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Interview: „Sterben gehört zum Leben dazu“

„Sterben gehört zum Leben dazu“

Sie sind da und haben Zeit, sie hören zu, teilen Sorgen, Leid, Schmerz, Wut und Trauer, sie spenden Trost und Beistand. Renate Torggler, Koordinatorin und stellvertretende Beauftragte der Krankenhausseelsorge in Südtirol, begleitet Sterbende seit über 25 Jahren. Was Menschen im letzten Lebensabschnitt beschäftigt, was sie fühlen und was wir von ihnen lernen dürfen.

Erker: Frau Torggler, warum sind Sie Krankenhausseelsorgerin?

Renate Torggler: Das war schon immer ein Wunsch von mir. Ich bin mit einer Schwester aufgewachsen, die krank war. Meine Lieblingsbezugsperson war meine Oma. Mit alten und kranken Menschen wollte ich immer schon arbeiten. Kurz bevor ich mein Theologiestudium abschloss, wurde das Landesdekret verabschiedet, dass auch Laien in der Krankenhausseelsorge arbeiten dürfen. Das war für mich ein Geschenk. Seitdem bin ich Krankenhausseelsorgerin und glücklich.

Ein Beruf, der Sie bereichert?

Es ist mehr als eine Arbeit, es ist ein Dienst, meine Berufung. Der Herrgott wollte mich genau hier haben. Ich wünsche jedem dieses Gefühl, das zu finden, wo er hingehört. Ich bin überzeugt, dass ich am richtigen Platz bin. Ich möchte keinen anderen Beruf als diesen hier.

Sterben ist etwas Intimes, den letzten Schritt muss jeder alleine gehen ...

Da bin ich mir nicht so sicher. Ich denke, man kann auf dieser Seite Begleiter haben und auf der anderen.

Jeder empfindet das Sterben anders. Was sind die letzten

Gedanken eines Sterbenden?

Die Ungewissheit ist für viele ein großes Thema und die Frage: Was erwartet mich? Andere konzentrieren sich mehr auf das, was sie zurücklassen, vor allem jüngere Menschen, die ihre Kinder zurücklassen. Viele empfinden ein gelassenes Annehmen, nach dem Motto: Ich habe mein Leben gelebt, hatte viele schöne Erlebnisse, ich vertraue darauf, dass mich ein wohlwollender Gott erwartet und bin beruhigt. Andere haben große Ängste. Da gibt es alle Facetten.

Sehen Gläubige dem Sterben anders entgegen als Atheisten?

Es hängt weniger von der Religion ab. Wichtiger ist das innere Bild. Wenn ich mir einen strafenden Gott erwarte, tue ich mich schwer zu gehen, weil ich Angst habe. Wenn ich einen barmherzigen Vater erwarte, fällt das Sterben leichter. Ich habe aber auch Leute begleitet, die behauptet haben, an nichts zu glauben und sagten: Kein Problem, danach gibt es nichts, also brauche ich mich auch nicht davor zu sorgen.

Wissen manche genau, wann sie sterben werden?

Ich denke schon. Ich habe es selbst erlebt, als ich ein Kind war. Mein Großvater wachte am Morgen seines Sterbetages auf und sagte: „Heute habe ich den Heiligen Joseph gesehen und meinen Vater. Heute Nachmittag kommen sie mich holen.“

Und so war es?

So war es. Ich bin überzeugt, dass Menschen, die bewusst auf den Tod zugehen, ein Stück mitgestalten dürfen und auch den Moment wählen können, der für sie passt. Sie warten zum Beispiel noch auf jemanden oder überstehen noch einen Geburtstag oder ein Jubiläum, sie zögern ihren Tod hinaus. Da habe ich schon vieles erlebt.

Manche warten auch auf den kurzen Augenblick, wenn niemand im Raum ist ...

Genau. Manche warten, bis sich diese Gelegenheit ergibt und sind dann weg. Viele Angehörige machen sich deshalb Vorwürfe und sagen sich: Wir waren immer da und genau in diesen fünf Minuten ist es passiert, wären wir doch nicht genau in diesem Moment hinausgegangen. Ich sage ihnen immer: Dann wäre er/sie fünf Minuten später gestorben. Manche Sterbende warten darauf, dass genau die Situation eintrifft, die sie sich wünschen: dass eine bestimmte Person dabei ist, dass möglichst alle da sind oder dass sie alleine sind, weil sie dann leichter weggehen.

Sterben alte Menschen anders als junge?

Kinder, die eine unheilbare Krankheit haben, reifen in einer Geschwindigkeit, dass sie einem alten Menschen in nichts nachstehen. Ich habe Kinder erlebt, die lebenssatt gestorben sind, in einer Würde und menschlichen Größe, die ihnen niemand zugetraut hätte.

Das erinnert mich an die bekannten Aufzeichnungen von

Petra Kuntner.

Ja, auch manche jungen Menschen geben uns ein gutes Beispiel, wie Sterben gelingen kann. Es ist wichtig, dass Angehörige offen reden und deutlich kommunizieren, wenn sie beim Moment des Sterbens dabei sein möchten. Zum Beispiel: „Papi, Mutti, Oma, Opa: Ich wäre gerne in dem Moment bei dir.“ Und dann ist es oft auch möglich.

Welche Wünsche haben Sterbende?

Da bin ich etwas überfragt, weil ich oft erst zu Sterbenden hinkomme, wenn sie nichts mehr äußern. Aber ich denke, dass gerade Versöhnung für viele ein Thema ist, etwas in Ordnung bringen, sich von jemandem verabschieden, aufräumen.

Wäre es gut, schon zu Lebzeiten diesen Schritt zu tun?

Wir leben bis zum Tod, wir sind bis

Renate Torggler: „Ich habe von den Sterbenden gelernt, dankbar für das Leben zu sein.“

zum letzten Moment noch lebendig. Das dürfen wir nicht vergessen. Natürlich kann man jeden Tag so leben, als ob es der letzte wäre. Aber auf die Dauer ist das anstrengend und auch nicht immer möglich. Außerdem hängen zwischenmenschliche Unstimmigkeiten nicht immer von uns selber ab. Aber natürlich: Im Bewusstsein leben, dass man nicht ewig da sein wird, und Dinge in Ordnung bringen, sobald sich die Gelegenheit ergibt, ist für mich auf jeden Fall Lebenskunst.

Wie drücken Sterbende mit dem Körper ihre Gefühle aus?

Man sieht die Gesichtsmimik, wenn sie den Mund verziehen, lächeln, weinen oder wenn sie versuchen, mit der Hand jemanden zu halten oder wegzuschieben. Sie haben Möglichkeiten, sich zu äußern. Man muss nur aufmerksam sein und achtgeben.

Wenn der letzte Atemzug getan ist: Wie ist die Atmosphäre im Raum? Ist der Verstorbene noch da oder schon weg? Spüren Sie das?

Ich kenne Leute, die spüren es genau. Mein Mentor und Lehrer P. Peter Gruber hat eine besondere Antenne dafür. Ich kann es nicht jedes Mal mit Sicherheit sagen. Aber es gibt durchaus Situationen, in denen ich das Gefühl habe, ja, der ist noch da. Einzelne Male hatte ich auch das Gefühl, ja, jetzt ist er weg. Das ist individuell verschieden und hängt auch davon ab, wie schnell sich der Sterbende von seinem Körper verabschieden und weggehen kann.

Viele Angehörige haben

Angst davor, einen geliebten

Menschen für immer loszulassen. Was geben Sie ihnen mit, damit es ihnen leichter fällt?

Gerade bei Patienten, die schon lange in Agonie sind oder gekämpft haben, frage ich die Angehörigen: Was möchten Sie für den Patienten tun? Sie können versuchen, ihren eigenen Wunsch hinter den des Patienten zu stellen und sich fragen, was für ihn das Beste ist. Das ist oft eine Hilfe.

Welche Erkenntnisse haben

Sie durch Ihre Arbeit gewonnen?

Ich habe von Sterbenden vieles gelernt: dankbar sein für das Leben und es genießen, solange ich es habe, Beziehungen pflegen und nicht warten, bis es zu spät ist, den Glauben pflegen, in einer lebensbejahenden und unterstützenden Weise. Es ist wichtig, über den eigenen Tod nachzudenken und die Gedanken auch den Angehörigen mitzuteilen: Was hätte ich gern, wenn es soweit ist, was möchte ich auf keinen Fall? Wir müssen lernen, den Tod in das Leben zu integrieren statt ihn zu tabuisieren. Sonst überfällt er uns rücklings, dass wir nicht darauf gefasst sind, oder wir erleben Sterbende bereits als Verstorbene und begraben die Beziehung zu ihnen zu früh.

Welche Begleitung hat Sie am meisten beeindruckt?

Es gab viele intensive Begleitungen. Einige waren sehr kräftezehrend, zwei Fälle beschäftigen mich immer noch. Sie waren tragisch, aber irgendwo war es so schön zu sehen, wie viel Liebe von den Hinterbliebenen ausging, wie herzlich sie mit den Sterbenden umgingen. Ich durfte den Angehörigen helfen, mit diesem Schicksal umzugehen, damit sie nicht gelähmt und hilflos dastehen müssen, ich durfte sie anleiten, miteinander zu beten und zu reden, auszusprechen, was im Raum stand und niemand in Worte fassen konnte.

Hilft reden in jeder Lebenslage?

Nicht immer ist es angebracht. Es braucht viel Sensibilität. Auch die Stille hat große Strahl- und Heilkraft. Manchmal muss man sich auch zurückhalten und still sein. Das lässt sich vorher schwer sagen, das entsteht aus der Situation heraus. Es gibt kein Lehrbuch dafür. Genau beobachten und aus dem Bauch heraus reagieren.

Stimmt es, dass bei Sterbenden die Fähigkeit zum Hören am längsten erhalten bleibt?

Hören und spüren. Auch der Tastsinn ist einer der letzten Sinne, die ihren Dienst versagen.

Was lässt Sie spüren, dass Sie nicht alleine sind?

Darüber könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Nicht nur über das Sterben, auch über das Leben. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass ich genau dann auftauche, wenn meine Hilfe gebraucht wird. Oft mache ich mich auf den Weg in eine Abteilung, lande aber in einer ganz anderen, weil mich jemand ablenkt oder in ein Gespräch verwickelt hat, jedenfalls komme ich genau zu einem Notfall hin. Das ist mir schon oft passiert. Manchmal sage ich im Gespräch mit Menschen einen Satz und denke mir: Wie ist mir das bloß eingefallen, das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Ein Jahr später kommt diese Person auf mich zu und sagt: Wissen Sie noch, was Sie mir damals gesagt haben? Dieser eine Satz war so wichtig für mich. Also ganz nach dem Bibelwort: Sorgt euch nicht, was Ihr reden sollt, es wird euch eingegeben.

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