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Unhold Leopold. Denkmalkritik

Unhold Leopold

Denkmalkritik und politische Entschuldigungen: Nach Jahrzehnten der Ignoranz nimmt die Debatte um die Folgen der belgischen Kolonialzeit an Fahrt auf. Von Till Schmidt

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»Mörder«, »Entschuldigung« oder schlicht blutrote Farbe – auch in Belgien haben Aktivisten während der jüngsten »Black Lives Matter«-Proteste historische Statuen mit antirassistischen Botschaften gekennzeichnet. In der Brüsseler Innenstadt wurde das berühmte Reiterstandbild von König Leopold II. mit Slogans besprüht. In Antwerpen sah sich die Stadtverwaltung sogar gezwungen, eine stark beschädigte Statue des Monarchen aus der Öffentlichkeit zu entfernen.

Im gesamten Land existieren mehr als 25 Statuen, Büsten und Monumente, die dem ehemaligen belgischen König hul - digen. Dazu kommen nach ihm benannte Straßen, Plätze und Parks. Im Zuge der jüngsten Proteste unterzeichneten Zehntausende Menschen Petitionen, in denen die Entfernung einiger oder aller Leopold-II-Statuen gefordert wurde. »Es ist unvorstellbar, dass in Deutschland Statuen von Adolf Hitler stehen oder Plätze nach einem Massenmörder benannt sind«, sagt MireilleTsheusi Robert von der antirassistischen NGO Bamko-Cran.

Die belgische Kolonialherrschaft im Kongo begann 1885 – als Privatunternehmen von Leopold II., der nie einen Fuß auf afrikanischen Boden setzte, sich aber als Philanthrop gerierte mit dem Ziel, Afrika zu »zivilisieren«. In Wirklichkeit ließ er die kongolesische Bevölkerung brutal ausbeuten. Die Zahl der Todesopfer während seiner Regentschaft wird auf bis zu zehn Millionen geschätzt, was beinahe der Hälfte der dama ligen Bevölkerung entspräche. Die Chicotte, eine Peitsche aus Nilpferdleder, sowie verstümmelte Gliedmaßen wurden zu Symbolbildern dieser Zeit.

Die Ausbeutung des Kongo führte in Belgien insbesondere während des Kautschukbooms zu einem wirtschaftlichen Aufstieg. Angesichts internationaler Proteste gegen die »KongoGräuel« sah sich Leopold II. allerdings gezwungen, seine Pri - vatkolonie an den belgischen Staat zu übergeben. In BelgischKongo, wie das Land ab 1908 hieß, gingen die Ausbeutung der Rohstoffvorkommen und die Zwangsarbeit weiter. Auch der Rassismus blieb. »Von offizieller Seite gab es in Belgien bisher keine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte«, sagt Julien Bobineau vom Afrikazentrum der Universität Würzburg. Der Historiker Pedro Monaville spricht sogar von einer »kollektiven Amnesie«, die bis in die 1990er Jahre vorgeherrscht habe. Dass sich das inzwischen geändert hat, führt er auf die zahlreichen Filme, Bücher und Kunstprojekte der vergangenen Jahre zurück. Vor allem aber hebt er die unermüdliche Arbeit zivil - gesellschaftlicher Initiativen hervor.

Eine dieser Organisationen ist das Collectif Mémoire Co - loniale et Luttes contre les Discriminations (CMCLD), das sich ehrenamtlich für eine Dekolonisierung des öffentlichen Raumes einsetzt. »Vor allem in Brüssel bieten wir postkoloniale Stadtführungen an, die der vorherrschenden Geschichtsschreibung etwas entgegensetzen«, erzählt Projektmanagerin Nabila

Als Kolonialverbrecher markiert.

Statue von Leopold II. in Brüssel, Juni 2020.

Foto: Virginia Mayo/AP/pa

Habbida. Derzeit steige die Nachfrage nach den mehrmals monatlich stattfindenden Touren. Geschichtsinteressierte, Schülerinnen und Schüler, Studierende sowie vermehrt auch politisch Verantwortliche nehmen daran teil.

Der Druck steigt

Viele Touren des CMCLD starten am Place Royal in der Brüsseler Innenstadt. »Hier nahm das koloniale Projekt seinen Ausgang, denn an dieser Stelle befand sich die Kolonialbehörde«, erklärt Habbida. 2018 gelang es einer lokalen Initiative unter Beteiligung des CMCLD, einen nahegelegenen Platz nach Patrice Lumumba zu benennen, dem ersten Ministerpräsidenten nach der Unabhängigkeit des Kongo. Er wurde 1961 mit Unterstützung belgischer Geheimdienste ermordet. König Baudouin und Teile der Regierung kannten die Pläne zur Tötung Lumumbas.

Bei der Dekolonisierung des öffentlichen Raumes ist für das CMCLD die Beteiligung von Gruppen und Einzelpersonen aus der afrikanischen und kongolesischen Diaspora zentral. »Es darf nicht sein, dass wieder einmal ohne uns entschieden wird«, sagt Habbida. Das CMCLD unterstützt die Forderung, die Hauptverkehrsachse Boulevard Leopold II in Brüssel umzubenennen. Kürzlich plädierte die Bürgermeisterin der Gemeinde Molenbeek, Catherine Moureau, für ein entsprechendes Referendum in der gesamten Region Brüssel.

Neben der Arbeit im öffentlichen Raum hat sich das CMCLD auf eigene Angebote und politische Beratung im Bildungsbereich spezialisiert. Das liegt auch daran, dass das Thema belgische Kolonialgeschichte nicht zum verpflichtenden Teil der Lehrpläne in weiterführenden Schulen gehört. Auch an den Universitäten gab es lange Zeit große Defizite, erzählt der Historiker Romain Landmeters von der Universität Saint-Louis in Brüssel: »Man musste sich bereits stark für das Thema interessieren, um Wege zu finden, sich damit auch wissenschaftlich auseinanderzusetzen.« Landmeters zufolge haben die »Black Lives Matter«- Proteste den Druck verstärkt, sich der Kolonialvergangenheit zu stellen. Er begrüßt es, dass das Parlament der Region Brüssel beschlossen hat, ein Komitee zur Dekolonisierung des öffentlichen Raums einzusetzen, und dass Abgeordnete die Kolonialgeschichte stärker in den Schullehrplänen verankern wollen. »Königshaus und Regierung äußerten sich in Bezug auf die koloniale Vergangenheit bisher sehr zaghaft«, erklärt Julien Bobineau. Im Jahr 2000 gestand der damalige Ministerpräsident Guy Verhofstadt zwar ein, man habe dem Genozid in Ruanda 1994 tatenlos zugesehen. Unbeachtet blieben dabei jedoch die Auswirkungen der eigenen Kolonialherrschaft in Ruanda-Urundi von 1918 bis 1961. In dieser Zeit wurden dort Gruppenidenti - täten der »Hutu« und »Tutsi« extrem verstärkt und rassistisch fixiert. Daraus entstand eine ideologische Grundlage für den späteren Genozid.

Aufsehenerregende Buchveröffentlichungen wie Adam Hochschilds »King Leopold’s Ghost« (1998) oder Ludo de Wittes Enthüllungen über die belgischen Verstrickungen in den Mord an Lumumba (2001) erhöhten Bobineau zufolge den Druck auf das Königshaus und die Regierung, sich konkreter zur eigenen kolonialen Vergangenheit zu äußern. 2002 entschuldigte sich der damalige Außenminister Louis Michel für die Verwicklung belgischer Amtsträger in den Mord an Lumumba. 2019 folgte eine offizielle Entschuldigung dafür, dass 20.000 Kinder weißer belgischer Väter und kongolesischer Mütter am Ende der Kolonialzeit entführt worden waren. Anlässlich des 60. Jahrestages der Unabhängigkeit des Kongo im Juli dieses Jahres äußerte König Philippe in einem Brief an den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi sein »tiefes Bedauern« über die »Akte der Gewalt und Grausamkeit« unter Leopold II. Diese »Wunden der Vergangenheit« brachte Philippe zudem in Zusammenhang mit dem Rassismus im heutigen Belgien. »Für das Königshaus ist das ein sehr großer Schritt, für uns aber nur ein kleiner«, kommentiert Mireille-Theusi Robert. Allein durch die Äußerungen des Königs dürfte sich die Lebenssituation der etwa 250.000 in Belgien lebenden Menschen mit familiärem Hintergrund in der Demokratischen Republik Kongo, in Ruanda und Burundi kaum verbessern. Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, schlechterer Zugang zur Gesundheits - versorgung und rassistische Polizeigewalt sind für People of Color auch in Belgien alltäglich.

Belgische Kolonialgeschichte gehört nicht zum Pflichtteil der Lehrpläne in Schulen.

Arbeit gegen Zwangsarbeit

Usbekistan will die staatlich organisierte Zwangsarbeit beenden. Auf den Baumwollfeldern arbeiteten seit zwei Jahren nur noch Freiwillige, beteuert die Regierung. Nur: Das stimmt nicht ganz. Ein Bericht aus einem Land im Übergang. Von Felix Lill

Umida Niyazova kann den Groll nicht unterdrücken, den sie bei Äußerungen von Regierungsvertretern ihres Heimatlandes verspürt. Auch nach mehr als zehn Jahren nicht. »Meine Gefühle sind wild gemischt, wenn ich das lese, was die in letzter Zeit versprechen.« Die 45-jährige Menschenrechtsaktivistin aus Taschkent würde all dem gern glauben, kann es aber nur bedingt. Denn wäre das Land heute wirklich so liberal, wie behauptet, warum verweigern die Behörden ihr dann die Ausstellung eines neuen Reisepasses? Und warum werden ausländische NGOs noch immer abgewiesen, sobald sie sich in Usbekistan registrieren wollen?

Noch entscheidender ist aber die Frage nach der Zwangs - arbeit. »Die Regierung behauptet, es würde keine Zwangsarbeit mehr geben«, sagt Niyazova in gereiztem Ton am Telefon. »Und das ist schön. Denn immerhin hat sie damit zugegeben, dass es sie in den vergangenen Jahrzehnten sehr wohl gab. Das wurde nämlich lange genug geleugnet.« Nachdem die Journalistin unter anderem über dieses Thema berichtet hatte, wurde sie 2007 inhaftiert und mit einem Berufsverbot belegt. Weil sich Deutschland, das zum damaligen Zeitpunkt die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, für ihre Freilassung einsetzte, landete Niyazova 2008 in Berlin, wo sie seitdem lebt.

In Usbekistan gilt sie jedoch noch immer als Staatsfeindin. Denn das von ihr in Berlin gegründete Usbekische Forum für Menschenrechte beweist anhand geleakter Dokumente sowie mithilfe von Befragungen vor Ort jedes Jahr aufs Neue: »Zwangsarbeit in der Baumwollernte findet in Usbekistan

Gilt in Usbekistan noch immer als Staatsfeindin. Umida Niyazova.

Foto: Amnesty weiterhin statt.« Anders als früher waren es bei der Ernte im Herbst 2019 nicht mehr Schulkinder ab elf Jahren, die auf die Felder geschickt wurden. »Aber Angestellte des öffentlichen Dienstes waren weiterhin betroffen. Wir wissen von rund 100.000 Fällen, gehen aber von deutlich mehr aus.« Umida Niyazova wird wütend, wenn behauptet wird, die Zwangsarbeit gehöre der Vergangenheit an.

Und doch erkennt sie an: »Die Dinge werden besser.« Denn Usbekistan, das mit 32 Millionen Einwohnern größte Land Zentralasiens, bemüht sich seit rund vier Jahren um einen Kurswechsel. Jahrzehntelang war die Agrarnation international isoliert. Der seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 regierende Diktator Islam Karimov hatte eine strikte Abschottungspolitik betrieben. Seit Shavkat Mirziyoyev nach Karimovs Tod im Herbst 2016 die Präsidentschaft übernahm, wurden politische und ökonomische Reformen in Gang gesetzt.

Die Ministerposten besetzte Mirziyoyev teilweise mit jüngerem Personal, das kaum Verbindungen zum alten Regime aufweist und dem Land neues Leben einhauchen soll. Die Grenzen zu den Nachbarländern wurden geöffnet. Die Medien sollen unabhängiger und die Wirtschaft liberalisiert werden. Doch kaum

Foto: Carolyn Drake/Magnum Photos/Agentur Focus

etwas schadet dem internationalen Ansehen Usbekis - tans mehr als die tief verwurzelte Zwangsarbeit.

Es gehört zu den unangenehmen Fakten der usbekischen Geschichte, dass diese gravierende Verletzung von Menschenund Arbeitsrechten erst im letzten Vierteljahrhundert eine Renaissance erlebte. Usbekistan ist der achtgrößte Produzent und fünftgrößte Exporteur von Baumwolle weltweit. Nachdem das Land, das bereits zu Zeiten der Sowjetunion ein wichtiger Agrarproduzent war, 1991 unabhängig wurde, fehlten bald intakte Maschinen für eine breitflächige Bearbeitung der Felder. So war wieder vermehrt Handarbeit notwendig, um die vom Staat gesetzten Produktionsziele zu erreichen.

Für die erste Ernterunde im September ließen sich noch motivierte Pflücker finden, die bei Löhnen von zuletzt umgerechnet sechs Cent pro Kilo rund sechs Euro am Tag verdienen konnten. Doch gegen Ende der Erntezeit, wenn die Pflanzen nur noch ein Zehntel an Ertrag hergeben, mochte sich kaum noch jemand beteiligen. Also zwangen die lokalen Behörden vor allem staatliche Institutionen wie Krankenhäuser und Universitäten, Personal zur Ernte abzustellen.

Bis heute arbeiten jedes Jahr insgesamt 2,6 Millionen Menschen in der Baumwollernte, längst nicht alle freiwillig. Dabei hat sich das Land mit der Zwangsarbeit international diskreditiert. Selbst in der sonst eher pragmatischen Textilindustrie gibt es etwa 300 Unternehmen, von Adidas über H & M bis Zara, die

Damals gab es auf den Baumwollfeldern auch noch Kinderarbeit. Jizzax, Usbekistan, im Jahr 2010.

erklärt haben, keine usbekische Baumwolle zu verwenden, solange dort Menschen zur Arbeit auf den Feldern gezwungen werden. Usbekistans Exportchancen sind daher beschränkt, dabei könnte das Land mit diesem Produkt die höchsten Einnahmezuwächse erzielen.

Mitverantwortlich für den Boykott usbekischer Baumwolle, der unter dem Banner »Cotton Campaign« läuft, ist Umida Niyazova. »Wir verlangen, dass es überhaupt keine Zwangsarbeit mehr gibt«, sagt sie. »Dann werde ich auch gerne alle verantwortungsvollen Unternehmen dazu ermutigen, für ihre Produkte usbekische Baumwolle zu verwenden.« Dabei ist Niyazovas Forum bei weitem nicht die einzige Organisation, die das Fortbestehen von Zwangsarbeit bestätigt. Ein Mitarbeiter einer ausländischen NGO, die in Taschkent ein Büro hat, erklärt, dass man von der Zwangsarbeit wisse. »Wir haben es selbst gesehen.« Er möchte aus naheliegenden Gründen anonym bleiben.

Es sieht so aus, als könnte das harte Mittel des Boykotts nun endlich Erfolg haben, auch wenn dafür zur handelspolitischen Isolation noch eine zweite Krise kommen musste. Denn auch Usbekistan ist gesundheitlich wie ökonomisch stark vom Corona-Virus betroffen. Inmitten der steigenden Arbeitslosigkeit schrieb Arbeitsminister Nozim Khusanov im April einen Brief an die »Cotton Campaign«. Darin bat er um eine sofortige Aufhebung des Boykotts und versprach, man tue »weiterhin alles Mögliche, um alle Formen von Zwangsarbeit zu beenden«. »Jetzt wollen sie mit uns kooperieren«, sagt Niyazova. Das bereite ihr Genugtuung. Allerdings hat die Aktivistin, die mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, auch noch eine private Forderung an ihr Heimatland: »Ich will meine usbekische Staatsbürgerschaft zurück, in Form eines gültigen usbekischen Passes.« Dies wäre eine Voraussetzung, um wieder in das Land einreisen können. »Wenn das möglich wäre, hätte das Land einen großen Schritt gemacht.« Umida Niyazova befürchtet aber, dass die Liberalisierung noch nicht so weit fortgeschritten ist.

Jedes Jahr arbeiten 2,6 Millionen Menschen in der Baumwollernte, längst nicht alle freiwillig.

Mixtape der Migration

Neapel hat eine lebendige Afrobeat-Szene. Seit mehreren Jahren geben lokale Stars HipHop-Workshops für junge afrikanische Flüchtlinge, die in den Migrationszentren der Stadt leben. Der Fotograf Gaetano Massa hat mehrere Sessions begleitet. Der Musiker und Soziologe Mauro Marsu, der gemeinsam mit dem Rapper Oyoshe die Workshops leitet, erläutert das Projekt.

Die an den Workshops der Youthink Association und AICS beteiligten jungen Leute kommen hauptsächlich aus Nigeria, Senegal und Gambia. HipHop ist eine Möglichkeit, das Bedürfnis nach Kommunikation auszuleben, eine ausdrucksstarke Methode, die für eine Art persönliche Revolution sorgt: Alle setzen sich permanent dafür ein, andere und sich selbst zu verbessern.

Mit Hilfe der Jungs richtete ich in einem der Aufnahmezentren ein Homestudio ein, um einen Raum zu haben, in dem wir uns mit Ruhe und Aufmerksamkeit unseren Tracks widmen konnten. Am Ende der Arbeit veröffentlichten wir ein Mixtape mit dem Titel »It’s never too late«.

Das Album besteht aus 20 Tracks, einem Mix aus Geschichten in verschiedenen Sprachen: Englisch, Französisch, Wolof-Senegalesisch, Arabisch, Italienisch und Neapolitanisch. Ein paar Tracks mit Poetry Slam sind auch dabei. Es gab einige Jugendliche, die bereits Erfahrung im musikalischen Bereich hatten, und andere, die sich zum ersten Mal dem Beat und dem Schreiben eines Songs näherten. Auch diejenigen, die bei Null begannen, konnten sich in wenigen Monaten in einem Studio anmelden. Nachdem wir mit den Jugendlichen einige Stücke vorbereitet hatten, traten wir in fünf Konzerten live auf.

Ihre Texte erzählen von dem harten Weg, der sie nach Italien führte, von den schrecklichen Schwierigkeiten der Reise, von den Problemen ihres Heimatlandes. Aber sie handeln auch von Erlösung, von Liebe und von dem Wunsch, zu feiern und Spaß zu haben. Es sind Geschichten von Zugehörigkeit, von erzwungener Migration und von dem Traum, etwas Neues aufzubauen. Das passt gut zur Kulturgeschichte Neapels und Kampaniens, die unter dem Einfluss unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und verschiedener musikalischer und kultureller Impulse entstanden ist.

Das Mixtape »It’s never too late« ist hörbar auf dem SoundCloud-Profil »Youthink

Association«

Nigga-Thieuf (links) ist ein senegalesischer Künstler und Produzent mit einer Leidenschaft für den Rap. 2007 wurde er bei einem Wettbewerb für den Fernsehsender 2STV entdeckt. Es folgte sein erstes Album »Wassila«. Er arbeitet eng mit neapolitanischen Künstlern und Musikern zusammen. Sein neues Album mit dem Titel »Senegalité« wird demnächst veröffentlicht. DJ Sass Man (rechts) wurde im Senegal geboren und wuchs in Gambia auf, wo er studierte. Er ist einer der wichtigsten DJs der »Teranga«-Szene Neapels.

Nachwuchs an de

n Hooks. Im Bild unten links arbeitet Mauro Marsu (2.v.l.) mit den jungen Musikern an ihren Texten. Unten rechts berät Rapper Oyoshe (re.) einen Teilnehmer.

Die Stimme der Frauen

In Indien ist die Corona-Pandemie außer Kontrolle geraten. Am härtesten trifft sie die Ärmsten der Gesellschaft und die Frauen. Sie könnten mühsam erkämpfte Rechte in der Corona-Isolation wieder verlieren, warnt die Verlegerin Urvashi Butalia, deren feministisches Verlagshaus in Neu-Delhi ebenfalls unter der Krise leidet.

Am 22. März, um acht Uhr abends, kündigte der indische Premierminister als Reaktion auf die Ausbreitung des Corona-Virus einen ausgedehnten Lockdown an. Die Ausgangssperre werde in vier Stunden beginnen.

Die Mitteilung verbreitete Panik. Die Menschen stürzten los, um Vorräte zu kaufen und vergaßen dabei alle Abstandsregeln. Aber es war später Abend, die meisten Geschäfte hatten bereits geschlossen. Am nächsten Morgen sah sich Indiens gewaltige informelle Arbeiterschaft ausgesperrt – mehr als 70 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Millionen Menschen, die meisten von ihnen Migranten aus ländlichen Gegenden, durften nicht mehr an ihre Arbeitsplätze und hatten keinerlei Information, was ihre Jobs und ihre Löhne betraf.

Bald schon hatten sie kein Geld mehr. Die Vermieter warfen sie hinaus. Ihre Ersparnisse waren aufgebraucht. Zunächst schliefen sie auf den Straßen, noch in der Hoffnung, die Regierung würde sie versorgen. Als dies nicht geschah, beschlossen sie, in ihre Heimatorte zu fahren. Aber es gab keine Verkehrsmittel mehr. Millionen Menschen begannen, zu Fuß zu gehen, Tausende von Kilometern, ohne Nahrung und Wasser. Viele starben.

In unserem kleinen, unabhängigen feministischen Verlagshaus in Neu-Delhi hatten wir bereits vor der offiziellen Ausgangssperre beschlossen, von zu Hause aus zu arbeiten. Wir hatten gedacht, wir könnten die Zeit nutzen, um vieles nach - zuholen, und dann wieder zur Arbeit zurückkehren. Doch der Lockdown wurde verlängert und verlängert, und unsere Lage verschlechterte sich zusehends. Denn wie die meisten kleinen Unternehmen haben wir keine Ersparnisse und keinen Puffer. Wie würden wir überleben?

Wie alle Industrieunternehmen wurden auch die Druckereien geschlossen. In »normalen« Zeiten nehmen wir so vieles als selbstverständlich hin. Eine Krise zeigt uns aber, wie stark die unterschiedlichen Bereiche unseres Alltags miteinander verbunden sind. Wenn nur ein Glied in der Kette fehlt, kollabiert alles. Neu-Delhi ist zwar Indiens Verlagshauptstadt. Die meisten Druckereien befinden sich jedoch ringsum in den benachbarten Bundesstaaten. Sind die Bücher gedruckt, müssen sie Grenzen überqueren, um in die Lager des Vertriebs zu gelangen. Doch weil die Grenzen geschlossen waren, kamen die Buchlieferungen zum Stillstand. Buchhandlungen, Schulen und andere Bildungseinrichtungen wurden geschlossen. Unsere Lebensader, der Bücherverkauf, war durchtrennt.

In Ländern, in denen es nur wenige Buchläden gibt, haben sich viele Verlegerinnen und Verleger dem Onlinehandel zugewandt. Doch sogar der wurde jetzt eingeschränkt. Onlineshops durften nur »essenzielle«, also lebensnotwendige Artikel anbieten und Kurierdienste nur solche Produkte ausliefern. Das warf für uns eine Reihe von Fragen auf. Sind auch Bücher »essenziell«? Was ist wichtiger – Nahrung für den Magen oder Nahrung für den Geist? Zeigten unsere Sorgen um den bevorstehenden Zusammenbruch des Verlagswesens vielleicht den Klassenunterschied, ignorierten wir die Krise auf unseren Straßen?

Eines Tages rief ein Freund aus Italien an. Er war froh, denn sein Land hatte begonnen, sich wieder zu öffnen. Aber der

»Was ist wichtiger – Nahrung für den Magen oder Nahrung für den Geist?«

Mundtot. Frauen finden wegen der Isolation in der Corona-Krise kaum noch Gehör. Straßenszenen aus Guwahati im nordöstlichen Bundesstaat Assam.

Freund war auch wütend. »Stell Dir vor«, sagte er. »Sie haben die Buchläden geöffnet! Können die damit nicht warten? Bücher sind doch nun wirklich nicht lebensnotwendig.«

Das zwang uns zum Nachdenken: Wo in der Hierarchie der Bedürfnisse platziert man Wissen? Die Frage war nicht leicht zu beantworten. Wir hatten das Gefühl, wir können uns das auch nur deshalb fragen, weil wir privilegiert sind und uns keine Sorgen um unser Essen machen müssen. Für diejenigen auf den Straßen, die von Hunger verfolgt waren, würde sich diese Frage gar nicht erst stellen. Warum, so fragten wir uns, machen wir uns solche Sorgen um unser Überleben? Interessierte das wirklich jemanden?

Diese Fragen ließen uns verzweifeln. Ohnehin schon in Nöten erschien uns das Verlegen und Verkaufen von Büchern jetzt als Luxus. Waren wir überflüssig? Sollten wir unseren Verlag schließen? Und zu diesen existenziellen Fragen kamen die praktischen noch hinzu. Denn durch den Lockdown hatten wir seit Mitte März kein einziges Buch verkauft. Zugleich zahlten wir unseren Mitarbeiterinnen volle Gehälter. Anders als die Unternehmen, die sofort ihre Gehälter senkten, fühlten wir uns vor allem unserem Team verpflichtet. Doch das Geld würde schnell zu Ende gehen. Wie lange könnten wir durchhalten?

Es dauerte eine Weile, aber dann setzte sich das Gefühl durch, doch eine Perspektive zu haben. Schließlich sind wir politische Verlegerinnen. Das Herzstück dessen, was wir tun, ist Feminismus. Bei unseren Veröffentlichungen geht es nicht um Gewinne – obwohl Gewinn hilft –, sondern es geht darum, feministischen Stimmen Gehör zu verschaffen, und insbesondere die Stimmen zu verstärken, die an den Rändern der Gesellschaft vernehmbar sind. Also begannen wir das zu tun, was Feministinnen tun: kreativ denken.

Wir richteten unsere Aufmerksamkeit auf die digitale Welt, aber nicht im Sinne von Social-Media-Kampagnen oder Twitter oder Instagram. Die nutzen wir sowieso. Sondern wir nutzten das Digitale, um das Sprechen über Feminismus auszuweiten. Wir beobachteten die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Frauen und konnten dazu eine Reihe von Diskussionen anstoßen. Wir beschlossen, uns unter anderem auf die acht Bundesstaaten im Nordosten zu konzentrieren, die traditionell als vernachlässigt gelten.

Wir baten Frauen, die wegen der Pandemie in ihren Häusern eingesperrt sind, ihre Handys einzusetzen und mit Fotos und Berichten zu dokumentieren, wie sich der Lockdown auf ihr Leben auswirkt. Wir haben dieses Projekt »Reframing the Domestic« (https://zubaanprojects.org/reframingthedomestic/) genannt, daraus ist eine Serie fortlaufender Fotoaustellungen entstanden.

Plötzlich eröffnete sich uns eine ganz neue Welt. Uns wurde klar, dass unsere Aufgabe als Produzentinnen und Kuratorinnen von Wissen darin besteht, den feministischen Stimmen in diesen Zeiten Gehör zu verschaffen. Und damit das Wissen zu dokumentieren, das die betroffenen Frauen vor Ort generieren.

Rund um die Uhr in beengte Wohnungen gesperrt, sahen sich Frauen in zunehmendem Maß mit häuslicher Gewalt konfrontiert. Die gesundheitliche Notfallsituation hat dazu geführt, dass andere notwendige medizinische Dienste, die sich zum Beispiel mit Familienplanung und sexueller Gesundheit befassen, zu kurz kommen. Notruf-Angebote der Gemeinden und der Polizei wurden eingestellt. Die Lebensgrundlage von Frauen wurde zerstört. Besonders verwundbar sind unsere Pflegekräfte, von denen mehr als 75 Prozent Frauen sind. Über all diese Dinge muss gesprochen werden. Und als wir damit anfingen, stellten wir fest, wie bereit die Frauen waren, für sich selbst zu sprechen. Das hat uns wiederum veranlasst, über die Schaffung eines Archivs für die Stimmen der Frauen nachzudenken.

Werden daraus Bücher? Wir wissen es nicht. Werden wir überhaupt wieder Bücher verlegen können? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen ist: Als Produzentinnen feministischen Wissens im Süden werden wir alles tun, um dieses Wissen lebendig und reich zu erhalten.

Foto: Maik Schuck/Weimarfoto

URVASHI BUTALIA

Die 1952 im indischen Ambala geborene Urvashi Butalia ist Schriftstellerin, Historikerin und Verlegerin und engagiert sich seit mehr als 40 Jahren für Frauenrechte. Die Aktivistin war 1984 Mitbegründerin von »Kali for Women«, dem ersten feministischen Verlagshaus in Indien, aus dem 2003 »Zubaan« (zu Deutsch: Zunge, Sprache, Stimme) entstand. Der Verlag mit Sitz in Neu-Delhi publiziert Bücher von und über Frauen, um deren Stimme am Rande des globalen Südens zu stärken. Die Verlegerin erhielt zahlreiche nationale und internationale Preise. Das deutsche Goethe-Institut zeichnete Urvashi Butalia 2017 mit der Goethe-Medaille aus. Mehr Informationen:

www.zubaanbooks.com

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