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Gossensaß: „Wir wehren uns!“
from ERKER 10 2022
by Der Erker
DAS MEMORANDUM
Die Bürgermeister der sechs Wipptaler Gemeinden haben das „Brenner-Verkehrsmemorandum“ unterzeichnet. Ein Auszug aus den Forderungen, die Staats- und Bundespolitik, Autobahnbetreiber und Eisenbahngesellschaften zum Handeln aufrufen.
AUTOBAHN
• Baustellenmanagement zwischen Autobahnbetreibern und Staatsorganen; Personen- und LKW-Verkehr alpenweit aufteilen, • Durchreisende und lokale Bevölkerung über effektive Verkehrsbelastung informieren, • effizienter Personennahverkehr über den
Brenner, • grenzüberschreitende Dosierung des PKW- und LKW-Verkehrs, • Erhöhung/Abstimmung der Maut- und
Treibstoffkosten dies- und jenseits des Brenners, • Schutzbauten/Einhausungen gegen Lärm,
Feinstaub und Abgase (Mautstelle Sterzing – Steckholz), • Abfahrverbote für PKW und LKW von Autobahn (ausgenommen lokaler Zielverkehr) bei Überlastung und Stau; rasche Anpassung des italienischen Straßenkodex, • Überwachung/Sanktionierung des Transitverkehrs durch staatliche Polizeiorgane.
STAATS- UND LANDESSTRASSEN
• Zeitnaher Baubeginn der Umfahrungen
Gossensaß und Mauls, • Fahrverbote (ausgenommen lokaler Zielverkehr), Polizeikontrollen bei Gefahrenstellen (nördlich von Gossensaß, Mauls-Zentrum), • Durchfahrtsverbote für durchreisende PKW und Klein-LKW auf Gemeinde- und Fraktionsstraßen bei Verkehrsüberlastung auf
Staatsstraße und Autobahn.
EISENBAHN
• Halbstundentakt zwischen Innsbruck und
Bozen (Trient), • abgestimmte Fahrpläne/Information von
ÖBB, Trenitalia und entlang der Brennerachse, • rasche Umsetzung des Lärmbauten-Programms, Zusammenarbeit mit Gemeinden, • Renovierung/Modernisierung der Bahnhöfe (kundenfreundlich, behindertengerecht).
GESUNDHEIT
• Monitoring: Krankheitsbilder bei Anrainern (Zeitraum: vergangene 25 Jahre), Folgeerscheinungen von Lärm, Abgasen und
Feinstaub; Gegenmaßnahmen, • Schadstoff-, Feinstaub- und Lärmmessstellen. Maßnahmen bei Überschreitung der
Grenzwerte.
„Wir wehren uns“
Verkehrskundgebung in Gossensaß
Rund 300 Bürger zogen am 17. September mit Plakaten, Schellen, Tröten, Gitarre, Rad und Radio vom Gasthaus „Europa“ zum Ibsenplatz in Gossensaß, um gegen die Verkehrsbelastung zu protestieren und rasche Maßnahmen zu fordern. Am Rednerpult sprachen Bürger wie politische Vertreter über die Auswirkungen des Verkehrs und dringend notwendige Maßnahmen.
„Ohrenbetäubend, gesundheitsgefährdend, psychotisch, zersetzend, giftig, gefährlich, heimtückisch, vernichtend, traurig – und seit heute hoffentlich aufbegehrend.“ So beschreibt Martin Alber, Bürgermeister der Gemeinde Brenner, die derzeitige Verkehrssituation in Gossensaß. Die LKW-Fahrten auf der Autobahn über den Brenner haben sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als verdoppelt. 2022 waren es 2,5 Millionen, bei den PKW sind es über zehn Millionen. Pro Tag fahren zu Stoßzeiten rund 20.000 Fahrzeuge auf der Staatsstraße, durchschnittlich sind es etwa 12.000 täglich. Dazu kommen die 200.000 LKW-Lastenzüge, die jedes Jahr an Gossensaß vorbeirauschen, die meisten davon nachts, teils im Fünfminutentakt. „Das Leben an Autobahn, Staatsstraße und Eisenbahn ist unerträglich geworden“, so Armin Keim (Bürgerliste). Umso wichtiger sei es, mit dem Bau der zugesicherten Umfahrungsstraße innerhalb der nächsten zwei Jahre zu beginnen. „Wir wollen endlich Taten sehen“, so Ivan Ponzano vom CAI Brenner. 30 Jahre lang sei man mit Worten vertröstet worden, während anderswo Umfahrungen gebaut wurden. Der Bevölkerung ist bewusst, dass die Umfahrung allein das Verkehrsproblem nicht lösen kann. „Würde der Transit auf der Autobahn bleiben, gäbe es weniger Verkehr durch Gossensaß. Gäbe es zwischen Bozen und Innsbruck einen Halbstundentakt, würde der Zug häufiger genutzt werden“, so Keim. Wie viel eine konsequente Verkehrspolitik bewirken kann, zeigte Robert Renzler, bis vor kurzem Gesamtgeschäftsführer des ÖAV, auf. 1994 fuhren 1,16 Millionen LKW durch die Schweiz, genauso viele wie in Österreich. Sank der LKW-Verkehr in der Schweiz um 20 Prozent, legte er auf dem Brennerkorridor um 116 Prozent (!) zu. Eine Solidarisierung der Bürger in Gesamttirol sei wichtiger denn je, denn „die Politik bewegt sich erst, wenn der Verkehr steht. Dieses Stehenbleiben muss uns gelingen. Sonst werden wir in Brüssel, Wien und Rom kein Gehör finden“. Eine grenzüberschreitende Plattform ist in der Gründungsphase. „Dort, wo die Lebensinteressen der einheimischen Bevölkerung sprichwörtlich unter die Räder kommen, sind die Kommunen und ihre Bürger aufgerufen, Widerstand zu leisten und für eine zumutbare und verträglichere Verkehrsbelastung aufzutreten“, heißt es im Strategiepapier. Dies gilt besonders auch im Hinblick auf die 2024 geplante Sanierung der Luegbrücke, wodurch die Autobahn pro Fahrtrichtung nur noch einspurig befahrbar sein wird. „Ohne grenzüberschreitendes Baustellenmanagement“, so Martin Alber, „werden wir im Stau und Umwegverkehr ersticken.“ Dank der Autobahneröffnung Anfang der 1970er Jahre habe sich Südtirol vom armen Bauernland
zum Hochwirtschaftsland entwickeln können. Mittlerweile aber stehe die Hauptverkehrsschlagader kurz vor dem Infarkt, „und wir laufen sehenden Auges in diesen hinein“, so EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann. Die Sanierung der Luegbrücke beschleunige diesen Infarkt. Dorfmann, der im Eisacktal selbst in der Nähe der Brennerautobahn lebt, zeichnete düstere Prognosen: Steigt der Verkehr weiterhin jedes Jahr um zwei bis drei Prozent, wird es in zehn Jahren einen Verkehrszuwachs von 50 Prozent geben. „Dann steht der Verkehr auf der Brennerautobahn nicht nur am Wochenende, sondern jeden Tag.“ Umso wichtiger sei eine einheitliche Verkehrspolitik zwischen Verona und München, die es bis heute aber nicht gebe. Stattdessen werde sich gegenseitig die Schuld zugeschoben. „Der LKW-Verkehr ist für viele Probleme verantwortlich, aber Stau auf der Autobahn gibt es, weil der LKW nicht fahren darf.“ Ein Problem sei auch das unterschiedliche Mautsystem. „Drei Jahre lang haben wir in Brüssel für die Einführung einer streckenabhängigen Maut in ganz Europa gekämpft. Aber genau die Länder nördlich des Brenners, die den PKW-Verkehr kaum oder überhaupt nicht bemauten, haben sich dagegen gewehrt und letztendlich gewonnen. Solange die Maut nicht verteuert wird, ist der Zug für den LKW und PKW auch nicht interessant.“ Immer wieder wiesen die Redner darauf hin, dass der Transitverkehr an Stautagen auf der Autobahn bleiben soll und nicht auf die Staats- und Landesstraßen ausweichen darf. Dringend abzuändern sei deshalb die italienische Straßenverkehrsordnung, damit auch lokal vor Ort umgehend auf den Verkehr reagiert werden kann. Laut Senator Meinhard Durnwalder sei bereits ein Antrag zur Änderung des Straßenkodex eingebracht, aufgrund der Regierungskrise aber noch nicht weiterverfolgt worden. Man setze sich aber dafür ein, den Änderungsantrag in Rom durchzubringen. „Laut Verfassung Art. 32 ist die Politik verpflichtet, für die Gesundheit der Bürger zu sorgen“, so Franz Ploner, Landtagsabgeordneter des Team K. „Wir können nicht bis 2040 warten, bis der BBT endlich funktioniert.“ Es brauche dringend eine Kontingentierung. Die Autobahn, vor 50 Jahren projektiert und teilweise in den 1960er Jahren eröffnet, sei nämlich für den heutigen (Schwer-)Verkehr nicht ausgerichtet. Es könne auch nicht sein, dass Opposition und Mehrheit beim Thema Verkehr nicht zusammenfinden. SVP-Landtagsabgeordnete Magdalena Amhof verwies auf die Beschlüsse, die auf Euregio- und Landesebene gefasst worden sind, um das Problem über die Parteigrenzen hinweg anzugehen. Natürlich dürfe es nicht bei Solidaritätsbekundungen bleiben. Diese Verkehrskundgebung setze sie als Politiker noch mehr unter Druck, um gemeinsam mit den Bürgern Lösungen zu finden. Der BBT reiche als einzige Verkehrslösung nicht aus. Ab 2032 werde er aber sehr viel Verkehr, der derzeit durch die Ortschaften führt, wegnehmen. Massimiliano Baccanelli, Basisarzt in der Gemeinde Brenner und ehemaliger Arzt in Rom, berichtete von europaweit 400.000 Menschen, die aufgrund von Umweltverschmutzung vorzeitig gestorben seien – 80 Prozent davon wahrscheinlich wegen der Verkehrsbelastung. Vor allem Feinstaubpartikel können Atemwege schädigen und in den Blutkreislauf eindringen. Es gibt Studien, welche die Umweltverschmutzung mit einer Zunahme von Demenz und Parkinsonfällen in Verbindung bringen. „Wir müssen alles tun, um die Verkehrssituation zu verbessern.“ Fritz Gurgiser, Obmann des Transitforums Austria, rief die Wipptaler dazu auf, sich „einzumischen statt zu raunzen. Wer wartet, bis andere etwas unternehmen, wird vom Transit überrollt.“ 1989 setzte das Transitforum Austria das erste Nachtfahrverbot in Tirol durch, seit 2018 gibt es in Tirol eine Reihe von Abfahrverboten. Sehr lange habe man dafür gekämpft, diese Verbote durchzubringen. Oft wurde gesagt, es sei rechtlich nicht möglich, was aber nichts weiter sei als eine Ausrede. „Es gibt auch keinen freien Verkehr, wie immer behauptet wird. Jeder Verkehr hat dort seine Grenzen, wo er uns Freiheiten nimmt: die Freiheit des Lebens an der Straße, die Freiheit des Wirtschaftens und die Freiheit des Befahrens der Straße. Um diese Freiheiten müssen wir kämpfen.“ Solange aber an den Rahmenbedingungen auf der Straße nichts geändert wird, werde es weiterhin Umwegverkehr geben und niemand werde in ein BBT-Loch reinfahren. „Gefahren wird immer dort, wo es am billigsten ist.“
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