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Was Individualität und Identität verbindet
Amnesty International erhielt den Friedensnobelpreis im Jahr 1977. Ein Jahr, das nach Ansicht von Philipp Sarasin einen gesellschaftspolitischen Epochenwechsel markiert. Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, erklärt der Schweizer Historiker im Gespräch.
Interview: Anton Landgraf
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Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch das Jahr 1977 als eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Welche Rolle spielt dabei eine Organisation wie
Amnesty International?
Die Geschichte von Amnesty ist Teil einer Entwicklung, in der der Einzelne in den Vordergrund rückt. Das betraf seit Ende der 1970er Jahre alle Teile der Gesellschaft. Es konnte auch eine Punkerin sein, die sagte: Ich gehöre nicht zu dieser Mehrheitsgesellschaft, ich lebe außerhalb der Gesellschaft, wie die US-Sängerin Patti Smith es einmal ausdrückte. Das sind die Entwicklungen, die ich in dieser Zeit verorte. Diese Singularisierung hat sich fortgesetzt, sie ist präsenter denn je.
Amnesty war gewissermaßen ein
Vorbote der Individualisierung?
Ja, oder zumindest ein Ausdruck davon. Bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an Amnesty 1977 wurde das in der Laudatio explizit herausgehoben: Es sei eine Friedensarbeit für den Einzelnen, durch den Einzelnen, die Amnesty auszeichne. Es ist eben nicht eine große Organisation, die handelt, sondern es sind Einzelne, die für Einzelne handeln. Die Idee, sich für individuelle politische Gefangene einzusetzen, war ein großartiges Engagement. Das passt in die Zeit der zunehmenden Betonung des Einzelnen.
Gibt es ein Problem dabei?
Das Problem bei individuellen Men schenrechten ist, dass kollektive Rechte tendenziell ausgeblendet werden. Und die Singularisierung unterläuft in der Tendenz auch das Politische, das kollek tive Handeln und Denken. Das sieht man daran, dass Gewerkschaften und andere kollek tive Interessenverbände seit den 1970er Jahren an Einfluss verloren haben. Auf der anderen Seite ist klar,
Philipp Sarasin ist Professor für Neue Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich. Sein Buch »1977: Eine kurze Geschichte der Gegenwart« ist im Juni 2021 im Suhrkamp-Verlag erschienen.
Foto: Andreas Pein/laif
dass Menschenrechte geschützt werden müssen.
Wieso haben die Menschenrechte damals plötzlich so viel Anerkennung erfahren, nachdem sich lange Zeit nur wenige dafür interessierten?
Die Menschenrechte waren eine Art letzte Utopie für eine Linke, die Ende der 1970er Jahre den Glauben an die Revolution verloren hatte. Der »Deutsche Herbst«, der den Anfang vom Ende der RAF markierte, war zum Beispiel ein solcher Einschnitt. Hinzu kam die Enttäuschung über die Entwicklung in China und der Sowjet union. Diese Linke glaubte nicht mehr an den Gang »der« Geschichte, gemäß marxistischer, letztlich hegelianischer Vorstellung. In dieser Zeit wurde das neue Konzept der Menschenrechte plötzlich attraktiv als etwas, worauf sich alle Seiten scheinbar leicht einigen können. Mit Menschenrechten schließt man niemand aus, sondern per definitionem alle ein.
Sie sprechen in Ihrem Buch von »post ideologischen Helfern«. Doch gab es Idealismus auch davor schon.
Was ist daran neu?
Idealismus ist nichts Neues, aber der post ideologische humanistisch motivierte Helfer ist neu. Und postideologisch meint auch ehemalige Linke, die sich abwenden von ihren Parteien oder von der Revolutionshoffnung und quasi sagen: Das Einzige, was noch bleibt, ist, für den Menschen da zu sein. Ich spreche dabei von einer doppelten Figur. Einerseits gibt es die Figur des Helfers, der sich nun dezidiert auf den Einzelnen bezieht. Auf der anderen Seite steht die Vorstellung des traumatisierten Opfers. Der Einzelne, der verletzt ist und dessen Verletzung das ist, worauf man sich bezieht. Die revolutio näre Linke hat nicht über die Verletzung von Einzelnen nachgedacht. Das war kein Thema. Das war keine Kategorie, auf die man sich bezog. In Revolutionen wird gehobelt, da fallen Späne. Das ist etwas ganz anderes.
Die Individualisierung provozierte eine Gegenreaktion, die Sie unter dem Stichwort Identitätspolitik beschreiben.
Dabei geht es um das Wiederfinden von Gemeinschaften. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die damals erfolgreich einen radikalen Marktliberalismus propagierte, sagte, so etwas wie Gesellschaft (society) gebe es nicht, Gemeinschaft (community) aber sehr wohl. Wenn heute beispielsweise schwarze lesbische Aktivistinnen in Boston diesen Begriff verwenden, dann meinen sie eine spezifische Gemeinschaft und deren gemeinsame Identität. Die Rechten reden hingegen von ethnischer Identität. Und das Ethnische – oder sagen wir es doch, wie es ist: das Völkische – ist eine Reaktion auf die Singularisierung.
Auf der politischen Ebene geht damit ein Angriff auf die Demokratie einher. Das sieht man in den USA, in Polen, in Ungarn oder in Indien sehr deutlich. Dort gibt es im Moment eine dramatische Entwicklung: einen autoritären Ethnonationalismus, der von der Demokratie abrückt. Auch in Deutschland sagen nur noch 70 Prozent der Menschen, dass die Demokratie die beste Staatsform sei. Das ist nicht mehr so viel. Ich habe mich nach der Ver-
»Es ist nicht eine Organisation, sondern es sind Einzelne, die für Einzelne handeln.«
öffentlichung des Buchs gefragt: Bin ich nicht zu pessimistisch? Aber mittlerweile habe ich das Gefühl, nein, das war ich nicht. Man muss ja nur mitverfolgen, was in den USA geschieht, um festzustellen, wie dramatisch diese Entwicklung ist.
Die Individualisierung hat eman zipatorische Rechte gestärkt, aber gleichzeitig die Abgrenzung in der
Gesellschaft gefördert. Finden die
Menschen angesichts fundamentaler
Krisen wie der Klimakrise wieder zusammen?
Vielleicht, ja. Wir brauchen solche Gemeinsamkeiten, sonst drohen der Ethnonationalismus und der Rückzug in Kleinst identitäten. Durch die unglaubliche Integration von Milliarden Menschen über digitale Strukturen wie Facebook oder WhatsApp wurde diese Entwicklung noch verstärkt. Heute leben wir in einer paradoxen Situation: Einerseits gibt es diese hochintegrierte digitalisierte Welt, andererseits erleben wir das Auseinanderbrechen in einzelne kleine »Bubbles«. Und damit das nicht passiert, muss man eine neue Art von Gemeinsamkeit denken können. Wie die zu denken ist? Vielleicht sind es am Schluss doch die Menschenrechte.
Sie beschreiben 1977 als ein Jahr des gesellschaftlichen Aufbruchs, der einen sehr hohen Preis hatte. War dieser Preis zu hoch?
Es gibt einen deutlichen Zugewinn an Diversität, an Sichtbarkeit und an Inklusion. Die Rechte der Einzelnen wurden ungemein gestärkt. Das würde ich auf jeden Fall verteidigen. Und gleichzeitig existiert die Gefahr, dass das gemeinsame Politische verschwindet. Um nur ein banales Beispiel zu nennen: Je niedriger der Organisationsgrad in Gewerkschaften ist, desto mehr gehen die Löhne zurück. Das Solidarische, das Gemeinsame erodiert. Das Auseinanderdriften der Einkommen und Vermögen ist gigantisch. Gleichzeitig entzieht sich eine Klasse von Reichen de facto dem Rechts- und Steuerstaat. Enthüllungen wie die Pandora Papers über Steueroasen zeigen, dass in globaler Dimension eine neue feudale Klasse entsteht. Das ist ein sehr hoher Preis, würde ich sagen. ◆