Genfer Psalmen – Ganz einfach und höchst komplex

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der Evangelisch-Reformierten Kirche des Kantons St.Gallen

Genfer Psalmen – Ganz einfach und höchst komplex Zwingli hatte gefordert: In der Kirche nur die Bibel! Und daraus hatte er gefolgert: keinen Gesang. Der Strassburger Reformator Martin Butzer war zwar auch der Meinung: In der Kirche nur die Bibel! Aber dann kam er zu einem ganz anderen Schluss: Deshalb singen wir in der Kirche nur biblische Lieder, vorab die Psalmen! Und zwar nicht zur Verschönerung. Vielmehr stellt der PsalmenGesang einen integralen Bestandteil des Gottesdienstes dar. Calvin hatte diesen gottesdienstlichen Psalmen-Gesang in Strassburg kennengelernt und aus Begeisterung selbst ein erstes Gesangbüchlein mit französischen Übersetzungen dieser Psalmen herausgegeben. Zurück in Genf, liess er alle 150 Psalmen systematisch bereimen, zuerst von Clément Marot und dann von Théodore de Bèze. Die Genfer Kantoren Guillaume Franc, Loys Bourgeois und ein gewisser Monsieur Pierre hatten diese nach einheitlichen Gesichtspunkten zu vertonen.

deutsche Fassung auch oft Lobwasser-Psalter genannt. Im Original fällt auf, dass 29 Psalmen am Schluss nur mehr eine halbe Strophe aufweisen; einer hat am Schluss eine 3/4Strophe und zwei sogar eine 4/10-Strophe. Warum das? Psalmen sind eben nicht einfach Kirchenlieder mit frommen Gedanken. Die Psalmen wurden so nah am Urtext wie möglich in Verse gefasst. Und wenn es am Schluss nicht mehr genug «Material» für eine ganze Strophe gab, dann blieb es bei einer Teilstrophe. Die oben genannten Komponisten mussten alle 150 Psalmen (sowie das Zehn-gebote-Lied aus Exodus 20 und das Lied des Simeon aus Lukas 2, die integraler Bestandteil des Genfer Psalters sind) nach einheitlichen Kriterien vertonen: Es werden nur Halbe- und Viertelnoten verwendet; auf jede Silbe kommt nur eine Note, was die Verständlichkeit erhöht; nach jedem Singbogen folgt eine Pause zum Luftholen. Diese 152 Lieder erhalten schlussendlich 125 Melodien in sämtlichen zwölf Modi oder Kirchentonarten, d.h., fast jeder Psalm hat seine eigene Melodie.

Viel-1000-fach vertont Ein Verkaufsschlager Ab 1542 erschienen Teilausgaben dieses sog. Genfer Psalters. Wegen der enormen Nachfrage schlossen sich für den Druck der Gesamtausgabe von 1562 etwa 50 Drucker zwischen Genf und Lyon zusammen und produzierten so eine Auflage von ca. 50000 Exemplaren. Danach folgten Nachdrucke und Übersetzungen, so auf italienisch, Rätoromanisch, Englisch, Niederländisch, Tschechisch, Ungarisch, Malaiisch, Tamilisch usw., quasi in alle Sprachen der Reformierten. Insgesamt 22 vollständige Übersetzungen, mehr als von jedem anderen Gesangbuch. Nach dem Autor der deutschen Übersetzung, dem Juristen Ambrosius Lobwasser, wird die www.kirchenbote-sg.ch

Für den Gesang in der Kirche hatte Calvin strenge Einstimmigkeit gefordert. Für den privaten Gebrauch wurden jedoch nicht nur einzelne Psalmen mehrstimmig vertont, sondern mehrfach gleich der gesam-te Psalter: von einstimmigen Variationen für Blockflöte von Jacob van Eyck bis zu achtstimmigen polyphonen Motetten Jan Pieterszoon Sweelincks, von vierstimmigen Sätzen mit zwei Melodieinstrumenten und Generalbass Johann Crügers bis zur grossen Kantate «Pseaumes de Genève» für gemischten Chor, Kinderchor, Orchester und Orgel von Frank Martin (1958). Und dieser Prozess der Neukompositionen über die immer gleichen 125 verschiedenen Melodien ist auch heute noch keineswegs


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abgeschlossen! Den grössten Erfolg hatten dabei sicher die einfachen vierstimmigen homophonen Sätze von Claude Goudimel, die bereits 1565 erschienen und gegen Calvins Willen schlussendlich auch im Gottesdienst gesungen wurden. Die Genfer Psalmen wurden gesamthaft gesungen. Ein Lied-Perikopen-Verzeichnis legte fest, welche Psalmen in welchen der drei wöchentlichen Gottesdienste gesungen wurden, sodass jedes Jahr der gesamte Psalter von der ganzen Gemeinde zweimal vollständig durchgesungen wurde (= 2882 Strophen jährlich!). Das hatte zur Folge, dass weltweit von allen Reformierten die gleichen Psalmen auf die gleichen Melodien gesungen wurden.

Singen mit den Engeln Im Vorwort zur Psalmenausgabe von 1542/43 schreibt Calvin, dass sich die Sängerinnen und Sänger beim Psalmen-Singen «der Gesellschaft der Engel beigesellen». So wird es dann auch immer auf den Frontispizen der Psalmenbücher dargestellt: Der Psalmengesang auf der Erde ist ein kleines Abbild des unendlich viel grösseren Gotteslobes über den Wolken. Damit das möglich wurde, mussten die Psalmen natürlich geübt werden. In den Schulen hatte man damals wöchentlich nur eine Stunde «Singen» – aber daneben in der Regel noch vier bis fünf Stunden «PsalmenSingen»! Die kleine Gemeinde Conters im Prättigau hatte sich 1735 vorgenommen, den gesamten vierstimmigen Lobwasser-Psalter (wohl auswendig) zu lernen. Dazu hatten sie sogar vorgängig ein «Zeit-Budget» von sechs Jahren erstellt. Aber erst nach neun Jahren lesen wir dann vom geglückten Abschluss! Ein Anliegen der Reformatoren lautete «Priestertum aller Gläubigen». Seinen konkreten Ausdruck fand dieses im www.kirchenbote-sg.ch

gemeinsamen Gotteslob. So zeigt es sehr schön das Frontispiz eines Genfer Psalters in der Neufassung durch den berühmten Genfer Theologen Giovanni Diodati von 1646: Auf dem Altar wird kein Opfer durch einen Priester dargebracht (wie im Alten Testament). Dafür sehen wir jetzt dort ein aufgeschlagenes Psalmenbuch und auf einer Banderole darüber stehen die Worte «Offre louange» = opfere Lob! Diese Form des Psalmen-Singens hatte ungeheuren Erfolg. Alle Welt sang damals Genfer Psalmen, längst nicht nur die Reformierten. Dagegen musste etwas unternommen werden. 1582 wurde ein katholischer Gegen-Psalter herausgegeben. 1602 veröffentlichte dann Cornelius Becker einen lutherischen Gegen-Psalter, für den er Heinrich Schütz zur Vertonung gewann. Beide kamen aber nie an die Popularität des Genfer Psalters heran, noch gelang es ihnen, dessen Erfolg zu schmälern. Heute finden wir Genfer Psalmen oder deren Melodien in fast allen christlichen Gesangbüchern! Ja, der Genfer Psalter ist bis heute vielen reformierten Gesangbüchern vorangestellt, aber ausgerechnet im Ursprungsland der Genfer Psalmen ist das nicht der Fall. Hans-Peter Schreich-Stuppan, Pfarrer in Val Müstair GR

evang.-ref.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung durch Redaktion Kirchenbote SG Andreas Schwendener Rehweidstrasse 2 CH-9010 St.Gallen


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