswig-HolsteinSonderburg-Glücksburg –, war Al-Fayed dies nur ein Schulterzucken wert: „Klingt doch wie Frankenstein.“ Die Wirklichkeit, so scheint es, ist im Kopfe Al-Fayeds längst ein störendes Element. Zu den Teilnehmern des Mordkomplotts zählt er nicht nur die „Oberhandlanger“ Tony Blair und dessen einstigen Außenminister Robin Cook, sondern gleich vier Geheimdienste, die französischen Krankenwagenfahrer, die Pathologen, Dianas Anwälte und sogar deren Schwester: ein Wühltisch der Verdächtigungen. Lange vor der Tragödie von Paris hatte Mohammed Al-Fayed einmal auf die Frage geantwortet, warum er das Kaufhaus Harrods erworben habe: „Damit ich oben sitzen und auf sie pissen kann, wenn sie unten vorbeilaufen.“ Er meinte damit vor allem das britische Establishment, das dem Multimillionär stets das Privileg vorenthielt, dazuzugehören. Eine Heirat Dianas mit seinem Sohn Dodi hätte all dies geändert. Hätte. Bis heute hat ihm das Land noch nicht einmal die britische Staatsbürgerschaft gewährt. Es ist auch diese Schmach, für die er die Briten heute bezahlen lässt – mit ihren Steuergeldern, ihrer Zeit und einem Gerichtsverfahren, von dem spätestens seit seinem kabarettreifen Auftritt viele Inselbewohner sagen, dass es ein „Zirkus“ sei. Einer, den man abbrechen sollte – lieber heute als morgen. Thomas Hüetlin

Wahlkämpferin Clinton*: „Wir sind in den letzten Spielminuten“ USA

Auf zur Nachtschicht Alles oder nichts – mit diesem Motto geht Hillary Clinton in die Vorwahlen von Texas und Ohio. Aber sie findet keine Botschaft, mit der sie den Siegeszug von Barack Obama stoppen könnte.

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onatelang lief alles nach Plan. Angriffe ihrer Gegner konterte die ehemalige First Lady so souverän wie bei einer Debatte im November in Las Vegas: „Sie attackieren mich nicht, weil ich eine Frau bin. Sie attackieren mich, weil ich vorne liege.“ So klar schien ihre Nominierung als Präsidentschaftskandidatin der Demokraten zu sein, dass sie bereits begann, die Republikaner als ihre eigentlichen Gegner ins Visier zu nehmen. Der Masterplan ihres Chefstrategen Mark Penn schien ideal: von der Spitze aus siegen, keine Fehler machen, die Presse auf Distanz halten. Und * Am vergangenen Donnerstag in Laredo, Texas. d e r

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punkten mit Stärke, Distanz und Faktenwissen. Aber jetzt läuft nichts mehr nach Plan für Hillary Clinton, ihre Wahlkampfstrategie verpufft. Der republikanische Präsidentschaftsbewerber John McCain konzentriert seine Angriffe bereits auf ihren Konkurrenten Barack Obama. Welch eine Schmach: Clinton kommt in McCains Reden nicht mehr vor. Zehn Staaten in Folge hat sie gegen Obama verloren, in Wisconsin Dienstag vergangener Woche sogar mit 17 Prozentpunkten Unterschied. Und das, obwohl eigentlich alles gut ausgesehen hatte für sie. Nun aber gilt ein Sieg in den bevölkerungsreichen Staaten Ohio und Texas am


Ausland „Die Chancen, dass Obama etwas tut, was für ihn zum Problem werden kann, sind so gering wie Hillarys Chancen, etwas zu tun, das die Sache noch umdrehen wird“, glaubt der demokratische Stratege Bill Carrick. „Wer hinten liegt, macht eher Fehler.“ In den vergangenen Tagen versuchte Hillary ein ums andere Mal, Obama als hohlen Wortakrobaten zu entlarven. „Schöne Reden bringen kein Essen auf den Tisch“, sagt sie dann etwa. Oder: „Es gibt einen Unterschied zwischen Reden und Lösungen, zwischen Worten und Handlungen.“

DAVID DENOMA / REUTERS

Dienstag kommender Woche als Clintons letzte Chance. „Gewinnt sie dort, wird sie die Kandidatin“, hat Ehemann Bill vorigen Mittwoch in Texas gesagt: „Wenn ihr sie aber nicht wählt, dann wird sie es nicht.“ Auch der demokratische Stratege James Carville ist überzeugt: „Wir sind in den letzten Spielminuten.“ Im Clinton-Team herrscht helle Panik: Zwar weigert sich Penn noch, die neue Realität zur Kenntnis zu nehmen. Aber um ihn herum sind bereits erbitterte Grabenkämpfe ausgebrochen. Keiner weiß, was jetzt zu tun ist. Wenn nicht noch ein Wunder passiert, droht ein bitterer Befund: dass die berühmte Clinton-Maschine überschätzt worden ist und mit einem Kolbenfresser in den letzten Zügen liegt. Hillarys Wahlkampfteam war zu siegessicher. Niemand von ihren Leuten hatte geglaubt, dass das Rennen nach dem SuperDienstag vom 5. Februar noch weitergehen würde. Doch dann blieb Obama dicht an der vermeintlichen Favoritin dran; die Clinton-Leute mussten hektisch neue Büros in Texas und Ohio eröffnen und Ausschau halten, wo sich neues Geld einsammeln lässt. Bereits Ende Januar hatte ihre Chefin 7,6 Millionen Dollar Schulden angehäuft, von der Zwei-Millionen-Rechnung bei ihrem Berater Penn bis hin zu einem 500-DollarBetrag, der noch bei einer Pizza-Bäckerei in Iowa fällig ist. Auch finanziell liegt Obama also klar vorn. Für Werbespots in Wisconsin konnte er viermal so viel ausgeben wie Hillary: Seine Maschine schnurrt. Wie blank die Nerven im Clinton-Team liegen, belegt ein Zusammenstoß zwischen dem Strategen Penn und Anzeigenspezialistin Mandy Grunwald. Beide lieferten sich vorvergangene Woche ein regelrechtes Schreiduell. „Deine Anzeige wirkt nicht“, pöbelte Penn, als das Wahlkampfteam einen Spot abnehmen sollte. „Oh, es ist immer die Anzeige, nie die Botschaft“, schoss Grunwald zurück. Ein tiefer Riss geht durch die Mannschaft: Penn plädiert dafür, unbedingt die Attacken auf Obama auszuweiten und zu zeigen, dass Hillary viel qualifizierter ist. Grunwald dagegen fürchtet, dass Clinton sich mit allzu negativen Botschaften selbst schaden wird. Die Folge: Ratlosigkeit. Hillarys Auftritt bei der Debatte vergangenen Donnerstag in Austin, Texas, war der unüberhörbare Beleg dafür: Sie war gut, sie war leidenschaftlich, und als sie über die schwersten Momente in ihrem Leben ausgefragt wurde, sagte sie lächelnd, dass die wohl jeder kenne. Es war nicht nötig, in diesem Moment ein MonicaLewinsky-Bild einzublenden, alle wussten Bescheid. Dann sprach sie davon, wie viel schwerer es doch die im Irak verwundeten Soldaten hätten, die jetzt ohne Arme und Beine leben müssten. Sie war offen, sie war menschlich, aber ein neue Botschaft hatte sie nicht.

Clinton-Konkurrent Obama

„Gefährlich nahe am Personenkult“

Es ist eigentlich nichts anderes als das, was auch John McCain immer wieder betont: dass er kämpfe, damit das Volk nicht betrogen werde durch die „eloquenten, aber leeren Rufe nach einem Wandel“. Natürlich ist das Obamas schwacher Punkt, dass er selten sagt, welchen Wandel er eigentlich meint. Aber: Gewirkt haben die Angriffe seiner beiden Kontrahenten bislang nicht. Es gibt noch ein anderes Manko im Clinton-Wahlkampf. Die Senatorin hat ein Faible für Details – für mehr Details, als die Wähler aufnehmen wollen. Und sie tritt vor jeder speziellen Wählergruppe mit einem anderen, maßgeschneiderten Konzept auf. Dadurch wirkt sie mitunter akribisch wie ein Buchhalter, ja kleinkariert. Dass die Wähler sich ein großes Bild erhoffen, eine Vision, die zeigt, wo es mit Amerika hingehen soll, das haben offenbar allein Obamas Strategen kapiert: Ihr Bewerber ist es, der jenes Bild malt, nach dem das Land sich sehnt. Und weil Obama in den Augen vieler seiner Landsleute inzwischen fast als der kommende Messias gilt, wird jeder Angriff d e r

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auf ihn verstanden als Angriff auf die neue, bessere Politik – und zum Bumerang für den Angreifer. Nichts von dem, was Clinton bislang versuchte, hat verfangen. Vor zwei Wochen hat sie ihre unbeliebte Wahlkampfmanagerin Patti Solis Doyle gefeuert und durch die langjährige Vertraute Maggie Williams ersetzt. Das verbesserte zwar die Stimmung im Team, brachte aber auch keinen Wandel. Höchstens eine Akzentverschiebung: Sie gibt sich nun als Populistin. Ihr neues Wirtschafts- und Sozialprogramm verspricht, Milliarden Dollar bei Öl- und Pharmafirmen einzusammeln und so das Leben der „hart arbeitenden Familien“ zu verbessern. Völlig richtig, meint Stratege James Carville: „Sie muss sich mit der Rezession beschäftigen, die Leute fühlen sich ausgepresst.“ In Ohio hat Clinton deswegen TV-Spots geschaltet, in denen sich überarbeitete Krankenschwestern, Kellner und Lagerarbeiter auf den Weg zur Arbeit machen. „Ich gehe mit euch zur Nachtschicht“, versprach sie gerade Anhängern in New York. Trotzdem empfahl vergangene Woche die mächtige Transportarbeitergewerkschaft, Obama zu unterstützen. Nicht Hillary. Clintons Tochter Chelsea, 27, die bei den Auftritten ihrer Mutter bisher nur lächelnd danebenstand, kämpft nun ebenfalls rund um die Uhr für sie. Auch das ein weiteres Verzweiflungssignal. Vielleicht kommt Hilfe ja aus einer anderen Ecke: US-Kommentatoren zeigen inzwischen eine gewisse Obama-Müdigkeit. Seine Bewegung sei „gefährlich nahe am Personenkult“, monierte jüngst die „New York Times“. Und als Kirk Watson, Senator in Austin und ein Obama-Unterstützer, im Fernsehen gebeten wurde, doch bitte gesetzgeberische Leistungen Obamas zu nennen, fiel dem auch nach längerem Überlegen keine ein. Auffallend war, wie lange der Moderator die Stille genoss. Trotzdem, der Siegeslauf des schwarzen Senators scheint inzwischen kaum noch zu bremsen zu sein. Auch von den Superdelegierten, den wichtigen Funktionsinhabern der Demokratischen Partei, favorisieren immer mehr Obama. Je sicherer dessen Sieg in Aussicht steht, umso weniger wird Hillary Clinton in der Lage sein, die Parteigranden an ihrer Seite zu halten. Der Unwägbarkeiten sind damit nicht genug. Niemand weiß besser als Hillary, dass zudem noch gefährliche Geschichten aus dem Nichts auftauchen können. Vergangene Woche traf es aber erst einmal den Republikaner John McCain. Der muss sich nun mit dem Vorwurf herumschlagen, er habe vor acht Jahren eine Liebesaffäre mit einer Lobbyistin gehabt und sich politisch für deren Klienten eingesetzt. Cordula Meyer

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Ausland

Göttin aus Stahl ASM A RA

Global Village: In Eritreas Hauptstadt Asmara pflegen traditionsbewusste Eisenbahner das koloniale Erbe Italiens.

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THIELO THIELKE / DER SPIEGEL

uongiorno, Signora, gut geschla- te.“ Die anderen fünf nicken zustimmend. „Ferrovie Eritree“ zum ersten Mal zwischen den beiden Städten. fen?“ Wie jeden Morgen schickt Mit ernsten, zerfurchten Gesichtern. 30 Tunnel sprengten die italienischen Seit 1943 arbeitet Mehari bei der eriBrhane Mehari zahnlos eine herzliche italienische Begrüßung in die verwit- treischen Bahn. Damals war er ein junger Baumeister für das Prestigeprojekt in die terte Bahnstation, wischt sich die öligen Mechaniker von 18 Jahren. In Rom erwar- ostafrikanischen Felsen. Auf Kamelen wurPranken am Overall ab und zieht seinen tete der Duce das Ende des Zweiten Welt- de das Baumaterial schroffe Felsen hinaufkriegs und seines Reichs; in Ostafrika aber geschleppt. 35 Brücken und 14 Viadukte Schraubenschlüssel aus der Seitentasche. „Mamma mia!“ Zärtlich klopft Mehari war die Zeit der italienischen „Colonia mussten errichtet werden. Am Ende quälten sich die ersten Dampflokomotiven Rost vom Kessel der alten Dampflokomo- Eritrea“ schon seit zwei Jahren vorbei. Am 1. April 1941 hatte sich Asmara den durch 667 Kurven hinunter zur Küste. tive und beginnt zu erzählen. „Eine vierDie Eritrea-Bahn war damals eine Weltzylindrige Mallet-Heißdampf-Lokomotive britischen Truppen ergeben. Kurz darauf von Ansaldo ist das, Jahrgang 38, gebaut in zog der äthiopische Kaiser Haile Selassie, sensation, Asmara wurde von Italiens Genua – das war einmal unsere stärkste der „Löwe von Juda“, wieder in Abessi- besten Architekten zur schönsten Stadt Zugmaschine. Heute steht sie fast nur noch niens Hauptstadt Addis Abeba ein. Mo- des Kontinents aufgehübscht. 1928 reisten gadischu war bereits von britischen Ver- 100000 Passagiere zwischen der Hauptstadt herum.“ Er schüttelt den Kopf. Verlassen liegt die Bahnstation von As- bänden eingenommen worden, die aus und Massawa, 1965 waren es sogar 446 000. „Damals fuhren jeden Tag 38 Züge, es mara zwischen kargen Felsen, auf deren Kenia vorgerückt waren. Mit dem Verlust höchster Erhebung festungsgleich eine or- von „Africa Orientale Italiana“ endeten war die schönste Zeit meines Lebens“, sagt Mehari, „in den Salonwagen thodoxe Kirche mit zwei stolder ersten Klasse wurde gezen Glockentürmen aus rokühlter Champagner serviert, tem Backstein thront. Im Tal die Frauen trugen elegante weisen die Gleise ins NirHüte.“ gendwo, Gras überwuchert Doch dann verfiel die die Schienenstränge. Bahn. Zuerst demontierten Der Alte erinnert sich. Ja, die Briten Teile des Schienendie Bahn fährt schon lange systems. Später, in den Siebnicht mehr, 1974 endete in zigern, kamen in Äthiopien Eritrea der planmäßige Schiedie Kommunisten an die nenverkehr. Es war die Zeit Macht. Den Rest erledigte der des Bürgerkriegs gegen die Guerillakrieg, der 1993 mit äthiopische Regierung. Auf der Unabhängigkeit Eritreas den Schienen rollten Trupendete. Die Spannungen mit pen, Schießgerät und MuniÄthiopien sind nie ganz vertion in das schwerzugängliche schwunden, und dieser Tage eritreische Hochland. brachte die Regierung in AsDeshalb wurde um die mara die Welt gegen sich auf, Bahntrasse besonders heftig weil sie 1700 Uno-Blauhelme gefochten, mal jagten die eri- Mechaniker Mehari: „Die Dampfloks waren unsere Bräute“ vom Nachschub abschnitt – treischen Separatisten die Gleise in die Luft, mal Regierungssoldaten. Seit- 51 Jahre italienische Kolonialherrschaft. die Truppe soll die entmilitarisierte Zone dem rottet der „serpente d’acciaio“ vor sich Allein ein italienisches Wunder der In- an der Grenze sichern. Jetzt drohen Sankhin. Das heißt so viel wie „Stahlschlange“. genieurskunst überdauerte alle Turbulen- tionen, vielleicht gibt es gar wieder Krieg. Brhane Mehari denkt nur an seine Bahn. Die Eritreer benennen ihre Eisenbahn im- zen: die eritreische Bahn. „Sie ist eine Göttin, und deshalb sind „Die Menschen haben den Sinn für wahre mer noch ehrfurchtsvoll in der Sprache ihrer wir immer noch hier und kümmern uns Schönheit verloren“, sagt er: Von ehemals Schöpfer. Von der alten Pracht aber ist nicht viel um sie“, sagt Mehari, und seine Stimme 300 Passagierwaggons überdauerten gegeblieben. Da steht noch das Bahnhofs- vibriert jetzt ein wenig vor Stolz. Keinen rade 4 die wirren Zeiten. Doch die fünf gemäuer, 1911 von den italienischen Kolo- Cent erhalten er und seine fünf Helfer vom Alten aus dem Eisenbahndepot geben nialherren erbaut, und es gibt sechs mu- eritreischen Staat dafür. Aber soll Mehari nicht auf. Vielleicht hat sich all die Mühe seale Lokomotiven: neben einer Mallet die alten Loks dem Rost ausliefern? Nie- ja doch gelohnt. Seit einigen Jahren könvon Ansaldo noch eine 81 Jahre alte mals! Denn: „La mia vita è la ferrovia.“ nen ab und zu ein paar betuchte Eisenbahnliebhaber aus aller Welt wieder auf Dampflok von Ernesto Breda aus Mailand Die Bahn ist mein Leben. Gerade einmal 70 Kilometer Luftlinie die 70 Kilometer lange Gebirgsreise gehen: und eine deutsche Diesellok aus dem Jahr liegen zwischen Eritreas Hauptstadt As- mit der alten Mallet R442-59 von Ansaldo 1956 von Krupp. Und dann sind da natürlich noch der 82- mara und der Hafenstadt Massawa, aber aus Genua, Meharis italienischer Göttin. Irgendwann, davon sind die Männer aus jährige Mehari und seine Kollegen: fünf rund 2300 Höhenmeter. Als die Italiener treue Eisenbahner im gehobenen Alter, die 1887 begannen, hier eine 95-Zentimeter- dem Depot überzeugt, wird es auch wieder das Erbe von Italia pflegen. „Italien war Schmalspurbahn zu errichten, wurden sie einen planmäßigen Eisenbahnverkehr gewie eine Mutter zu uns“, sagt Mehari, „und von den meisten für verrückt erklärt. Doch ben. Ganz so wie früher. die alten Dampfloks waren unsere Bräu- das Kunststück gelang: 1911 verkehrten die Thilo Thielke, Volkhard Windfuhr 132

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Sport

Szene KLETTERN

„Schöner Rhythmus“ Der Schweizer Extrembergsteiger Ueli Steck, 31, über seine Besteigung der Eigernordwand in neuer Rekordzeit

ACTION PRESS

SPIEGEL: Herr Steck, Sie sind die Heckmair-Route, 1770 Höhenmeter bis zum Gipfel des Eiger, in 2 Stunden, 47 Minuten und 33 Sekunden hochgeklettert und haben Ihren eigenen Rekord aus dem letzten Jahr um mehr als eine Stunde verbessert. Gute Alpinisten brauchen zwei Tage für den Aufstieg. Wie war das möglich? Steck: Vergangenes Jahr hatte ich mich an einigen Passagen mit dem Seil gesichert. Diesmal hatte ich nur eine 70 Zentimeter lange Schlinge, die am Klettergurt befestigt ist und die ich in einige Haken gehängt habe. So habe ich in den technischen Passagen Zeit gewonnen und kam in einen schönen Rhythmus. SPIEGEL: Wie war das Wetter? Steck: Es war warm, mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Die Eisfelder oben waren hartgepresster Firn, sensationell. Und die Felspartien waren trocken. Kein Schnee auf den Griffen, kein Eis. Ich konnte sauber klettern. Das ist abgelaufen wie in einem Film. SPIEGEL: Wie haben Sie die Zeit gemessen? Steck: Ich hatte meine eigene Stoppuhr dabei. Außerdem haben zwei Freunde beim Einstieg meine Zeit genommen. Die beiden sind dann zurück auf die Kleine Scheidegg und haben mich mit dem Fernglas bis auf den Gipfel verfolgt. Sie haben mir die Zeit bestätigt. SPIEGEL: Haben Sie jemanden in der Wand überholt? Steck: Nein, da war niemand außer mir drin.

Beckham in Cabo São Roque

FUSSBALL

Gastgeber Beckham D

avid Beckham ist nicht mehr Kapitän der englischen Nationalelf, der neue Nationaltrainer Fabio Capello nominierte ihn zuletzt nicht mal für ein Freundschaftsmatch, womöglich bleibt es für ihn bei der nicht ganz abgerundeten Länderspielkarriere mit 99 absolvierten Partien. Ausgerechnet Beckham, 32, der Star von Los Angeles Galaxy, könnte nun vielleicht bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien die englische Mannschaft beherbergen – in seinem neuen Sportparadies. Bei Natal, an einer noch unberührten Küste im Nordosten Brasiliens, entsteht ein David-Beckham-Sportwelt-Komplex als Teil eines Luxusresorts namens Cabo São Roque. Innerhalb des 400-Millionen-Euro-Projekts, das einen eigenen Verkehrsanschluss und einen Flughafen erhält, lässt der Spieler mit Unterstützung norwegischer Investoren bis 2010 seine dritte Fußballakademie aufziehen. Wie in London und Los Angeles will Beckham auch in Brasilien Schulkindern die Chance zum Kicken „in sicherer Umgebung“ bieten, wie er sagt. Zu „David Beckham World of Sport“ gehören außerdem acht Fußballfelder, ein Stadion für 10 000 Zuschauer sowie Übernachtungsplätze für Teams im Trainingslager – bestens geeignet als Basiscamp für 2014. England, im Rennen um die Startplätze der Europameisterschaft in diesem Jahr ausgeschieden, müsste sich für die WM aber erst noch qualifizieren.

Steck in Eigernordwand SPONSORING

ROBERT BÖSCH

Das Milliardenspiel ehr als 6,5 Milliarden Dollar, so schätzt das britische Fachmagazin M „SportsPro“, investierten die 20 größten Sportsponsoren vergangenes Jahr weltweit. Die wichtigsten Geldgeber sind demnach die Sportartikelhersteller Nike und Adidas, gefolgt von Coca-Cola und Red Bull. Nike soll jährlich 800 Millionen Dollar in Sportsponsoring investieren, Konkurrent Adidas 700 Millionen. Dafür darf Adidas unter anderem die Teams der amerikanischen Fußball-Liga d e r

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MLS ausrüsten. Coca-Cola sponsert die US-Basketball-Liga NBA sowie den Weltfußballverband Fifa. Dafür und für andere Deals soll der Getränkehersteller 550 Millionen Dollar im Jahr ausgeben. Die Investitionen des österreichischen Unternehmens Red Bull werden auf 500 Millionen Euro geschätzt. Firmenchef Dietrich Mateschitz besitzt zwei Formel-1-Teams und je einen Fußballclub in den USA und Österreich. Neben Adidas ist nur ein deutscher Vertreter in den Top 20: Mercedes-Benz landet mit einem geschätzten Sponsoring-Etat von 290 Millionen Dollar auf Platz zehn. 135


WM-Eröffnungsfeier 2006 in München, Fifa-Chef Blatter: Eine weltumspannende Gelddruckmaschine, die jedes Jahr Hunderte von Millionen

FUSSBALL

Gesamtkunstwerk Korruption Sportfunktionäre, darunter Vertreter der Fifa, sollen mehr als 18 Millionen Schweizer Franken von einem Rechtevermarkter unter der Hand kassiert haben. Der Prozess gegen dessen ehemalige Manager wird ein Schmiergeldsystem offenlegen – und vielleicht auch die Namen der Bestochenen.

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ür Joseph Blatter ist die Fifa, der Weltfußballverband, eine völkerverbindende Organisation. Eine Organisation, in der Werte wie Anstand, Moral und gegenseitiger Respekt das Handeln bestimmen. Seit 1998 führt der Schweizer dieses Reich, das aus 208 nationalen Verbänden besteht und mehr als 260 Millionen Fußballer repräsentiert. Die Fifa, wie Blatter sie sieht, ist ein ethisches Gesamtkunstwerk irgendwo zwischen den Vereinten Nationen und Amnesty International, die es längst verdient hätte, dass man ihr in Oslo den Friedensnobelpreis überreicht. Es gibt auch einen anderen Blick. Danach ist die Fifa eine weltumspannende

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Gelddruckmaschine, die jedes Jahr Hunderte von Millionen Schweizer Franken Gewinn erwirtschaftet und allein zwischen 2003 und 2006 mehr als drei Milliarden einnahm. Vor knapp einem Jahr hat Blatter das neue Hauptquartier in Zürich eingeweiht, das 240 Millionen Franken kostete und in dem er nun vom Friedensnobelpreis träumt. Fünf der acht Etagen des Gebäudes liegen unter der Erde. Größenwahn und Verdunkelung, das sind, so sehen es Blatters Gegner, die wahren Prinzipien, mit denen der Schweizer den Weltfußballverband führe. Seit seiner Wahl vor zehn Jahren muss sich Blatter des Vorwurfs erwehren, der d e r

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Weltfußballverband sei käuflich. Stets hat er jede Art von Korruption weit von sich gewiesen. „Ich bin nicht bestechlich“, hat er einmal in einem Interview gesagt. „Da können Sie mir beide Hände abhacken.“ Nun hat eine Schweizer Ermittlungsbehörde recherchiert, dass Sportfunktionäre, darunter auch Vertreter der Fifa, Bestechungsgelder in Millionenhöhe kassiert haben sollen. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug hat eine 228 Seiten dicke Anklageschrift verfasst, in der umfangreiche Aussagen und Belege zu dem Schmiergeldsystem gesammelt sind. Zusammengetragen haben die Strafverfolger dies alles für einen Prozess gegen


OLIVIER MATTHYS / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (L.); DOMINIC BÜTTNER / PIXSIL.COM / VISUM (R.)

Sport

Schweizer Franken Gewinn erwirtschaftet

sechs frühere Manager der SportrechteHolding ISMM AG, der am 11. März in Zug beginnt. Offensichtlich wollte das Unternehmen bei der Vergabe von Exklusivrechten mit seinen heimlichen Zuwendungen auch Entscheidungsträger des Weltfußballs für sich gewinnen. In dem Verfahren wird die zweitgrößte Pleite der Schweizer Wirtschaftsgeschichte aufgerollt. Die ISMM musste im Mai 2001 Insolvenz anmelden, nachdem der Konzern in den Jahren zuvor sein Portfolio für einen Börsengang hochgerüstet und sich bei seiner Expansion übernommen hatte. Neben Fernseh- und Marketingrechten an den Fußball-Weltmeisterschaften 2002 und 2006, für die die Holding der Fifa mindestens 2,2 Milliarden Schweizer Franken garantierte, hatte sich die ISMM über ihre Tochter ISL Worldwide zu oft überhöhten Preisen Rechte in fast allen bedeutenden Sportarten gesichert. Der Deal mit der Tennis-Organisation ATP im Jahr 1999, der die Agentur über zehn Jahre 1,2 Milliarden Dollar kosten sollte, brachte die ISMM in Schieflage – nach Erkenntnissen der Ermittler hatten ISMM und ISL Worldwide allein im Geschäftsjahr 2000 einen Verlust von über 860 Millionen Schweizer Franken gemacht.

Vor Gericht muss nun geklärt werden, ob die Firmenbosse kriminelle Energie entwickelt haben, um den Zusammenbruch ihres Sportrechte-Imperiums zu verhindern. Die Staatsanwaltschaft Zug wirft den Angeklagten unter anderem Veruntreuung, Betrug, mehrfache Bevorzugung eines Gläubigers, Gläubigerschädigung und betrügerischen Konkurs vor. Sie wird Freiheitsstrafen zwischen drei und viereinhalb Jahren verlangen. Die Anwälte der Be-

Klingelnde Kassen Fifa-Einnahmen aus Fernseh- und Marketingrechten an WM-Turnieren, in Millionen Euro Jahr

Austragungsort

Einnahmen

1994

USA

1998

FRANKREICH

2002

JAPAN/SÜDKOREA

2006

DEUTSCHLAND

2010*

SÜDAFRIKA

96 165 1354 1516 2300

*geschätzt

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schuldigten plädieren auf Freispruch in allen Punkten und fordern Prozessentschädigung für ihre Mandanten. Der außerordentliche Untersuchungsrichter Thomas Hildbrand, der wie Blatter aus dem Örtchen Visp im Kanton Wallis stammt, recherchierte die Hintergründe der ISMM-Pleite drei Jahre lang. Zu Vernehmungen flog er bis nach Brasilien und Japan. Seine Dienstreisen führten ihn auch ins benachbarte Fürstentum Liechtenstein. Dort spürte er Geldströme auf, die der ISMM nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft vor allem dazu dienten, Sportfunktionäre zu schmieren. Wie im Fall Zumwinkel spielen auch hier Stiftungen die entscheidende Rolle. Die eine hieß Nunca und wurde am 17. Dezember 1998 in Vaduz gegründet. Sunbow, die zweite Stiftung, war bereits ein gutes Jahr zuvor auf den British Virgin Islands entstanden und ging am 8. Februar 1999 vollständig in den Besitz der Nunca über. Sogar bei der ISMM, die sich Ende der neunziger Jahre noch Sporis Holding AG nannte, erfuhren nur wenige Eingeweihte von diesen Verbindungen – die beiden Stiftungen tauchen weder in den damaligen Bilanzen noch in den Organigrammen des verschachtelten Konzerns auf. Nach Erkenntnissen der Ermittler waren sie jedoch eindeutig „wirtschaftliche Geschäftseinheiten“ der ISMM. Die Sunbow wurde Kunde bei der LGT, derselben Bank, die auch deutschen Managern dazu gedient haben soll, deutschen Finanzämtern Einnahmen zu entziehen. Auf dem Sunbow-Konto, Nummer 193.223.31, war schon bald ordentlich Bewegung. Ende Mai 1999 gingen dort 36 130 220 Franken und 5 Rappen ein. In Auftrag gegeben hatte die Millionenzahlung die Sporis Holding AG von ihrem Konto bei der Banque Nationale de Paris. Der Buchungsvermerk: „Rechteerwerbskosten“. Vom 3. Juni 1999 bis zum 15. Januar 2001 flossen die diskret geparkten Sunbow-Millionen bis auf einen Betrag von 2134,90 Franken wieder ab. Die Ermittler sind überzeugt, dass 18198310 Franken „an Personen überwiesen wurden, die direkt oder indirekt mit Verträgen, welche die ISMM Gruppe abschloss, in Zusammenhang standen. Bei diesen Beträgen handelt es sich um Vergünstigungen bzw. Schmiergelder“. So steht es in der Akte. Die Strafverfolger glauben, dass sie bislang zwei Fifa-Vertreter als Empfänger von Schmiergeld identifiziert haben. So soll die Sunbow in zwei Tranchen 211 625 Franken an den Paraguayer Nicolás Leoz gezahlt haben, den Präsidenten des Südamerikanischen Fußballverbandes, der seit 1998 Mitglied der Fifa-Exekutive ist. 15 975 Franken soll kurz vor Weihnachten 1999 137


Sport

PHILIPP GÜLLAND / DDP (L.); REUTERS / ULLSTEIN BILD (O.)

Zielen“ seit der Gründung der Muhidin Ndolanga erhalten haFirma betrieben habe. ben, damals Präsident des FußNach dem frühen Tod des ballverbandes von Tansania. Adidas-Chefs im Jahr 1987, Ndolanga bestreitet den Vorheißt es in den Dokumenten, wurf, Leoz äußerte sich dazu sei die „Beziehungspflege“ ausnicht. schließlich auf Jean-Marie WeDie restlichen Millionen verber übergegangen. So stieg der sickerten zunächst in einem Elsässer, der ohne schriftlichen Geflecht von Tarnfirmen. So Arbeitsvertrag agierte und für flossen 5 873 224 Schweizer den zum Zeitpunkt der ISMMFranken an die Sicuretta, eine Pleite ein „Basisjahresgehalt“ ebenfalls in Vaduz ansässige von 870 000 Schweizer Franken Stiftung. 5 123 206 Franken lanausgehandelt war, zu einer der deten bei der Taora, auch diese geheimnisvollsten Figuren der Stiftung war im Fürstentum geinternationalen Sportpolitik meldet. Vier Millionen Franken auf. Sein Branchenname: der erhielt nach Ansicht der FahnMann mit der schwarzen Liste. der die in Hongkong eingetraWeber machte es wie sein gene Gilmark Holdings, weitere Vorbild Dassler: Er benutzte die 2 564 630 Franken sollen an eine Sporis Holding AG als DrehRenford Investments Ltd überscheibe für „alle Sorten von wiesen worden sein. Zahlungen, die aus steuerlicher Von dort, da sind sich die ErSicht gefährlich“ gewesen seien. mittler sicher, wurde das Geld Das erfuhren die Ermittler über weitergeleitet an korrupte einen Anwalt, der mit den inFunktionäre. Doch die Spuren ternen Vorgängen vertraut war. sind verwischt. Der einzige Probleme tauchten erst auf, Mann, der nach Überzeugung als die Sporis Ende der neunzider Strafverfolger die Namen ger Jahre an die Börse gebracht der Begünstigten kennt, ist werden sollte, um dem Unterder Hauptbeschuldigte in dem nehmen frisches Geld zu verVerfahren: der 65 Jahre alte schaffen. In den Büchern, heißt Jean-Marie Weber, zuletzt Veres in einer Aktennotiz, sollten waltungsrats-Vizepräsident der keine Zahlungen auftauchen, ISMM. „die als Steuerhinterziehung geBei den Vernehmungen inwertet werden könnten“. Die des agierte Weber wie der rettende Idee war, die schmutzifrühere Bundeskanzler und gen Millionen „der Form halber CDU-Vorsitzende Helmut Kohl, Rechtehändler Weber, Funktionär Blatter, Liechtensteiner LGT-Bank in eine einmalig dotierte Stiftung als es um illegale Parteispenden Der Mann mit der schwarzen Liste zu verlagern“, wie es einer der ging: Er behielt seine Geheimnisse für sich. Diese Zahlungen seien „ver- lassung im Elsass arbeiteten – Blatter als Beschuldigten beschrieb. So entstanden traulich“ gewesen, gab Weber zu Proto- Technischer Direktor der Fifa, Weber als Sunbow und Nunca. Die Staatsanwaltschaft hat das Stiftungskoll, und dieses „Vertraulichkeitsprinzip“ Dasslers persönlicher Assistent. Es war der Firmenchef von Adidas, der geflecht entwirrt, weil sie dahinter auch wolle er respektieren. Weber sprach von „Provisionen“ oder „Honoraren“, die früh erkannt hatte, wie viel Vermark- eine Schädigung der Gläubiger von ISMM „parallel zum Kauf oder Verkauf von tungspotential für seinen Sportartikel-Gi- erkannt haben will. Denn die über 36 Milganten in den globalen Wettbewerben lionen Schweizer Franken, die von der Rechten“ bezahlt worden seien. Wie lautlos Weber operierte, schilderte steckte. Und weil er zu den Funktionären Sporis Holding AG an die Sunbow flossen, den Ermittlern ein Anwalt aus dem Schwei- der Fifa und des Internationalen Olympi- seien in der Konzernbilanz verschleiert zer Städtchen Baar. Er verwaltete jene fast schen Komitees schon immer beste Bezie- worden. Nun geht auch bei Fifa-Funktionären die sechs Millionen Franken, die von der Sun- hungen gepflegt hatte, gründete Dassler bow-Stiftung an die Tarnfirma Sicuretta in im Jahr 1982 die Agentur ISL. Sehr bald Furcht um, dass Jean-Marie Weber seine acht Raten überwiesen worden waren. Der vermarktete er sowohl die Fußball-Welt- geheimnisvolle Liste preisgeben wird. Ihm Anwalt gab an, er habe den kompletten meisterschaften als auch die Olympischen drohen viereinhalb Jahre Gefängnis. Im Protokoll eines Telefonats, das einer seiner Betrag jedes Mal in bar abgehoben und an Spiele. Diese Pionierphase war wohl die Zeit, in Anwälte führte und das den Ermittlern in Jean-Marie Weber übergeben – ohne der Jean-Marie Weber das Handwerk des die Hände fiel, heißt es: „Die Empfänger Quittung. Das Geld sei „für den Erwerb von Rech- Schmierens erlernte. Denn der steile Auf- dieser Gelder könnten in eine peinliche Siten“ bestimmt gewesen. Der Anwalt war stieg der Rechteagentur ISL zum weltweiten tuation geraten.“ Fifa-Präsident Blatter kommentierte das Teil des Geflechts, Weber hatte ihn 1998 zu Branchenprimus, der fast 20 Jahre später einem Spiel bei der Fußball-WM in Paris mit dem Konkurs unter dem Dach der Hol- laufende Verfahren gegenüber dem SPIEeingeladen und ihn dort dem frischge- ding ISMM endete, lief angeblich von An- GEL nicht. Nur zu seiner eigenen Person wählten Fifa-Präsidenten Blatter vorge- fang an Hand in Hand mit üppigen Schmier- stellt er kategorisch fest: „Ich habe – wegeld-Budgets. Gegenüber Ermittlern gab der im Zusammenhang mit der Vergabe stellt. Weber und Blatter kennen sich seit den einer der Beschuldigten an, dass man bei von Rechten noch unter anderen Umstänsiebziger Jahren, als beide im engsten Um- der ISL die „Begünstigung von namhaften den – nie Gelder entgegengenommen feld des früheren Adidas-Chefs Horst Dass- Persönlichkeiten im Sport zur Förderung noch für mich entgegennehmen lassen.“ ler in der französischen Konzern-Nieder- von sportpolitischen und wirtschaftlichen Michael Wulzinger 138

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und auch die könnte ihn ins Gefängnis bringen. Zu Beginn seiner Profi-Karriere galt Sinkewitz als eines der großen Talente im deutschen Radsport. 2004 gewann er die Deutschland-Tour, 2006 wechselte er zum Paradestall T-Mobile. Er verdiente viel Geld und führte das Doppelleben eines Doping-Sünders. Als seine positive Probe bekannt wurde, brachen ARD und ZDF die Live-Übertragung von der Tour de France ab. Er brauchte ein paar Wochen, bis er sich dazu durchrang, ein Geständnis abzulegen und damit die sogenannte Kronzeugenregelung der Welt-Anti-DopingAgentur (Wada) in Anspruch zu nehmen, die für reuige Sünder eine Halbierung der Sperre vorsieht – vorausgesetzt, sie nennen Hintermänner und Komplizen. Das Problem ist, dass Sinkewitz wirklich kooperieren muss. Er hat geglaubt, nur mit einem Teil der Wahrheit durchzukommen. Hätte er den Ermittlern die Namen anderer T-Mobile-Profis genannt, wären die Aussichten schlecht gewesen, jemals wieder einen Job als Fahrer zu bekommen. Die Mafia vergisst nie.

RADRENNEN

Die Mafia vergisst nie Bisher schweigt der Doping-Sünder Patrik Sinkewitz über jene Teamkollegen, die gemeinsam mit ihm dopten. Am Ende könnte er in Beugehaft kommen.

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FREDMONS / WITTERS

MARTIN HOFFMANN / IMAGO

origen Montag wurde der Radprofi Patrik Sinkewitz zum dritten Mal von Beamten des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden verhört. Sie haben schon viel von ihm erfahren über seine Doping-Karriere, die 2003 bei dem belgischen Radrennstall Quick Step begann und die im Juli des vergangenen Jahres ein vorläufiges Ende fand, als während der Tour de France sein positiver Doping-Befund bekannt wurde. Sie haben sich angehört, warum er gedopt hat und von wem er die

„Irgendwann kommt man ja dann an einen Punkt, wo du die Wahl hast zwischen Scheiße und Scheiße“, so hat Sinkewitz einmal beschrieben, warum er begonnen habe zu dopen – Doping sei schlecht, Arbeitslosigkeit aber auch. Bisher sind alle Versuche gescheitert, einen neuen Arbeitgeber zu finden. Sinkewitz ist gefangen in einem Gestrüpp aus Halbwahrheiten und der Gnadenlosigkeit eines mafiosen Systems. Egal wofür er sich entscheidet, alles scheint falsch zu sein. Die Frage ist, ob es überhaupt eine richtige Entscheidung gibt. Jörg Jaksche, der andere prominente Doping-Beichter des vorigen Jahres, wollte alles richtig machen. Er war in den spanischen Fuentes-Skandal verwickelt, aber nicht überführt worden. Trotzdem ging er in die Offensive und gestand im vergangenen Juli im SPIEGEL (Heft 27/2007), während seiner gesamten Karriere als Profi gedopt zu haben. Als ihn Ermittlungsbehörden befragten, sagte er umfassend aus und nannte Hintermänner. Acht Monate nach seiner Beichte hat er immer noch keinen neuen Rennstall gefunden, auch weil der Radsport-Weltver-

Geständiger Radprofi Sinkewitz, Starterfeld der Tour de France (2006): Doping ist schlecht, Arbeitslosigkeit auch

Mittel bekam. Sie wissen jetzt, dass er Epo, Testosteron-Gel, Wachstumshormon und Synacthen benutzt hat und dass er sich auch in Freiburg bei der sportmedizinischen Abteilung der Universitätsklinik das Blut hat austauschen lassen. Die Beamten sind trotzdem nicht zufrieden. Zusammen mit der Freiburger Staatsanwaltschaft ermitteln sie gegen jene Sportmediziner, die in Freiburg systematisches Doping betrieben haben sollen. Die Fahnder haben Hinweise, dass Sinkewitz, 27, nicht der einzige Fahrer des Teams T-Mobile war, der sich dort dopen ließ. Sinkewitz aber will nur über seine eigenen Taten sprechen. Nun haben die Beamten keine Geduld mehr mit ihm und wollen ihn beim nächsten Mal in der Anwesenheit eines Richters vernehmen. Nennt Sinkewitz weiterhin keine Namen, droht ihm am Ende Beugehaft. Sagt er die Unwahrheit, begeht er eine Falschaussage,

Schon einmal hat er gespürt, wie Verräter behandelt werden. Aus einem internen Gespräch beim Bund Deutscher Radfahrer war im September bekannt geworden, dass Sinkewitz angeblich den italienischen Weltmeister Paolo Bettini als einen Lieferanten von Doping-Mitteln genannt hatte. Noch bevor Sinkewitz dementierte, bekam er wüste Drohanrufe auf Italienisch. Vergangenen Freitag war Sinkewitz mit seinem Anwalt beim Weltradsportverband UCI im schweizerischen Aigle, um über seine Sperre zu verhandeln. Wenige Tage zuvor hatte der Heidelberger Doping-Experte Werner Franke eine Anzeige erstattet, in der er fünf ehemalige T-Mobile-Fahrer beschuldigt, in Freiburg gedopt zu haben – darunter die Deutschen Andreas Klöden und Matthias Kessler, die beide stets abstritten, jemals Blutdoping betrieben zu haben. Der Druck wird immer größer, die Situation scheint ausweglos. d e r

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band UCI ihm seine Sperre nicht verkürzen will. Dort hat man Zweifel daran, ob er wirklich ein Kronzeuge ist. Anders als bei Sinkewitz waren alle Stellen, mit denen Jaksche kooperierte, hochzufrieden mit dessen Auskünften. Dem Weltverband präsentierte er Schreiben von BKA und Wada, die bescheinigen, wie wertvoll seine Aussagen gewesen seien. Viel genützt hat ihm das bisher nicht. Die UCI-Funktionäre wollen erst in einem Monat entscheiden, vielleicht auch später. Aber die Saison hat schon begonnen. Damit sinken Jaksches Chancen auf einen Arbeitsplatz. Vielleicht hofft Sinkewitz trotzdem noch, dass er schnell eine Kronzeugenregelung bekommt und damit die Chance auf einen neuen Job. Vielleicht hofft er immer noch, dass er die Kollegen nicht verraten muss. Aber das ist unwahrscheinlich geworden. Detlef Hacke, Udo Ludwig 139


Wissenschaft · Technik

BRIJESH SINGH / REUTERS

BILDAGENTUR WALDHAEUSL

Prisma

Restaurator

Taj Mahal R E S TAU R I E R U N G E N

Ayurveda fürs Grabmal M

it Joghurt verrührt, gilt Multani Mitti, oder Bleicherde, als ayurvedisches Geheimrezept für schöne Haut. Dieser Tage haben etwa 150 Restauratoren damit begonnen, einem Patienten ungewöhnlicher Art eine verjüngende Schlammpackung mit dieser Wundererde zu verpassen: dem Taj Mahal. Denn Bö-

U M W E LT

Benzin aus Luft

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er Vorschlag klingt bestechend: Als klimafreundliche Alternative zu Sprit aus fossilen Energieträgern und den umstrittenen Biokraftstoffen wollen US-Forscher Benzin künftig aus Luft und Wasser erzeugen. „Wir haben ein elektrochemisches Verfahren entwickelt, mit dem sich Kohlendioxid effizient der Luft entziehen und nebenbei Wasserstoff gewinnen lässt“, sagt Jeffrey Martin

gen, Winkel und Nischen des 1648 fertiggestellten Mausoleums, das der Großmogul Shah Jahan für seine Hauptfrau Mumtaz Mahal errichten ließ, haben mit den Jahren einen gelblichen Schleier angesetzt. Schuld sind die Industrieabgase der nahen Millionenstadt Agra. Sechs Monate soll es dauern, dann erstrahlt der Marmor wieder in reinem Weiß. Stück für Stück tragen die Restauratoren die Maske auf, lassen den Schlamm über Nacht antrocknen und nehmen ihn dann mit destilliertem Wasser wieder ab. Schönheit hat natürlich ihren Preis: Die ayurvedische Wellness-Kur kostet pro Anwendung 150 000 Euro.

vom Los Alamos National Laboratory. Mit dem Wasserstoff lässt sich das Treibhausgas zu Methanol und schließlich zu Kraftstoff verarbeiten. So würden Autos und Flugzeuge kein zusätzliches Kohlendioxid mehr ausstoßen, sondern nur noch recyceln, was in der Luft ist. Der Haken: Das Verfahren benötigt enorm viel Energie – die soll aus Kernkraftwerken kommen. Kritikern hält Martin entgegen, die Methode sei umweltfreundlicher als die meisten Alternativen. „Und der Kraftstoffbedarf ist so gewaltig, dass wir alle Quellen ausschöpfen müssen.“

Die Verwandlung von Kohlendioxid in Kraftstoff KOHLENDIOXID WASSER LUFT AUS DER ATMOSPHÄRE ENERGIE

Gewinnung von Kohlendioxid

Kernkraftwerk ENERGIE

ENERGIE

METHANOL

Herstellung von Benzin

ein Drittel des benötigten Wasserstoffs Kohlendioxid zwei Drittel des benötigten Wasserstoffs

BENZIN

Tankstelle MethanolSynthese Methanol

Wasser-Elektrolyse

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MEDIZIN

Schlaue Säufer

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s ist eine Frage der Dosis und der Dauer, ob ein Hemingway, Jelzin oder Juhnke sich die grauen Zellen am Ende kaputttrinkt oder nicht. Fest steht aber: Als Kind war der Säufer eher schlau. Je klüger Mädel oder Knabe sich im Alter von zehn Jahren zeigen, desto mehr neigen sie als Erwachsene dem Alkohol zu. David Batty und seine Kollegen von der University of Glasgow zeigen sich überrascht von dem Zusammenhang, den sie entdeckt haben – offenbar kennen sie keine englische Entsprechung des Sinnspruchs „Dummheit frisst, Intelligenz säuft“. Auch eine Erklärung bietet Batty an: Kluge Leute haben eher erfolgreiche Jobs, und dies wiederum „erfordert eben eine Bereitschaft, oft zu trinken, bei geselligem Beisammensein dann auch im Übermaß“. Die Wissenschaftler untersuchten 8100 Probanden. Dabei fand sich die Trunksucht vor allem bei Frauen in Führungspositionen. Der Kampf um dauerhaften Erfolg in einer Männerdomäne, meinen die Forscher, mache offenbar besonders empfänglich für die Verlockungen von Schnaps und Wein. 141


Wissenschaft·Technik

Prisma Mauersegler

TIERE

Geheimnis des ewigen Flugs

ARCHÄOLOGI E

Wikinger. Entdeckt wurden in einem Ort namens Wiskiauten bereits Silbermünzen und ein ungewöhnlich großer Brunnen. Die Ausmaße des Bauwerks lassen auf eine „gewaltige umliegende Metropole“ schließen, die ein „bedeutender Umschlagplatz“ für Waren innerhalb des Handelsnetzes der Wikinger war, erklärt Ausgräber Timo Ibsen aus Schleswig. Dass die Nordmänner an dem bernsteinreichen Ort präsent waren, beweisen über 500 nahe liegende Hügelgräber. Im März geht die Suche nach der Supersiedlung weiter. Dass die Gegend einst von Reichtum strotzte, belegt auch die legendäre „Prussia-Sammlung“. Sie umfasst über 100 000 Fundstücke, die bereits im 19. Jahrhundert entdeckt wurden. In den Wirren der letzten Kriegsjahre verschollen, tauchten vor einigen Jahren einzelne Stücke der Sammlung wieder auf. Das spannende Schicksal des Schatzes wird am Sonntag im ZDF in einer Dokumentation um 19.30 Uhr vorgestellt. 142

gut sind: „Wir können damit eine Art Zuleitung zu lebenden Zellen in der Petrischale konstruieren.“ Außerdem eignen sich die Gebilde als Mikroreaktoren, in denen sich Lebensvorgänge simulieren lassen. Über solche Ideen kann die Chemikerin beim Joggen sinnieren – sie ist nämlich auch noch Marathonläuferin und Triathletin. „Zurzeit allerdings nur sehr eingeschränkt, weil ich mit Fabian im Babyjogger laufen muss.“

BIOCHEMIE

Kleine Schläuche

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enn Petra Dittrich kein Vorbild für Nachwuchswissenschaftlerinnen ist – wer dann? Die 33-jährige promovierte Chemikerin hat ein Patent, einen 13 Monate alten Sohn, reizvolle Angebote von der Industrie – und, jetzt gerade, die Zusage aus Brüssel für zwei Millionen Euro Forschungsförderung. Eine eigene Arbeitsgruppe soll Dittrich aufbauen – gut 9000 Forscher hatten sich beworben, nur 201 Anträge wurden bewilligt. Womit hat die junge Forscherin vom Institute for Analytical Sciences in Dortmund das verdient? Mit Dittrich einem Fehler: Sie hatte einen Mikrochip darauf programmiert, künstliche Zellen herzustellen. „Die muss man sich vorstellen wie winzige Seifenblasen mit einer Haut aus Fettsäuren“, erklärt Dittrich. Doch der Druck war zu niedrig – und plötzlich krochen Schläuche statt Bläschen aus dem Chip. Auf eine Länge von eineinhalb Zentimetern wuchsen die Miniröhrchen an – bei nur drei Mikrometer Dicke. Wozu sie d e r

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DIRK HOPPE / NETZHAUT

Wikinger in Ostpreußen eutsche Archäologen fahnden vor der Küste von Kaliningrad nach D einer riesigen Handelskolonie der

auersegler schlafen sogar in der Luft. Nur die Paarung und das Füttern der Brut erfordern Unterbrechungen des Lebens im steten Flügelschlag. Deshalb haben die Aerodynamiker diese stromlinienförmigen Flugkünstler zum Lieblingsobjekt erkoren. Das Problem ist nur, dass Mauersegler sich nicht gefangen halten lassen. Ohne Labortiere aber gibt es keine Forschung, und darum hängten die Biologen bisher nur Flügel toter Mauersegler in ihre Windkanäle. Jetzt ist Per Henningsson von der schwedischen Lund-Universität auf die Idee gekommen, Nestlinge kurz vorm Flüggewerden zu entführen. Erstes erstaunliches Ergebnis: Die Flugkunst ist den Mauerseglern komplett angeboren. Anders als andere Vögel lernten Henningssons Küken das Fliegen schon am ersten Tag. „Sie kannten das wirkliche Leben nicht“, sagt der Forscher. „Daher haben sie den Windkanal einfach so akzeptiert.“ Mit der Videokamera sowie Sonden zur Messung der Luftwirbel hinter dem Tier studierte das schwedische Team den Flügelschlag und stellte fest, dass besonders der Aufwärtsschlag des Mauerseglers einzigartig ist. Die meisten Vögel, erklärt Henningsson, klappen ihre Flügel während der Aufwärtsbewegung ein, um den Luftwiderstand zu minimieren – den Verlust des Auftriebs nehmen sie in Kauf. Des Mauerseglers Flügel aber bleiben nach außen gereckt, was ihm Auftrieb beschert, aber auch mehr Luftwiderstand. Der Vorteil: Der ewige Ritt durch die Lüfte gerät sanfter.

ISAS

OKAPIA

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Mikroschläuche


Wissenschaft

MEDIZIN

Stiefkinder der Heilkunst Bis zur richtigen Diagnose dauert es oft viele Jahre, eine Therapie ist schwierig, Medikamente gibt es nicht: Wer an einer seltenen Krankheit leidet, rutscht leicht durchs Netz. Maßnahmen des Bundes sowie der EU sollen jetzt die Situation der Patienten verbessern.

144

FRIEDEL AMMANN

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anchmal ist es sehr schwer, Fee ganz normal aufwachsen zu lassen. Wie jetzt, wo das Kind plötzlich rückwärts von der Kante ins Klinikschwimmbad springt. Ein Platsch, und die Kleine saust senkrecht ins Wasser – millimeternah am Beckenrand vorbei. „Hörst du“, ruft Trix Buchholz, noch bevor sie ihre Tochter wieder an die Oberfläche gezerrt hat. „Hörst du! Fee! Du musst vorsichtiger sein!“ Tief einatmen. Dann, ruhiger: „Komm, wir schwimmen ein bisschen.“ Sie zieht ihre Tochter in die Mitte des Beckens, wo nur Wasser ist. Das kann keine Knochen brechen. Schädel, Schienbein oder Rippen der siebenjährigen Fee-Leona könnten nämlich entzweigehen an Steinen, Stufen oder Schwimmbadkanten. Und wie wüchsen sie dann wieder zusammen? Niemand weiß es. Denn die Krankheit des Mädchens aus Berlin ist sehr, sehr selten – und unheilbar: Hypophosphatasie (HPP), ein Stoffwechselleiden, das den Knochenaufbau stört. Nur etwa 70 HPP-Patienten sind den Ärzten in Deutschland bekannt. Kaum einer hat sie, kaum einer kennt sie: Rund 6000 seltene Krankheiten gibt es. Sie sind chronisch, viele lebensbedrohlich, ein großer Teil trifft schon Kinder. Vielfach wird das Problem erst spät erkannt, oft falsch behandelt, fast nie gibt es eine wirksame Therapie. Auch für Fee ist Heilung nicht in Sicht. Denn viele rare Erkrankungen sind für Pharmakonzerne uninteressant. An Migräne, Übergewicht oder Potenzproblemen lassen sich Milliarden verdienen. Aber warum zum Beispiel sollte sich eine Firma um das Cednik-Syndrom kümmern, bei dem Gehirnentwicklung und Psychomotorik schwer gestört sind, wenn dieses Leiden doch erst bei drei Jungen und vier Mädchen weltweit beschrieben worden ist? So selten die Stiefkinder der Heilkunst auch auftreten, fürs Gesundheitssystem fallen sie durchaus ins Gewicht. Denn sie betreffen, alle Patienten zusammengezählt, rund vier Millionen Deutsche. Dennoch wurden sie nicht nur von der Industrie, sondern auch „lange Zeit von Ärzten, Politikern und Wissenschaftlern vernachlässigt“, heißt es in „Seltene Krankheiten“, dem ersten großen deutschen Handbuch zum Thema.

Knochenkranke Fee-Leona: Die Stirn musste aufgesägt werden

Langsam jedoch scheinen die Verantwortlichen aufzuwachen. So will das Bundesforschungsministerium in den kommenden zwölf Jahren mehr als 80 Millionen Euro für die Erforschung exotischer Krankheiten ausgeben. Und auch die EU fördert gezielt die Entwicklung von Medikamenten. Bei Familie Buchholz ist Erschöpfung Dauerzustand. „Wir sind im Moment echt am Ende“, berichtet Fees Mutter. Daher hat sie, die ausgebildete Krankenschwester, geredet, geschrieben und genervt, bis sie die Krankenkasse so weit hatte, der ganzen Familie inklusive Lea, neun, und Zoë, fünf, eine dreiwöchige Kur in einer Eltern-Kindd e r

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Klinik im Schwarzwald zu gewähren. Heute ist nach dem Bad im Klinikpool der Nachmittag ungewohnt unverplant. Spazieren gehen? Schlitten fahren? Jedenfalls nicht: Ski fahren. Niemals Ski für Fee. Exotische Störungen wie HPP sind das medizinische Gegenstück zu Volksleiden wie Diabetes oder Bluthochdruck: Als selten gilt eine Krankheit, wenn maximal 5 von 10 000 Menschen davon betroffen sind. Das gilt für bekanntere Leiden wie die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose, vor allem aber für viele Störungen, von denen auch die meisten Ärzte noch nie etwas gehört haben.


Viele Erkrankungen zählen dazu, die den Alltag zum Alptraum machen: Leiden wie jenes, das gigantische Zehen wachsen lässt, oder jenes, bei dem die Kinderhaut bei Berührung schmerzhafte Blasen schlägt. Weit mehr als hundert verschiedene neurodegenerative Krankheiten sind der Medizin bekannt, bei ihnen verkümmern die Nerven – und mit ihnen Sprache, Sinne, Beweglichkeit, Intellekt. Ein weiteres Syndrom führt dazu, dass die Muskeln verknöchern, bis die Betroffenen statuesk erstarren, ein wieder anderes lässt schon

Am Freitag wird Trix Buchholz wieder zurück in Berlin sein. Ein besonderer Tag: Den 29. Februar, weil seltenes Datum, haben Selbsthilfegruppen zum Ersten Europäischen Tag der Seltenen Krankheit ausgerufen. Die Frau des Bundespräsidenten wird einen Preis verleihen, den die Eva-Luise-und-Horst-Köhler-Stiftung gespendet hat: 50 000 Euro für eine bahnbrechende Forschungsarbeit. Köhlers Tochter Ulrike, die derzeit in Germanistik promoviert, leidet auch an einer solchen Krankheit: Eine Störung der Netzhautversorgung hat sie erblinden lassen. Die Mutter beklagt, dass „bisher die Belange von Patienten mit seltenen Krankheiten in unserer Gesellschaft nur unzureichend vertreten“ werden. Sie ist Schirmherrin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (Achse), eines Dachverbands von Selbsthilfegruppen. Auch Trix Buchholz engagiert sich in der jungen HPP-Selbsthilfegruppe. Und sie kämpft gegen die Gesundheitsbürokratie, die beispielsweise Zahnprothesen für Kinder nicht standardmäßig vorgesehen hat –

Knochen. Deshalb: bloß nicht schonen. Stark machen. „Kommt, wir gehen Schlitten fahren!“, ruft Trix Buchholz ihren Mädels zu. Dreimal Freudengeheul. Fee, sonst eher ernst und still, strahlt und entblößt die schiefen Schneidezähnchen. Acht Zähne fehlen dem Kind; das ist Teil der Krankheit. Auch dass es vom Milchreis zu Mittag nur ein paar Körnchen gepickt hat, ist typisch – HPP stiehlt den Appetit. Deswegen ragen Fees Ärmchen dünn aus dem Ringelpulli, der ganze Körper ist zart, aus dem

Aufbaumittel Länder, die die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung seltener Krankheiten finanziell fördern Förderkriterium:

USA Japan Australien EU

seit

max. Zahl der Erkrankten je 1 Mio. Einwohner

1983 1993 1998 2000

750 400 110 500

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Zulassungen von Medikamenten gegen seltene Krankheiten in der EU 9

NORBERT MICHALKE

Quelle: VFA

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3 1

1

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1997 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07

Ärztinnen Wittchen: Medizinstudium mit Intellekt und Assistenten

Kindern überall, sogar im Herzen, Tumoren wachsen. Was Fees Krankheit noch mit dem Mädchen anstellen wird, weiß kein Mensch. Die Krankheitsverläufe sind sehr unterschiedlich, reichen von kaum lebensfähigen Babys mit butterweichen Knochen bis zu Leuten, die einfach nur früh ihre Zähne verlieren. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Fee irgendwann im Rollstuhl landen wird. Vor allem wenn sie in den Teufelskreis gerät: mit einem ersten Knochenbruch. Dann müsste sie sich schonen, würde dadurch schwächer, fiele öfter, bräche sich den nächsten

Gesichtchen gucken die dunklen Augen umso größer. Staksig springt Fee hinter der zwei Jahre jüngeren Zoë den Rodelberg hinauf wie ein Rehkitz neben einem Bernhardiner. Fee ist knapp über einen Meter groß – wie eine Vierjährige. „Wenn die Kurve sich so weiterspinnt“, sagt die Mutter, „landet Fee bei eins vierzig.“ Wie viel das Kind von seiner Krankheit weiß? Fragen stellt Fee eher selten. „Aber sie hat einen Erwachsenen kennengelernt, der im Rollstuhl sitzt“, berichtet ihre Mutter. „Sie weiß, dass er dieselbe Krankheit hat. Und blöd ist sie nun nicht.“ d e r

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schon gar nicht jährlich eine neue, wie Fee sie wohl brauchen wird. Anna Wittchen, 29, entscheidet in einem Selbsthilfegruppen-Gremium über Gelder, die für die Erforschung der spinalen Muskelatrophie (SMA) ausgegeben werden. Die blonde Berlinerin ist Ärztin und Patientin in einer Person. Etwa tausend Menschen in Deutschland leiden an SMA. Erste Ideen für eine Therapie gibt es in diesem Fall sogar. Für Anna Wittchen und ihre Zwillingsschwester Friederike, ebenfalls berufstätige Ärztin, kommt das allerdings zu spät: Aus Grundschulzeiten existiere noch ein Super-8Film, auf dem zu sehen sei, wie sie sich 145


Wissenschaft melde, erzählt Friederike. „So richtig mit Arm hoch und Fingerschnipsen“, sagt sie. Heute rühren sich ihre eingerollten Hände nur noch schwach auf dem Tisch des Elektrorollstuhls. Unterhalb des Kinns können beide Frauen sonst nichts mehr bewegen. Das Medizinstudium haben die beiden Einser-Abiturientinnen mit ihrem Intellekt geschafft und mit Assistenten für alles Motorische. „Ich kann eigentlich gar nichts allein“, sagt Friederike. „Außer quasseln“, wirft Anna ein, und die beiden Frauen lachen. Anders als für Kinder gibt es kaum multidisziplinäre Versorgungszentren für Erwachsene, die an seltenen Krankheiten leiden. Deswegen mussten die Wittchens, erzählen sie, sogar ihre 27 000-Euro-Rollstühle über den Hausarzt beantragen. Daher fordert Achse-Vorstandsmitglied Andreas Reimann nationale Zentren für bestimmte Krankheiten: „Es hängt viel zu viel an dem Engagement einzelner Ärzte.“ Auch

ANDREAS ALTWEIN / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Auch Fees Krankheit wurde erst erkannt, als sie bereits drei war. Kein Arzt hatte erklären können, warum ihr die Milchzähnchen plötzlich allesamt ausfielen. Es begann eine gespenstische Tour für das kleine Mädchen: von Blutabnahmen über viele, viele Röntgentermine zu stundenlangen Belastungstests. „Auf dem Weg hat man uns dann alle möglichen Schreckensdiagnosen mitgeteilt: bösartige Krankheiten, frühes Sterben – da kam alles vor“, erinnert sich die Mutter. Dann kam der Tag, an dem Fee in der Küche hockte, eine Hand vors Auge schlug und sagte: „Mama, da blitzt was so komisch.“ Der Druck in ihrem Kopf war lebensgefährlich angestiegen. Der Grund: Eine Schädelnaht war verknöchert, die normalerweise flexibel bleibt und so Raum lässt für das wachsende Gehirn. Fees Stirn musste aufgesägt werden. Meist gibt es nicht genug Patienten, um Medikamente vernünftig zu testen – die seltenen Krankheiten zeigen, wie wichtig eine Kooperation über Grenzen hinweg ist. „Wahrscheinlich gibt es kein anderes Gebiet des Gesundheitswesens, auf dem eine Zusammenführung der 27 unterschiedlichen einzelstaatlichen Herangehensweisen so wirkungsvoll und effizient sein könnte“, schreibt die EU-Kommission. Sie hat vor wenigen Jahren für zahlreiche Vergünstigungen gesorgt. Wer ein „Arzneimittel gegen eine seltene Krankheit“ zugelasAchse-Schirmherrin Köhler: Erblindete Tochter sen haben möchte, wird bei der Entwicklung beraten und die EU-Kommission merkt an, dass Deutsch- zahlt weniger Gebühren. Vor allem aber land „nur im Bereich Forschung über ziel- bekommt er Exklusivität zugestanden: gerichtete Strategien“ verfügt. Während Zehn Jahre lang darf kein anderes ArzneiFrankreich längst einem nationalen Aktions- mittel für die jeweilige Erkrankung zugeplan folgt, herrsche hierzulande ein „heil- lassen werden. Diese Regeln orientieren loser Kompetenzwirrwarr“, klagt Reimann. sich an ähnlichen Gesetzen, die sich beiDie Folge: Bereits die Diagnose lässt spielsweise in den USA bewährt haben. Monate, oft Jahre auf sich warten. „Welcher Inzwischen wurde auch in der EU mehr als niedergelassene Pädiater findet schon die 500 Mitteln der Sonderstatus zugestanden. Zeit, ein Kind mal ausgiebig beim Lau- Immerhin 44 von ihnen sind bereits zugefen und Treppensteigen zu beobachten?“, lassen (siehe Grafik Seite 145). fragt Arpad von Moers, KinderneuroloFriederike und Anna Wittchen wären ge am Klinikum Berlin-Westend. Nur so schon dankbar, wenn alles bliebe, wie es aber könne man einer möglichen Muskel- ist. Und immerhin: Dafür gibt es Indizien. schwäche auf die Spur kommen. Die beiden Ärztinnen haben sich gerade Die Wittchen-Frauen etwa wollten schon erst von einem SMA-Experten unterals Baby nicht recht sitzen oder gar krab- suchen lassen. Der hat ihnen die größte beln. Die Ärzte führten dies auf ihre frühe Angst genommen: an einem Versagen der Geburt zurück. Tatsächlich aber war es Atemmuskulatur zu sterben. „Das wird bei bereits die SMA, die langsam alle Nerven- uns nicht kommen“, sagt Anna. „Wir müsbahnen sterben ließ, die vom Rückenmark sen halt nur aufpassen, dass wir keine Lunzu den Muskelfasern führen. genentzündung bekommen.“ Keine Zeit, unzureichende Kenntnisse Fee saust den Hang hinunter. Mit Papa und „das Gefühl, dass jeder alles kann“ auf dem Schlitten; allein darf sie nicht. An (Moers) – da behelfen sich die Ärzte Fasching ist sie als Pippi Langstrumpf gezuweilen mit Verlegenheitsdiagnosen und gangen – das stärkste Mädchen der Welt. Rafaela von Bredow, Markus Verbeet vorschnellen Verschreibungen. 146

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Technik RÜSTUNG

Ende eines Taugenichts Das US-Militär schoss einen Schrottsatelliten ab – technisch sehr eindrucksvoll, doch politisch töricht: Jetzt droht ein neues Wettrüsten.

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ass „USA 193“ ein Versager ist, wussten seine Eigner vom National Reconnaissance Office gleich nach dem Start im Dezember 2006. Kaum schwebte der vermutlich eine Milliarde Dollar teure Spionagesatellit im All, verabschiedeten sich Computer und Antrieb auf Nimmerwiedersehen: Totalschaden. Ausgerechnet dieser Blindgänger hat jetzt den US-Militärs doch noch ein Freudenfest bereitet. Denn die Schöpfer des umstrittenen Raketenschutzschildes („missile defense“) durften den Taugenichts nun vom Himmel holen. In der Nacht auf vergangenen Donnerstag, um 04.26 Uhr deutscher Zeit, schlugen die Amerikaner zu – mit atemberaubender technischer Raffinesse und geringem politischem Geschick. In 247 Kilometer Höhe verwandelte eine Spezialrakete den mit mehr als 27000 Stundenkilometern dahinrasenden Havaristen in Rohmaterial für Myriaden von Sternschnuppen. Gleichzeitig pulverisierte die Hoffnung, dass sich ein Wettrüsten im Weltall vielleicht doch noch verhindern lässt. Denn gerade hatten China und Russland den Amerikanern in Genf ein Abkommen gegen Weltraumrüstung vorgeschlagen. Jetzt

wissen sie, dass schon heute keiner ihrer Weltraumspäher vor dem Pentagon mehr sicher ist. Die Mission begann bereits am 4. Januar. Da erhielten rund 200 Soldaten, Forscher und Angehörige von Rüstungsfirmen einen Geheimbefehl. Sie sollten „SM-3“ umrüsten, eine Standardrakete aus dem Arsenal des „Missile Defense“-Programms. Aus der Anti-Raketen-Waffe sollten sie etwas machen, was die USA seit Ende des Kalten Krieges offiziell weder besitzen noch anstreben: einen Satellitentöter. Für die Ingenieure war dies eine eher kleine Herausforderung. Zwar fliegen Satelliten schneller und höher als Raketen. Aber dafür haben sie Vorteile, die einen Abschuss ungemein begünstigen: Anders als Raketen tauchen sie nicht überraschend auf, ihre Bahn ist bekannt und berechenbar – und sie sind riesengroß. Vor ein Problem allerdings stellte USA 193 die Militärforscher: Ohne funktionierende Bordsysteme war der Satellit eiskalt und damit unsichtbar für die wärmesuchenden Sensoren der Abfangrakete. Die Amerikaner mussten deshalb die Software ihrer Lenkwaffe umschreiben – und für den Abschuss einen günstigen Zeitpunkt finden, an dem die Sonne den Satelliten um eine Winzigkeit angeheizt hatte. Als es so weit war, verlief alles wie im Special-Effects-Studio von Hollywood. Ruhig dümpelte der US-Lenkwaffenkreuzer „Lake Erie“ nordwestlich von Hawaii. Ein einziger Schuss reichte: Drei Minuten lang stieg die Rakete auf. Nacheinander hatte sie ihre Brennstufen abgeworfen, dann schoss ihr Herzstück, das „Kill Vehicle“, Hydrazinauf sein Opfer zu, seinen TreibstoffKurs dabei bis zum letzten tank Augenblick justierend mit Hilfe eigener Sensoren und Schubdüsen.

Zielsuchelektronik reagiert auf Wärmeabstrahlung

abgeworfene Raketenstufen

USS „Lake Erie“

Drei Raketenstufen befeuern ihren Aufstieg ins All. Dabei überwachen Hochleistungssensoren, Kameras und Computer im Weltraum wie auf der Erde den Flug der SM-3 und korrigieren ständig den vorausberechneten Kollisionskurs.

Das „Kill Vehicle“ rammt den Satelliten mit einer Geschwindigkeit von mehreren Kilometern pro Sekunde. Die dabei freigesetzte kinetische Energie reicht, um den schulbusgroßen Raumflugkörper auch ohne Sprengstoffdetonation zu zerstören.

Eine eigens modifizierte SM-3-Rakete aus dem Arsenal des US-Raketenabwehrprogramms startet vom Lenkwaffenkreuzer „Lake Erie“ nordwestlich von Hawaii. Hawaii

Für ihr Zerstörungswerk kommt die Höllenmaschine ohne eigenen Sprengsatz aus. Das Killervehikel, fast 64 Kilogramm schwer, ist eine rein kinetische Waffe, eine verfeinerte Kanonenkugel des 21. Jahrhunderts. Jäh knallt der Gefechtskopf in seinen Gegner. Auf dem Film der US-Militärs ist zu sehen, wie der Problem-Satellit einen Moment aufblitzt in einer brandfreien, heißen Explosion. Eine Wolke aus zersprengter Materie bildet sich, dann ist alles vorbei. Eben noch hatte USA 193 die Ausmaße eines Schulbusses, nun war der Satellit zersplittert, die größten Stücke „klein wie ein Football“, wie sich ein General freute. Heiner Klinkrad von der Europäischen Raumfahrtagentur Esa in Darmstadt hat flugs eigene Berechnungen angestellt. Der Experte sorgte sich, dass Trümmer „Jules Verne“, dem neuen Versorgungsschiff für die Raumstation ISS, in die Quere kommen könnten bei seinem Start am 8. März. Ergebnis: Die Luft dürfte rein sein. Doch warum überhaupt das Spektakel? Bisher überließen die Amerikaner sterbende Satelliten stets ihrem Schicksal. Sie verglühten zum größten Teil, kleine Reste gingen auf die Erde nieder und fielen meist ins Wasser. Kein Mensch ist je durch einen Crash-Satelliten zu Schaden gekommen. Dennoch entschloss sich US-Präsident George W. Bush bei USA 193 zum Abschuss – angeblich um Menschen auf Erden vor den rund 450 Kilogramm Hydrazin zu schützen, dem giftigen Satelliten-Treibstoff. In der Tat: Havaristen verglühen meist mit leerem Tank, USA 193 hingegen hat den seinen nie angezapft. Zudem ist sein Hydrazin längst gefroren, und mit erstarrtem Kraftstoff haben die Raumfahrttechniker kaum Erfahrung. Trotzdem unterstellen Kritiker den Amerikanern andere Motive. Ging es Bush nicht vielmehr darum, öffentlichkeitswirksam die Schlagkraft des „Missile Defense“Projekts vorzuführen, in das er, allen Zweifeln an dessen Nutzen zum Trotz, rund 60 Milliarden Dollar versenkt hat? Nicht wenige Experten fürchten nun den Beginn eines neuen Rüstungswettlaufs im All. Der Abschuss von USA 193, so sagt die US-Astrophysikerin Laura Grego, sei „kontraproduktiv zu unseren langfristigen Sicherheitsinteressen“. Die politischen Konsequenzen könnten „sehr ernst sein“. Marco Evers

Kollision im All Wie die U.S. Navy einen taumelnden Spionagesatelliten abschoss


Technik

Jurymitglieder bei der Bewertung eines Rehs: Wer präpariert das Nasenloch am besten? TIERE

Suche nach Leben im Tod In Salzburg fand die Weltmeisterschaft der Präparatoren statt. Tierleichen sind die Objekte der exzentrischen Zunft, Skalpell und Entfetter ihr Handwerkszeug. Am Ende siegte ein Deutscher.

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er Zauber liegt in den zusammengekniffenen Augen der Fähe: Ein wenig wendet sie ihren Kopf vom jüngeren Tier neben sich ab, genervt und doch voller Zuneigung. Wie eine Königin erträgt sie die Demut der anderen. Noch ist das Maul geschlossen. Gleich wird sie gähnen. Doch da bricht Dirk Opalka die Andacht. „Die musste ich noch mal neu machen“, sagt der 40-Jährige und deutet auf die gelben Augen des einen Fuchses, „die saßen falsch – und dann ist auch noch die Tonmasse in den Augenlidern verrutscht.“ Opalka ist Tierpräparator. Seine Mission ist fast religiös zu nennen: Er sucht das Leben im Tod. „Das Präparat muss ganz lebendig aussehen, das ist das Geheimnis“, sagt der Mann aus Fuhlendorf bei Rostock. Acht Wochen dauerte der Schöpfungsakt. Es hat sich gelohnt. Opalka ist Sieger eines Wettbewerbs der besonders bizarren Art. Am Sonntag ging in Salzburg die Weltmeisterschaft der Präparatoren zu Ende. 140 Teilnehmer aus 25 Ländern eilten in die Mozartstadt, um zu ermitteln, wer das Nasenloch eines Hirschs am besten präpariert, die Lefzen einer Hyäne perfekt modelliert oder die Analöffnung einer Zwergfledermaus besonders rosig zu kolorieren vermag. Über 500 tote Tiere verwandelten die Salzburgarena des Messegeländes in das Hauptdeck einer Arche Noah des Absurden voller erstarrter Passagiere. 148

Tierleichen sind die Objekte der exzentrischen Zunft, Kühltruhe, Skalpell und Entfetter ihre Werkzeuge. Und sie eint die verstörende Leidenschaft, mit geradezu andächtiger Besessenheit die Schönheit der Natur über den Tod hinaus zu bewahren. „Präparation ist nicht nur ein Handwerk, es ist eine Kunst“, sagt der Amerikaner Larry Blomquist, Doyen der Präparatorenzunft und Organisator des Wettbewerbs, der nun zum ersten Mal in Europa stattfand: „Ich bin begeistert von der Qualität, die wir hier zu sehen bekommen.“ In der Kunst der Präparation übten sich schon die Ägypter. Popularität gewann das Handwerk im 19. Jahrhundert, als es galt,

Sieger Opalka: Essenz des Augenblicks d e r

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die Trophäen kolonialer Jagdgesellschaften zu konservieren. Heute ist die Taxidermie, die Anordnung der Haut, ein Multimillionengeschäft, vor allem in den USA, wo geschätzte 50 000 Präparatoren Jagdtrophäen und anderes Getier für amerikanische Kaminzimmer präparieren. Im deutschen Verband sind rund 260 biologische Präparatoren vereint. Es sind Profis wie Ex-Weltmeister Berend Koch, der an der TU Darmstadt eine in der Zunft hochgeachtete Menagerie geschaffen hat. Vor allem aber sind es Ich-AG-Präparatoren, die mit Leidenschaft die Leichen erlegter Ricken in Polyethylenglykol baden oder verblichenen Enten dunkelbraune Augen der Firma KL-Glasaugen, Durchmesser neun Millimeter, einsetzen. Sie alle sind nach Salzburg gekommen, um sich auf einer Leistungsshow der Tierkörperverwertung mit den Besten der Welt zu messen. Der Wettstreit wird ausgetragen von Menschen in Outdoor-Klamotten, deren größtes Glück es ist, einem Alpenmurmeltier oder einem kapitalen Weißwedelhirsch das Fell über den Kopf zu ziehen. Zwei Wochen vorher in Magdeburg: Die Decke von Dirk Grundlers Präparationswerkstatt ist niedrig, der Teppichboden mit Haaren und Schaumresten übersät. Pinsel, Zangen, Harze, Farben, Haarspray und Lacke vollenden das Chaos. Willkommen im Zoo der Wunderlichkeiten: Elstern mit flatternden Flügeln, in der Bewegung erstarrt, tanzen am Boden, an der Decke fliegt ein riesiger Kolkrabe, daneben Bartmeise, Wiedehopf und Steinauerhahn. „Der kommt vom Baikalsee“, sagt Grundler. Der 43-Jährige, Vollbart, graue Weste, kräftige Statur, wirkt nicht wie ein Feinmotoriker. Sein täglich Brot indes ist reine Fisselarbeit. „Ich präpariere nur Vögel“, sagt Grundler. Dabei verfährt er nach dem Motto: geleert und gefedert. Er balgt die Vögel ab, schnitzt Körper aus Polyurethanschaum, spritzt Beine mit Formalin auf („damit sie nicht schrumpeln“). Dann modelliert er den abgezogenen Balg über den Kunstkörper. Am Schluss trägt er ein Mittel gegen Insektenfraß auf. An „nackten Hautteilen“ wird mit der Airbrush-Pistole nachkoloriert. Das Fachwissen des Präparators ist enorm. Nur so könne die Arbeit gelingen, sagt Grundler. Die Vogelanatomie etwa kennt er aus dem Effeff. Halslängen? „Wanderfalkenweibchen 5,5 Zentimeter, Stockente 19, Rotschulterente 9.“ „Es ist die größtmögliche Perfektion gefragt“, erläutert der Autodidakt. „Man muss wissen: Wie sieht der Vogel in der Natur aus? Wie würde er sich jetzt bewegen? Wenn der Fasan zum Beispiel zur Seite wegguckt, dann kriegt der so einen gewissen Schwung in den Hals rein.“


Ausstellungsraum bei der Weltmeisterschaft in Salzburg: Leistungsshow der Tierkörperverwertung

In zwei Transportkisten sitzen bereits die Vögel für Salzburg. Grundler will zum ersten Mal in der anspruchsvollsten Klasse antreten. Ein Wanderfalke ist unter seinen Präparaten, ein Eisvogel mit schillernd blauem Federkleid, ein Uhu, mindestens einen halben Meter groß. Woher kommen die Tiere? „Alle gezüchtet“, versichert der Präparator, „alles andere wäre illegal.“ Das ist ein Grundproblem der Präparatoren: Exotische Arten sind für sie Herausforderung und Fluch zugleich. Einer findet sich immer, der dem Großwildjäger den frischgeschossenen Löwen präpariert. Die Taxidermisten argumentieren, dass es ohne Jagdtourismus vielen Arten schlechterginge. Doch was ist davon zu halten, wenn Ron aus Texas in Afrika einen Leoparden erlegt, ihn ausstopft und sagt: „Ich liebe es, etwas Leblosem wieder neues Leben einzuhauchen und es wieder zu dem zu machen, was es da draußen in der Wildnis war“? Ob Tiger, Bechsteinara oder KomodoWaran: Den Präparatoren geht es vor allem um die hohe Kunst. Legendär etwa die Arbeiten des Kanadiers Ken Walker, der sich auf die Schöpfung ausgestorbener Arten spezialisiert hat. Bei der Weltmeisterschaft 2005 verblüffte er die Szene mit einem Riesenhirsch. Die Art starb vor über 7500 Jahren aus. Um das Tier zu rekonstruieren, nähte Walker die Häute dreier Hirsche zusammen.

Oder Matthias Fahrni: Der Schweizer gilt als Koryphäe in der Kunst der Fischpräparation. „Seit Kindesbeinen“ interessierten ihn vor allem Fische, sagt der Präparator, „wahrscheinlich ein genetischer Schaden“, scherzt er. Fahrni präpariert fast nur Schuppentiere, die kleiner sind als 15 Zentimeter. In puncto Detailversessenheit übertrifft der Schweizer jeden Modelleisenbahner. Mit Mikroskalpellen und Instrumenten aus der Augenchirurgie zieht er die Fischhaut mitsamt den Schuppen ab. Dann lagert er, ähnlich wie Körperwelten-Chef Gunther von Hagens, Kunststoff ein. Der Kopf bleibt der des Originals. Schließlich wird koloriert. Als Vorlage dienen lebende Tiere. „Ein Fisch verändert die Farbe und den Ausdruck der Augen in den ersten fünf Minuten nach dem Tod“, sagt Fahrni. Deshalb hat er eine Methode entwickelt, die Anschauungsobjekte zu narkotisieren. Eine Groppe und einen Flussbarsch hat Fahrni mit nach Salzburg gebracht. Sie ruhen nun effektvoll beleuchtet neben all den anderen sterblichen Überresten. Ein paar tuschelnde Männer, die Augen hinter dickglasigen Lupenbrillen verborgen, beugen sich über die Tierkörper. Es sind die Juroren, ausgewiesene Experten, die hier die Noten vergeben. Drüben bei den Hirschen etwa leuchtet der Amerikaner Joe Meder einem kapitalen Zwölfender mit einer Taschenlampe in d e r

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FOTOS: PETER SCHINZLER

die Nasenlöcher. Der letzte Farn seines Lebens hängt ihm aus dem Mund heraus. Peter Sunesen beugt sich unterdessen über eine Gabelracke. „Dieser Vogel hat Probleme mit der Anatomie“, urteilt der Däne. Das gibt Punktabzug. Oder Dieter Schön vom Münchner Museum Mensch und Natur: Der 46-Jährige hat den 2006 in Bayern abgeschossenen Bär Bruno präpariert. Jetzt liegt sein kritischer Blick auf einem Eversmann-Zwerghamster. „Die Schnurrhaare sind sehr gut“, sagt Schön zu Berend Koch. Der ist skeptisch: „Der Körper ist viel zu komprimiert – das Tier sieht halb verhungert aus.“ Morbide Leichenfledderei oder hohe Kunst am Leben? Es ist der Kontrast zwischen geradezu liebevoller Hingabe und makabrer Schlachthofatmosphäre, die gleichzeitig verstört und fasziniert. Am Ende decken sich die Präparatoren an den Messeständen noch mit Bärenzungen aus Plastik und künstlichen Löwengebissen ein. Dirk Grundler ist zufrieden. Für seinen Eisvogel hat er 88 von 100 möglichen Punkten erhalten. Auf 96 Punkte haben sich die Juroren für die Füchse des Gesamtsiegers Opalka geeinigt. „Dieses Präparat fängt die Essenz des Augenblicks ein“, sagt Larry Blomquist. Andächtig streicht der Amerikaner mit der Hand über das rote Fell der einen Fähe: „In der Natur bekommen sie so etwas fast nie zu sehen.“ Philip Bethge 149


Kultur

Szene

FILMWIRTSCHAFT

Neuer Kino-Boom

DISNEY ENTERPRISES / BUENA VISTA INTERNATIONAL

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inen so fulminanten Jahresauftakt gab es für die Kinobetreiber und Filmverleiher schon lange nicht mehr: In den USA kamen in den vergangenen sieben Wochen fast 13 Prozent mehr Zuschauer als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, und auch in Deutschland liegen die Einspielergebnisse rund 10 Prozent über denen von 2007. Hollywood-Blockbuster wie „I Am Legend“ mit Will Smith und „Das Vermächtnis des geheimen Buches“ mit Nicolas Cage sorgten auf beiden Seiten des Atlantiks für große Kassenerfolge. In Deutschland hat Til Schweiger mit seiner Komödie „Keinohrhasen“ die Fünf-MillionenZuschauer-Grenze überschritten und könnte bald „Das Parfum“ hinter sich lassen; die deutsch-englische Dokumentation „Unsere Erde“ könnte sogar Michael Moores Dokumentarfilm-Hit „Fahrenheit 9/11“ übertreffen. Während die Zuschauer in Deutschland für leichte Unterhaltung und atemberaubende Naturaufnahmen ins Kino strömen, stehen sie in den USA Schlange, um die neueste Errungenschaft der Traumfabrik zu bewundern: die digitale 3-D-Technik. Der Konzertfilm „Hannah Montana & Miley Cyrus“, der nur in den 700 nordamerikanischen 3-D-tauglichen Kinos lief, spielte in drei Wochen sensationelle 60 Millionen Dollar ein. Das dürfte die Bosse der Hollywood-Studios beruhigen, haben sie doch dreistellige Millionensummen in neue 3-D-Produktionen investiert.

Cyrus in „Hannah Montana & Miley Cyrus“

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Das Buch meines Lebens PICTURE-ALLIANCE/DPA (L.); A. TESICH (R.)

unstwerke, Bücher, Bilder, Musik oder Filme, die einen so auseinandernehmen und neu zusammensetzen, dass man sich danach für einen anderen Menschen hält und glaubt, in eine andere Richtung weiterzuleben, hatte ich für eine Begleiterscheinung der Jugend gehalten. Aber Steve Tesich riss mich weg wie nur wenige zuvor, da war ich Mitte vierzig. Der Held seines Romans, Saul Karoo, ist ein bitterer Schöngeist, dessen sarkastische Stimme mich sofort einfing, so klarsichtig, komisch und unfreundlich, wie sie das Biotop der New Yorker Kultursnobs als Sumpf voller ebenso stolzer wie blöder Amphibien beschreibt. Deren Quaken klingt nur ihm, dem Alkoholiker, der sogar vom Alkohol im Stich gelassen wird (er bleibt nüchtern, wie viel er auch trinken mag), stumpfsinnig. Und weil dieser Roman aus Amerika kommt, ist Karoo nicht nur ein geschliffener Zyniker, sondern tief in den Resten seiner Seele, die noch nicht vom Beruf des „Scriptdoctors“ korrumpiert sind,

Bayer

Tesich

Thommie Bayer über Steve Tesichs „Abspann“ Der Amerikaner Steve Tesich (1942 bis 1996) erzählt in seinem Roman von einem Autor, der seinen Lebensunterhalt mit dem Umschreiben von Drehbüchern verdient.

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auch ein guter Mensch. Jedenfalls einer, der das Gute noch kennt und immer noch will. Damit hat er kein Glück, denn das Erhabene ist unentwirrbar mit dem Abscheulichen verwoben, so dicht, dass ihm alles zerbricht, was er schützen will. Die Geschichte ist eine Tragödie, und sie ist sehr komisch, hellsichtig, raffiniert, voller Respekt für Kunst (in diesem Falle Filmkunst) und voller Traurigkeit über das Leben, in dem Scheitern und Gelingen dasselbe sein können. Vielleicht sogar müssen. „Abspann“ ist ein Künstlerroman, der klarstellt, dass die Kunst nicht anderswo stattfindet als mitten im Leben, dass sie alles enthält, verwandelt, schluckt und ausspuckt, was das Leben ist: ganz egal, ob sie als Unterhaltung oder Lehrstück konsumiert wird, und ebenfalls egal, ob sie stümperhaft, meisterlich, verstümmelt oder gelungen vor ihr Publikum tritt. Thommie Bayer, 54, ist Schriftsteller, Musiker und Maler und schrieb unter anderem den Roman „Das Herz ist eine miese Gegend“.

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Szene L I T E R AT U R

te Erzählungsband der Amerikanerin Miranda July: Geschichten von jungen oder nicht mehr ganz jungen und manchmal auch recht übergewichtigen Frauen, die mit MauerblümchenBewusstsein durch ihr Leben stolpern, abstürzen, sich wieder aufrappeln – und davon mit so drolliger Grazie und so himmlischer Unverdrossenheit erzählen, dass man sie auf der Stelle küssen möchte. Die eine, die immer von Erdbeben träumt und deshalb in einer gemeinnützigen „Erdbebenvorsorgegruppe“ aktiv ist, träumt nun eines Nachts, dass Prinz William sie küsst. Die andere veranstaltet, durch ein Missverständnis genötigt, in ihrer Küche für drei alte Leutchen einen Trockenschwimmkurs. Die dritte, erfolglose Möchtegernschriftstellerin, schlittert als „sonderpädagogische Assistenzkraft“ in eine traumhafte kleine Affäre mit einem Schüler. Und viele mehr: Was für komische Kummerkünstlerinnen, Liebesunglücksexpertinnen, ein gutes Dutzend insgesamt; scheue, sperrige, unvollkommene Geschöpfe, einer Unschuld nachtrauernd, die es doch einmal gegeben haben muss. Kein Missgeschick kann sie von ihrem Glauben abbringen, dass im nächsten Augenblick ein Wunder alles gutmachen könnte. Miranda July, 34, Performance-Künstlerin, Schauspielerin und Regisseurin, deren quirlige kleine Tragikomödie „Ich und du und alle, die wir kennen“ vor zwei Jahren den Weg auch in die deutschen Kinos gefunden hat, riskiert als Erzählerin die abenteuerlichsten Purzelbäume, rafft halbe Lebensromane auf 30 Seiten, verrät kein Geheimnis und ist in jedem Augenblick dem Herzschlag ihrer tapferen Stehauffrauen beklemmend nah: so zärtlich, so schonungslos, pure Zauberei. „Wir hatten einmal Hallo in den Hexenkessel Welt hineingerufen und waren schnell weggerannt, ehe jemand antworten konnte.“ Miranda July: „Zehn Wahrheiten“. Aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Diogenes Verlag, Zürich; 272 Seiten; 18,90 Euro.

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AUTUMN DE WILDE

Liebe, himmlisches Malheur as für traurige, was für verrückte, was für unglaubliche GeschichW ten. „Zehn Wahrheiten“ heißt der ers-

Musikerinnen Tegan and Sara POP

„Echt, pur und hart“ Die kanadische Musikerin Sara Quin, 27, über ihre gemeinsam mit Zwillingsschwester Tegan betriebene Band Tegan and Sara und ihr Album „The Con“ SPIEGEL: Ms Quin, trotz euphorischer

Kritiken in Kanada und den USA und ausverkaufter Konzerte in Deutschland im vergangenen Sommer kommt Ihr neues Werk bei uns erst jetzt heraus, ein halbes Jahr später als in Nordamerika. Warum diese Verzögerung? Quin: Das hat mit der Verunsicherung der Musikindustrie zu tun. Wir veröffentlichen unsere Alben bei einem kleinen Label und arbeiten in Europa mit dem Warner-Konzern zusammen. Die Leute dort zweifelten daran, dass „The Con“ im vorigen Sommer viele Käufer gefunden hätte. Weil wir starrköpfig sind, sagten wir: Wir kommen trotzdem auf Tournee. Und staunten selber, dass die Säle voll waren. SPIEGEL: Ihre Schwester und Sie treten mit drei männlichen Begleitmusikern auf. Wie passt das dazu, dass Sie als Feministinnen gelten? Quin: Wir sind Feministinnen. Wir machen kein Geheimnis daraus, dass wir Frauen lieben. Aber die Tatsache, dass d e r

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wir Lesben sind, hat mit unserer künstlerischen Arbeit nichts zu tun. Wir haben drei Jungs als Musiker angestellt, weil wir sie mögen und weil es uns gefällt. Unsere Songs handeln von Liebesbeziehungen, die anfangen oder kaputtgehen, aber sie richten sich an Zuhörer jeder Art, egal ob Mann oder Frau, schwul oder nicht. Ich mag zum Beispiel auch die Songs von Bruce Springsteen, obwohl er ein Mann ist und heterosexuell und dazu noch Amerikaner. SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie vom Punk beeinflusst waren, als Sie vor zehn Jahren mit dem Musikmachen anfingen? Quin: Ja, musikalisch finden wir zwar heute kompliziertere Formen des Rocksongs interessanter, aber die Lebenshaltung des Punk hat uns immer imponiert. Wir sind in der Vorstadt von Calgary aufgewachsen, und dort ging es darum, echt, pur und hart zu sein und sich nicht herumbossen zu lassen. Man musste als junge Frau zeigen, dass man weiß, wo’s langgeht. Wenn uns irgendein Heterotyp erzählt, er finde unsere Musik okay, obwohl wir so seltsam seien und gar nichts mit ihm gemein haben, dann antworten wir kühl: Dass wir alle auf Mädchen stehen, ist doch schon mal ein gemeinsamer Nenner.


Kultur BIOGRAFIEN

AU S ST E L L U NGE N

sollen – zu fleischlich, zu einfach, zu ordinär, so lauteten die üblichen Urteile über Nelly Mann (1898 bis 1944). Nun ist die erste Nelly-Mann-Biografie erschienen, und Autorin Kirsten Jüngling bemüht sich, die tapferen und ehrenvollen Seiten ihrer Heldin herauszustellen: „Ich bin doch nicht nur schlecht“, verkündet der Titel der Biografie (Propyläen Verlag). Nelly Mann sei intelligenter, politischer, fleißiger gewesen als bisher angenommen, habe schnell fremde Sprachen gelernt und sei Gewerkschafterin gewesen. Immer wieder hatte es Gerüchte gegeben, Nelly Mann habe sich nackt fotografieren lassen. Die Biografin entdeckte in einem Archiv tatsächlich ein Nacktbild – das sich aber als plumpe Fälschung erwies. Im selben Archivbestand fand sich nämlich das Original, auf dem Nelly Mann komplett bekleidet ist. Es sei nicht auszuschließen, dass einige ihrer Feinde, zu denen auch hochmögende Mitglieder der Mann-Familie gehörten, diese Fälschung in Umlauf gebracht hätten, um den Ruf Nelly Manns zu beschädigen.

schen Themen. Tuymans, der nach FotoVorlagen arbeitet, hat Kolonialherrscher wie den belgischen König Leopold II., den NS-Architekten Albert Speer, die US-Außenministerin Condoleezza Rice

und Atomkraftwerke gemalt. Seine kaltfarbigen Bilder sind provozierend gemeint – doch die Kritik reagiert stets mit Lob, der weltweite Kunstmarkt mit extrem hohen Preisen. In einer seiner neuen Serien nimmt Tuymans sich den Jesuitenorden vor. Zu sehen ist dieser Zyklus – „Les Revenants“ („Die Gespenster“) – in seiner nächsten Ausstellung, die am Wochenende im Münchner Haus der Kunst beginnt. Auf einem der Bilder reicht Papst Benedikt XVI. dem Generaloberen der Jesuiten, dem Niederländer Peter-Hans Kolvenbach, die Hand. Kolvenbach, der wegen Tracht und Einfluss auch der „schwarze Papst“ genannt wurde, hatte zum Zeitpunkt des Treffens bereits seinen Rücktritt angekündigt: eine historisch einmalige Entscheidung, für die er auch das Einverständnis des „weißen Papstes“ Benedikt XVI. benötigte. Ihm gehe es um das Doppeldeutige, das Zusammenspiel von Religion und Macht, sagt Tuymans. Das VernissagePublikum will er noch auf andere Weise irritieren: Gemeinsam mit der Antwerpener UndergroundRock-Band Monky Pussy gibt der Maler ein Konzert – obwohl er zugibt, als Sänger kein wirkliches Talent zu haben. LUC TUYMANS / COURTESY ZENO X GALLERY, ANTWERPEN

Nackte Schein-Tatsache Rockender Maler ie galt als der große Fehlgriff, als die er belgische Erfolgsmaler Luc TuyFrau, die der Schriftsteller Heinrich mans, 49, hat keine Scheu vor den S D Mann nun wirklich nicht hätte heiraten ganz großen zeithistorischen und politi-

Tuymans-Werk „The Deal“ (2007)

Kino in Kürze satzstücken: Er liefert auch ein präzises Porträt der modernen Arbeitswelt, in der aus Kollegen Todfeinde werden können.

gewechselt hat. Edens wollte nicht länger einen Chemiekonzern und dessen skrupellose Rechtsabteilungsleiterin (Tilda Swinton) gegen geschädigte Farmer vertreten, die eine milliardenschwere Sammelklage anstrengen. Schnell gerät Clayton selbst zwischen die Fronten bei diesem unübersichtlichen Kampf um Geld und Macht. Tony Gilroy (Drehbuch und Regie) spielt in seinem Thriller nicht nur clever mit den üblichen Genre-Ver-

„Ossi’s Eleven“ hecken in der Kneipe einer Plattenbausiedlung das große Ding aus. Dort plant Oswald „Ossi“ Schneider (Tim Wilde), aus einer Gießerei alte DMMünzen zu rauben. Die hoffnungslos untalentierten Ganoven eines abgewickelten Ostens setzen alles aufs Spiel, weil sie nichts haben. Den liebenswert albernen Coup setzt Regisseur Oliver Mielke mit grenzenloser Sympathie für seine Alltagshelden ins Bild – ironische Hommage an den Schrebergartencharme der Platte.

WARNER BROS.

„Michael Clayton“, gespielt von George Clooney, ist der Ausputzer einer New Yorker Anwaltskanzlei, einer, der Probleme für Mandanten löst, wenn klassische juristische Mittel versagen. Ein undankbarer Job: Clayton ist verschuldet, seine Ehe liegt in Trümmern. Nun soll er auch noch ausgerechnet seinen Kollegen und Freund Arthur Edens (Tom Wilkinson) zur Räson bringen, der mitten in einem laufenden Verfahren die Seiten

Clooney in „Michael Clayton“ d e r

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„Staub“ sei der Bodensatz der Schöpfung, heißt es in Hartmut Bitomskys Dokumentation. Wissbegierig, liebevoll und manchmal versponnen widmet sich der Filmemacher dem titelgebenden Phänomen – von den staubfreien Reinräumen der mikroelektronischen Herstellung bis zum Uranstaub panzerbrechender Geschosse im Irak. Dabei erscheint die gemeinhin unerwünschte Materie plötzlich als prägender Stoff unserer Zeit.

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Kultur

L I T E R AT U R

Am Tatort der Politik Fehlt es in deutschen Gegenwartsromanen an Helden von heute? Unter Kritikern ist um diese Frage eine aufgeregte Debatte entbrannt. Die Schriftsteller Bernhard Schlink und Michael Kumpfmüller arbeiten schon mal an der Behebung des Mangels.

RAF-Terroristen Gudrun Ensslin, Andreas Baader (1969)

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lühende Islamisten und fanatische Gewerkschafter sind sein Tagesgeschäft; wenn ihm selbst nach innerem Feuer zumute ist, reist der Herr Innenminister zum außerehelichen Beischlaf nach Brüssel. Einen „kurzen Kick, ein- oder zweimal im Jahr“ beschert ihm dort eine in Belgien gestrandete schwedische Boutiquenbesitzerin, und dazu einen geradezu überirdischen Energieschub: „Wie lebendig er war“, bestaunt der Politiker sich selbst, „ein Ungläubiger in der Stunde seiner Bekehrung, mit der ursprünglichen Frömmigkeit des Mannes, wenn er guten Sex hat.“ Der berühmte RAF-Terrorist hingegen ist zum Sex nach mehr als zwei Jahrzehnten im Gefängnis und viel Zank über den revolutionären Kampf außerstande. „Du

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Schlappschwanz. Ficken ist Kämpfen – war das nicht euer Motto?“, schreit das nackte Mädchen, das sich wie ein Groupie ins Bett des mit einem langen weißen Nachthemd bekleideten Terrorveteranen geschlichen hat. Eine ganze Weile später erläutert der Mann sein sexuelles Elend: „Prostatakrebs. Ich kriege ihn nicht mehr hoch.“ Ganz zweifellos sind sie schillernde Helden unserer Zeit, der Minister Selden aus Michael Kumpfmüllers neuem Roman „Nachricht an alle“ und der Terrorist Jörg aus Bernhard Schlinks jüngstem Werk „Das Wochenende“*. * Michael Kumpfmüller: „Nachricht an alle“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 384 Seiten; 19,95 Euro. Bernhard Schlink: „Das Wochenende“. Diogenes Verlag, Zürich; 240 Seiten; 18,90 Euro. d e r

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Genau solche aus der Gegenwart gegriffenen Figuren aber gebe es viel zu wenige in der aktuellen deutschen Literatur, beklagte jüngst die „Frankfurter Allgemeine“ („FAZ“) in einem – natürlich Widerspruch inständig herausfordernden – Debattenbeitrag zum Auftakt der literarischen Frühjahrssaison. Vor dem Breiteller stets ähnlicher historischer Familien- und Generationenromane, ob von Julia Franck oder Arno Geiger oder sonst wem, leide er „als Leser unter einseitiger Ernährung“, berichtete dort der Kritiker Richard Kämmerlings. „Keine Ahnung“ und „ein Milieuproblem“ hätten die meisten deutschen Schriftsteller, wenn es um aktuelle Vorgänge in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Medien gehe.


ger begabte) eifern heute ein paar berühmten Vorbildern nach, die alle Genregrenzen souverän ignoriert haben: also Truman Capote („Kaltblütig“), Tom Wolfe („Die Helden der Nation“), Jörg Fauser („Rohstoff“) oder zuletzt Yasmina Reza, deren famoses Sarkozy-Buch „Frühmorgens, abends oder nachts“ Anfang März auf Deutsch erscheint. Schlink, 63, und Kumpfmüller, 46, zeigen nun, dass sich auch von der Literaturkritik hochgeachtete deutsche Autoren nicht zu schade sind, neben ihrer Erzählkunst tapferen Recherchefleiß zu beweisen. Beide

ASTRID PROLL (L.); LIESA JOHANNSSEN / PHOTOTHEK.NET (R.)

Neben schierer Ignoranz der werktätigen und aufregenden Sphären des Lebens sei auch die Faulheit der Autoren beklagenswert, denn, so Kämmerlings, „auf Recherche kommen die wenigsten“. Klar gab es darauf zornigen Widerspruch, weiß doch jeder GermanistikOberseminarist: Im Prinzip ist nicht der Stoff wichtig, von dem Literatur erzählt, sondern was man draus macht. „Die Literatur ist, um es herbe zu sagen, für die Gegenwart nicht zuständig“, schulmeisterte denn auch „Zeit“-Literaturchef Ulrich

Politiker, Journalisten in Berlin

Greiner den „Kollegen Kämmerlings“ sogleich. Wenn ihn drängende aktuelle Themen interessierten, möge sich der „FAZ“Grünschnabel an den ARD-„Tatort“ halten. Keinesfalls dürfe man Literatur und Journalismus verwechseln, so Greiner, jede Neuübersetzung der Odyssee trage eventuell „mehr zur Deutung unserer Lage“ bei „als ein sauber recherchierter Roman über die schmutzige Privatisierung einer Klinik“. Doch lässt sich Kämmerlings’ Diagnose über die Blutarmut und Weltferne der erfolgreichen Familien- und Historienliteratur so leicht entkräften? Die von Greiner superstramm bewachte Trennlinie zwischen Journalismus und Literatur ist sowieso längst geschleift: Ganze Horden frech losschriftstellernder Journalisten (auch weni-

zählen dank früherer Bestseller-Erfolge („Der Vorleser“, „Hampels Fluchten“) zum schriftstellerischen Establishment, beide geben vor, die Milieus ihrer neuen Werke aus genauer Kenntnis zu beschreiben. Über Politik sei kaum je „so kenntnisreich, packend und klug“ berichtet worden, behauptet Kumpfmüllers Verlag. Von ausführlichen Recherchen bei RAF-Tätern, dem manischen „Rechtfertigungsbedürfnis“ der Ex-Terroristen berichtet Schlink in einem Interview zu seinem aktuellen Buch. Und wovon erzählen die Romane selbst? Kumpfmüller porträtiert in „Nachricht an alle“ einen Minister, der in vielen Zügen an Otto Schily erinnert – und versetzt ihm gleich zu Beginn einen bösen, dem ersten Anschein nach terroristisch motivierten d e r

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Schlag. Minister Selden erhält von seiner erwachsenen Tochter eine SMS: Ihr Flugzeug stürze ab, es habe eine Explosion gegeben, „betet für mich. Ich liebe euch“. Der Tod der Tochter, deren Flugzeug (wie sich herausstellt, wegen eines technischen Defekts) unweit von Rom zerschellt, ist aber merkwürdigerweise in diesem Buch bald nahezu vergessen. Kumpfmüller widmet sich stattdessen den Ränkespielen und inneren Kämpfen des Ministers und spiegelt diese in den brandgefährlichen Aktionen einer Gruppe junger Protestler. Vor allem jedoch schildert er den gewöhnlichen Politik-Trott. „Selden hatte sein Statement hinter sich. Er hatte es gestoppt, keine vier Minuten, und nun saß er da und lauschte der Stimme in seinem Kopfhörer“, lautet ein typischer Eintrag. Der Minister hat mit irren terroristischen Bedrohungen, geifernden Streikführern und einer hübschen Journalistin zu schaffen, sein Kanzler ist ein unfassbar rücksichtsloser, aber stets gewinnend lächelnder Opportunist. Einen „Kümmerer“ nennt sich Selden selbst, aber manchmal beschleicht ihn „der Verdacht, dass sie zu spät kamen. Was immer sie taten, jetzt oder in naher Zukunft, es kam zu spät. Sie waren müde. Der ganze Westen war müde“. O weh, Minister. Kaum weniger epochal geht es bei Schlink zu. In „Das Wochenende“ verbringt der Ex-Terrorist Jörg seine ersten Tage in Freiheit auf einem sommerlich malerischen, aber vom Zahn der Zeit arg mitgenommenen Landsitz in Ostdeutschland, im Kreis alter Freunde und Weggefährten; schließlich taucht sogar sein Sohn auf. „Wir durften nicht einfach mitansehen, wie in Vietnam Kinder durch Napalm verbrannten“, rechtfertigt sich der wegen vierfachen Mordes verurteilte Held in einer launigen Rede, „wie Benno erschossen, auf Rudi ein Attentat verübt wurde.“ Das ist wahrhaft unerschrocken auf die heißen Themen der Gegenwart hin geschrieben. Aber: Ist es auch gute Literatur? Kumpfmüller wie Schlink zeichnen mit maximaler Ambition Ereignisse und Argumente nach, die der Leser aus den Medien gut zu kennen glaubt, etwa aus diversen Fernseh-Talkshows. Deren Sound Kumpfmüller übrigens von einem Chor der Fernsehschaffenden persiflieren lässt. Nun ist die Nähe zum Mediengeschäft und dessen Jargon vermutlich der Preis der Aktualität und an sich nichts Schlechtes. „Die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit größer als die, es zu erleben“, schrieb Robert Musil in „Der Mann ohne Eigenschaften“. Nur leider bürden Schlink und Kumpfmüller ihren Figuren auch viel gewöhnliches Gemenschel auf. So hadert Kumpfmüllers Minister mit Gattin Britta, die ihm von der Fahne geht („Ich brauch eine kleine Auszeit“). Und Schlink, schon immer ein hölzerner Stilist, gönnt seiner Terro155


Kultur

* Dirk Kurbjuweit: „Nicht die ganze Wahrheit“. Verlag Nagel und Kimche, Zürich; 224 Seiten; 19,90 Euro.

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FILME

Was vom Töten übrig blieb In ihrer großartigen Adaption des Romans „No Country for Old Men“ von Cormac McCarthy entwerfen die Brüder Joel und Ethan Coen ein düsteres Leinwandfresko der Gewalt.

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eglos sitzt der Killer im Sessel und sieht die junge Frau an, die um ihr Leben bangt. Soll er sie töten? Er wirft eine Münze, betrachtet sie kurz auf seinem Handrücken und blickt dann wieder zu der Frau. Im nächsten Bild tritt er aus dem Haus auf die Veranda und schaut sich um. Hat er sie nun getötet oder am Leben gelassen? Da lehnt er sich an einen Pfosten und überprüft die Sohlen seiner Stiefel. Er kann es nicht ausstehen, wenn

Coen. Chigurh, gespielt von dem Spanier Javier Bardem, ist die treibende destruktive Kraft in einem grandios düsteren Epos über die Weiten des amerikanischen Südwestens und die Abgründe der menschlichen Seele. Der Film spielt im Texas des Jahres 1980. Der Vietnam-Veteran Llewelyn Moss (Josh Brolin) stößt mitten in der Wüste auf ein Schlachtfeld: Männerleichen, von Maschinenpistolen durchsiebte Autos, pakete-

UNIVERSAL PICTURES (R./L.)

rismus-Plauderrunde schlimme erotische Ruhepausen. „Sie waren glücklich, weil sie einander so gerne rochen und schmeckten und fühlten. Sie lagen nackt in Margaretes Bett und genossen, dass ihre Körper einander mochten“: steilste Kuschelsex-Poesie. Schlink scheint seinen Terroristen letztlich so wenig sympathisch zu finden wie Kumpfmüller seinen emsig rackernden Innenminister. Beide lassen ihre Helden verloren dastehen – und ziehen sich zurück aufs Amt des Rhapsoden, der kühl den Lauf der Zeit und deren Heroen besingt. Der Jurist Schlink hat sich durch den Welterfolg „Der Vorleser“ (in dem eine ehemalige KZ-Aufseherin mit menschlichen Zügen auftritt) den etwas zweifelhaften Ruhm erworben, ein herausragender Täterversteher der deutschen Nachkriegsliteratur zu sein. Über die Figur des Terroristen Jörg aber befindet er am Ende schnöde: „Er trug seine Zelle mit sich.“ Kumpfmüller dagegen begann einst mit einem Schelmenroman, kaum wer schrieb leichter und lustiger als er. Jetzt macht er bierernst auf deutscher Don DeLillo und raunt: „Dafür reißt du dir den Arsch auf. Jemand muss es machen. Die Politik. Wir.“ Einen schmalen, lässigeren, präziseren Gegenentwurf vor allem zu Kumpfmüllers Roman bietet ein anderes Buch, das gleichfalls im Milieu der politischen Wolkenschieber spielt. Es heißt „Nicht ganz die Wahrheit“ und ist ein Detektivroman*. Dessen Autor Dirk Kurbjuweit, 45, leitet das Hauptstadtbüro des SPIEGEL in Berlin. So ungewöhnlich es sein mag, das Werk eines Kollegen zu erwähnen (das anderswo, etwa im „FAZ“-Feuilleton, als „realitätsnah“, „straff erzählt“ und „vielschichtig“ gelobt wird): „Nicht die ganze Wahrheit“ nimmt echte Helden unserer Zeit unter die Lupe – wie es sich die Kämmerlings dieser Welt wünschen. Die Story kreist um einen Privatschnüffler, den eine eifersüchtige Ehefrau auf ihren Politikergatten ansetzt. Der Mann ist der Vorsitzende einer großen Partei, die Geliebte, wie bald klar wird, eine junge Abgeordnete. Und der Detektiv ist ein Narr, der sich nach dem Knacken ihrer E-MailDateien in die Jungpolitikerin verliebt. Aus der Perspektive des Ermittlers nähert sich Kurbjuweit dem Geheimnis aller charismatischen Alphatiere (ob sie nun Terrorist werden, Minister oder Parteichef). Und er zeigt dabei durchaus Mitgefühl für die trügerisch glanzvolle Existenz der „Machthabermenschen“, wie es einmal heißt. Wer heute erhellend und spannend aus der Arena der aktuellen Zeitgeschichte erzählen will, muss kein zorniger Aufklärer sein und kein glühender Parteigänger. Aber ein klein wenig liebhaben sollte er die Artisten unter der politischen Zirkuskuppel vielleicht doch. Wolfgang Höbel

Darsteller Brolin in „No Country for Old Men“: Ein Jäger, der zur Beute wird

Blut an ihnen kleben bleibt. Der Mann heißt Anton Chigurh und legt bei jedem Blutbad, das er anrichtet, größten Wert auf Reinlichkeit. Als er einen Mann erschießt, der unter der Dusche steht, zieht er vorher den Vorhang zu. Als er selbst getroffen wird und sich die Kugel herausoperiert, kleidet er sein Hotelzimmer mit einer Plane aus. Und als sich eine Blutlache langsam seinen Stiefelspitzen nähert, legt er einfach die Füße hoch. Ein Saubermann, in dem sich eine Naturgewalt des Bösen verbirgt. Chigurh ist einer der furchterregendsten Mörder, die zuletzt auf der Leinwand zu sehen waren, und der wahre Held von „No Country for Old Men“, dem vielfach gefeierten und für acht Oscars nominierten Meisterwerk der Brüder Joel und Ethan d e r

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weise Heroin und ein Koffer mit zwei Millionen Dollar. Moss nimmt ihn an sich und wird bald darauf von dem Killer Chigurh verfolgt, der das Geld für die Männer, denen es gehört, wieder auftreiben soll. Sheriff Ed Bell (Tommy Lee Jones) fühlt sich in seinem kleinen, ruhigen County bald wie in einem Kriegsgebiet. „No Country for Old Men“ beruht auf dem gleichnamigen, vor drei Jahren erschienenen Roman von Cormac McCarthy. Mehrfach haben sich die Coen-Brüder im Verlauf ihrer Karriere an den Werken von Schriftstellern orientiert, von Dashiell Hammetts „Rote Ernte“ bei „Miller’s Crossing“ (1990) bis zu Homers „Odyssee“ bei „O Brother, Where Art Thou?“ (2000). Doch nun haben sie zum ersten Mal ein Stück Literatur getreu adaptiert.


In McCarthy fanden die Coens, die ihre Drehbücher bisher immer selbst schrieben, den perfekten Autor. Der 1933 in Rhode Island geborene Schriftsteller, der in seinem ganzen Leben nur drei Interviews gegeben haben soll, war in den siebziger Jahren nach El Paso gezogen, um die amerikanisch-mexikanische Grenze in mehreren Romanen als „Breitengrad des Blutes“ zu beschreiben, als eine Gegend, in der sich Gewalt mit archaischer Wucht austobt. In „No Country for Old Men“ erzählt McCarthy davon, wie eine neue Form der Kriminalität über das Grenzland hereinbricht, wie sich Anfang der achtziger Jahre Drogenhändler auf den Straßen texanischer Kleinstädte mit Maschinenpistolen massakrieren. Wenn wir sie alle zur Strecke bringen, lässt McCarthy im Roman einmal seinen Sheriff sagen, dann braucht die Hölle einen Anbau. In der fast grotesken Nüchternheit, mit der McCarthy die Gemetzel beschreibt,

Wie „Blood Simple“ beginnt auch „No Country for Old Men“ mit Landschaftsaufnahmen, während ein Mann aus dem Off spricht. Diesmal ist es Tommy Lee Jones, und wenn Texas sprechen könnte, dann spräche es wie er. Er sei Sheriff, sagt Jones, wie schon sein Großvater. Vor Jahren habe er mal einen Mörder in die Todeszelle gebracht, der hatte die eigene Freundin ermordet. Nicht aus Leidenschaft. Nein, er habe nur einfach seit langem davon geträumt, jemanden zu töten. Es dauert etwa 20 Minuten, bis dieser Sheriff zum ersten Mal zu sehen ist, und bis dahin gibt es schon ein Dutzend Tote. Nein, vom Gesetz ist in diesem Film keine Hilfe zu erwarten, nicht mal dann, wenn es von Tommy Lee Jones verkörpert wird. Mit wachsender Resignation fährt, reitet und stapft Bell von Tatort zu Tatort, stets kann er nur Leichen zählen und Geschosse auflesen. Er kann die Gewalt nicht verhindern, sondern nur reflektieren.

Coen-Star Bardem: Inkarnation grenzenloser Gewalt

und mit seinem schwarzen Humor fanden die Coens ihren eigenen Stil wieder. „Wenn ich nicht zurückkomme, sag Mutter, dass ich sie liebe“, trägt McCarthys trauriger Held Moss seiner Frau auf, bevor er nachts in die Wüste geht. „Deine Mutter ist tot“, erwidert die Frau. „Dann grüß ich sie selbst“, gibt er zurück. Dieser aberwitzige Dialog wirkt wie ein fernes Echo aus dem Debütfilm der Coens, „Blood Simple“ (1984). „Wenn ich ihn treffe, werde ich’s ihm sagen“, stößt da ein im Sterben liegender Detektiv mit letzter Kraft hervor, als eine Frau ihm eine Nachricht für einen Toten anvertraut. Schon in „Blood Simple“ hatten die Coens Texas als eine gesetzlose und gefährliche moderne Wildnis beschrieben; nun kehren sie mit McCarthy dorthin zurück.

In einer Szene betritt Bell einen Wohnwagen, den Chigurh kurz zuvor verlassen hat. Die Flasche Milch, die der Killer aus dem Kühlschrank nahm und auf den Tisch stellte, ist noch beschlagen. Bell setzt sich auf das Sofa, trinkt aus der Flasche und sieht sein Spiegelbild verzerrt in der Mattscheibe eines Fernsehers. „Ich sehe, was er gesehen hat“, sagt er. Und doch wird er diesen Mann niemals begreifen. Denn Chigurh erscheint wie ein brutaler Erlöser, halb menschlich, halb göttlich, ganz und gar tödlich. „Er legte seine Hand auf den Kopf des Mannes wie ein Wunderheiler“, schreibt McCarthy und lässt Chigurh seinem Opfer gleich im nächsten Satz mit einem Bolzenschussgerät ein Loch in die Stirn jagen. Die Coens und ihr beklemmend minimalistischer Darsteller Bard e r

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dem stilisieren Chigurh zur Inkarnation grund- und grenzenloser Gewalt. So laden sie die Szenen mit einer Spannung auf, die stets zu explodieren droht. Als Chigurh in einem Tankstellenshop mit dem Besitzer redet und aus einer Tüte Cashewkerne isst, inszenieren die Coens diesen Wortwechsel so einfach wie möglich: Schuss, Gegenschuss. Doch sie meinen es wörtlich: Jeder Schuss kann tödlich sein. Dann legt Chigurh die leere Tüte auf den Tresen, und als sich das Zellophan knisternd entfaltet, glaubt man, noch nie ein bedrohlicheres Geräusch gehört zu haben. „No Country for Old Men“ ist ein Film über die Stille vor dem Schuss und über die Jagd. Als Moss im Film zum ersten Mal zu sehen ist, legt er mit einem Gewehr auf Antilopen an. Doch mit dieser Einstellung locken die Coens den Zuschauer gleich zu Beginn auf eine falsche Fährte. Denn Moss ist in dieser Geschichte nicht der Jäger, sondern die Beute. Er wird von Chigurh gehetzt, flüchtet, versteckt sich, wird aufgespürt, angeschossen, schleppt sich waidwund durch die Gegend. Moss ist eines jener schlichten Gemüter, denen die Coens in ihren Filmen schon immer gern beim Scheitern zusahen. Wie der Detektiv in „Blood Simple“, der den Safe seines Auftraggebers ausräumt, der Gebrauchtwagenhändler in „Fargo“ (1996), der seine Frau entführen lässt, oder der Friseur in „The Man Who Wasn’t There“ (2001), der einen Kaufhausbesitzer erpressen will, träumen sie vom schnellen, großen Geld und fallen am Ende doch nur ihrer eigenen Gier zum Opfer. In „No Country for Old Men“ kann der Zuschauer mitverfolgen, wie Bauernschläue nach und nach zersetzt wird und der anfangs pfiffige Moss immer unsinniger handelt. Während er sich für den Koffer mit dem Geld zunächst höchst raffinierte Verstecke ausdenkt, wirft er ihn irgendwann in schierer Panik von einer Brücke ins Ufergestrüpp des Rio Grande. Angst essen Ratio auf. Es gibt keinen Ort der Sicherheit in diesem Film. In einer der stärksten Sequenzen will sich Moss vor einem monströsen Kampfhund in die Fluten des Rio Grande retten. Doch der Hund tut nicht, was Hunde in vielen anderen Filmen stets getan haben, er bleibt nicht am Ufer stehen und bellt. Sondern er springt in die Fluten, schwimmt hinter Moss her und holt rasend schnell Meter um Meter auf. Am Ende ist genug Blut geflossen, um das Wasser des Rio Grande rot zu färben. Und doch ist die Erinnerung an den ersten Toten des Films noch sehr lebendig, an einen Hilfssheriff, der von Chigurh erdrosselt wurde. Das verzweifelte Strampeln des Opfers mit seinen Stiefeln hat auf dem hellen Boden zahllose schwarze Kratzspuren hinterlassen: ein unvergessliches Inbild für das, was vom Töten übrig blieb. Lars-Olav Beier

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Szene aus Emmerich-Film „10.000 BC“ WARNER BROS.

KINO

„Wie auf dem Rummelplatz“ PETER SCHINZLER

Der Regisseur Roland Emmerich über Macht in Hollywood, Filmabende mit Bill Clinton, Mammuts aus dem Computer und sein neues Steinzeit-Spektakel „10.000 BC“ Emmerich, 52, ist der kommerziell erfolgreichste deutsche Regisseur in Hollywood. Seine Filme, vor allem „Independence Day“ (1996), „Godzilla“ (1998) und „The Day After Tomorrow“ (2004), spielten jeweils Hunderte Millionen Euro ein. Am Dienstag dieser Woche wird in Berlin die Weltpremiere von Emmerichs neuem Werk gefeiert, dem Steinzeit-Drama „10.000 BC“. SPIEGEL: Herr Emmerich, bisher waren Sie vor allem bekannt für aufwendige Zukunftsspektakel. Was hat Sie nun ausgerechnet an der steinalten Vergangenheit 10 000 Jahre vor Christus interessiert? Emmerich: Mein Ziel ist es immer, Bilderwelten zu erschaffen, die bisher noch niemand gesehen hat. Als das Kino erfunden wurde, haben die Gebrüder Lumière eine Kamera aufgestellt und einen herannahenden Zug so gefilmt, als ob er direkt auf das Publikum zuraste. Die Leute sind ausgeflippt und schreiend davongelaufen. Aber sie sind wiedergekommen oder haben anderen erzählt: Geh da hin, das musst du erlebt haben! Film hat immer schon funktioniert wie eine Attraktion auf dem

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Rummelplatz. Nur sind die Ansprüche höher geworden. SPIEGEL: Woher wissen Sie, was das Publikum heute sehen will? Die Zielgruppe für Ihre Art Popcorn-Kino beginnt etwa bei 12 Jahren. Sie sind jetzt 52. Emmerich: Es wird in der Tat immer schwieriger. Eine meiner Nichten hat, als sie 17 war, ein Jahr bei mir in Los Angeles gewohnt, und natürlich habe ich sie ausgefragt, welche Filme sie sich ansieht und was ihr daran gefällt. Sie mag vor allem Horrorfilme – im Gegensatz zu mir. Ich bin dazu viel zu ängstlich. SPIEGEL: Moment mal, wie oft haben Sie in Ihren Filmen allein New York ausgelöscht? Dreimal? Viermal? Emmerich: Aber da weiß ich ja immer, was als Nächstes passiert. Die Idee zu „10.000 BC“ kam mir vor Jahren durch ein Buch über die frühesten Menschen in Nordamerika, über das Aussterben der Mammuts und darüber, wie die Welt damals aussah. Das hat mich irre fasziniert. Ich habe das Projekt lange mit mir herumgetragen. SPIEGEL: Nach Ihren zahlreichen Erfolgen können Sie doch vermutlich jeden Stoff umsetzen, den Sie möchten. Emmerich: Aber nur, solange es darin um Außerirdische geht! Alles mit Aliens, Weltuntergang – todsicher finanziert. Da d e r

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brauche ich nur zu einem Studio zu gehen und zu sagen: Ich habe eine Idee für einen neuen Katastrophenfilm. Dann heißt es: Bitte sehr, hier sind die Millionen. SPIEGEL: Einfach so? Emmerich: Ja, ich entwickle auf eigenes Risiko ein Drehbuch. Wenn ich glaube, dass es fertig ist, schicke ich es an alle großen Studios gleichzeitig. Die bekommen es mittwochs um 12 Uhr mittags, und meistens ist es am Donnerstag verkauft. So war es bei „The Day After Tomorrow“, und so war es schließlich auch bei „10.000 BC“. SPIEGEL: Wird man da nicht irgendwann größenwahnsinnig? Emmerich: Sagen wir mal so: Es hat etwas Befreiendes. SPIEGEL: Sie haben Macht. Emmerich: Ja, die Macht besteht darin, dass man ein Produkt hat, das die Studios unbedingt wollen. In dem Augenblick dreht sich das übliche Machtverhältnis um. Die Studios dienen sich plötzlich mir an und wollen mir beweisen, dass sie das beste Marketing- und Vertriebskonzept für meinen Film haben. Meistens legt ein Studio schon Jahre im Voraus fest, an welchem Termin mein Film starten soll. Ich bekomme sofort grünes Licht, und dann kann das Studio nichts mehr ändern. SPIEGEL: Ihre Entscheidung war es auch, „10.000 BC“ mit unbekannten Schauspielern zu besetzen. Warum drehen Sie überhaupt eher selten mit großen Stars? Emmerich: Ich bin überzeugt, dass das Leben zu kurz ist, um sich mit Idioten auseinanderzusetzen. Ich werde Ihnen jetzt natürlich keine Namen nennen, denn ich will ja wieder einreisen dürfen in die USA (lacht). Im Ernst: Ich erkundige mich meistens bei anderen Regisseuren und frage: Wie ist denn zum Beispiel der Mel Gibson


Kultur wir sie per Computer richtig dreckig gemacht. Eine Heidenarbeit – jedes Mammuthaar muss einzeln digital animiert werden, genauso wie der Säbelzahntiger und die Terrorvögel. SPIEGEL: Frühhistoriker werden von dieser wilden Mischung nicht begeistert sein. Emmerich: Meine Ausstatter haben viel recherchiert, aber natürlich habe ich mir ein paar Freiheiten genommen. Es ist nicht alles so gewesen, aber es sieht so aus, als ob es so gewesen sein könnte. Die Zuschauer sind schlau genug, um Fiktion und Historie auseinanderzuhalten. SPIEGEL: Sind Sie da bei Ihren Filmen so sicher? Stimmt die Geschichte, dass der damalige US-Präsident Bill Clinton Sie ins Weiße Haus eingeladen hat, um dort mit Ihnen „Independence Day“ zu schauen? Emmerich: Ja, es war wirklich lustig, allerdings auch ein bisschen surreal. Ich sah im Weißen Haus, wie Außerirdische das Weiße Haus in die Luft sprengen. SPIEGEL: Die schönste Kinovorstellung Ihres Lebens? Emmerich: Eher nicht. Der Vorführraum im Weißen Haus ist eine umgebaute Kegelbahn: der schlimmste Sound, den ich je gehört habe, und eine ganz kleine Leinwand. Ich habe mich hinterher ein bisschen darüber aufgeregt, dass die First Family sich so Filme angucken muss. Hillary und Bill Clinton wollten auch noch, dass ich bei Ihnen ganz vorn sitze, aber ich habe Bill Pullman vorgeschoben, der ja im Film den Präsidenten spielt. SPIEGEL: Was passierte dann? Applaudierte der Präsident, als das Weiße Haus in die Luft flog? Emmerich: Nein. Aber bei Testvorführungen von „Independence Day“ sind nach der Zerstörungsszene immer 20 Leute rausgerannt. Die mussten auf die Toilette, aber haben damit bis nach der Szene gewartet. So war es auch im Weißen Haus: Bill Clinton ist danach aufgesprungen und rausgerannt. SPIEGEL: Gehört das zur Dramaturgie Ihrer Filme? Berechnen Sie die zumutbare Spannungskurve bis zur Pinkelpause? Emmerich: Nein, es gibt so viele andere Dinge, über die ich beim Filmemachen nachdenken muss. Körperfunktionen gehören eher nicht dazu. SPIEGEL: Haben Sie eigentlich nach all Ihren Erfolgen noch Angst vor einem richtigen Flop? Emmerich: Klar. Ich habe ja noch nie einen richtigen Flop gelandet. Aber der wird irgendwann mal kommen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. WARNER BROS.

drauf? Ist der verträglich? Bei Projekten, für die bereits ein Star angeheuert hat, der mir nicht passt, sage ich eben auch manchmal: nein danke, ohne mich. SPIEGEL: Sie gelten als einer der sparsamsten Regisseure in Hollywood, als jemand, der auch aufwendige Produktionen relativ preiswert abwickeln kann. „10.000 BC“ soll rund 140 Millionen Dollar gekostet haben – heißt das, ein anderer Regisseur hätte 200 Millionen verbraten? Emmerich: Sparsamkeit ist immer noch eines meiner Markenzeichen. Aber es wird immer schwieriger, weil sich mittlerweile herumgesprochen hat, welche Hits mit meinem Namen verbunden sind. Wenn ich also jemanden engagieren will, verlangt der mittlerweile automatisch mehr Geld. Als wir für „10.000 BC“ in Südafrika und Namibia gedreht haben, hieß es bei den Filmfirmen vor Ort: Die sind reich, von denen können wir’s holen. SPIEGEL: Wie muss man sich das vorstellen, wenn ein großes Filmteam aus Hollywood in Namibia einfällt? Wie die AlienInvasion in „Independence Day“? Emmerich: Schlimmer als Außerirdische. Wir Hollywood-Leute haben einen schlechten Ruf, oft zu Recht. Ich habe vor den Dreharbeiten zu meinen Leuten gesagt: Bitte benehmt euch hier anständig. SPIEGEL: Das war notwendig? Emmerich: Ja. Vielleicht liegt es daran, dass ich Europäer bin, aber diese „Hoppla, jetzt komm ich!“-Mentalität vieler Amerikaner, gerade in der Filmbranche, mag ich nicht. Ich fühle mich für alles und jeden in meinem Team verantwortlich. SPIEGEL: Nun ist der größte Teil von „10.000 BC“ nicht am Set entstanden, sondern am Computer. Ist das nicht langweilig für einen Regisseur? Emmerich: Überhaupt nicht. In jedem Fall muss man ständig künstlerische Entscheidungen treffen. SPIEGEL: Zum Beispiel? Emmerich: Zum Beispiel, wenn die Mammuts zu kuschelig und friedlich aussehen. Das wollte ich nicht, und deshalb haben

Darsteller Steven Strait in „10.000 BC“: „Benehmt euch!“ d e r

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Interview: Andreas Borcholte, Martin Wolf

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Romanschauplatz Marienbad (1905): „Nichts macht so arm wie eine Liebe, die nicht glückt“

Lieben mit Goethe Martin Walser erzählt in seinem Roman „Ein liebender Mann“ von einer letzten großen Leidenschaft: Ein 73-jähriger Dichter will eine 19-Jährige heiraten. Von Volker Hage

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Sommern zuvor), bis hin zum Morgen des 29. Dezember, als Goethe daheim in Weimar aus erotischen Träumen erwacht und die Unerfüllbarkeit seiner Wünsche akzeptieren muss. Walser, der im März 81 wird, hat sich Zeit gelassen mit seinem Goethe-Roman. Zur Person des übermächtigen Kollegen hatte er lange ein gemischtes, ja angespanntes Verhältnis, bis er – 1986 – zu erkennen glaubte, dass Goethe einfach nur geliebt werden wollte. Und er fand schon damals: „Je mehr man mit ihm umgeht, desto leichter wird es, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.“ In dem neuen Roman liebt er ihn unerbittlich, und mit Goethe liebt er Ulrike. Walser will das junge Mädchen überhaupt erst einmal als begehrenswerte Frau zeigen. Denn die Literaturwissenschaft habe sie bisher „so dürftig, so bürgerlich grotesk“ dargestellt, „dass Goethe ein Idiot gewesen wäre, wenn er sich in sie, so wie sie verzeichnet wurde, verliebt hätte“. So hat er in einem Interview, noch vor Erscheinen des Romans, schon einmal die Richtung der erwünschten Rezeption vorgegeben: „Ich habe eine Ulrike geschaffen, die der Liebe Goethes würdig ist.“ Hat er? Was Walser wunderbar gelingt, ist das Porträt der jungen Frau: „Fast ein bisschen einsam, dieser Mund in der unteren Gesichtshälfte. Die Nase bleibt auch für sich. Sie hat eine eher ahnbare als wahrnehmbare Brechung. Sie will einfach nicht spannungslos und langweilig gerade verlaufen. Wer nicht richtig hinschaut, glaubt, sie ende spitz.

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ie muss eine enorme Anziehungskraft traut. Das aber hinderte den zeitlebens von gehabt haben: Ulrike, die älteste von Frauen angebeteten Dichter, der sich meist drei Töchtern der ebenfalls sehr at- in der Rolle des Abwehrenden und Flüchtraktiven Amalie von Levetzow. Die Mut- tenden erlebt hatte, keineswegs daran, in ter war erst 15, als sie das Mädchen 1804 eine schwärmerische Leidenschaft für die zur Welt brachte. Auf einem zeitgenössi- junge Frau zu verfallen. schen Pastell, das Ulrike mit 17 zeigt, blickt Und das ist es, was auch Martin Walser sie verträumt aus großen wachen Augen. in seinem neuen Roman interessiert, der Ein schöner schlanker Hals, eine ausge- Ende dieser Woche erscheint: die Unbeprägte Mundpartie, ein Lockenkopf. irrbarkeit, die Unbedingtheit von Goethes Nach heutigen Maßstäben war sie nicht Gefühlen**. Walser schildert, immer nah unbedingt eine Schönheit. Aber was be- an seinem Helden, die Ereignisse des zweisagt das? Sie trat offenbar als lebhafte, ten Halbjahrs 1823, angefangen am 11. Juli, lebenslustige junge Frau auf, die gern tanz- fünf Uhr nachmittags, als Goethe Ulrike te, ein Mädchen noch, das sich im fran- in Marienbad erstmals als Frau wahrnimmt zösischen Internat besonders für Natur- und nicht länger als Tochter einer bewissenschaften interessierte. Eine kluge, freundeten Familie (wie in den beiden schlagfertige Person jedenfalls – mit verwirrender Wirkung auf Männer, eine Scarlett Johansson des frühen 19. Jahrhunderts. Nicht weniger als 14 Heiratsanträge soll sie im Laufe ihres Lebens erhalten haben. Sie hat alle abgelehnt, auch jenen, den sie mit 19 bekam: immerhin von Johann Wolfgang von Goethe, der damals freilich kurz vor seinem 74. Geburtstag stand. Als sie ihn – und er sie – 1821, zwei Jahre davor, im böhmischen Kurort Marienbad das erste Mal bewusst wahrgenommen hatte, war ihr keine Zeile von ihm ver- Verehrer Goethe, Angebetete Ulrike von Levetzow*: Einsamer Mund 160

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AU TOR E N

* Links: 1828; rechts: 1821. ** Martin Walser: „Ein liebender Mann“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 288 Seiten; 19,90 Euro.


Kultur mit finanziellen Verlockungen versehen die verstörende Ungewissheit zu spüren haben – falls die Familie Levetzow nach („Das Paradies, die Hölle steht dir offen“), Weimar kommen würde. die Verzweiflung darüber, dass die „liebDas Gerücht machte dort 1823 schnell lichste der lieblichsten Gestalten“ unerdie Runde. Von Schillers Witwe Charlotte reichbar scheint – und die tiefe Ahnung ist das Wort überliefert, sie hoffe doch, endgültigen Abschieds vom Eros: „Mir ist dass Goethe in seinem Aldas All, ich bin mir selbst ter „nicht so unweise hanverloren.“ delt“. Und im Haus am Walser versucht nun, Frauenplan fürchteten Sohn den Ton dieses Gedichts – August, damals 33, und es wird vollständig zitiert – dessen Frau Ottilie, 26, um gewissermaßen auf die ihre Position im GoetheLänge eines Romans zu schen Familiengefüge. strecken. Das kann nicht Es spricht einiges dafür, gutgehen. dass für Ulrike schon weDie Liebe wird hier ungen dieser Konstellation, ablässig beredet. Etwa so: speziell wegen Goethes „Die Liebe. Jetzt ist sie da. Schwiegertochter und der Es gibt sie also … Sie ist das Enkelkinder, eine Heirat Vorhandenste überhaupt. undenkbar schien. Aber sie Das Ausfüllendste. Die hat wohl nie gewagt, es ihm größte Sicherheit.“ An andirekt zu sagen. So hoffte Autor Walser derer Stelle: „Er nennt es er auch nach dem Abschied „Wie ein einziges Geschrei“ Liebe. Er spürt das doch weiter. wie eine Brandwunde. Auf der Rückfahrt nach Weimar, im Sep- Oder wie ein einziges Geschrei.“ Und dann tember 1823, skizzierte er in der Kutsche lässt Walser seinen Goethe im Selbstgejenes Gedicht, das als „Marienbader Ele- spräch auch noch auf dessen bekanntes gie“ bekannt geworden ist, eigentlich aber „Tasso“-Zitat anspielen (das leicht abgenur den schlichten Titel „Elegie“ trägt, ein wandelt als Motto vor der „Elegie“ steht): Gedicht, das er sorgsam hütete und zu- „Nichts macht so arm wie eine Liebe, die nächst verbarg. Nicht in Goethes Briefen nicht glückt. Schreib’s auf. Dir gab doch aus der Zeit, allein in diesen Strophen ist ein Gott zu sagen, wie du leidest.“ Goethe JENS SCHLÜTER / DDP

In Wirklichkeit endet sie in einer zuletzt noch gerundeten Spitze.“ Doch dann, wenn sie wirklich auftritt und redet, wirkt diese Ulrike plötzlich ganz leblos. Walser lässt sie solche Sätze zu Goethe sagen: „Seit ich jetzt Bücher von Ihnen lese … quält es mich, dass ich in keinem Augenblick weiß, wer Sie sind. Immer dieses allerhöchste Geflunker.“ Und der Verliebte jubelt innerlich angesichts der gemeinsam geführten Dialoge, der ausgetauschten Blicke: „Er fühlte es, mit keinem zweiten Menschen in dieser Welt konnte er eine solche Übereinstimmung erleben.“ Es wird in diesem Roman viel behauptet, wenig erzählt. Als Goethe und Ulrike – nach seinem Heiratsantrag – eine stundenlange Wanderung zusammen machen, lässt Walser die junge Frau lieber seitenlang auswendig aus Goethes „Werther“ rezitieren, als ein Gespräch zu imaginieren, in dem das Schweigen, die ausbleibende Antwort lastend spürbar wird. Diesen Antrag Goethes hat es wohl wirklich gegeben, auch wenn kein schriftliches Dokument überliefert ist und in dem spärlich erhaltenen Briefwechsel zwischen dem Dichter und der Familie von Levetzow auch später nie direkt darauf Bezug genommen wird. Großherzog Carl August, Goethes alter Freund, soll diesen Antrag Ulrikes Mutter persönlich überbracht und


Kultur sagt auch, was wir schon von Martin Walser kennen: „Zum ersten Mal hilft es nicht, geschrieben zu haben. Nur Schreiben hilft.“ Im dritten Teil seines Romans erfindet Walser sogar eine ganze Reihe von Briefen Goethes an Ulrike. Bei ihm darf sie auch die Erste sein, die die „Elegie“ zu Gesicht bekommt – in Wirklichkeit hat sie das Gedicht erst viele Jahre später gelesen. Natürlich reizen den Romancier die Leerstellen im Leben, die Augenblicke, für die es keine Zeugnisse, keine Dokumente gibt. Im Umgang mit historischen Figuren aber ist das Hinzudichten stets eine Gratwanderung. Auch das Erfundene muss sich einfügen. Wenn Walser sich eine Szene ausmalt, in der der alte Goethe nach seiner Rückkehr daheim von der Schwiegertochter wegen seiner Verliebtheit übel und eifersüchtig beschimpft wird (Ulrike wird von ihr als „Ehrgeizhure“ bezeichnet): warum nicht? Wenn er allerdings, um seinem nicht eben handlungsstarken Roman ein wenig Dramatik zu verleihen, einen jungen und reichen Nebenbuhler erfindet, der Goethe beim Tanz in Marienbad abklatscht, sich in Szene setzt und das Mädchen gleich in seine Suite einlädt, dann wirkt das wie ein billiger Effekt. Mag man sich so einen eifersüchtigen Goethe vorstellen? „Dass sie gleich in der ersten Nacht ihre Jungfernschaft opfern würde, bezweifelte er. Obwohl, wer weiß.“ Solche Gedanken 1823 in Hinblick auf eine wohlbehütete 19-Jährige? Eine besondere Stilmarotte Walsers, der seinen Roman erstmals weitgehend nach den Regeln der neuen Rechtschreibung drucken lässt, ist die konsequent durchgehaltene Getrenntschreibung bei Wortkomposita mit „einander“ (wie sie auch bei Goethe vorkommt), so dass sich bei einer späteren Eifersuchtsphantasie Goethes dieses groteske Satzungetüm ergibt: „Sie liegen neben einander, auf einander, über einander, unter einander, durch einander, in einander, ja, in einander liegen sie jetzt, in allerhöchster Liebeswut, jetzt ist es so weit …“ Und er selbst durfte sie nur küssen? Sogar das ist historisch zweifelhaft, zumindest hat die reale Ulrike als alte Dame (sie starb 1899, 67 Jahre nach Goethe) bestritten, dass es je mehr als Abschiedsküsse gab – das muss natürlich nicht stimmen. Ob es allerdings so wie in diesem Roman zugegangen ist, mag man bezweifeln: „Dann näherten sich die Münder einander, kamen einander so nah wie noch nie und blieben so nah bei einander, bis eine Elster mit ihrem schrillen Schrei die Zeitlosigkeit zerriss.“ Spätestens bei solchem Kitsch fragt man sich dann, was Walser sich eigentlich gedacht hat, dieser sprachmächtige Autor, der noch in seinem letzten Roman „Angstblüte“ (2006) so tollkühn und zupackend 162

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die hilflose Verfallenheit eines älteren Herrn an eine junge, nur an seinem Geld interessierte Schönheit bis in intime Einzelheiten zu schildern wusste. Goethes unmögliche Liebe: Sie faszinierte schon die Zeitgenossen, später Biografen, auch immer wieder Schriftsteller wie Thomas Mann und Stefan Zweig. Bis heute ist kein Ende abzusehen. Noch vor Walsers Roman gab es allein seit 2004 drei Bücher zum Thema, unbedarft und munter fabulierend das eine (Friedemann Bedürftig: „Die lieblichste der lieblichsten Gestalten“), sachlich knapp die Fakten präsentierend das andere (Dagmar von Gersdorff: „Goethes späte Liebe“), und auch die Bestseller-Biografin Sigrid Damm ließ sich in ihrem Buch über „Goethes letzte Reise“ (2007) einen Rückblick auf das prägende Erlebnis des Jahres 1823 nicht entgehen. Nur Thomas Mann hat seine 1911 geplante Novelle „Goethe in Marienbad“ nie geschrieben. Einen Fall von „Entwürdigung“ wollte er schildern, „die Entwürdigung eines hochgestiegenen Geistes durch die Leidenschaft“. In seinen Augen war Goethes „Spätliebe“ zu Ulrike von Levetzow nichts anderes als ein „Tod vor dem Tode“, der „verwüstende Einbruch der Leidenschaft“ in das Leben des greisen Dichters, eine „böse, schöne, groteske, erschütternde Geschichte“. Er traute sich aber mit Mitte dreißig noch nicht zu, Goethe zum Gegenstand seiner Prosa zu machen, und schrieb stattdessen die Novelle „Der Tod in Venedig“ (1912), um an anderem Beispiel „die Tragödie des Meistertums“ zu erzählen, „die Zerstörung eines geformten, scheinbar endgültig gemeisterten Lebens“. Erst gut ein Vierteljahrhundert später wagte er es dann, sich Goethe in einer „Mischung aus Bewunderung und Aufsässigkeit“ zu nähern: in seinem Roman „Lotte in Weimar“ (1939). Und auch da ließ er den Helden erst im siebten Kapitel direkt auftreten, dann aber gleich mit einem großartig komponierten inneren Monolog beim Erwachen im Bett – und tatsächlich mit einer in Goethe-Zitaten mehr angedeuteten als ausgesprochenen morgendlichen Erektion. Es spricht immerhin für Walsers Witz, dass er Manns dialogreichem Meisterwerk Reverenz erweist, indem er auf diese Szene am Schluss seines Romans deutlich anspielt, eines Romans, der doch eigentlich nur ein einziger Monolog ist: eine Partitur für Walsers Vortragskunst. Man hört ihn auf vielen Seiten schon laut reden. Und selbst diesen spröden Satz am Schluss wird Martin Walser zum Klingen bringen: „Als er aufwachte, hatte er sein Teil in der Hand, und das war steif. Da wusste er, von wem er geträumt hatte.“ ™

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Kultur

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Ich bin gar nicht so frech“ Die TV-Moderatorin Charlotte Roche über ihr Romandebüt „Feuchtgebiete“, eine Altersgrenze für Feministinnen und die Kunst, im Fernsehen zugleich klug und erfolgreich zu sein Charlotte Roche, 29, war Ende der neunziger Jahre das Gesicht und die Stimme des Musiksenders Viva 2. Mit einem unangepassten und intelligenten Moderationsstil wurde sie zum Vorbild einer jungen Frauengeneration. In diesem Frühjahr veröffentlicht Roche ihren ersten Roman „Feuchtgebiete“; er erzählt aus dem Leben der 18-jährigen Helen, die mit einer Analverletzung im Krankenhausbett liegt. Dort denkt Helen über die Trennung ihrer Eltern nach und über ihr Sexleben – sehr viel drastischer, als man es sonst in deutschen Romanen liest.

Roche: Ich bin für mehr Sex – mehr

dem Satz: „So lange ich denken kann, habe ich Hämorrhoiden.“ Wie lange haben Sie an diesem Satz gefeilt? Roche: Nicht lange. Aber das waren tatsächlich die ersten Worte, die ich hingeschrieben habe. SPIEGEL: Warum überhaupt ein Roman? Roche: Es hatte erst ein Sachbuch werden sollen: Charlotte Roche empfiehlt Frauen, wie sie mit ihrem Körper umzugehen haben. Das kam mir dann aber zu plump vor. Eine Romanfigur war schon deshalb besser, weil sie sich grotesker aufführen kann als die Privatperson Charlotte Roche. SPIEGEL: Ihr Roman erfüllt nahezu alle Kriterien des klassischen Skandalromans. Haben Sie den Tabubruch gezielt mit einem Verleger oder Literaturagenten geplant? Roche: Das sieht jetzt vielleicht so aus, als hätte ich mir die drei, vier Themen überlegt, die eine Leserschaft heute noch vor Scham blass werden lassen. Dabei lief alles ganz unschuldig ab. Ich habe mich auf das besonnen, was ich gut kann: Das ist hingucken und anfassen. Und ich habe versucht, über das zu schreiben, was mich wirklich etwas angeht: über weibliche Flüssigkeiten und betörende Gerüche. SPIEGEL: Der Verlag Kiepenheuer& Witsch, für den der Roman ursprünglich konzipiert war, hat von der Veröffentlichung abgesehen, mit der Begründung, Ihr Buch sei pornografisch. Haben Sie einen Porno geschrieben? Roche: Vielleicht ist es wirklich ein Porno geworden, das wäre schön. Im Ernst, die Frage ist doch, was ist Pornografie? In FilDas Gespräch führten die Redakteure Moritz von Uslar und Claudia Voigt. Charlotte Roche:„Feuchtgebiete“. Dumont Buchverlag, Köln; 220 Seiten; 14,90 Euro.

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THOMAS RABSCH / LAIF

SPIEGEL: Frau Roche, Ihr Buch beginnt mit

Autorin Roche

„Dort hinsehen, wo andere nicht hinsehen“

men sind das ein erigierter Penis und eine weit geöffnete Scham, die beim Vollzug des Geschlechtsaktes gezeigt werden, wobei der Mann derbe abgeht und die Frau die Unterlegene spielt. So kommt das in meinem Buch nicht vor. Mir geht es eher um Masturbation und die Erforschung des eigenen Körpers. SPIEGEL: Ein Schlüsselthema des Romans ist die Körperpflege. Ihre Hauptfigur Helen propagiert die Lust am eigenen Körpergeruch. Was ist so schlimm daran, wenn ein Mensch sich gern wäscht? Roche: Eine Grundidee war: Hass auf Parfums, Hass auf Deos. Als Menschen sind wir ursprünglich darauf angelegt, im Geruch des anderen den potentiellen Sexualpartner zu suchen und zu erkennen. Indem wir uns künstlich parfümieren, nehmen wir uns eine Quelle der Lust. Ich möchte das Geschlechtsteil des Mannes durch seine Hose hindurch riechen. SPIEGEL: Ist der Körper, entgegen der vorherrschenden Meinung, noch ein geheimnisvolles, ein unerforschtes Gebiet? Roche: Bei Frauen ja. SPIEGEL: Viele beklagen die Übersexualisierung der Gesellschaft. Sie nicht? d e r

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Schweinereien, keine Tabus. Ich glaube, dass es vom echten Sex, dem Sex, der riecht und schmeckt und schmutzige Geräusche macht, nie genug geben kann. Das Pin-up, das ich auf einem C&A-Plakat sehe, wenn ich mein Kind zum Kindergarten fahre, das stört mich auch. Schon deshalb, weil es den Sex langweiliger, flacher, spießiger und unaufregender darstellt, als er in Wirklichkeit ist. SPIEGEL: War es eine Befreiung für Sie, Ihre Phantasien aufzuschreiben? Roche: Auf jeden Fall. SPIEGEL: Was genau hat sich da befreit? Roche: Meine Themen sind die, die alle beschäftigen, nur fehlen uns für diese Themen die Worte. Es gibt Frauen, die nicht einmal ein Wort für ihr eigenes Geschlechtsteil haben. Männer sind da besser. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dort hinzusehen, wo andere nicht hinsehen. Dorthin, wo die Sprache versagt. Frauen haben nach der Lektüre meines Buches gesagt: Jetzt ist mir nichts mehr peinlich. SPIEGEL: Der männliche Leser, der bei der Lektüre Ihrer Sex-Prosa scharf wird, stellt der ein Problem für Sie dar? Roche: Den finde ich gut! Ein Freund, der den Roman noch im Zustand loser Blätter in einem Café gelesen hat, sagte, er musste aufhören, weil er eine Erektion bekommen hat. Da geht mir ein Grinsen über die Backen. Ich sehe meinen Roman ja durchaus als Masturbationslektüre: Es gibt eine nachdenkliche Ebene, und es gibt die Ebene, die Männer und Frauen aufgeilen soll. SPIEGEL: Die Frage, die sich der Leser etwa ab Seite drei stellt, lautet: Wie viel ist erfunden? Lesen wir über den Sex und die Masturbationsphantasien Ihrer Heldin oder die der Charlotte Roche? Roche: Etwa 30 Prozent sind erfunden, etwa 70 Prozent bin ich. SPIEGEL: Dafür gehen Sie allerdings erstaunlich hart und deutlich zur Sache. Schämen Sie sich denn gar nicht? Roche: Ich bin das Gegenteil von locker. Natürlich habe ich Schamgefühle. Ich hatte beim Schreiben oft das Gefühl, gerade Dinge zu formulieren, für die man als Frau auf der Straße gesteinigt wird. SPIEGEL: In einem schon fast altmodischen Sinn scheint Ihr Ro-


Fotografie „Guilty Things“ von David LaChapelle (2003)*: „Keine Ahnung, wo gutes Benehmen für Frauen aufhört“

man eine Mission zu haben. Können Sie die formulieren? Roche: Mission klingt scheußlich. Aber wenn ich einen zarten Appell formulieren darf, dann so: Ich hätte gerne, dass es auf Frauen einen weniger großen Druck gibt, sich komplett zu enthaaren. Frauen rasieren sich aus einem vorauseilenden Gehorsam. Ich glaube, dass sogar Männer über ein paar weibliche Schamhaare ganz dankbar wären, weil sie ja mit Frauen, nicht mit Kindern schlafen wollen. SPIEGEL: Ganz offensichtlich geht Ihnen ein bestimmter Typ Frau gewaltig auf die Nerven. Wie sieht diese Frau aus? Roche: Das ist natürlich das Frauenbild, das in Werbung und Zeitschriften propagiert wird, das von Paris Hilton oder Heidi Klum. SPIEGEL: Vor 40 Jahren hießen Slogans der Frauenbewegung „Verbrennt eure BHs“ und „Frauen, tragt keine Stöckelschuhe“. Was unterscheidet Ihre Forderungen von denen von 1968? Roche: Der Feminismus der ersten Generation wusste immer genau, wie wir Frauen uns zu benehmen haben. Diese Gewissheit fehlt uns. Ich habe keine Ahnung, wo gutes Benehmen für Frauen aufhört und wo böses Benehmen anfängt. Ich möchte nur, dass Frauen die Wahl haben, den einen oder einen anderen Weg zu gehen. SPIEGEL: Ihre Forderungen klingen explizit feministisch.

Roche: Gerne. SPIEGEL: Mit dem Label Feministin haben

Sie kein Problem? Roche: Woher denn? Den Feminismus habe ich mit der Muttermilch aufgesogen. Konkret bedeutet das, dass meine Mutter mir beigebracht hat, dass die Welt frauenfeindlich ist und dass es noch viel zu tun gibt, bis Frauen dieselben Chancen haben wie Männer. Das hat auch etwas mit Zivilcourage zu tun: Wir müssen uns streiten. So wie ich das sehe, verdienen Frauen in gleichen Jobs und nach der gleichen Ausbildung wie Männer immer noch rund 15 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Frauen verhandeln ihr Gehalt nicht vernünftig. Das müssen wir noch lernen. SPIEGEL: Die Forderung nach Lohngleichheit ist ebenfalls schon viele Jahrzehnte alt. Wie grenzt sich Ihr Feminismus vom Feminismus der Alice Schwarzer ab? Roche: Junge Feministinnen müssen Alice Schwarzer für viel dankbar sein, zum Beispiel dafür, dass Frauen ihre Männer nicht mehr fragen müssen, ob sie arbeiten gehen dürfen. Bei vielen ihrer neuen Kampagnen wie bei der Verteufelung von Pornos können wir aber nicht mehr mitgehen. Frau Schwarzer möchte Sadomaso-Sex verbieten. Frauen sind aber total masochistisch, das wird auch sie nicht ändern können. Ich habe kei* Aus dem Buch „Heaven to Hell“ (Taschen Verlag). d e r

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DAVID LACHAPELLE / TASCHEN

ne Lust, Frau Schwarzer erst um Erlaubnis zu fragen, bevor ich im Bett richtig loslege. SPIEGEL: Ist Alice Schwarzer in Ihren Augen zu alt, um eine gute Feministin zu sein? Roche: Sie wird dem Menschen in der Frau nicht mehr gerecht. Ich finde es schrecklich, dass es für so etwas Wichtiges wie Feminismus nur diese Frau gibt. SPIEGEL: Wenn es um einen modernen Feminismus geht, der Hedonismus und Materialismus nicht nur nicht ausschließt, sondern als Teil der Selbstverwirklichung der Frauen begreift, dann wird oft der Popstar Madonna als Vorbild genannt. Sehen Sie sich als eine Verehrerin? Roche: Diese Frau kann für mich kein Vorbild sein, weil sie sich weigert zu altern. Es hat etwas Erbärmliches, wenn eine Frau mit 50 sich an die Jugend klammert. SPIEGEL: Taugt Angela Merkel als Vorbild? Roche: Mein Feminismus ist nicht farbenblind. Frau Merkel ist meiner Meinung nach einfach in der falschen Partei. Wenn ich eine Heldin nennen soll, dann ist das Maude aus dem Film „Harold und Maude“: Das ist eine fast 80-jährige, radikale Kämpferin mit langen Haaren, die Sex mit einem 20-Jährigen hat. SPIEGEL: Im echten Leben sind Sie verheiratet und Mutter einer fünfjährigen Tochter. Wie hat die Feministin Roche die Kinderbetreuung in ihrem Hause organisiert? 165


Kultur

Bestseller

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik 1

(–)

Stephenie Meyer Bis(s) zum Abendrot

Sachbücher 1

(1)

2

(2)

3

(3)

4

(4)

Carlsen; 22,90 Euro

Hape Kerkeling Ich bin dann mal weg Malik; 19,90 Euro Richard D. Precht Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Goldmann; 14,95 Euro

Band drei der dramatischen Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mädchen und einem verführerischen Vampir

2

(1)

Ildefonso Falcones Die Kathedrale des Meeres Scherz; 19,90 Euro

3

(3)

Martin Suter Der letzte Weynfeldt Diogenes; 19,90 Euro

4

(5)

Khaled Hosseini Tausend strahlende Sonnen Bloomsbury Berlin; 22 Euro

5

(2)

6

(4)

Tom Rob Smith Kind 44 Dumont; 19,90 Euro

Julia Franck Die Mittagsfrau S. Fischer; 19,90 Euro

7

(7)

Joanne K. Rowling Harry Potter und die Heiligtümer des Todes

Süddeutsche Zeitung; 19,90 Euro

5

Achim Wohlgethan Endstation Kabul Econ; 18,90 Euro 6 (6) Eva-Maria Zurhorst Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro 7 (–) Esther Hicks / Jerry Hicks The Law of Attraction – Das kosmische Gesetz hinter „The Secret“ Allegria; 16,90 Euro 8 (18) Tim Weiner CIA – Die ganze Geschichte S. Fischer; 22,90 Euro 9 (14) Wilhelm Schmid Glück – Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist Insel; 7 Euro 10 (–) Esma Abdelhamid Löwenmutter (5)

W. Krüger; 17,90 Euro

Carlsen; 24,90 Euro

8

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Philip Roth Exit Ghost Hanser; 19,90 Euro

9

(9)

Cornelia Funke Tintentod C. Dressler; 22,90 Euro

10

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Hans Magnus Enzensberger Hammerstein oder Der Eigensinn Suhrkamp; 22,90 Euro

11 (16) Andrea Maria Schenkel Kalteis Edition Nautilus; 12,90 Euro

12 (15) Milena Agus Die Frau im Mond Hoffmann und Campe; 14,95 Euro

Rhonda Byrne The Secret – Das Geheimnis Goldmann; 16,95 Euro Eduard Augustin / Philipp von Keisenberg / Christian Zaschke Ein Mann – Ein Buch

Peter Scholl-Latour Zwischen den Fronten Propyläen; 24,90 Euro 12 (8) Andrew Morton Tom Cruise – Der Star und die ScientologyVerschwörung Droemer; 19,95 Euro 13 (13) Markus Lanz Und plötzlich guckst du bis zum lieben Gott – Die zwei Leben des Horst Lichter 11

(7)

Gütersloher Verlagshaus; 19,95 Euro

14 (10) Manfred Lütz Gott – Eine kleine Geschichte des Größten Pattloch; 19,95 Euro

15

(–)

13 (14) Cornelia Funke Tintenblut

Steffen Möller Viva Polonia Scherz; 14,90 Euro

C. Dressler; 22,90 Euro

14 (12) Tommy Jaud Millionär Scherz; 13,90 Euro

15 (11) Cornelia Funke Tintenherz C. Dressler; 19,90 Euro

16 (10) Nick Hornby Slam Kiepenheuer & Witsch; 17,95 Euro

17 (18) Stephenie Meyer Bis(s) zur Mittagsstunde Carlsen; 19,90 Euro 18 (13) Jan Seghers Partitur des Todes Wunderlich; 19,90 Euro

19

(8)

Andrea Maria Schenkel Tannöd Edition Nautilus; 12,90 Euro

20 (17) Henning Mankell Die italienischen Schuhe Zsolnay; 21,50 Euro 166

Der in Warschau lebende Kabarettist erklärt in Witzen und Anekdoten seine Wahlheimat – und bekräftigt Klischees

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(9)

Richard Dawkins Der Gotteswahn Ullstein; 22,90 Euro

17 (12) Eva-Maria Zurhorst / Wolfram Zurhorst Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise Goldmann; 18,95 Euro

18 (11) Eric Clapton Mein Leben Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro

19 (16) Roberto Saviano Gomorrha Hanser; 21,50 Euro

20 (15) Eliette von Karajan Mein Leben an seiner Seite Ullstein; 22,90 Euro d e r

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Roche: Mit einer Kinderfrau und einem

vernünftigen Zeitmanagement. Die Leute fragen sich, wie man es schafft, Feministin zu sein und trotzdem mit Männern zusammenzuleben. Meine Antwort lautet: Man muss sich als Frau mit einem Feministen zusammentun. Wenn der Ehemann selber Feminist ist, läuft alles glatt. SPIEGEL: Ein feministischer Mann: Was dürfen wir uns darunter vorstellen? Roche: Der feministische Mann schließt keine Arbeit mit der Begründung aus, dass er ein Mann ist. Meine Männer haben immer mehr im Haushalt gemacht als ich. Mein Mann backt sogar wie eine Weltmeisterin. SPIEGEL: Sie werden demnächst 30. Ihr wohl berühmtester Moment als TV-Moderatorin war der, als Sie den Popstar Robbie Williams fragten, ob er sein eigenes Sperma schon mal geschluckt habe. Ist es manchmal anstrengend, so frech zu sein? Roche: Ich freue mich, diese Geschichte über mich nun zu korrigieren. Robbie Williams war an diesem Tag kaum ansprechbar, er wirkte betäubt, ich glaube, er war auf Psychopharmaka. Auf die zugegebenermaßen öde Frage, was er privat für Musik höre, kam die Antwort: „In meinem Auto läuft nur meine eigene Musik.“ Mir ist daraufhin der spontane, inhaltlich aber durchaus sinnvolle Spruch unterlaufen: „Als Musiker seine eigene Musik zu hören, das ist ja wie sein eigenes Sperma zu trinken.“ Also, ich bin gar nicht so frech. SPIEGEL: Als Moderatorin wirkten Sie frischer und subversiver, als es im Massenmedium Fernsehen sonst erlaubt ist. Zeitweise haben Sie es geschafft, eine Minderheitenposition, den Standpunkt des Hipsters, im Fernsehen zu behaupten. Nach zehnjähriger Karriere als Außenseiterin im Fernsehen – wie lautet Ihr Fazit? Roche: Es war unglaublich anstrengend. Ich bin ja bei jedem Sender, egal ob Viva 2, ProSieben oder Arte, im schlimmsten Streit gegangen. Es ging darum, mein Format, meine Freiheit gegen den Stumpfsinn der Bürokraten zu verteidigen: selber schneiden, selber bestimmen dürfen, was ausgestrahlt wird. Es ist der klassische Konflikt: Coole Leute wie früher Harald Schmidt, die haben sich immer verweigert. SPIEGEL: Ist das Fernsehen für Sie eine abgehakte Sache? Ihre Show „Wahrheit oder Pflicht“ war nur noch im Internet zu sehen. Roche: Ich versuche es demnächst noch einmal mit einer schönen Sache bei 3sat. Das Konzept ist: Ich treffe unvorbereitet auf einen mir fremden Menschen mit einem mir noch fremderen Beruf. Die erste Sendung heißt „Charlotte Roche unter Jägern“. SPIEGEL: Eine Skandalautorin, klingt das gut für Sie? Roche: Wenn ich Französin wäre, dann wäre das schick. Aber eine deutsche Skandalautorin? Das klingt gefährlich nach Eva Herman. SPIEGEL: Frau Roche, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


Süß und gefällig Nahaufnahme: Der spanische Regisseur Rafael Alvero stellt in Madrid eine singende und tanzende Anne Frank auf die Musicalbühne.

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MONDELO / PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); FRIEDRICH / INTERFOTO (O.)

omben explodieren, Maschinenge- deportiert. Seit Vater Otto Frank, einziger Denn das Libretto kommt ohne wörtliche wehrsalven rattern aus allen Laut- Überlebender, das von holländischen Hel- Zitate aus. Die Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam sprechern. Das Publikum duckt sich fern gerettete Tagebuch 1947 veröffentlichin die kuscheligen roten Plüschsessel des te, haben Generationen von Lesern, gera- dagegen konnte Regisseur Alvero mit der Jugendstiltheaters „Calderón“, das jetzt de auch Jugendliche, sich in den bangen Verheißung zum Mittun bewegen, ein spanisches Musical werde das Drama des jüdizu Ehren des Sponsors „Teätro Häagen- Alltag der Untergetauchten eingefühlt. Diese Wirkung will jedoch der spani- schen Mädchens aus Holland bis zu den Dazs“ heißt. Graue Schatten wabern auf den übereinandergetürmten Videobild- sche Produzent und Regisseur Rafael Al- Kindern Lateinamerikas tragen. Für die Rolschirmen am Bühnenrand. Da redet eine vero noch überbieten: „Für mich ist die le der Anne hat er per Internet die gebürtimartialische Stimme Kauderwelsch, das Musik das Mittel, das am besten Gefühle ge Kubanerin Isabella Castillo gecastet. Bei der Generalprobe in Madrid am verausdrückt.“ Nur so könne man heute noch mit „Heil Hitler“ endet. Und schon geht der transparente Vor- die Jugend in aller Welt für die Vergan- gangenen Donnerstag bestätigten sich die hang hoch. Ein Mann mit einem Buch im genheit interessieren. Und Anne Franks Befürchtungen des in der Schweiz lebenkarierten Einband tritt in das aufgeschnit- Geschichte schien ihm der Stoff, aus dem den Vetters. Noch nie ist Nazi-Grauen so süßlich präsentiert worden, mit Blüten und tene Puppenhaus, wo sich eine Familie um „tragische Opern“ gemacht sind. Seit Alvero mit seinem Sohn vor mehr Schleifen, Schäferhunden, blutroten Haeinen Geburtstagskuchen versammelt hat. Davor drängelt sich allerhand Volk, Frau- als zehn Jahren die engen Kammern des kenkreuzbannern und der untergetauchten Jüdin Auguste van Pels als en in bunten Kleidern der vollbusigem, blondlockigem dreißiger Jahre, einige mit aufVamp. fallenden Hüten, viele mit imIsabella Castillo, 13, singt posanten blonden Perücken. naiv, „warum sind Menschen Sie fassen sich an den Händen, so grausam zu Menschen“. tanzen Ringelreihen und sinSie trällert im rot-lila Scheingen „Happy Birthday“ auf werferlicht verklärt über Spanisch. Ein hochaufgeschos„mein liebes Radio der Hoffsenes Mädchen mit hellen Kornung“. Beim Duett mit ihrem kenzieherlocken bekommt das Schwarm Peter, gespielt von Buch überreicht. einer blonden Belcanto-HoffAlsbald gleitet eine Frau im nung namens Paris, werden die knallroten, tief ausgeschnitteZuschauer mit einer zuckerinen Abendkleid aus der Kulisgen Kuss-Szene gerührt. se. Sie ist die Kitty, Anne Die Hauptdarstellerin steht Franks imaginäre Freundin, an zum ersten Mal auf der Bühne. die das Tagebuch gerichtet ist. „Das Tagebuch der Ana Frank Gleich fangen sie an zu tanzen. bedeutet praktisch alles für So klamaukig, mit viel mumich“, bekennt Isabella Castilsikalischem Schmalz aus Violilo. Sie habe Gemeinsamkeiten nen, Akkordeon und Klarinette untermalt, startet jetzt in Szene aus Anne-Frank-Musical: „Grauenhaft, was da gemacht wird“ entdeckt, denn ihre Mutter, die Sängerin Delia Díaz de Madrid eines der heikelsten Unternehmen, die sich eine Bühne vor- Amsterdamer Hinterhauses besichtigt hat, Villegas, nutzte vor Jahren ein Gastspiel nehmen kann: „El diario de Ana Frank“, fühlt er sich, wie er beteuert, „so solida- in Belize, um mit ihrer Tochter aus Fidel das Tagebuch der Anne Frank als Musi- risch, so bewegt“. Den Mut des Mädchens, Castros Diktatur nach Miami zu entschlüpcal, inszeniert mit dem Untertitel „Ein „seine Fröhlichkeit in widriger Umge- fen. Da habe man sich auch verstecken Gesang an das Leben“. Eine Weltpremie- bung“, bewundere er. Da habe er seinen müssen. Für die Interpretation der Anne re, 22 Songs in zwei Akten und auf 27 Sze- Beitrag leisten müssen. Er gab keine Ruhe, Frank habe sie „diese Erfahrung“ genutzt. Die Banalisierung des erschütternden bis er sein Holocaust-Musicalspektakel auf nen verteilt. Schicksals der weltberühmten TagebuchÜber 30 Millionen Menschen haben die die Madrider Bühne gebracht hatte. In Basel bemühte sich der Spanier schreiberin hat beim spanischen Publikum in 60 Sprachen übersetzten Aufzeichnungen gelesen, die Annelies Marie Frank, ge- beim Anne-Frank-Fonds um die Rechte. vergangene Woche weder Betroffenheit boren in Frankfurt am Main, zwischen Juli Der einzige lebende Angehörige, Buddy noch Rührung ausgelöst. Nach den gefüh1942 und August 1944 niederschrieb. Mit Elias, 82, lehnte ab: „Ich finde es grauen- ligsten Nummern, etwa bei Annes Verseinen Eltern, seiner Schwester und vier haft, was da aus dem Schicksal meiner mächtnis „Wenn Gott mir das Leben Bekannten musste sich das jüdische Mäd- Cousine und ihrer Familie gemacht wird.“ schenkt, werde ich es weit bringen“, gab es chen in einem Hinterhaus an der Amster- Mit einem unterhaltsamen Gesangsabend Ovationen für die Sänger. Geweint hat niemand, einige lachten damer Prinsengracht 263 vor den Nazis werde man Anne Frank nicht gerecht. „Ich versteckt halten. Drei Tage nach dem letz- habe größte Angst vor Kitsch.“ Doch ver- Tränen, so manche blieben nach der Pauten Eintrag wurden die acht entdeckt und bieten konnte Elias das Musical nicht. se lieber beim Eis im Foyer. Helene Zuber d e r

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(stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder, Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Catrin Hammy, Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, MarieOdile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate Kemper-Gussek, Jan Kerbusk, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Nadine Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola Naber, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Marko Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger N A C H R I C H T E N D I E N S T E AFP, AP, dpa, Los Angeles Times /

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Register und eben in der Malerei. Er schloss sich der Künstlergruppe ZEN 49 an, stellte auf der Biennale und der Documenta aus, lehrte in Stuttgart und zog als „Maler ohne Atelier“ umher. K. R. H. Sonderborg starb am 18. Februar in Hamburg.

gestorben

stets größer als seine Auflagen. RobbeGrillet war ein Autor für die Literaturseminare und für Intellektuelle, weniger einer für die Massen. Der Bretone, der 1943 ein Jahr lang Arbeitsdienst in Nürnberg geleistet hatte, studierte Agrarwissenschaften und arbeitete, bevor er sich der Literatur zuwandte, am Nationalinstitut für Statistik in Paris. Er wurde einer der großen Theoretiker des Romans, einer neuen Art, die Schluss machte mit überkommenen Erzählgewohnheiten: Der Roman sollte nicht mehr eine kohärente Welt

Alfred Klaus, 88. Seinen Spitznamen „Fa-

erschaffen wollen, nicht Sinnhaftigkeit vortäuschen, und er sollte sich vor Psychologie hüten. Das rigorose Theoriekonstrukt nannte sich „Nouveau Roman“, und neben Robbe-Grillet, der es in Büchern wie „Die Jalousie oder die Eifersucht“ mehr oder weniger getreu umsetzte, gehörten Nathalie Sarraute, Michel Butor und Claude Simon zum Kreis der Rebellen. Gegen Ende seines Lebens lockerte Robbe-Grillet für sich sein Regelwerk, wurde in die altehrwürdige Académie française aufgenommen, mit der er ein kindliches Spielchen der Verweigerung von Traditionen aufführte, und bekam noch einmal einen Popularitätsschub durch frivole Romane, in denen er, etwas schmuddelig, den erotischen Reiz blutjunger Mädchen beschwor. Alain RobbeGrillet starb am 18. Februar in Caen.

Klaus-Dieter Baumgarten, 76. Der DDRGeneraloberst richtete ab 1949 das Gewehr auf das eigene Volk. Der gelernte Zimmerer musterte bei den „bewaffneten Organen“ an und war zunächst Offizier und Ausbilder bei den „Inneren Truppen“. Sechs Jahre lang schulten die Russen den Hardliner auf ihren Militär- und Generalstabsakademien. Dann war der „Dipl.Mil.“ fit für den härtesten Job und wurde 1979 Chef der DDR„Grenztruppen“. Mitten in Deutschland ließ er Splitterminen vergraben, installierte Stacheldraht, Selbstschussgeräte und „Sperrelemente“. Für elffachen Totschlag und fünffach versuchten Totschlag wurde er 1996 zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt und verbüßte – völlig uneinsichtig – nur gut die Hälfte der Strafe, dann wurde er – ohne Begründung – begnadigt. Klaus-Dieter Baumgarten starb am 17. Februar in Zeuthen bei Berlin. Franz Schneider, 82. Millionen Deutsche

K. R. H. Sonderborg, 84. Seine Malerei ist abstrakt, trotzig, eindrucksvoll, meistens schwarzweiß. Kurt Rudolf Hoffmann, Sohn eines Jazzmusikers, der sich später, angelehnt an seinen dänischen Geburtsort, den Künstlernamen Sonderborg gab, war schon als junger, dandyhaft gekleideter Kaufmannslehrling ein Unangepasster. Wegen seiner Vorliebe für Swing wurde er 1941/42 im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert. Nach dem Krieg entwickelte er, dem seit Geburt die rechte Hand fehlte, eine Ruhelosigkeit: im Leben 170

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verbinden ihr erstes gelesenes Buch mit seinem Namen. „Onkel Franz“, wie sich der Münchner Jugendbuch-Herausgeber von seinen Lesern gern nennen ließ, übernahm mit 21 den von seinem Vater 1913 in Berlin gegründeten Verlag. Sein Ziel: jungen Menschen zu zeigen, „wie es wirklich auf der Welt zugeht“. Diesem Anspruch wurden die Schneider-Bücher („Hanni und Nanni“, „Käpt’n Konny“) zwar nicht immer gerecht, aber die „Erwachsenen, die ja die Bücher meist kaufen, wollen es so“ (Schneider). Sein Geschäft baute er zum größten deutschen Kinderbuchverlag aus, bevor er es 1985 an die dänische EgmontGruppe verkaufte. Franz Schneider starb am 19. Februar in München.

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milienbulle“ bekam der legendäre Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) von der Terroristin Ulrike Meinhof. Der geborene Königsberger war 1953 zum BKA gekommen und 1971 mit dem Aufbau der Sonderkommission „Baader/Meinhof“ betraut worden. Klaus erarbeitete sich nicht nur akribisch die ideologischen Grundlagen der Roten Armee Fraktion, sondern besuchte auch systematisch Eltern und Verwandte von Terroristen. Alfred Klaus, dessen Memoiren im Frühjahr erscheinen, starb am 16. Februar in Hamburg.

ROLF HAID / PICTURE-ALLIANCE / DPA

CHRISTIAN CHARISIUS / REUTERS

Alain Robbe-Grillet, 85. Sein Ruhm war


Personalien Jeanne Cherhal, 29, französische Sänge-

Koma und liegt heute in einem Krankenhaus bei Tel Aviv. Die Ärzte halten es für unwahrscheinlich, dass der General a. D. mit dem Spitznamen „Bulldozer“ jemals aus dem Dauerschlaf erwacht. An diesem Dienstag, einen Tag bevor Sohn Omri seine Haft antritt, wird Ariel Scharon 80 Jahre alt.

rin, sorgt mit ihrem jüngsten Chanson für Wirbel. Die Künstlerin ließ sich offenbar von einer angeblichen SMS inspirieren, die Präsident Nicolas Sarkozy laut der Internet-Seite des französischen Nachrichtenmagazins „Nouvel Observateur“ kurz vor seiner Hochzeit mit Carla Bruni an seine Ex-Frau Cécilia geschrieben haben soll: „Wenn du zurückkommst, dann sage ich alles ab.“ Der Präsident hatte die Meldung sofort als Fälschung dementiert und Anzeige erstattet. Cherhal komponierte nun eine melancholische Ballade über eine verlorene Liebe, die Reue über böse Worte und gelegentliche Seitensprünge. Die Sängerin stellte ihr neues Chanson „Si tu reviens“ auf ihre persönliche Seite von „Myspace“. „Das Lied war ursprünglich nur für Myspace gedacht. Das ist ein Raum für Freiheit, spontan und kurzlebig“, erklärt Cherhal zu der Aufregung um den Text unschuldig. Man könne ohnehin nie wissen, woher die Inspiration kommt: „Ich bin eben eines Tages aufgewacht und hatte diesen Satz im Kopf. Die Musik folgte dann ganz von Cherhal selbst.“ CATARINA ERIC / LAIF

Klaus Zumwinkel, 64,

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Omri und Ariel Scharon (2004) 172

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Ariel Scharon, 79, seit zwei Jahren im Koma liegender ehemaliger israelischer Ministerpräsident, wird fürs Erste keinen Besuch mehr von seinem ältesten Sohn Omri bekommen. Nach wiederholtem Aufschub muss der 43-Jährige in dieser Woche eine siebenmonatige Gefängnisstrafe antreten. Der Ex-Parlamentsabgeordnete wurde verurteilt, weil er mit Hilfe von Scheinfirmen illegale Spendengelder in Millionenhöhe gesammelt und damit den Wahlkampf seines Vaters finanziert hatte. Zwar fiel das Urteil über Omri Scharon schon vor zwei Jahren, sein Haftantritt wurde aber mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand seines Vaters immer wieder verschoben. Ariel Scharon fiel im Januar 2006 nach einem Schlaganfall ins

Deutschlands wohl berühmtester Steuersünder, hat durch seine Begegnung mit der Staatsanwaltschaft vorvergangenen Donnerstag einen für ihn wesentlich angenehmeren Termin verpasst. Der inzwischen zurückgetretene PostBoss sollte just an diesem Valentinstag in der obersten Etage des Bonner Post Towers ein Büchlein mit dem Titel „Bonn – Wo es am schönsten ist“ vorstellen. Darin äußern sich 77 Promis und andere Bonner über ihre Lieblingsplätze in der Stadt, die ehemals das Parlament und die Regierung beherbergte. HansDietrich Genscher, Jürgen Trittin und Jürgen Rüttgers sind mit von der Partie. Zumwinkel erklärt in dem Sammelwerk, dass die Vorstandsetage mit seinem Büro in dem mit 162,5 Metern höchsten Bauwerk Nordrhein-Westfalens der schönste Ort für ihn überhaupt sei. Mitherausgeber Sten Martenson Bernie Ecclestone, 77, unzitiert seit der geplatzten gekrönter König der Formel 1, Buchvorstellung öfter mal hat den Versuch einer Beleidigung Lästermäuler aus dem in ein Kompliment umgewandelt. Im Laufe einer Turm, dass man „von da Auseinandersetzung mit Gästen seines Hotels im oben bis Bochum und bis schweizerischen Gstaad über die Höhe der Getränkenach Liechtenstein gucken“ rechnung nannte einer der Kontrahenten den knapp könne. 1,60 Meter zierlichen Motorsport-Giganten einen „Hobbit“ – ganz offensichtlich mit der Intention, ihn zu kränken. Der Vergleich mit den putzigen PhantaFidel Castro Ruz, 81, scheisiegestalten des Schriftstellers J. R. R. Tolkien focht dendes Staatsoberhaupt von Ecclestone, der seit über 20 Jahren mit der großgeKuba, ist für den Ruhestand wachsenen Slavica, 49, verheiratet ist, jedoch nicht modisch gut gerüstet. Aus den Beständen der kubanian – er wusste gar nicht, was ein Hobbit ist. Doch seischen Olympia-Mannschaft ne Neugier war geweckt, und so schlug er den Begriff besitzt der zu aktiven Zeinach. Danach verkündete er: „Mir ist klargeworden, ten meist in olivfarbenen dass ich tatsächlich ein Hobbit bin; Hobbits sind Kampfanzügen der Revoluwinzig und wunderbar, und das bin ich auch.“ tion gewandete Altsozialist d e r

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Frank-Walter Steinmeier, 52, für seine

FRANK OSSENBRINK

kühle Distanziertheit bekannter Bundesaußenminister, kann auch anders. Als frischgekürter Grünkohlkönig der niedersächsischen Stadt Oldenburg ließ er vergangenen Montag zu fortgeschrittener Stunde alle Zurückhaltung fahren und posierte ausgelassen mit Ina Müller, 42, Kabarettistin und NDR-Moderatorin („Inas Norden“), vor der Kamera. Müller, in diesem Jahr Vorsitzende des Kuratoriums zur

Müller, Steinmeier

Jean-Baptiste Prévost, 23, Präsident des nationalen französischen Studentenverbandes UNEF, hat mit einer schockierenden Kampagne dazu beigetragen, die Wohnungsnot der französischen Studenten zu lindern. Nur 7 Prozent aller Studierenden in Frankreich finden laut UNEF einen Platz im Studentenheim, rund 80 Prozent leben noch bei ihren Eltern. Um darauf aufmerksam zu machen, hat UNEF ein Plakat kreiert. Das Bild zeigt ein junges Pärchen beim Sex, Seite an Seite mit den Eltern im selben Bett. „Das Bild sollte aufrütteln, damit die Politiker endlich auf unsere Probleme reagieren“, erklärt Prévost seine Idee zu dem provokanten Poster, das seit Ende Januar landesweit an den Universitäten aushängt und seither sowohl begeisterte Zustimmung als auch entsetzte Reaktionen auslöst. Konkrete Folgen sind nun auch zu erwarten: Das Hochd e r

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KAREL PRINSLOO / AP

mehrere Trainingsanzüge in den kubanischen Nationalfarben Rot-Weiß-Blau des Herstellers Adidas aus dem fränkischen Herzogenaurach. Die teilweise mit Namenssignet „F. Castro“ versehenen Sportjacken kamen schon bei Besuchen von Brasiliens Staatschef Luiz Inácio „Lula“ da Silva, dem ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter oder von Venezuelas Staatsoberhaupt Hugo Chávez zum Einsatz – und aufs Foto. Die offenkundige Vorliebe Castros wird in der fränkischen Firmenzentrale mit Wohlwollen gesehen. Einen Werbevertrag mit dem Máximo Líder gebe es allerdings nicht; die sportiven Kleidungsstücke seien nicht käuflich zu erwerben.

Chelsea Clinton, 27, Tochter der US-Präsidentschaftsanwärterin Hillary Clinton, die bisher im Wahlkampf an der Seite ihrer Mutter weitgehend stumm geblieben war, ist zum ersten Mal allein aufgetreten. Chelsea, in ihrer Ablehnung von Pressekontakten so konsequent, dass sie kürzlich sogar eine neunjährige Kinderzeitungsreporterin abwies, lud zu einer ausführlichen Frage-und-Antwort-Runde am Sinclair Community College in Dayton, Ohio. Fast tausend Studenten folgten ihrem Ruf. Die junge Frau betrat damit Feindesland – die US-Campi gelten gemeinhin als ObamaTerritorium, der stärkste Konkurrent Hillary Clintons ist der Favorit vieler Studierender. Souverän und bestens informiert bestritt Chelsea Clinton die Veranstaltung. Eigene politische Ambitionen habe sie nicht, versicherte sie ihrem Auditorium, und ihr ehemaliges Zimmer im Weißen Haus wolle sie auf keinen Fall zurück, falls ihre Mutter die Präsidentschaft gewinne: „Ich bin 27 Jahre alt, ich liebe meine Eltern sehr, aber ich will nicht wieder mit ihnen zusammenwohnen.“

Madonna, 49, millionenschwere Popsängerin, die daran gewöhnt ist, zu bekommen, was sie will, musste eine Schlappe einstecken. Die Musikerin mit Kultstatus zu Lebzeiten hat eine Dokumentation über Waisenkinder in Malawi gefilmt und hatte vergebens versucht, den ehemaligen UnoGeneralsekretär Kofi Annan zu überreden, darin aufzutreten. Der Film berichtet über die Armut in dem afrikanischen Land, aus dem Madonnas Adoptivsohn David stammt. Ein Grund für die Absage ist nicht

Madonna, Sohn David

genannt worden. Die Sprachregelung in Madonnas Team lautet nun, dass Annan zu einem Auftritt zwar bereit gewesen sei, die „Terminkalender der beiden jedoch nicht zu koordinieren“ gewesen seien.

MILA JEUDY / UNEF

REUTERS

Castro

Wahl des Grünkohlkönigs, bemängelte gegen halb zwei Uhr morgens scherzend, dass Steinmeier die nötige Ernsthaftigkeit für sein neues Amt vermissen lasse; „viel zu lässig“ trage er seine Insignien, so die Sängerin. Steinmeier konterte: „Bei uns in Niedersachsen zählt Prunk nicht so viel, wichtig ist es, mit einer toughen Norddeutschen auf dem Foto zu sein.“ Sprach’s und drückte die überraschte Künstlerin fest an sich. Um seinem Ehrenamt gerecht zu werden, hatte Steinmeier schon früher am Abend angekündigt, dass in der Kantine des Außenministeriums alsbald Grünkohl serviert werden solle.

UNEF-Plakat

schulministerium kündigte kürzlich 620 Millionen Euro zur Finanzierung neuer Studentenwohnungen an. 173


Hohlspiegel

Rückspiegel

Aus dem „Wiesbadener Kurier“: „Als Gäste treten ferner die Sopranistin Joo-Hee Jung und Kammerjäger Francisco Araiza auf.“

Zitate

Aus dem „Wildeshauser Anzeiger am Sonntag“ Aus dem „Tagesspiegel“: „Der Anschlag in der einstigen Taliban-Hochburg könnte einer der tödlichsten seit dem Sturz der radikalislamischen Gruppe Ende 2001 sein.“ Aus den „Kieler Nachrichten“: „Mit weichem Legato, einer eher untypischen Tastentechnik bei Bach, mergelt sie ausdauernde Phrasierungen aus der zwirbeligen Polyphonie; fast romantisch mutet Bach so an, auf spannende Weise entspannt.“

Aus der „Südwest Presse“ Aus dem „Westfalen-Blatt“: „Angesprochen sind alle Schützensenioren (mit Frauen) ab Geburts-Jahrgang 1941 sowie die Witwen der Schützenbrüder, die im Erlebensfall das gleiche Alter erreicht hätten.“ Aus der Münchner „Abendzeitung“: „Das Aufatmen von den Katakomben bis auf die Geschäftsstelle am Tag nach Meyers Rauswurf war gewaltig.“ Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: „Ursprünglich war geplant, die Versorgung und die Sicherheit der Flüchtlinge im tschadischen Grenzgebiet zu Sudan mit europäischen Soldaten zu gewährleisten, die zu Tausenden aus den Kampfgebieten in Darfur in die Grenzregion geflohen sind.“

Aus der „Pforzheimer Zeitung“ Aus dem Buch „Der Klimawandel“, Verlag C. H. Beck: „Aber die Wirtschaftsgeschichte lehrt, dass unter besonderen Bedingungen sehr wohl Fortschrittsschübe entstehen können, welche unsere Gesellschaft dramatisch verändern (Beispiel: Zweiter Weltkrieg).“ 174

Die „Süddeutsche Zeitung“ zum SPIEGEL-Gespräch „,Es wäre eine Revolution‘“ mit dem neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch (Nr. 8/2008): Der erste Schuss gegen den neuen Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz kam gleich am ersten Tag, den Anlass bot ein SPIEGEL-Interview mit Robert Zollitsch. Der Zölibat, die Ehelosigkeit der Priester also, sei zwar „ein Geschenk“, aber „theologisch nicht notwendig“, hatte der Freiburger Erzbischof dort gesagt. Schon am Nachmittag ließ der Regensburger Bischof Gerhard-Ludwig Müller per Pressemitteilung antworten: „In einem schnellen Interview konnte zum Thema Priestertum und Zölibat nicht alles so differenziert gesagt werden, wie es theologischen Ansprüchen genügt“ … Dass Müller ein Interview des Konferenzvorsitzenden derart abqualifiziert, zeigt, wie tief der Unmut der konservativen Fraktion der Bischöfe über die Wahl Zollitschs vergangene Woche in Würzburg ist, wo eine Mehrheit der Hirten den Freiburger wählte und nicht den Münchner Erzbischof Reinhard Marx. Die „Welt“ zur SPIEGEL-PanoramaMeldung „Nebentätigkeiten – Schily schweigt zu Beraterjob“ (Nr. 43/2007): Es ist der erste Fall, in dem der Bundestag einen Verstoß gegen die Ende 2005 eingeführten Regeln moniert und in einer Drucksache veröffentlicht. Schily hat danach Honorare aus seiner Tätigkeit als Anwalt seit Anfang 2006 nicht entsprechend angezeigt. Ein Bericht des SPIEGEL hatte die Sache ins Rollen gebracht. Demnach soll Schily 2007 vom Siemens-Konzern ein Honorar von 140 000 Euro für eine Beratungstätigkeit erhalten haben.

Der SPIEGEL berichtete … … in Nr. 38/1999 „Affären – Das Milliarden-Ding“ über einen israelischen Rechtsanwalt, der mit Hilfe eines Netzes aus dubiosen Firmen Tausende israelische HolocaustÜberlebende betrog und sich an ihren deutschen Renten bereicherte. Der SPIEGEL-Bericht setzte einen der größten Betrugsprozesse in der israelischen Geschichte in Gang. Am Dienstag vergangener Woche wurde Rechtsanwalt Israel Perry vom Tel Aviver Bezirksgericht wegen schweren Betrugs, Unterschlagung und Behinderung der Justiz zu einer zwölfjährigen Haftstrafe ohne Bewährung und einer Geldstrafe von umgerechnet rund vier Millionen Euro verurteilt. d e r

s p i e g e l

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