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Programm

Auf neuen Pfaden

Die Zeichen stehen auf «neu»: In seiner ersten Saison als Chefdirigent bringt Rune Bergmann zwar viele vertraute Komponistennamen, er scheut sich aber auch nicht, seinem Publikum unbekanntere Werke näherzubringen. In vier von fünf Abo-Konzerten ist Musik des 20. Jahrhunderts zu entdecken.

von Dr. Verena Naegele

Mit Musik aus nördlichen Gefilden, darunter auch aus seiner norwegischen Heimat, stellt sich Rune Bergmann seinem Publikum im September als neuer Chef vor, und wie ! Mit Edvard Griegs Klavierkonzert a-Moll op. 16 ist ein hitparadenverdächtiges Werk der Superlative programmiert, und mit dem kanadischen « Wunderkind » Jan Lisiecki wird ein Shootingstar der Szene den Aargau beehren. Der 25-jährige Pianist polnischer Herkunft stammt aus Calgary, wo Rune Bergmann beim Calgary Philharmonic Orchestra als Chefdirigent amtiert. Lisiecki sorgt mit seinen virtuosen Interpretationen in Europa und Übersee für Furore, jüngst auch mit der Gesamteinspielung der Beethoven-Klavierkonzerte zusammen mit der Academy of St Martin in the Fields. Zu Recht wird er als « Virtuose bar jeder Manieriertheit mit einer kraftvollen und vor allem unwiderstehlich natürlichen Spielweise » gerühmt.

Ein Auftakt nach Mass also, und bereits im ersten Konzert

zeigen sich Rune Bergmanns Programmideen für diese Saison : Neben dem Grieg-Konzert als Hit des Repertoires gilt es mit « Cantus Arcticus – Konzert für Vögel und Orchester » ( 1974 ) des Finnen Einojuhani Rautavaara Neuland zu betreten. Hier kommt neben dem reich bestückten Orchester auch eigens vom Komponisten am nördlichen Polarkreis aufgenommenes Vogelgezwitscher ab Band zum Einsatz. Dazu wird die « Feuervogel »-Suite des Russen Igor Strawinsky aufgeführt, womit gleich zwei der vier gespielten Werke aus dem 20. Jahrhundert stammen.

Wie der « Cantus Arcticus » thematisiert Strawinskys « Feuervogel »-Suite zwar ein gefiedertes Tier, doch ist dieser glitzernde, leuchtende Vogel in der Märchenwelt angesiedelt. Die Uraufführung des der Suite zugrunde liegenden Balletts in Paris 1910 markierte den Anfang einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit Sergej Diaghilew und den Ballets Russes. Strawinsky erzeugt in seiner Musik sirrende, flirrende Klänge durch effektvolle Kombinationen von Glockenspiel, Streichern und Bläsern, was zu einem faszinierenden Farbreichtum führt.

Schwerpunkt auf Musik aus Russland Überhaupt sind die russischen Komponisten Meister im Erzeugen von Effekten, die sie durch hämmernde Rhythmen oder üppige Instrumentationen erzielen. Diesem Phänomen kann man beim argovia philharmonic in der Saison 2020/21 gleich mehrfach nachspüren. So in Tschaikowskys selten gespielter 1. Sinfonie, deren erster Satz Allegro tranquillo mit der Überschrift « Traum von einer Winterreise » dank seiner magischen Klänge zusammen mit der Nussknacker-Suite perfekt zum Weihnachtskonzert passt.

Schicksalshaft und mit spätromantischer Verve gespickt ist Tschaikowskys 5. Sinfonie e-Moll op. 64, die durch instrumentale Raffinesse, rhythmische Kraft und drama-  > tische Ausbrüche fesselt. Dem russisch-asiatischen Stimmungsbild des Schlusssatzes kann man sich nicht entziehen, zu machtvoll sind der Drive und die Klangfülle dieser Musik, mit denen das argovia philharmonic unter Rune Bergmann im Mai 2021 die Abo-Saison beenden wird.

Eine vom argovia philharmonic selten aufgeführte, schillernde Komponistenpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts stellt Rune Bergmann im Januar-Zyklus vor : Dmitri Schostakowitsch und seine 9. Sinfonie. Die « Neun » ist in der Sinfonik eine magische Zahl : Beethoven hat den Mythos mit seiner übermächtigen « Ode an die Freude » begründet, Bruckner ist darüber gestorben, und Mahler wollte die 9. Sinfonie vermeiden.

Damit zu kämpfen hatte auch Schostakowitsch, entstand doch seine 9. Sinfonie EsDur op. 70 kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, den die Russen siegreich mitentschieden hatten. So erwartete Diktator Stalin von seinem Vorzeigekomponisten ein Werk des Triumphes, dem sich dieser allerdings konsequent verweigerte.

Schostakowitsch hält sich in seiner 9. Sinfonie zwar getreu an die klassische Form, wählt aber in seiner Musik oft stupide, repetitive Formeln. Der zweite Satz ist ein zu Herzen gehender, typisch russischer Klagegesang, und im vierten Satz setzt er dem Ganzen die Krone auf : statt eines Triumphmarschs erklingt ein ironischer Zirkusmarsch, der Stalins Erwartungen geradezu ad absurdum führt.

Schostakowitschs Musik ist nur vor dem Hintergrund der politischen Umstände seiner Lebens- und Wirkungszeit zu verstehen. Gleiches gilt für Mieczysław Weinberg, einen Schüler und später engen Vertrauten Schostakowitschs, den dieser einst entdeckt hatte und der seit einigen Jahren ein wahres Revival erlebt. Weinberg war polnischer Musiker jüdischer Abstammung, der ab 1931 in seiner Heimatstadt Warschau am Konservatorium  >

Überhaupt sind die russischen Komponisten Meister im Erzeugen von Effekten, die sie durch hämmernde Rhythmen oder üppige Instrumentationen erzielen. Diesem Phänomen kann man beim argovia philharmonic in der Saison 2020/21 gleich mehrfach nachspüren.

studierte und beim Überfall der deutschen Wehrmacht 1939 nach Moskau fliehen musste. Seine Familie wurde von den Nationalsozialisten ermordet, er selbst überlebte und blieb bis zu seinem Tod in Russland. Als einer der « kleinen Schostakowitsche » – wie er despektierlich genannt wurde – ist seine Musik stark von diesem geprägt, was auch für das Violinkonzert g-Moll op. 67 von 1959 gilt.

Es ist eine klagende, lyrische, aber auch aufbrausende, von jüdischen Einflüssen geprägte Musik, die der Geiger Linus Roth – Initiator und Vorstandsmitglied der Internationalen Weinberg Gesellschaft – in ganz Europa mit grossem Erfolg bekannt macht – nun auch beim argovia philharmonic. Gespielt wird das Werk im November-Zyklus, der im Rahmen der Mendelssohntage Aarau 2020 stattfindet und perfekt zum diesjährigen Thema « Mendelssohn und das Judentum » passt.

Sinfonische Glanzlichter Getreu der Idee der Saison, Unbekanntes mit Glanzlichtern des klassischen Repertoires zu mischen, wird mit der « Italienischen » die wohl am häufigsten aufgeführte Sinfonie Mendelssohns gespielt. Mit ihrer Frische und ihrem Schwung, aber auch mit ihrem pulsierend-südländischen Presto-Finale bildet sie einen wirkungsvollen Kontrast zu Weinbergs Musikwelt. Mit Wilson Hermanto stellt sich mit diesem Programm ein hierzulande noch wenig bekannter Dirigent vor. Wilson Hermanto ist Erster Gastdirigent des Kammerorchesters Cameristi della Scala, mit dem er durch Europa tourt, und er dirigiert u. a. auch das Szczecin Philharmonic Orchestra, dem Rune Bergmann als Chefdirigent vorsteht.

Wirkungsvoll sind die Schlussstücke der Abo-Zyklen allemal. Neben Mendelssohns « Italienischer » Sinfonie und Tschaikowskys 5. Sinfonie sind da noch Mozarts « Jupiter » Sinfonie zu nennen, die bereits im Januar 2020 beim Konzert des argovia philharmonic im KKL für Jubelstürme gesorgt hat, sowie Beethovens 7. Sinfonie, diese « Apotheose des Tanzes », mit der Gastdirigent Jan Willem de Vriend im März-Zyklus ein Feuerwerk zünden wird. Es gibt also ein Wiederhören mit dem niederländischen Dirigenten, der von der historisch informierten Aufführungspraxis herkommt und das Orchester mit Verve und Dramatik auflädt. Als Solist bringt er den Klarinettisten Patrick Messina mit, der das wunderbare Klarinettenkonzert von Mozart spielen wird.

Begeisternde Solisten Vier herausragende Solisten präsentiert das argovia philharmonic in der Saison 2020/21. Mit Jan Lisiecki ist im September ein fulminan

ter Anfang garantiert, begeistert der jugendliche Pianist doch mit seinem virtuosen wie filigranen Klavierspiel das Publikum in allen Musikzentren der Welt. Der Geiger Linus Roth seinerseits bildet mit seinem ausdrucksstarken Spiel für das berührende Violinkonzert von Mieczysław Weinberg die absolute Idealbesetzung. Patrick Messina wiederum ist Soloklarinettist des Orchestre National de France und konzertiert regelmässig auch als Solist mit Orchestern wie dem Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam oder in namhaften Kammermusikformationen. Er gehört zu jener Generation der « jungen Wilden », die hohe Klangkultur mit perlender Virtuosität zu verknüpfen verstehen und sowohl Publikum als auch berühmte Dirigenten wie Riccardo Muti, Bernard Haitink oder Trevor Pinnock in ihren Bann ziehen – so sicherlich auch das Aargauer Publikum. Ebenfalls in diese Kategorie gehört auch der Cellist Leonard Elschenbroich, der die illustre Reihe der Solisten beim argovia philharmonic in der Saison 2020/21 vervollständigt. Ein erstes Ausrufezeichen hatte der deutsche Cellist 2009 gesetzt, als er mit seiner Mentorin Anne-Sophie Mutter das Brahmssche Doppelkonzert zur Aufführung brachte. Seither tourt er durch die grossen Konzertsäle der Welt und macht auch mit seinen originellen CD-Einspielungen wie « Musica Nostalgica » oder « Siècle » von sich reden. Mit seinem wunderbar klingenden Matteo-Goffriller-Cello wird er uns im Mai 2021 mit Elgars Cellokonzert verzaubern. Der würdige Abschluss einer spannenden und innovativen Saison. ⋅

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