Vertriebene in Wegberg

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Vertriebene in Wegberg Ein kleiner RĂźckblick in die Geschichte Wegbergs Hans Joachim Haude

Herausgeber Historischer Verein Wegberg

artkonzeptkĂśrner


Vertriebene in Wegberg Ein kleiner R端ckblick in die Geschichte Wegbergs Hans Joachim Haude

Vergangenheit h旦rt nicht auf; sie 端berpr端ft uns in der Gegenwart. Siegfried Lenz

Herausgeber Historischer Verein Wegberg


Vertriebene in Wegberg Mit dem schwarzen Pfeil sind katholische Vertriebene gemeint, mit dem blauen evangelische und mit dem grauen andere Konfessionen. Grafik: Haude

nach 1945

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Vertriebene in Wegberg Ein kleiner Rückblick in die Geschichte Wegbergs

Der Historische Verein Wegberg e.V. möchte sich bei allen bedanken, die durch ihre Spenden mit dazu beigetragen haben, dass diese Publikation entstehen konnte!

Text: Hans Joachim Haude Herausgegeben vom Historischen Verein Wegberg e.V. Wegberg 2011

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Herstellung: artkonzeptkörner ug Michael Körner, Dipl. Designer

ISBN 978-3-00-032103-0

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Inhaltsverzeichnis

1. Ein ganz persönliches Vorwort

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2. Wegberg nach dem Kriegsende

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3. „Englische Besatzungszone“

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4. Einweisung von Vertriebenen 4.1 Zahlen und Zuordnungen 4.2 Menschen und Gesichter 4.3 Leben und Wohnen 4.4 Geld und andere Sorgen 4.4.1 Auskommen 4.4.2 Weiterkommen 4.4.3 Interessen

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5. Besonderheiten 5.1 Einige Besonderheiten 5.2 Besondere Besonderheiten 5.2.1 Baldige Heimkehr 5.2.2 Nazistische Vergangenheit 5.2.3 Konfessionen 5.2.4 Schulkinder

86 86 88 88 91 93 95

6. Wegberg verändert sich 6. Anhang

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8. Stichwortverzeichnis

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1. Ein ganz persönliches Vorwort Heute im Jahr 2009 ist es nun 70 Jahre her, dass unser deutscher Österreicher, der Diktator, Kanzler und „Führer“ Hitler durch den Einmarsch in Polen mit kaum zu übertreffender Selbstüberschätzung und menschenverachtender Denkweise den 2. Weltkrieg auslöste. In seiner Folge sind europaweit und auch bei uns unvorstellbare Zerstörungen angerichtet und viele Millionen Menschen getötet, gequält oder aus ihrer Heimat vertrieben worden. Dadurch sind dann auch nach dem Kriegsende 1945 viele deutsche Vertriebene hier nach Wegberg verschlagen worden. Da ein Rückblick in die Geschichte immer Anlass sein kann, unser heutiges Leben daran zu messen und vielleicht sogar neu zu ordnen, ist es sicher gut, an die Umstände der „Zuwanderung“ so vieler neuer Bürger in die damalige Gemeinde Wegberg wieder zu erinnern. Zwar gibt es umfangreiche Literatur über die „Vertreibung“ und „Eingliederung“ nach dem zweiten Weltkrieg,1 wobei auch schrecklichste Zustände und unmenschlichste Verhaltensweisen zur Sprache kommen, aber für die hiesige, örtliche geschichtliche Darstellung gibt es keine derartige Literatur, und so kann dieser Beitrag vielleicht ein Anfang dafür sein. Heute, wo es nun schon 60 Jahre her ist, dass mit Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik die längste Zeit ohne Kriegswirren in unserm Land begann, ist es drum nicht verwunderlich, dass das Thema „Vertreibung und Eingliederung“ eigentlich kaum mehr Beachtung findet. Das lässt ja vielleicht den tröstlichen Schluss zu, dass die „Integration“ der vielen „Neubürger“ längst als erfolgt angesehen und vergessen wird. 1 Ein Beispiel dafür ist das Buch von Kossert, Andreas, „Kalte Heimat“; siehe Literaturverzeichnis 4


In Polen z.B. ist allerdings der ganze geschichtliche Vorgang keineswegs vergessen, wie man in einem Artikel der Rheinischen Post vom 19.2.2009 lesen konnte. POLEN UND DEUTSCHE Streit um Vertriebene Die Nominierung der Vertriebenenbund-Präsidentin Erika Steinbach für den Beirat des geplanten Zentrums gegen Vertreibung lässt in Warschau und Berlin die Wogen hochgehen. VON DORIS HEIMANN UND GREGOR MAYNTZ WARSCHAU/BERLIN „Steinbach - die Tochter eines Feldwebels", schäumte die polnische Tageszeitung „Dziennik". Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, ist für die Polen immer noch ein rotes Tuch. Sobald bekannt wurde, dass der BdV die CDU-Politikerin für den Beirat der Erinnerungsstätte „Flucht, Vertreibung, Versöhnung" nominiert hatte, ging ein Aufschrei durch die polnischen Medien. Das Nachbarland fühlt sich durch diese Entscheidung erneut provoziert. „Erika Steinbach ist für uns ein Symbol für eine Tendenz in Deutschland, die Geschichte umzuschreiben", erklärt Jerzy Haszczynski, Kommentator und Auslandschef der konservativen Tageszeitung „Rzeczpospolita". Geschmackloser Höhepunkt der Auseinandersetzung um das Vertriebenenzentrum im Jahr 2003: Das polnische Magazin „Wprost" zeigte Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, in NS-Uniform auf dem Rücken des damaligen Kanzlers Schröder. Der Text lautet: „Das deutsche Trojanische Pferd" - „Die Deutschen schulden den Polen eine Billion Dollar für den Zweiten Weltkrieg". „Ewig-Gestrige“ gibt es dem Anschein nach also sicher nicht nur bei uns, sondern auch in allen möglichen Enden der Welt.

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Wir sollten trotzdem ohne unangebrachten Zorn einen Rückblick in die Ortsgeschichte versuchen. Die Aufnahme der Vertriebenen in Wegberg nach 1945 gestaltete sich wirklich nicht problemlos. Überörtlich waren von großem Einfluss: Das Verhalten der Siegermächte gegenüber Deutschland, die Währungsreform am 21.6.1948 und die Gründung der Bundesrepublik nach der Wahl am 14.9.1949, die dann bald auch zu neuen, wichtigen gesetzlichen Regelungen bundesweit in diesem Zusammenhang führte. Mit dem Jahr 1950 wurde die letzte Lebensmittelrationierung abgeschafft und die „Fresswelle“ begann. Hier örtlich waren noch weitere Umstände von Bedeutung: Viele Bewohner Wegbergs litten unter beträchtlichen Notständen als Folge des zweiten Weltkriegs. Das möchte ich im Teil 2 dieses Berichtes in Erinnerung bringen. Wegberg war „Englische Besatzungszone“, was ganz spezielle Folgen hatte, worauf ich im Teil 3 eingehen möchte. Die Einweisung von Vertriebenen verschärfte die Notstände in Wegberg, und die hinzugekommenen Vertriebenen waren davon stark betroffen. Im Teil 4 wird das abgehandelt werden. Die Eingliederung der Vertriebenen wurde unter manch anderen auch durch konfessionelle Besonderheiten zusätzlich erschwert. Dazu Teil 5. Am Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, welche Veränderungen man beachten sollte. Siehe Teil 6. Da ich nun schon seit 60 Jahren Bürger Wegbergs und auch selbst Ostvertriebener bin, sogar schon in zweiter oder dritter Generation, bin ich dem Themenkreis natürlich sehr verbunden. 1949 kam ich durch meinen Beruf als evgl. Religionslehrer nach hier. Geboren wurde ich in Lauban, einer kleinen Stadt in Niederschlesien. Heute ist das „Luban“ in Polen. Nachdem ich am 2. Weltkrieg teilnehmen 6


musste, kehrte ich 1945 nach Kriegsende wieder nach Lauban zurück und wurde von dort 1946 von den polnischen Machthabern vertrieben, die inzwischen das Land in Besitz genommen hatten (im Anhang unter 2.1 – 2.4 sind einige Dokumente dazu). Meine Eltern kamen nach dem 1. Weltkrieg 1920 mit ihren Eltern als „Verdrängte“ aus Westpreußen, das damals polnisch wurde, nach Lauban. Die Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits, als deutsche Beamte, hätten damals entweder die polnische Staatsbürgerschaft annehmen müssen, oder eben das Land verlassen. Sie entschlossen sich, deutsche Bürger zu bleiben, und mussten also die Heimat verlassen und kamen dadurch nach Lauban (im Anhang unter 2.5 – 2.7 sind Dokumente dazu). Damals haben sie als Vertriebene unter den einheimischen Schlesiern durchaus ähnliche Erfahrungen gemacht, wie die vertriebenen Schlesier z.B., als sie nach hier kamen, mit den einheimischen Rheinländern. Ich jedenfalls bin dadurch so etwas wie „Vertriebener in 3. Generation“. Aus diesem Umstand leite ich auch eine gewisse Berechtigung her, diese Thematik heutzutage noch anzusprechen. Dazu habe ich jetzt bei der Beschäftigung mit alten Akten und Dokumenten zum Thema mit etwas Verwunderung bemerkt, wie doch so vieles aus damaliger Zeit in Vergessenheit geraten ist oder womöglich gar verlorengegangen ist. Es wäre sehr schön, wenn viele Leser nun ermuntert würden, dazu beizutragen, dass diese Verluste verringert werden. Dank sage ich hiermit zahlreichen Zeitzeugen für wichtige Auskünfte zur Ausarbeitung dieser Zusammenstellung und besonders Herrn Düren, dem Stadtarchivar, der mit Sachkenntnis und großem Entgegenkommen den Einblick in Archivmaterial ermöglichte. Wegberg, im September 2009 HJ Haude 7


Gebiet der Kommunalgemeinde Wegberg in der Nachkriegszeit Also noch ohne Arsbeck, Wildenrath, Merbeck ..., aber mit Geneicken Karte: Landkreis Erkelenz, Verlag J. Herle. Nachf. J. Kehren Erkelenz vermutlich 1960

2. Wegberg nach dem Kriegsende Bei dem hier zu behandelnden Vertriebenen-Problem wird leicht vergessen, dass Wegberg im Anfang des Jahres 1945 noch beträchtliche Zerstörungen durch Kriegseinwirkung erfuhr. Zwar waren die Schäden nicht so schwer, wie in umliegenden größeren Städten, aber sie erschwerten den Hiergebliebenen und den aus der Evakuierung zurückkehrenden Wegbergern erheblich die Wiederherstellung eines normalen Lebens, ganz abgesehen vom allgemeinen Mangel, der sowieso herrschte. Die beiden folgenden Bilder, Hauptstraße und Rathaus 1945, lassen das erahnen. 8


Wegberg 1945 Oben HauptstraĂ&#x;e Unten Rathaus Bilder: Stadtarchiv Wegberg

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Über die Schrecken der Kriegszerstörungen kann man nachlesen bei Pothmann 1995 ab Seite 33. Der Heimatkalender 1952 nennt auf Seite 137 Erhebungen der Kreisverwaltung von 1945, nach denen die Gebäudeschäden in Wegberg so beziffert werden: Totalschäden 36 (35) schwere Schäden 41 (50) mittlere Schäden 105 (--) leichte Schäden 1269 (450) Die Zahlen in den Klammern nennt Pothmann Solche Statistiken sind halt immer erläuterungsbedürftig

Bei allen Zerstörungen: Wegberg hatte ein funktionsfähiges Krankenhaus2, das nicht total zerstört war wie die anderen in den Kreisen Erkelenz, Geilenkirchen und Jülich. Das war in diesen Jahren für die Bevölkerung eine große Hilfe. Die siegreiche Besatzungsmacht (anfangs noch die US-Armee) hatte 1945 Karl Peters aus Kipshoven als Bürgermeister eingesetzt und einen Gemeindeausschuss, und ihnen hatte man damit die Last und Verantwortung übergeben, alles zu regeln: Den Mangel zu verwalten, Kriegsschäden zu erfassen und den Wiederaufbau anzufangen, den Wohnraum zu erfassen und zu verteilen usw. Ganz allgemein regierte bis zur Währungsreform 1948 die „Zwangsbewirtschaftung“ mit Lebensmittelkarten, Bezugsscheinen und Verteilungskämpfen und dem Schwarzmarkt; es waren mit Sicherheit die schlimmsten Nachkriegsjahre. Für viele waren diese Jahre schlimmer als die Kriegsjahre. Sicher gab es damals auch hier einige, die immer noch an ziemlich vollen Töpfen saßen, getreu der satirisch variierten Nazi-Hymne „Die Preise hoch, die Zonen fest geschlossen, die Kalorien sinken Schritt für Schritt, es hungern immer nur dieselben Zeitgenossen, die andern hungern nur im Geiste mit“, wie der Volksmund sang.

2 Evertz, Nachlass Seite 9 über das Krankenhaus in diesen Jahren: „In dem dem Franziskanerorden gehörenden Krankenhaus stehen 101 Betten zur Verfügung. Von der Gemeinde wird ein jährlicher Zuschuß nicht gezahlt.“ 10


Zitat aus einer unveröffentlichten Familiengeschichte über 1945 3 „Obwohl wir natürlich überglücklich waren, wieder zu Hause zu sein, war aber auch die Nachkriegszeit noch sehr hart. Es gab nichts zu kaufen. Aus alten Wolldecken wurden Mäntel oder Jacken angefertigt, aus Fallschirmseide Gardinen oder Kleider, aus alten Gasmaskenteilen z.B. Kartoffelstampfer. ...“

Schlaglichter zum Thema aus Ratsprotokollen der Gemeinde Wegberg 24.09.1945 Bürgermeister Peters und der Gemeindeausschuss tagt mit 19 Mitgliedern. 5. Sicherstellung von Baumaterialien. Noch vorhandene Baumaterialien dürfen von den Besitzern nicht verwendet werden. Sie „sollen für dringende Bauvorhaben beschlagnahmt werden.“ 6. Kontrolle der Händler: „Die Geschäftsführung aller Händler und Geschäftsleute soll einer scharfen Nachprüfung unterzogen werden...“ 9. Veranstaltung von Tanzvergnügen. „Dieses wird mißbilligt… …daß die Unterdrückung derselben bereits veranlaßt ist“. Bei einem damaligen Tanzvergnügen spielte die Kapelle als „Marschtanz“ die Musik von „Ich hatt’ einen Kameraden“, einem bei Älteren allgemein bekannten Lied zur Ehrung von Kriegs-Toten. Als einige Tanzpaare daraufhin protestierten, kam es zu Auseinandersetzungen mit Jugendlichen, die für die Kapelle eintraten. 4 15. Bildung eines Bau- und Wohnungsausschusses. Anschließend eine größere Zahl von leeren Seiten im Protokollbuch !?! 08.02.1946 Sitzung der „Gemeindevertretung der Gemeinde Wegberg“ Bürgermeister Wilhelm Jansen, 23 Mitglieder, davon 3 Frauen !!!) b) Wohlfahrtsausschuss (8 Mitglieder bestimmt) 3 Herbrandt 1995, so berichtet in Aachener Volkszeitung vom 02.11.1946 auf Seite 4c 4 So berichtet in Aachener Volkszeitung vom 02.11.1946 auf Seite 4c

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25.02.1946 8. Betrifft die bisher im Amte befindlichen Beamten und Angestellten.“ (außer einem alle bestätigt) 9. Betrifft: Wiedereinstellung von früheren Angestellten und Neueinstellung von Angestellten. (5 abgelehnt, 2 bestätigt) 11. Zwei Einsatzleiter „für die Sofortmaßnahme Obdach“, abgesetzt wegen gegen sie vorgebrachter Klagen über die Amtsführung. Immer wieder finden sich in den Protokollen zahlreiche Genehmigungen für Geschäfts- oder Betriebs-Eröffnungen, an diesem Tag, 25.02.1946, sogar 68 an der Zahl. 29.04.1946 2. Haushaltsplan Einnahmen 258.317,29 RM Ausgaben 719.648,27 RM „Fehlbetrag“ 461.330,98 RM !! Wie lange noch manches in Trümmern liegen blieb, zeigt der Vorgang, dass erst im Sommer 1949 eine Anzahl von sieben noch voller Trümmerschutt liegende Grundstücke geräumt wurden, wobei sicher die Finanzierung das Problem bei der Angelegenheit war. Ratsprotokoll, 23.08.1949 7. Entschuttung von Hausgrundstücken in Wegberg. „…Die Kosten der Räumung sind nach §20 des Enttrümmerungsgesetzes vom 2.6.1948 Aufwendungen zur Beseitigung von Kriegsschäden im Sinne der KriegsschVO. und deshalb erstattungsfähig.“ (Hauptstraße 2; Beecker Str. 2; Bergstraße; Bahnhofstraße 2, gemeint sind jeweils zwei Grundstücke) Soweit einige Auszüge aus den Ratsprotokollen.

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Unter dem 8.8.1946 schreibt die Flüchtlingsbetreuungsstelle der Kreisverwaltung in Erkelenz, Abt. IV-Koe an die Gemeinde Wegberg:

An die Herren Amts- bezw. Gemeindedirektoren - Wohlfahrtsamt – Betrifft: Betreuung der Ostflüchtlinge. Bezugnehmend auf die Verfügung des Kreiswohnungsamtes – Aktenz. 100-8- nachdem in Kürze mit der Zwangseinweisung von ca. 2.200 Flüchtlingen für den Kreis Erkelenz zu rechnen ist, teile ich Ihnen mit, daß bei der Betreuung dieser Flüchlinge weitgehend die örtlichen Wohlfahrtsverbände und Ausschüsse in Anspruch zu nehmen sind. Ich denke in erster Linie bei der Ankunft 1. Verpflegung und Einweisung in die Quartiere, aber auch bei der weiteren Betreuung. Alle in Frage kommenden Stellen aber auch die Bevölkerung sind auf folgendes hinzuweisen: Diese Flüchtlinge, die doch immerhin unsere Brüder und Schwestern sind, dürfen niemals den Eindruck haben, daß sie auf verlorenem Posten stehen. Es ist unsere Sache, diese armen Menschen in jeder Weise zu unterstützen und ihnen neuen Lebensmut zu geben. Es muß alles getan werden, um ihnen beim Aufbau einer neuen Existenz in jeder Weise behilflich zu sein. Ich appelliere dabei an die Anständigkeit und Hilfsbereitschaft aller Bewohner des Kreises, in erster Linie aber an die zuständigen Stellen. Denken wir alle 2 Jahre zurück, als man uns zwangsweise von Heim und Gut vertrieb und wir werden in allen Fällen das nötige Verständnis aufbringen. Klarer kann man es ja kaum ausdrücken. Der gute Wille, der hinter solcher behördlicher Anweisung steht, kann nur lobend und staunend zur Kenntnis genommen werden.

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In der Schulchronik von Klinkum schreibt Hauptlehrer Gotzen unter 1945 über „Flüchtlinge“: „Ende Oktober kamen auch einzelne Familien nach Klinkum. Sie bezogen zuerst auf dem Saale des Herrn Fritz Goertz ein Sammelquartier. Aus einer gemeinsamen Küche wurden sie verpflegt. Die hiesigen Schulkinder sorgten in vorbildlicher Weise für die armen Flüchtlinge. ...“ In der Aachener Volkszeitung, am 2.11.1946 schreibt ein „Mitglied der Christlich-Demokratischen Union“: „Am Mittwochnachmittag lief der erste Flüchtlingszug für den Kreis am Bahnhof Erkelenz ein. Wer Zeuge dieser Begegnung war, konnte mit Befriedigung feststellen, daß seitens der Behörden eine mustergültige Organisation zum Abtransport in die einzelnen Amtsbezirke vorbereitet war. ...“ Anfang 1947 berichtet die Erkelenzer Volkszeitung über eine Denkschrift der Kreisverwaltung zur allgemeinen Lage im Kreis: 5 „Immerhin fällt beim Durchblättern der Denkschrift, sucht man hinter den gewohnten Formulierungen die nackten Tatsachen, angenehm ins Auge, daß sie sich abgewandt von unangebrachtem Optimismus einer realistischen Einschätzung der gegenwärtigen Gegebenheiten befleißigt. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren, am allerwenigsten von der Verwaltungsbürokratie lassen sich wunderhafte Wendungen zum Guten erwarten. Auch hier kann nur bekannt werden: während immer größere Berge von Papier verschrieben werden, wird die Substanz, von der wir leben, immer kleiner; ein Vorwärtskommen ist nur in verschwindend geringem Umfang und auf wenigen Gebieten zu verzeichnen. „Wir müssen das wissen“, so schließt die Einleitung des Berichtes in aller Offenheit, „und trotzdem Mut behalten und den verbissenen Willen, als Volk zu überdauern in eine bessere Zukunft“. ... Das Anwachsen der Kreisbevölkerung, vor allem der Zuzug von 3.394 Ostflüchtlingen, die durchweg alle Habe verloren haben, mußte die Lage in unserem durch den Krieg an sich schon stark mitgenommenen Gebiet besonders verschärfen. Das Mitgefühl mit unseren ihrer alten Heimat beraubten Neubürgern und der ehrliche Wille, ihnen zu helfen, entheben die Verwaltung nicht der verantwortungsbewußten Feststellung, daß die eigenen Möglichkeiten zumal in unserem Grenzkreis leider nur sehr beschränkt sind ...“


Diese kurzen Schlaglichter mögen genügen, um Verständnis zu zeigen für die nicht einfachen Verhältnisse, unter denen die Bevölkerung damals gezwungen war, viele Vertriebene aufzunehmen. Dabei kamen in den Jahren 1945/46 nur wenige „Flüchtlinge“ an, die eingewiesen werden mussten, der um ein Vielfaches größere Zustrom erfolgte dann erst in den folgenden Jahren. Wohl wegen der großen Kriegsschäden an Rhein und Ruhr hatte die britische Militär-Regierung in diesen Jahren die meisten Vertriebenen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein eingewiesen. Doch selbst in dieser für heutige Verhältnisse unsäglichen Notzeit haben sich, wie mir persönlich berichtet wurde, trotz der Zwangseinweisung zwischen „Eingewiesenen“ und „Gastgebern“ in vielen Fällen beste nachbarschaftliche Beziehungen ergeben. Man möge das hier bitte so im Gedächtnis halten, denn es müssen später auch Vorkommnisse zitiert werden, die ganz andere Akzente setzen.

5 Erkelenzer Volkszeitung vom 07.02.1947

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britische Zone amerikanische Zone franzรถsische Zone russische Zone


3. „Englische Besatzungszone“ Der Alliierte Kontrollrat wird im Juni 1945 aus den vier Oberbefehlshabern der Siegermächte gebildet und in Deutschland werden vier Besatzungszonen eingerichtet. Wegberg gehört dadurch zur britischen Besatzungszone, auf der Karte rot gezeichnet, im Volksmund „Englische Zone“. Dieser Vorgang ist von großer Bedeutung, weil dadurch Einflüsse, wie sie sich z.B. in der „Russischen Zone“ zeigten, hier vermieden wurden. 1945 hatte die russische Zone, wie man damals sagte „Ostzone“, wegen wilder Vertreibungen aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Grenze durch Polen die meisten Vertriebenen aufnehmen müssen. Aber „Vertriebene“ gab es nach der dort herrschenden ideologischen Ausrichtung gar nicht; denn obwohl über 4 Millionen aufgenommen werden mussten und auch anfangs konsequent eingegliedert wurden, wurden sie offiziell als „Umsiedler“ bezeichnet, weil es nach dortiger politischer Anschauung durch die sozialistischen „Brudervölker“ Vertreibungen mit all ihren Begleiterscheinungen nicht gegeben haben konnte. Eine Besonderheit der französischen Besatzungszone war, dass sich sowohl die französische Militärregierung als auch die deutsche Verwaltung weigerten, Ostvertriebene aufzunehmen, was dazu führte, dass damals der Vertriebenen-Anteil in der britischen und amerikanischen Zone bei etwa 17% lag, in der französischen Zone aber bei 1%. 6 6 so bei Kossert 2008, Seiten 87 u. 88 Karte links aus Putzger „Historischer Weltatlas“ Velhagen und Klasing, Berlin 1974

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Hier noch andere Beispiele, dass es durchaus von Bedeutung war, dass Wegberg zur britischen Zone gehörte und nicht z.B. zur französischen oder russischen. Im März 1945 wurden durch Anordnung des amerikanischen Oberbefehlshabers Eisenhower alle Beamten, Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes verpflichtet, „bis auf Weiteres auf ihren Posten zu verbleiben und alle Befehle und Anordnungen der Militärregierung oder der Alliierten Behörden ... zu befolgen und auszuführen.“ (Proklamation Nr. 1 von Eisenhower, März 1945) Als dann im Sommer 1945 die britischen Militärbehörden ihre Zone übernahmen, begannen sie, demokratische Strukturen anzustreben. So gab es also dann in Wegberg, wie schon im Abschnitt 2, Seite 9, erwähnt, einen deutschen Bürgermeister und einen „Gemeindeausschuss“. Für Wegberg setzte die brit. Militärregierung 1946 eine neue Gemeindevertretung ein. Unter den 23 Mitgliedern waren drei Frauen, was für damals schon eine erstaunliche Tatsache war. Auch für den Kreis Erkelenz wurde eine neue Vertretung eingesetzt. Am 23. August 1946 löst die britische Militärregierung die früheren Provinzen auf und gründet u. a. das „Land Nordrhein-Westfalen“; eine Landesregierung unter Rudolf Amalunxen wurde eingesetzt. Die sowjetische Militärregierung hatte schon im Juli 1945 in ihrer Zone 5 Länder geschaffen und die amerikanische in ihrer Zone im September 1945. In Bezug auf die Ostvertriebenen zeigte die britische Militärregierung in einem Punkt ein etwas merkwürdiges Verhalten: Sie untersagte den Vertriebenen (bis Herbst 1948) jegliche Art von Vereinigungen oder Zusammenschlüssen, wohl auch infolge von Interventionen der polnischen Regierung in London. 7 In welch gezielter Weise die britische Militärregierung Einfluss auf den Prozess der Demokratisierung z.B. in Wegberg nahm, kann man u.a. in einem Ratsprotokoll vom 24.09.1946 über die konstituierende Sitzung der neuen Gemeindevertretung nachlesen: 7 So stellt es Marion Gräfin Dönhoff dar in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 03.02.1949 18


24.09.1946 Konstituierende Sitzung der neuen Gemeindevertretung 1. Bürgermeister Jansen verliest einen Brief „des Herrn Bezirkskommandanten der Mil. Reg. in Aachen.“ Dann Ansprache „des Herrn Kreis Resident Offiziers Major Spragge“. 4. Bürgermeister Jansen wiedergewählt. 10. Dem brit. Kreis-Resident-Offizier wird die große Not der Bevölkerung in Bezug auf Kleidung und Schuhwerk vorgetragen. Major Spragge: Die Zuteilung sei den deutschen Behörden übertragen worden. Der Brief des Bezirkskommandanten der britischen Militärregierung in Aachen an die neue Gemeindevertretung in Wegberg und die Ansprache des britischen Verbindungsoffiziers aus Erkelenz sind eine rechte „Nachhilfestunde in Demokratie“. Es ist lohnenswert, sie nachzulesen. Man findet beides im Anhang, unter 1.1 und 1.2. Beim „Zeitungslesen“ in Archiven fanden sich einige interessante Meldungen aus der besonderen Notzeit 1946 über britischen Einfluss 8 „Seit dem 15. Juni 1945 sind nahezu eine Million Tonnen Lebensmittel in die britische Zone für die deutsche Bevölkerung eingeführt worden. Diese Lebensmitteleinfuhr, in der Hauptsache Weizen aus Großbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika, umfaßte unter anderem: Weizen, Feinmehl und Gerste 780.580 t, Kartoffeln aus Großbritannien rund 54.000 t, Frischgemüse aus Großbritannien und Holland rund 18.500 Tonnen, Fische aus Norwegen rund 46.200 Tonnen ...“ „Feldmarschall Montgomery hat im Hinblick auf die ernste Lebensmittelkrise eine Anordnung erlassen, wonach den Besatzungstruppen die Beschaffung von Nahrungsmitteln aus deutschen Quellen verboten ist.“ 8 Von der demokratischen Einstellung der britischen Militärregierung zeugt auch die Abstimmung, die sie in Bezug auf das Schulwesen im Frühjahr 1946 durchführen ließ. Die Bevölkerung stimmte dabei für die Wiedereinrichtung der Volksschulen als Konfessionsschulen, im Bezirk Aachen mit 8 so in Aachener Volkszeitung vom 23. März 1946, Wirtschafts-Rundschau

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„94,33 % der Abstimmungsberechtigten“, laut Aachener Volkszeitung vom 30.12.1946. In Bezug auf Wegberg mehr dazu im Abschnitt 5.2.4 . Ein ganz besonderes Problem dieser Notzeit in den ersten Nachkriegsjahren war infolge der Zerstörungen die Wohnungsnot. Durch die Einweisung von so vielen Vertriebenen wurde diese Notlage in höchstem Maße noch verschlimmert. In diesem Zusammenhang griff die Besatzungsmacht in rigoroser Weise durch das „Kontrollratsgesetz Nr. 18“ ein. Dieses „Wohnungsgesetz“ vom 8. März 1946 verpflichtete und ermächtigte die deutschen Behörden „Zwecks Erhaltung, Vermehrung, Sichtung, Zuteilung und Ausnutzung des vorhandenen Wohnraums“ zu scharfen und einschneidenden Maßnahmen, ohne die die Unterbringung der Vertriebenen überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Bei Verstößen gegen das Gesetz oder Widerstand gegen Anordnungen der Wohnungsbehörden drohte Strafverfolgung mit „Gefängnis bis zu einem Jahr und einer Geldstrafe bis zu 10.000 RM“. Bei aller Schärfe dieser Art regelte das „Wohnungsgesetz“ allerdings auf sehr nüchterne und realistische Weise die Rechte und Pflichten der Betroffenen, sowohl derer, denen man Wohnraum nahm, wie auch derer, den man ihn zwangsweise gab. So war ein regulärer Mietvertrag verpflichtend. Kam er nicht gütlich zustande, gab es einen Zwangsvertrag. Auch eine Mietzahlung war verbindlich. Da es ja einleuchtend war, dass die meisten Zwangseingewiesenen wahrscheinlich gar nicht von sich aus in der Lage sein würden, eine Miete aufzubringen, war geregelt, dass der tatsächliche Mietzins dann als „Mietzuschuss“ zu den Fürsorgemitteln vom Sozialamt zu zahlen war. Man hatte in diesem Zusammenhang so ziemlich an alles gedacht. 9 Den größten Schritt zur Besserung der allgemeinen Notlage brachte die von den drei westlichen Besatzungsmächten angeordnete Währungsreform. Ab dem 21. Juni 1948 war das „Altgeld“ Reichsmark abgewertet und ungültig und die Deutsche Mark war Zahlungsmittel. Dadurch kam der Schwarzmarkt für Waren und Dienstleistungen völlig zum Erliegen und alles war nach einiger Zeit wieder völlig normal zu kaufen. 9 Einzelheiten aus „Kontrollrat. Gesetz Nr. 18 Wohnungsgesetz“ und deutschen Ausführungsbestimmungen aus „Sozialministerium 1947, Seiten 37 ff 20


Noch einige Vorgänge durch britischen Einfluss bedingt: 1947: Bildung der „Bi-Zone“ aus amerikanischer und englischer Zone. 1948: Währungsgesetz vom 20.06.1948 und dadurch die Währungsreform und daraufhin Teilnahme am amerikanischen Marshallplan, der sehr wirkungsvoll zur Erholung der westdeutschen Wirtschaft beitrug. In diesem Währungsgesetz wurde schon damals von der Besatzungsmacht verlangt, dass der „Lastenausgleich“ gesetzlich geregelt werden müsse, was dann aber erst nach Gründung der Bundesrepublik 1949 durch das Soforthilfegesetz (SHG) und dem daraus sich entwickelnden Lastenausgleichsgesetz (LAG) umfassend geschah. Für den 17.10.1948 werden Wahlen angeordnet und durchgeführt. Flugplatz Wildenrath 1950 – 1952 gebaut. Hauptquartier JHQ Rheindahlen 1952–1954 gebaut. Seit 1955 auch Sitz der NAAFI (Versorgungsorganisation). Durch den Marshallplan flossen von 1948 bis 1952 rund 1,5 Milliarden Dollar nach Westdeutschland. 10 Die Sowjet-russische Besatzungsmacht lehnte die westliche Hilfe durch den Marshall-Plan wohl aus ideologischen Gründen ab, wie das nebenstehende Plakat aus der „Ostzone“ zeigt.

Bild: Plakat aus Ostzone 1948; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, LAV NRW OWL, D 81 Nr.1586 10 laut Angaben des Deutschen historischen Museums

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4. Einweisung von Vertriebenen Bei Kriegsende 1945 waren viele Millionen Menschen von ihren Heimatorten entfernt unterwegs, viele ohne greifbares Ziel. Die Wanderungsbewegungen gingen in alle Richtungen. Die durch die Kriegsereignisse evakuierten Wegberger begannen auf unterschiedlichste Weise nach hier zurückzukehren. Was sie hier vorfanden, ist ja schon angedeutet worden. Und auch viele aus den ostdeutschen Gebieten Geflüchtete, kehrten in die Heimat zurück. Die drei großen Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion hatten schon lange beschlossen, Gebietsverschiebungen besonders im Osten vorzunehmen. In Teheran 1943 und schließlich im Februar 1945 in Yalta wurde klar die Oder-Neiße-Grenze als Ostgrenze Deutschlands beschlossen und auch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich dieser Grenze und auch aus den Ländern des „Ostblocks“, wie z.B. Polen, Tschechoslowakei, Ungarns usw.. Durch diese Vorgänge bedingt begann teilweise schon im Sommer 1945 eine chaotische erste Vertreibung der deutschen Bevölkerung. In den nun polnischen Gebieten z.B. in Schlesien und Pommern und danach dann gab es eine systematische Vertreibung der deutschen Bevölkerung in den Ostblock-Ländern unter Mitwirkung der britischen Militärregierung, die Vertriebene in ihre Zone einwies. Dadurch kam es nun auch zur Einweisung von „Flüchtlingen“, wie man verallgemeinernd sagte, nach Wegberg, die meist fast ohne jede Habe hier ankamen.

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In der Regel verlief die Einweisung von Vertriebenen nach Wegberg so, dass die für hier vorgesehene Anzahl aus dem Auffanglager Wipperfürth mit der Bahn nach Erkelenz transportiert wurde. Das Flüchtlingsamt des Kreises Erkelenz verteilte auf die einzelnen Gemeinden. Mit Auto-Bussen ging es dann in die Gemeinde Wegberg. Hier kam man meist erst für einige Wochen mit der mehr oder weniger vorhandenen Habe in einen Lager-Saal, der in einer Gaststätte als Notquartier hergerichtet wurde, wie z.B. bei Schmitz-Imkamp in Uevekoven, Esser in Tüschenbroich, Jansen-Zinsen in Rath-Anhoven, „Roter Hahn“ in Harbeck oder Goertz in Klinkum. Als 1947 z.B. in Rickelrath wieder einige Familien zugewiesen wurden, wurde einfach die Kegelbahn einer Gaststätte mit Stroh ausgelegt und zum Schlaf- und Wohn-Saal gemacht. Später dann wurde in einen inzwischen „ermittelten“ Wohnraum eingewiesen, der durch „Wohnraum-Zwangsbewirtschaftung“ beschlagnahmt worden war. Solche einschneidenden Maßnahmen wurden durch das im Abschnitt 3 schon erwähnte Kontrollratsgesetz Nr. 18 zur Zwangsbewirtschaftung von Wohnraum ermöglicht und waren sicher unvermeidlich, da „freier“ Wohnraum einfach nicht zur Verfügung stand. Häufig wurden Wohnräume mit Mobiliar beschlagnahmt, häufig räumte man vor der Zwangseinweisung schnell die Räume wieder leer. Das „Flüchtlingsamt“ und das „Wohlfahrtsamt“ waren immer gefordert durch ihr Eingreifen halbwegs „bewohnbaren“ Wohnraum zu beschaffen und im Notfall auf vielerlei Weise für die Ausstattung der Wohnräume zu sorgen.

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4.1 Zahlen und Zuordnungen Wie viele „Flüchtlinge“ hat denn Wegberg nun eigentlich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 aufnehmen müssen? Um es gleich zu sagen: Nach meiner Vorstellung wirklich korrekte Zahlen über diesen Vorgang anzugeben ist sehr schwierig. Natürlich gab es in Wegberg ein korrekt arbeitendes Meldeamt, aber die Einordnung der „Neuzugänge“ war schon von der Begriffsbestimmung her problematisch, und Verwaltungs-Strukturen und Regelungen für diesen Problemkreis mussten ja erst noch geschaffen werden. Schon die damals üblichen unterschiedlichen Bezeichnungen für Anzumeldende machen das Problem deutlich: „Flüchtlinge“ sagte man anfangs ganz allgemein, oder Ostflüchtlinge, Vertriebene, Ostvertriebene, Heimatvertriebene, Umsiedler, Neubürger. Heimkehrer gab es, die eigentlich „Flüchtlinge“ waren; Flüchtlinge gab es, die aus der „Ostzone“ kamen und noch vieles mehr. Die zuständigen Ämter in Wegberg und beim Kreis waren schon in den Anfangsjahren 1945/46 bemüht, die Erfassung und die Einweisung von „Flüchtlingen“ in geordnete Bahnen zu lenken, korrekte Zahlen zu ermitteln usw., aber wohl auch nicht immer gleich mit vollem Erfolg. Man hat sicher den Umfang und die Anforderungen des ganzen Problems anfangs unterschätzt, da erst wenige Flüchtlinge ankamen und die Bearbeitung des Problems einfach ans Wohlfahrtsamt ging. Dabei gab es längst, seit November 1945, durch die Militärregierung die klare „Anordnung Nr. 10 für die britische Zone“, die die Organisation durch die deutschen Behörden klar vorschrieb.11 11 die vollständige „Anordnung Nr.10“ findet man in „Sozialministerium 1947“ ab Seite 22 24


In Wegberg hatte man das anscheinend anfangs nicht ernst genommen. So mahnt unter dem 21.08.1946 die Kreisbehörde „Flüchtlingsbetreuungsstelle Abt. IV-Koe.“ in einem Schreiben in Wegberg an.

An den Herrn Gemeindedirektor in Wegberg Betrifft: Namhaftmachung eines Sachbearbeiters für Flüchtlingsfragen. Bezug: Meine Verfügung vom 7.8.1946 – Abt. IV Koe. – An obige Verfügung erinnere ich letztmalig und erwarte ihre Angaben bis 24.8.1946. Gleichzeitig erinnere ich nochmals an meine Verfügung vom 31. Juli 1946 über Anlage einer Flüchtlingskartei und erwarte Ihre Angaben nunmehr bis zum 24.8.1946. Im Auftrage: gez. Reinartz. Beglaubigt Unterschrift

Auf der Rückseite des Schreibens ist handschriftlich ein Antwort-Entwurf vom 22.8.46: „Bericht an den Herrn Oberkreisdirektor“: „Folgende Sachbearbeiter kommen in Frage: 1. Wohnungswesen Gemeindesekretär Gerhards 2. Güterscheine und Sachwerte, Angestellter Kamps vom Wirtschaftsamt 3. Flüchtlingskartei und Statistiken, Angestellter Jacobs vom Meldeamt 4. Barbetreuung (Wohlfahrtswesen) Sekretär Karduck. Gemeindesekretär Karduck überwacht als Sachbearbeiter für Flüchtlingswesen ab heute die ordnungsmäßige Erledigung. ...“ 12

12 so aus Akten des Stadtarchivs Wegberg, unter 194 608 21

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1946 wurden überhaupt erst „Sachbearbeiter“ für den Bereich „Flüchtlinge“ eingesetzt, also amtliche, sachkundige Stellen geschaffen. Bis dahin war wohl eben irgendjemand z.B. aus dem Sachbereich „Soziales“ mit dem Problemkreis befasst. Und eben auch mit der Anlage einer besonderen „Flüchtlingskartei“ wurde begonnen. 13 Zählungen und Erfassungen wurden durchgeführt. Im März 1947 gab das Düsseldorfer Ministerium einen umfangreichen Fragebogen heraus, den jeder „Flüchtling“ oder Flüchtlingshaushalt ausfüllen sollte, wodurch bis ins Einzelne Informationen über die hier befindlichen Flüchtlinge gesammelt werden sollten. Eine zweiseitige Anleitung für das Ausfüllen wurde nötig und beigegeben, gedacht wohl auch für den ausfüllenden Beamten oder Angestellten der Behörde, weil alles ziemlich kompliziert war. 14 In dem Zusammenhang wird bei „Flüchtlingen“ unterschieden zwischen OF = ostdeutsche Flüchtlinge, Vertriebene aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Sudetenland und Tschechoslowakei usw., VF = volksdeutsche Flüchtlinge, Vertriebene der deutschen Volksgruppen im Ausland, z.B. aus den baltischen Staaten, Polen, Russland, Balkanstaaten, AF = auslandsdeutsche Flüchtlinge, Reichsdeutsche aus dem Ausland nach dem Gebietsstand vom 1.9.1939, R = Flüchtlinge aus dem Gebiet der damaligen Sowjet-russischen Zone.15 Eintreffende entlassene Kriegsgefangene aus diesen Gruppen sollten dann entsprechend eingeordnet werden. Im Mai 1947, wie das folgende Dokument belegt, gab es in Wegberg nach den oben genannten Richtlinien eine große „Erfassung“ aller „Vertriebenen und Flüchtlinge“ mit der doch etwas seltsamen Auflage, dass die „Flüchtlinge“ im Amt selbst erscheinen müssten, um sich „zählen“ zu lassen, sonst ginge die Anerkennung als Flüchtling verloren. (Da hatte womöglich die zur Zeit Jesu von Augustus angeordnete „Zählung“ als Vorbild gedient. Also machte sich jeder eben zum Rathaus Wegberg auf.) 13 die Kartei war nach so vielen Jahren in Vergessenheit geraten und wurde erst 2009 vom Stadtarchivar wieder ausfindig gemacht 14 Anleitung in den Flüchtlingsakten im Stadtarchiv Wegberg 15 Diese Einordnung wurde vom Sozialministerium Düsseldorf im Januar 1947 so angeordnet unter - I C 206 -; aus „Sozialministerium 1947“, Seite 35 26


Flüchtlings-Akten Bild: Stadtarchiv Wegberg

Nun, wo die große Fragebogen-Aktion anlief, meldete sich die Kreisbehörde am 19. Mai 1947 mit folgender Mahnung: 16 „Betrifft: Flüchtlingsfragebogen“ „Ich mache nochmals darauf aufmerksam, daß mit dem Flüchtlingsfragebogen äußerst sparsam umgegangen werden muß, da bei der hiesigen Stelle kein Vorrat mehr vorhanden ist. ...“ Ein kleiner Blick auf die damalige bescheidene Ausstattung der Ämter. 16 Schreiben des Flüchtlingsamtes beim Kreis, in den Flüchtlingsakten Stadtarchiv Wegberg

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Nach der nebenstehenden Statistik waren im Mai 1947 etwa 200 Personen durch diese komplizierte Zählerei zu erfassen. Man kann sich das Gewusel auf Zimmer Nr. 3 im Rathaus gut vorstellen, wo ja vermutlich wohl durch einen einzigen Mitarbeiter die ganze Aktion durchgeführt werden musste. Diese Statistik unterscheidet nun deutlich nach „Flüchtlingsgruppe A“ (OF, VF, AF), also den Vertriebenen, und „Flüchtlingsgruppe B“ (R), also Ostzonen-Flüchtlingen. Bei Gruppe A fällt bei den Erwachsenen der geringere Anteil der Männer auf, was aber dadurch erklärlich ist, dass bei zahlreichen Familien die Mütter mit ihren Kindern allein vertrieben wurden, da die Väter noch in Kriegsgefangenschaft waren oder gar nicht mehr lebten. Und bei den Gesamtzahlen ist der weit höhere Anteil an Evangelischen auffällig. Beachtlich sind die umfangreichen Bemühungen, Übersicht zu erhalten und womöglich noch beizubehalten. Zusammengefasst kann man folgende Zahlen angeben: 17 Wegberg Volkszählung 1939

Einwohner

davon „Flüchtlinge“ (A und B)

9.047

-

in % -

Volkszählung 1946

9.799

?

Volkszählung 1947

10.360

610

5,9 %

-

Pers.St.-Aufn. 1948

10.909

1.060

9,7 %

1.171 Pers.St.-Aufn. 1950

11.295

1.318

11,7 %

Pers.St.-Aufn. 1951

11.443

1.426

12,5 %

Pers.St.-Aufn. 1952

11.548

1.493

12,9 %

links: Amtliche Statistik vom Juli 1947 über „Flüchtlinge“ Bild: Stadtarchiv Wegberg 17 sie ergeben sich aus den Meldebögen des Flüchtlingsamtes und den Angaben bei Evertz, Nachlass S.4

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Über die nach dem Bundesvertriebenengesetz von 1953 als Vertriebene und Flüchtlinge Anerkannten ergibt die oben schon erwähnte Wegberger Flüchtlingskartei, die bis zur Kommunalreform 1975 weitergeführt wurde und in der die erfasst sind, an die ab 1953 nach der Beantragung Ausweise ausgegeben wurden, noch folgende interessanten Zahlen: Bis dahin hatten 1709 Personen amtlich durch Ausweis die Anerkennung erhalten. Bei Kriegsende 1945, also Beginn von Flucht und Vertreibung, verteilte sich dieser Personenkreis auf folgende Altersgruppen: Alter

männlich

weiblich

1)

über 60 Jahre alt

24

31

2)

45 – 60 Jahre alt

77

119

3)

20 – 45 Jahre alt

278

320

4)

10 – 20 Jahre alt

163

144

5)

bis 10 Jahre alt

207

174

82

84

erst nach 1945 geboren

Dieser letzte Teil des Personenkreises, der nach 1945 Geborenen, erhielt die Anerkennung als Vertriebener und Flüchtling nach dem Bundesvertriebenengesetz als „Nachgeborene“. Bei den Altersgruppen 1) – 3) war in den ersten Nachkriegsjahren die Überzahl der Frauen weit stärker als in der jetzigen Gesamt-Statistik, weil viele der Männer durch Kriegsgefangenschaft und anderes erst Jahre nach Kriegsende mit ihren Familien wieder zusammenkamen.

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Die Herkunft der Vertriebenen ergab sich nach der Kartei wie folgt:

Ostpreußen

429 Personen

Pommern

240 Personen

Niederschlesien

202 Personen

Oberschlesien

118 Personen

Westpreußen

114 Personen

Danzig

49 Personen

Polen

110 Personen

Sudetenland/CSSR

80 Personen

Baltische Länder

32 Personen

Sowjet-Zone, süd

108 Personen

Rumänien

19 Personen

Sowjet-Zone, nord

93 Personen

Jugoslawien

90 Personen

Ukraine

6 Personen

Bessarabien

5 Personen

Östereich

7 Personen

Ungarn

2 Personen

Belgien + Niederlande

3 Personen

Der früher einmal östlichste Teil Deutschlands hat zu der kleinen Völkerwanderung in das im westlichsten Teil Deutschlands liegende Wegberg am meisten beigetragen.

Rumänien Jugoslawien

Andere

Ost-Zone, Süden Ostpreußen

Ost-Zone, Norden Baltikum Sudetenland CSSR Polen

Pommern Danzig Westpreußen Ober-Schlesien

Nieder-Schlesien


32

4

1

Wegberg

80

108

93

7 2

90

202

240

118

110

114

49

429

32

19

6

5


Bild links: Über 1.700 Vertriebene kamen nach 1945 nach Wegberg. Die gesamte Zuwanderung sieht auf einer Europakarte recht beeindruckend aus Karte aus Neuer Großer Weltatlas, Südwest-Verlag München 1960

Ausweise Da es aus mancherlei Anlässen wichtig war, dass sich jemand als „Flüchtling“ ausweisen konnte, z.B. bei der Vergabe von Wohnraum, beim Erwerb von Hausrat und Mobiliar usw., erhielten ja die rechtmäßig Anerkannten „Flüchtlinge“ einen Ausweis, durch welchen die Einordnung erkennbar war.

Ein Ausweis in der früheren Form, Gruppe A

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Die endgültigen Ausweise (60er Jahre!) sind wieder anders. „Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge“ Ein Ausweis von 1962, Gruppe A 18

18 die beiden Ausweise wurden von einer Vertriebenen freundlicherweise zur Verfügung gestellt 34


Das Bundesvertriebenengesetz von 1953 regelte das dann alles genauer und benutzte Einteilungen wie „Vertriebener“, „Heimatvertriebener“ und „Sowjetzonenflüchtling“ (BVFG §§1-3), wobei es heißt: „Wirtschaftliche Gründe allein rechtfertigen nicht die Anerkennung als Sowjetzonenflüchtling“. In solchen Fällen wird wohl die Zuordnung zur Gruppe der „Flüchtlinge“ nicht ganz einfach gewesen sein angesichts der unterschiedlichsten Einzelschicksale dieser Menschen. Für meine Person lege ich jedenfalls Wert auf die Bezeichnung „Heimatvertriebener“; denn ich bin keineswegs geflüchtet sondern wurde mit Gewalt vertrieben von meiner Heimat und meinem Eigentum, wie die meisten „Flüchtlinge“. Aber genug nun von Statistik und Verwaltung. Es kamen jedenfalls sehr viele nach Wegberg: nämlich Menschen, Mitmenschen, mit vielfach unmenschlichen Schicksalen, Überlebende, Übrig-Gebliebene eines wahnsinnigen Krieges, wie ja die Wegberger auch waren.

35


Bilder aus Privatbesitz der Fotograf ist leider unbekannt 36


4.2 Menschen und Gesichter Da sollen einige Bildbeispiele aus den ersten Jahren genügen. Mancher wird wohl manchen erkennen. Die Mütter mit Kindern, die allein hier anfangen mussten, weil die Väter noch vermisst, noch in Gefangenschaft oder gar tot waren, haben damals wohl die größte Last getragen, und auch die anderen Frauen und Mütter, wenn es damals um das tägliche Überleben ging. Darum sollen hier, als Hinweis auf so viele, einige wenige Bilder von Frauen aus den ersten Jahren stehen. In der „großen Politik“, bei den Flüchtlingsbetreuern, bei den Einstellungen in der Verwaltung, in der Leitung der Interessenverbände tauchen allerdings immer nur Männer auf.

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Vor dem Jugendheim in Arsbeck

Am Hagelkreuz in Wegberg beide Fotos: Pinzek

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Im Sommer 1949 taten sich einige Jugendliche der Vertriebenen in Wegberg zusammen und gründeten eine Jugendgruppe. Gerade auf diesen beiden Bildern von dieser Jugendgruppe wird so mancher noch manchen erkennen können. Diese Jugendgruppe der Vertriebenen in Wegberg war für den ganzen Kreis Erkelenz schon eine Besonderheit, besonders weil ihr von Anfang an nicht nur jugendliche Vertriebene angehörten.

Die Aachener Volkszeitung schrieb dazu am 29. 6. 1949: „Zu einer Jugendgruppe schloß sich die heimatvertriebene Jugend in der Gemeinde Wegberg zusammen. Frohes Jugendleben, die Pflege des Heimatgedankens, Kennenlernen auch der Zufluchtheimat und nähere Verbindung mit der einheimischen Jugend sind die Aufgaben, die sich die Gruppe gestellt hat. Erfreulich ist die rege Beteiligung der ostvertriebenen Jugendlichen und erstaunlich das Durchschnittsalter: 19 – 20 Jahre.“

Anfangs gab es große Schwierigkeiten, Räumlichkeiten für die Zusammenkünfte zu bekommen, da wurde sogar einige Zeit in einem Büroraum im Rathaus „getagt“, bis dann die Gemeinde einen Schulraum zur Verfügung stellte. Unter Leitung von Wolf Dobrowolny hatte die Gruppe bis Mitte der 50er Jahre Bestand.

39


Einige Kinder aus den Anfangsjahren. T端schenbroich 1950 Da werden schon einige sich wiederfinden.

Wegberg 1955. Im Abschnitt 5.2.4 sind noch mehr Schulkinder zu sehn. Fotos: HJH

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4.3 Leben und wohnen In unserer europäischen Gesellschaft ist Wohnraum der Ausgangspunkt für ein menschenwürdiges Leben und Überleben. Ihn zu schaffen, zur Verfügung zu stellen und zu erhalten ist daher eine Aufgabe für alle in einer Gemeinschaft. Nach den furchtbaren Verhältnissen nach 1945 nach dem zweiten Weltkrieg war auch in Wegberg diese Aufgabe schwer zu erfüllen, wie schon im Abschnitt 2 erwähnt. Und das wurde durch die Einweisungen so vieler Vertriebener noch mehr erschwert. Der damalige Rentmeister der Gemeinde Evertz nennt dazu folgende ernüchternde Zahlen: 19 1939 gab es in Wegberg

3.229 Wohnungen.

Nach den Zerstörungen im Krieg gab es 1945 nur noch

2.438 Wohnungen, die unzerstört waren.

Wohnungssuchende Erfassungen und Zuweisungen 1947

470

294

1948

405

220

1949

528

174

1950

643

177

1951

504

93

1952

577

75

19 so bei Evertz, Nachlass Seite 8

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Angesichts solcher Zahlen war für Vertriebene der erste Schritt nach Wegberg ja schon ein schwieriger, steiniger Weg: Einweisung in Wohnraum! Oben im Abschnitt 4. ist der „normale“ Weg für Vertriebene ja schon angedeutet worden: Nach langem Transport aus der Heimat, fast immer im Güterwagen der „Reichsbahn“, ging es in ein Auffanglager, z.B. nach Wipperfürth, wo man registriert, untersucht und „entlaust“ wurde, wie das noch erhaltene Dokument links zeigt. Nach mehr oder weniger langer Zeit im Auffanglager ging es über Erkelenz nach Wegberg in ein Notquartier, z.B. mit vielen Familien in einem Gasthaus-Saal, und nach mehr oder weniger langen Wochen wurden Familien und Einzelpersonen in „beschafften“ Wohnraum eingewiesen. Die Einweisung organisierten die Wegberger Behörden in Zusammenarbeit des Flüchtlingsamtes, des Wohnungsamtes und des Sozialamtes und häufig in Zusammenarbeit mit dem Kreisflüchtlingsamt und der örtlichen Polizei, deren Hilfe bei zahlreichen Einweisungen erforderlich war. Die britische Besatzungsmacht hielt sich da völlig zurück und überließ alles den deutschen hiesigen Ämtern, und die mussten in den Fällen, wo unsre Verwaltung womöglich mangels entsprechender Machtmittel in der Durchführung scheiterte, erst um Amtshilfe gebeten werden. Als Beispiel dafür ein Beschluss des Wegberger Rats vom Mai 1947: 20 „3) Verschiedenes.“ „Der Rat nimmt mit Entrüstung Kenntnis von dem Vorgehen des Bauern... in Rath gegen die bei ihm eingewiesenen Ostflüchtlinge und beantragt einstimmig, diesen Vorfall der Militärregierung des Kreises mit der Bitte um Abhilfe zu unterbreiten.“

In den ersten Jahren nach 1945 gab es immer wieder beträchtliche Schwierigkeiten bei der Einweisung der „Flüchtlinge“, was angesichts der allgemeinen Notlage und dem Bestreben aller Beteiligten, die eigene Not so 20 so im Ratsprotokoll des Wegberger Gemeinderats vom 13. Mai 1947

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weit wie möglich zu vermindern, ja verständlich ist. Drum gab es immer wieder Bemühungen, Verständnis bei allen Beteiligten für „die anderen“ zu wecken. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel in der Aachener Volkszeitung vom 2. 10. 1948 mit dem Titel „Mit den Augen eines Ostvertriebenen gesehen“, geschrieben von Friedrich Stoll. 21 Die Redaktion schrieb als Vorwort: Nachstehende Zeilen sind von einem Ostvertriebenen als „ein Wort der Verständigung“ geschrieben. So wollen sie gelesen sein, auch wo sie hart sind und hart klingen. Wie anders könnte die Sprache eines entheimateten Menschen sein! Wir hoffen, daß auf diese offenen Zeilen hin ein Einheimischer die Diskussion fortsetzt, nicht um mit Gegenklagen zu antworten, sondern um einfach von den Einheimischen zu sprechen und um mit den Ostvertriebenen gemeinsam nach dem Wege zu suchen, die schwere Zeit zu überwinden. Die Red. Anschließend schrieb F. Stoll (hier nur Auszüge) : Zwei Jahre sind es her, als der erste Strom der Flüchtlinge in dieses Gebiet einströmte. Seitdem ist der Strom mit geringen oder größeren Unterbrechungen nicht versiegt, ... Doch sind noch weitere Flüchtlinge zu erwarten. Deshalb und im Ausblick auf die kommenden Kommunalwahlen verlohnt es sich, Rückschau zu halten und aufzuweisen, was einer gedeihlichen Weiterentwicklung und einem Heimischwerden abträglich ist und einer Verständigung entgegensteht. Der Verfasser gehört zu den ersten Flüchtlingen, welche im Oktober 1946 im Nordteil des Bezirkes eintrafen. Kein Willkommen, keine offene Tür. Nach naßkalten Tagen in leeren Viehwagen, ohne jegliches Stroh und ohne jedes warme Essen, wanderten wir, Kinder, Säuglinge, Mütter, Greise, von Tür zu Tür. Nach Tagen war es möglich, die paar Familien endlich unterzubringen. Wie beschämend waren diese Gänge von Haus zu Haus, diese mitleidslose Beurteilung. ... Man muß dies schonungslos sagen, da zwei Jahre fast ohne Ände21 F. Stoll war damals 1. Vorsitzender der „Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen Kreis Erkelenz“ 44


rung der Verhältnisse an den Flüchtlingen vorübergegangen sind. ... So kommt es noch heute vor, daß ein Schwerarbeiter, will er zur Arbeitsstätte, durch das Fenster, will er in seine Wohnung, wieder durch das Fenster steigen muß, weil die Türen verschlossen werden und ihm kein Hausschlüssel gegeben wird, er aber die Wohnung betreten muß. So verbietet man die Entnahme von Wasser, die Entnahme von Strom durch Durchschneiden der Stromzufuhr (Zähler sind nicht vorhanden), die Benutzung von Klosett und Waschküche, von Trockenboden und Trockenplatz. Diese Liste kann beliebig verlängert werden, insbesondere mit der Ausnutzung der Arbeitskraft der Flüchtlinge ohne Entgelt, ... Doch der Verfasser will nicht nur geißeln. ... Auch der Flüchtling wird sich sagen, was der hier Ansässige an Schwerem durch jahrelangen Bombenterror ... und durch die Kampfhandlungen mit allen erschütternden Erlebnissen durchgemacht hat. Sein eigenes Leid läßt ihn das Leid des anderen verstehen und erkennen. ... Dazu weiter ein Bericht aus der Aachener Volkszeitung von Samstag, dem 23.10.1948. Wie schon am Ende des Abschnitts 2 angedeutet kommen auch hier in dem Bericht „Mit Flüchtlingen unterwegs“ erfreuliche aber auch erschreckende Vorkommnisse zur Sprache. Auch sie lassen erkennen, mit welchen Schwierigkeiten die Behörden, die Vertriebenen und die aufnehmenden Einheimischen immer wieder zu kämpfen hatten: Wegberg. – Das Flüchtlingslager in Rath-Anhoven war nicht schwer zu finden. Schon von weitem fiel es auf durch die Menschen, die vor dem Saal nach den beiden Lastkraftwagen Ausschau hielten, die in den frühen Morgenstunden mit Flüchtlingen in die umliegenden Ortschaften gefahren waren und sich noch immer nicht wieder eingefunden hatten. Und mancher von den Umstehenden äußerte schon besorgt: „Wenn ein Wagen schon soviel Schwierigkeiten bereitet, was wird denn mit uns noch werden?“; denn alle hofften, nachdem sie jetzt 14 Tage in dem Lager zugebracht hatten, noch vor dem Sonntag eine feste Bleibe zu finden. ... Im Saal war es still, trotz der fünfzig Leute, Frauen, Kinder und einige Männer, die sich darin aufhielten. Alles saß apathisch herum, dicht bei den beiden Oefen, die an der Tür und am Podium kaum spürbar Wärme spendeten, 45


oder lag „auf seinem Bett“, einem Haufen auf den Fußboden gebreitetem Stroh; in der Nähe die letzten Habseligkeiten aufgestapelt, ... Dann stürzte ein Bub von etwa zehn Jahren herein „Das Auto ist da, das Auto ist da!“ Die Liste wurde aufgerufen und jeder half jedem auf den Wagen ... Dann fuhr der Wagen ab, ... Auf dem Programm standen Buchholz, dann Kipshoven, Moorshoven und noch einige Ortschaften. In Buchholz ging alles flott. Bereits am Vormittag hatten sich Hauseigentümer und Wohnungsamt miteinander verständigt, und der ostpreußische Bauer verließ mit seiner Frau frohen Mutes den Wagen. ... Schon gleich in Kipshoven wurde die Situation heikel. Vor einem großen Neubau hielt der Wagen an, und als sich das Tor dem Klopfen der Wohnungsabordnung öffnete, ergoß sich eine Springflut von Beschwörungen über die Häupter der Besucher. Die Besichtigung nach der Behauptung, daß kein Platz vorhanden sei, ergab sechs Räume, von vier Personen bewohnt. Die abweisenden Argumente sind immer die gleichen. Meistens heiratet zufällig der Sohn oder die Tochter; aber immer hat der Nachbar die meisten Zimmer frei, die zu erfassen doch wohl vordringlichste Aufgabe des Wohnungsamtes sei. „Nun seid doch vernünftig...“ so beschwor die Hausfrau, aber der Hausherr setzte seinen Aeußerungen mehr Kraft bei, indem er drei- viermal die rechte Hand auf die vorgestreckte linke knallte und schrie: „Nicht bis hier, bis da – und er zeigt unmißverständlich auf die Muskeln seines Armes – hab ich es. Und wenn es sein muß, dann schmeiß ich sie mit der Gaffel auf die Straße!“ und er stürzte die Treppe hinab auf den Hof, wo er sich mit der Mistgabel neben die Tür postierte. Zwar kam man unbehindert auf die Straße, aber es gelang nicht, die Flüchtlingsfrau in die Zimmer einzuweisen, so daß das Einschreiten geharnischterer Instanzen erforderlich sein wird. Glücklicherweise kommen solche Fälle selten vor. Zwar gibt es bei den meisten Einweisungen kleine Auseinandersetzungen, die begreiflich sind; denn eine Flüchtlingsfamilie, und sei sie noch so klein, ist nun einmal eine Belastung, zumal es meist nicht mit dem Zur-Verfügungstellen des nackten Raumes getan ist. Aber in den meisten Fällen, und wohl gerade bei den Minderbegüterten, siegt doch vor solcher Not die größere Nächstenliebe. Den großen Bauern kann der Vorwurf nicht erspart bleiben, am rücksichtslosen gegen die 46


Vertriebenen vorzugehen, denen sie weniger Wert beimessen als ihrem Obst. Es ist da manchmal hoch an der Zeit, daß die Polizei beweist, eine Autorität zu besitzen und wirklich zum Schutze des Schwächeren da zu sein. Anderseits muß festgestellt werden, daß mancher Aerger nicht existieren würde, wenn die Wohnungsausschußmitglieder sich mehr um ihren Bezirk, und die Aemter sich mehr um die Karteikarten kümmern würden, denn nicht immer sind die Flüchtlinge oder der „verständnislose“ Einheimische schuld. ... Zwei Wochen später gab es im Zusammenhang mit dem damaligen „Dauerproblem“, der Wohnraum-Beschaffung in Wegberg Aufsehen erregende Vorgänge und im neugewählten Gemeinderat ungewöhnliche Beschlüsse, wie die Aachener Volkszeitung am 17.11.1948 meldete: „Die Gemeindevertreter erkannten das Wohnungsproblem als besonders wichtig und faßten den Beschluß, daß der Gemeinderat in seiner Gesamtheit (12 Gemeindevertreter) als Wohnungsausschuß tätig sein soll. In der Unterbringung der Flüchtlinge steht die Gemeinde Wegberg zur Zeit besonders im Mittelpunkt, weil in den letzten Wochen fast 400 Flüchtlinge von der Gemeinde Wegberg aufgenommen und untergebracht werden mußten. ... Der Leiter des Kreiswohnungsamtes, Sieben, der durch Kreistagsbeschluß vom 11. Oktober als Sonderbeauftragter eingesetzt ist, prüft zur Zeit besonders die Wohnraumlage in der Gemeinde Wegberg. 22 Am Freitag, 5. November, war der Sonderbeauftragte in Wegberg tätig. An diesem Tage sind u .a. etwa 25 Flüchtlinge durch Zwangseinweisungen untergebracht worden.... Auf Grund einer Anregung des Sonderbeauftragten des Kreises stellte Bürgermeister Jansen folgenden Antrag zur Beschlußfassung durch den Gemeinderat (Wohnungsausschuß): Herr Sieben als Sonderbeauftragter des Kreises Erkelenz soll alle Wohnungen der Gemeinderatsmitglieder auf Unterbelegung prüfen und für die Unterbringung der Flüchtlinge als erste in Anspruch nehmen.` Bürgermeister Jansen beantragte weiter, daß mit seiner eigenen Wohnung begonnen werden soll. Er führte aus, daß der Gemeinderat seine schwere Auf22 Wie das „Mitteilungsblatt der Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen Nr. 5/1948“ meldete, war beschlossen worden „Sieben für die Unterbringung der unzulänglich und menschenunwürdig untergebrachten Vertriebenen auf die Dauer von zwei Monaten einzusetzen.“

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gabe nur dann frei und unbefangen übernehmen könne, wenn alle Gemeinderatsmitglieder bereit seien, mit gutem Beispiel voranzugehen. Der Antrag wurde durch einstimmigen Beschluß genehmigt. ... Der Gemeinderat in Wegberg hat damit unter Vorsitz des Bürgermeisters Jansen einen Schritt getan, der allen Gemeinden und Kreisen als Vorbild dienen kann.“ Ein Vorgang, den man mit Bewunderung zur Kenntnis nehmen muss. Da aber die Tätigkeiten der Kreisbehörden in Wegberg mit Kosten verbunden waren, kann man dann im Ratsprotokoll des Wegberger Rates vom 25.03.1949 den Beschluss lesen, bei Vollstreckungsangelegenheiten um Kosten zu sparen, die Tätigkeit des „Wohnungsvollziehungsbeamten Fischermann aus Erkelenz ...“ an Herrn Nowack von der Wegberger Verwaltung (selbst ein Vertriebener) „zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Wohnungsermittler zu übertragen“. Besonders die ersten schlimmen, notvollen Jahre bis zum Ende des Jahres 1948, das ja die vieles ändernde Währungsreform brachte, wären wohl nicht zu überstehen gewesen, wenn nicht viele Nothelfer über so manches hinweggeholfen hätten. Die wahren Nothelfer waren dabei nicht einmal die „Habenden“, von denen zwangsläufig die größten Räume gestellt wurden oder die meisten Möbel usw. kamen, sondern die vielen kleinen Geber, die von dem Wenigen, das noch da war, hergaben: Töpfe, Geschirr wurden gegeben oder geliehen oder ein Fahrrad, oder es wurde gar eine Nähmaschine zur Verfügung gestellt. Die Verteilung der Hilfe war ausreichend oder gar gerecht bei allem guten Willen gar nicht zu bewerkstelligen. So viele „Bezugsscheine“, wie zur Beschaffung des Notwendigen hätten ausgegeben werden müssen, konnte es wegen Mangels an Ware gar nicht geben. Die Wegberger Ortsgruppe der kommunistischen Partei hatte dieses Thema im Rat am 12.02.1948 zur Sprache gebracht. Man konnte aber nur beschließen: 23 „Es wurde einstimmig zum Ausdruck gebracht, daß bei der augenblicklichen Bezugscheinzuteilung eine Befriedigung der Bevölkerung unmöglich ist.“ 23 so im Ratsprotokoll des Gemeinderats Wegberg vom 12. Februar 1948 48


Über die Versorgung der Heimatvertriebenen mit dem Allernotwendigsten heißt es ganz allgemein lakonisch: „In der Zeit der Bewirtschaftung (gemeint ist etwa bis Anfang 1949) wurden die Vertriebenen durch die Wirtschaftsämter mit dem Notwendigsten an Hausrat und Möbeln soweit wie möglich versorgt. Daneben stellte das Landesflüchtlingsamt Waren verschiedener Art, z.B. Wolldecken, Strohsäcke, Bettstellen, Kleidungsstücke, Schuhwerk und Hausrat, als Sonderzuweisungen zur Verfügung. ...“ 24 Dabei ist sicher die treffendste Aussage das „soweit wie möglich“. Das „soweit wie möglich“ ermöglichte Leben schilderte mir eine Zeitzeugin so: Die Familie, eine Witwe mit vier minderjährigen Kindern, hatte als Wohnung zwei kleine Räume mit Dachschräge im zweiten Stock, davon war ein Räumchen „ausgestattet“ mit einem „Kanonenöfchen“, auf dem mangels Küche und Herd auch das Essen zubereitet werden musste. Da natürlich nur Platz für einen einzigen Topf auf dem Öfchen war, musste in Etappen gekocht und auch gegessen werden. Über die Verhältnisse beim „Wohnen“ mit z. B. dem Anfertigen von Hausaufgaben der schulpflichtigen Kinder oder der Organisation der Nachtruhe oder dem Waschen von Wäsche brauche ich wohl nicht weiter zu berichten. Um die Not bei der Versorgung mit Lebensmitteln zu lindern, stellte man in den ersten Jahren z.B. in Rath-Anhoven an der Straße nach Isengraben und im Ort Wegberg innerhalb des Grenzlandrings zwischen Tüschenbroicher Straße und Erkelenzer Straße (heute Maaseiker Str.), wo zu der Zeit noch nichts bebaut war, Land für Vertriebene als Kleingärten zur Verfügung, wo dann fleißig Gemüse angebaut wurde, was für viele Haushalte sicher eine große Hilfe war. Später waren dann auch schon mal Tabak-Pflanzen zu sehen.

24 so in Heimatkalender 1952, Seite 133

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Dass das alles nicht so blieb, ist mehreren Umständen zu verdanken: a) die Wegberger Behörden haben sich immer weiter doch redlich bemüht, die Lage zu verbessern. b) Das anlaufende sogenannte „Wirtschaftswunder“ nach der Währungsreform 1948 und die Gründung der Bundesrepublik 1949 haben sehr viel Verbesserung ermöglicht. c) Die Vertriebenen haben sich bei aller Unterschiedlichkeit, die sie hatten, zu Interessenverbänden zusammengeschlossen, mehr dazu im Abschnitt 4.4, und bis in die Ebene des Bundes ein gewisses Maß an Einfluss gewonnen, was zu hilfreicher Gesetzgebung bundesweit führte und dann auch entscheidende Hilfsmaßnahmen ermöglichte. 25 d) Die Vertriebenen haben ein erstaunliches Maß an Geduld, Fleiß, Strebsamkeit und Sparsamkeit aufgebracht und viele haben durch eigene Tüchtigkeit sehr zur Beseitigung vieler Notstände beigetragen. Ende März 1948 gab es in Wegberg und Erkelenz die ersten Großkundgebungen der Ostvertriebenen. Einige Zitate aus diesen Veranstaltungen 26 sind in diesem Zusammenhang interessant. Der 1. Vorsitzende der Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen Huebert sagte: „Wir sind hierher verschlagen worden und wollen uns, solange wir nicht heimkehren können, eine neue Heimat schaffen. Wir bieten hierfür unsere ganze Kraft dem Wiederaufbau unseres zerstörten Deutschlands an.“ Der spätere Landrat Rick sagte: „Ich bin mir dessen bewußt, daß Ihr Schicksal auf allen Gebieten des deutschen Lebens ein wesentliches Faktum sein wird und sein muß. Wir werden einmal darüber gerichtet werden, ob wir uns dieser Schicksalsstunde bewußt sind. Sie haben als Vertriebene den härtesten Weg zu gehen, und ich war vom ersten Augenblick, als Sie in den Kreis kamen, darauf bedacht und habe mich 25 z.B. 1949: Soforthilfe-Gesetz, Flüchtlingssiedlungs-Gesetz; 1950: 1. Wohnungsbau-Gesetz, Gesetz betreffend Artikel 131 GG; 1951: Notaufnahme-Gesetz; 1952: Regelung der Sparguthaben der Vertriebenen, der Vertreibungs- und Kriegs-Schäden, Lastenausgleichs-Gesetz. ... 26 zitiert nach Berichten aus „Erkelenzer Volkszeitung“ vom 30.3.1948 und dem „Heimatbrief“ der Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen Nr. 1/Jahrgang 1948 50


dafür eingesetzt, daß man Sie nicht als Flüchtling im schlechten Sinne des Wortes, sondern als Brüder und Schwestern aufnehmen sollte!“ Der Vertreter des Hauptausschusses der Ostvertriebenen in der britischen Zone Freih. v. Rheinbaben wurde bei der Veranstaltung nach dem Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung gefragt und sagte darauf in schlesischer Mundart: „Es hoot och gutte drunter.“ Auf Deutsch: Es gibt auch Gute unter denen. Mit der Meinung wird er sicher Recht gehabt haben und unter den vielen Ostvertriebenen wird es sicher auch „gutte“ gegeben haben. So gab es, ganz normal, auf beiden Seiten gutwillige und einsichtige Menschen und eben auf beiden Seiten auch einige, deren Horizont nicht über den Rand des eigenen Kochtopfs hinausreichte, deren Egoismus eben nur das eigene Wohl bedenken ließ und, wie sollte es anders sein, dadurch durchaus erfolgreich erschien. Nun noch einmal zurück zum Grundproblem der Eingliederung der Vertriebenen, dem Mangel an Wohnraum. Da war jedem Verantwortlichen klar, dass dieser Mangel nicht durch Verteilung des Mangels zu beheben war, sondern nur durch Schaffung von neuem Wohnraum durch Neubaumaßnahmen. Besonders beim Wohnungsbau waren nach zaghaften Anfängen am Ende der 40-er Jahre dann in den 50-er Jahren große Fortschritte zu erkennen. Aus eigener Initiative, mit eigenen Mitteln aus sparsamster Lebensführung und mit unterstützenden Krediten haben z.B. in Beeck schon am Anfang der 50-er Jahre einige Vertriebene Eigenheime errichtet. Über ein Beispiel für zaghafte Anfänge für den Wohnungsbau schreibt die Aachener Volkszeitung am 23.10.1948: „Wegberg. – Wie wir von zuständiger Stelle erfahren, wird die Errichtung von Behelfsheimen für Flüchtlinge in Vorschlag gebracht . Die Heime sollen in gemeinschaftlicher Arbeit ehrenamtlich errichtet und durch Verlosung an Vertriebene verteilt werden. Der Ertrag der Verlosung soll den Grundstock für den Bau weiterer Heime bilden.“

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Ein anderes Beispiel, aus einem Ratsbeschluss vom 27. Januar 1950: „3. Siedlungsvorhaben in Beeck.“ (Fünf Doppelhäuser, zwei Einzelhäuser werden angestrebt. ) „Als Siedler kommen nur Flüchtlinge infrage. Die geeigneten Bewerber wurden am 17.1.1950 durch den Siedlungsausschuß festgestellt.“ (Bau-Träger: Rheinische Heimstätte) 6.) ... „Bei Petersholz ist durch Privatinitiative eine Siedlung erstanden.“ Beschluss: Namensgebung „Dachsenberg“ Ein anderes Beispiel aus einem Ratsbeschluss vom 24. Mai 1950: 5. „... zur vorläufigen Steuerung der katastrophalen Wohnungslage“ wird eine Wohnbaracke angekauft für Großgerichhausen; Wohnungen: 2x4-Zimmer; 4x3-Zimmer; 1x2-Zimmer. Der Heimatkalender 1953 berichtet auf Seite 160 von Wohnungsbau: März 1952 „Fertigstellung von vier Wohnhäusern (acht Wohnungen) in Beeck, die die Gemeinde Wegberg aus eigenen Mitteln errichtete.“ Ein schönes Beispiel für wirklich weiterführende Entwicklung auf dem Gebiet der Wohnraumbeschaffung besonders für Vertriebene ist das Neubaugebiet in Forst. Hier war 1953 ein ganzer Stadtteil mit 51 Häusern fertiggestellt. Vorausschauende Planung und Finanzierung der Gemeinde, die zum Gesamtvorhaben außer anderen Leistungen 119.500 DM an Baudarlehen gab 27, zusammen mit den überörtlichen Behörden, gepaart mit Ideenreichtum des Architekten und dem Sparerfleiß der neuen Eigentümer gab vielen Familien ein neues Zuhause, eine neue Heimat. 32 Reihenhäuser sind nach neuen Ideen des Architekten Boochs aus Neuss abweichend von den allgemein geltenden Baurichtlinien als Einfamilienhäuser ohne Einliegerwohnung gestaltet worden. Das musste erst gegen die Baubehörden durchgesetzt werden, ist aber dann sogar als Typ Haus „Wegberg“ auch andernorts in größerer Zahl gebaut worden.

27 so ersichtlich bei Evertz, Nachlass, Seite 11 52


Heim in Forst Durch vorbildliche Pflege original erhalten und immer noch Zuhause der Erstbesitzer Foto: HJH

In einem Artikel vom 24. 10. 1953 mit der Überschrift „Einfamilienhaus für 11 000 DM“ zitiert die „Westdeutsche Zeitung“ den Architekten Boochs mit Einzelheiten zu gerade diesem Haustyp in Wegberg: „Wegberg war der erste Versuch. Und dieser Versuch ist Dank der Mitarbeit des Gemeindedirektors und der Aufgeschlossenheit des Rates geglückt. Für den Preis einer Dreizimmerwohnung ein Vierzimmer-Eigenheim mit großem Keller und Speicher, das ist das Haus Wegberg , das nun in allen Teilen Deutschlands und sogar Oesterreichs gefragt wird. Obschon das Gesetz es nicht zuläßt, daß Einfamilienhäuser ohne Einliegerwohnungen gebaut werden, haben wir es durchgesetzt.“

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In einem Bericht in der Aachener Volkszeitung vom 23.12.1953 zeigt sich schon ein neuer Aspekt dieser umfangreichen Bautätigkeit in Wegberg, der erahnen lässt, dass das Problem mit der Unterbringung von Vertriebenen schon überrollt wird von einem anderen, wie der damalige Gemeindedirektor Karduck es andeutete: „Hauptquartier und Lazarett machen sich zunehmend stärker bemerkbar. Immer mehr Fremde strömen nach Wegberg ein, zunächst allein, später mit Familien, mehr und mehr Wohnungen werden gebraucht. Nur Bauen kann uns retten, wenn wir den Massenzustrom auffangen wollen.“

Die obere Landkarte dieses Teils von Wegberg von 1948 zeigt noch das freie Gelände in Forst und auch natürlich in Freiheid und weiter 1956 war dann auch ein großer Bereich in Freiheid mit Wohnungen besonders für Ostzonenflüchtlinge bebaut und bezogen und im Anfang der 60er Jahre der ganze Bereich der Krankenhausstraße Die untere Karte von 1998 lässt die große Bebauung im ganzen Bereich erkennen Karten: HistoriKa25, Landesvermessungsamt Nordrhein-Westfalen, Bonn 2005 Karte oben Stand 1948 Karte unten Stand 1998

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Noch heute ist ein großer Teil der Häuser in Forst und Freiheid im Besitz von Ostvertriebenen oder deren Nachkommen. Zusammengefasst, wie in der „Aachener Volkszeitung“ vom 23. Dezember 1953, kann sich für Wegberg der Fortschritt in der Wohnraumversorgung schon sehen lassen: „Wegberg gibt Wohnungen zu Weihnachten“ ... „51 Häuser, 77 Familien ... Die zwei letzten Wohnblocks in der Siedlung Forst zwischen Wegberg und Beeck sind fertig. Acht Familien sind beim Umzug. Sie sollen Weihnachten im neuen Heim feiern. ...“ „16 in Rath – Bundesstraße 57 ... 16 Einfamilien-Reihenhäuser werden bis zum 5. Januar an der Bundesstraße 57 in Rath-Anhoven fertig. Acht Familien ziehen noch vor Weihnachten ein ...“ „Gemeinde baut in Klinkum ... Die Gemeinde Wegberg baut in Klinkum an zwei Bauplätzen einmal acht und einmal sechs Wohnungen. Eine Baulücke wird mit einem Wohnblock mit acht Wohnungen nützlich ausgefüllt, und drei Häuser werden mit sechs Wohnungen gebaut.“ Diese stolze Bilanz lässt einen fast vergessen, welch schwieriger Weg es war beginnend mit der zuerst immer schlimmer werdenden Wohnungsnot von 1946 durch die einströmenden „Flüchtlinge“, wo es Verteilungskämpfe gab um den Wohnraum und sogar massive Beschwerden gegen den Leiter des Wohnungsamtes wegen Eigenmächtigkeit bei der „Besetzung von Wohnungen“. 28 Statt sich zu bessern, wurde die Lage dann durch noch mehr Einweisungen von Vertriebenen sogar noch schlechter. Da gab es 1949 in diesem Zusammenhang einen geharnischten Protest durch die „versammelte Ortsgemeinschaft von Klinkum“ 29 vor dem Rat in Wegberg: „Die Wohnungsnot besteht noch immer in der Gemeinde. Bestehende Baugelegenheiten wurden bis jetzt nicht genutzt. Was wurde bis heute vom großangelegten Siedlungsprogramm durchgeführt oder tatsächlich in Angriff genommen? ...Es ist nicht sozial und christlich gehandelt, wenn man ...Gemeindeeingesessene und Flüchtlinge ... in erbärmlichen Behausungen wohnen läßt ... 28 so im Ratsprotokoll des Wegberger Gemeinderats vom 28. 06. 1946 29 laut „Aachener Volkszeitung“ vom 1. Oktober 1949 56


Die Statistik für 1950, als Wegberg einen Anteil von 11,7% an Vertriebenen hatte, nennt für Vertriebene noch folgende Zahlen: 30 Wohnungsinhaber in Normalwohnungen = 6,2% Wohnungsinhaber in Notwohnungen = 31,3%. Ein wirklich langwieriger, schwieriger Weg war es bis zu den oben geschilderten Verhältnissen von 1953 bei der Wohnraum-Beschaffung, durch die so viele alte und neue Wegberger mit neuer Hoffnung in die Zukunft blicken konnten. Übrigens: Für die Anschaffung eines Schwanenhauses auf dem Wegberger Weiher und zwei Schwänen stellte der Gemeinderat Ende 1950 großzügig 369.- DM zur Verfügung. 31

30 laut „Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland“, Band 1952 31 so im Ratsprotokoll des Wegberger Gemeinderats vom 12. 12. 1950

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4.4 Geld und andere Sorgen 4.4.1 Auskommen Der totale staatliche Zusammenbruch 1945 war auch ein totaler wirtschaftlicher Zusammenbruch. Das Geld, die „Reichsmark“, galt zwar weiter, aber an allen Waren war solcher Mangel, dass für Geld eben nichts zu bekommen war, alles wurde durch Berechtigungsscheine (Lebensmittelkarten, Bezugsscheine ...) „zugeteilt“, wenn vorhanden. Dieser Zustand hielt unvermindert an bis zur von den Besatzungsmächten angeordneten „Währungsreform“ und der Einführung der D-Mark im Sommer 1948. Ganz allgemein kann man sagen. dass die Jahre bis Ende 1948 die schwierigsten und notvollsten waren. Ab 1949 begann langsam eine Entspannung der Notlage. Die in Wegberg eintreffenden Vertriebenen waren besonders betroffen davon, denn ihnen mangelte es ja am meisten an allen Bedarfsgütern. Sie waren in großer Zahl ohne jede Habe angekommen und völlig mittellos. Manchen war vielleicht gelungen, bei Flucht oder Vertreibung wichtige Familiendokumente, Sparbücher, Wertgegenstände oder „Reichsmark“-Geld mitzunehmen, was immer noch gültige Währung war und mit dem ja trotz allen Mangels alles bezahlt werden musste, was zu bezahlen war, wie zugeteilte Lebensmittel, Energieverbrauch, Wohnungsmiete und anderes. Solches „Taschengeld“ war aber recht schnell aufgebraucht, besonders bei den vielen allein dastehenden Müttern mit Kindern. Da halfen auch volle Sparbücher nicht; denn keine Bank wäre bereit gewesen, aus solchen „Fremdeinlagen“ etwas auszu58


zahlen. Es blieb für viele nur der demütigende Gang zum Wohlfahrtsamt mit der Bitte um Hilfe. Daran änderte später die neue Währung DM auch nichts. Die arbeitsfähigen Vertriebenen suchten natürlich Arbeitsstellen, und viele fanden z.B. in der nun wieder aufblühenden Textilindustrie in Wegberg welche und kamen dadurch zu Einkommen, versteuertem Einkommen selbstverständlich, wobei es allerdings schon steuerliche Vergünstigungen für „Flüchtlinge“ z.B. bei notwendigen Anschaffungen gab. Interessant in diesem Zusammenhang sind sicher die Steuersätze der damaligen Zeit; denn auch „der Staat“ muss „Einkommen“ haben, und das kann ja nur von Steuerzahlern, seinen Bürgern, kommen. Ich nenne hier einmal nur einige Tarife der Einkommensteuer-Tabelle von 1948: 32 Jahreseinkommen

Steuerkl. I

2.000

189 = 9,5 %

Steuerkl. III,3 (in DM !) -

4.800

903 = 18,8 %

306 = 6,4 %

7.200

1 854 = 25,8 %

915 = 12,7 %

13.200

4 986 = 37,8 %

3 690 = 28,0 %

18.000

7 866 = 43,7 %

6 426 = 35,7 %

30.000

16 146 = 53,8 %

14 418 = 48,1 %

60.000

40 746 = 67,9 %

38 330 = 63,9 %

100.000

76 746 = 76,8 %

74 566 = 74,6 %

Das sind schon erstaunliche Besteuerungen, die sicher nach den in Großbritannien üblichen Verfahren gestaltet waren. Nach Gründung der Bundesrepublik ging aus hier nicht zu erörternden Gründen die Besteuerung immer mehr dahin, die Einkommensbesteuerung vor allem in den oberen Bereichen zu verringern und weit stärker die Verbrauchssteuern zu erhöhen, was zwangsläufig die unteren Einkommen, eben auch die der Vertriebenen, belastete, so dass diese die finanziellen Hilfen, die sie vom „Staat“ erhielten, schließlich durch Steuern selber mitfinanzieren mussten. 32 Nach dem Gesetz der Militärregierung Nr. 64 vom 23.6.1948 (aus Aachener Volkszeitung Nr. 52 vom 26.6.1948)

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Das „Einkommen“ der Gemeinde Wegberg gestaltete sich jedenfalls in den ersten Jahren ganz günstig, bis auf das Ausnahmejahr 1946 mit einem Riesendefizit, wie ja im ersten Teil schon erwähnt. So verbesserte sich die Finanzlage der Gemeinde nach Angaben des damaligen Rentmeisters 33 ganz wesentlich; besonders zu beachten die in den Ausgaben enthaltenen Beträge für „Allgem. Fürsorge“ und die „Soforthilfe“ nach dem Soforthilfegesetz vom 8. August 1949, die ja vor allem auch für die Vertriebenen war; erstaunliche Zahlen aus heutiger Sicht: Rechnungsjahr

II / 1948

1949

1950

1951

Ges.Einn.

558.460,00 DM 985.866,81 DM 1.055.781,12 DM 1.387.504,60 DM

Ges.Ausg.

542.235,43 DM 947.283,50 DM 1.055.404,72 DM 1.377.789,41 DM davon für die Allgem. Fürsorge 32.019,18 DM

59.633,08 DM

51.052,80 DM

61.945,78 DM

Soforthilfe, ab 1949 Überschuss

-

65.401,49 DM

207.429,69 DM

126.473,58 DM

16.224,68 DM

38.583,31 DM

376,40 DM

9.715,19 DM

Vor allem in den Anfangsjahren gestaltete sich für die Vertriebenen die Suche nach Arbeit und Einkommen zwangsläufig so, dass so mancher gut qualifizierte Handwerker als Hilfsarbeiter in irgendeinem Betrieb landete und so mancher weit leistungsfähigere Schulabgänger als Anlernling in einer Wegberger Spinnerei, damit durch sein Einkommen die Familie existieren konnte. Die vielen vertriebenen Bauern hatten wohl kaum Aussicht, je wieder selbständig ihren Beruf auszuüben. Rechts und nächste Seite: Dokument von 1948 zur Berechnung der Unterstützung für eine 5-Köpfige Familie. Formular: Stadtarchiv Wegberg

33 so ersichtlich bei Evertz, Nachlass auf Seite 15 60




Die Statistik für 1950 nennt für das gesamte Bundesgebiet folgende Zahlen: 34

Vertriebenen-Anteil Vertriebene als tätige Inhaber im Handwerk Vertriebene als Betriebsinhaber von landwirtschaftlichen und forstw. Betrieben über 0,5 ha

15,5% 4,3% 0,5%

Und das alles trotz der Tatsache, dass es z.B. Kredite für Handwerker und Ausbildungsbeihilfen gab, worauf im Abschnitt 6. noch eingegangen wird. Für die Vertriebenen jedenfalls, die zu geringes oder gar kein Einkommen aus Arbeit oder Renten hatten, blieb wie gesagt nur der Bittsteller-Weg zum Wegberger Amt. Und man kann sicher sein, dass die Gemeinde Wegberg bei der Gewährung der oben genannten Fürsorge- und Soforthilfe-Mittel nicht freigiebig war und auch nicht sein konnte, wie noch erhaltene Dokumente zeigen. (Renten und Pensionen wurden ab 1947 gezahlt.) Links ein Dokument aus dem Jahr 1948 zur Berechnung der Unterstützung für eine fünfköpfige Familie. Eine allein dastehende Mutter mit vier minderjährigen Kindern. Dem Formular-Papier sieht man förmlich an, dass es in großer Zahl so zum Einsatz kam, und dass der Berechnungsvorgang ein ganz nüchterner, schematischer Vorgang sein musste, aus dem auszubrechen es gar keine Chance gab, selbst wenn der Sachbearbeiter besten Willens gewesen wäre. Die Beihilfe-Sätze waren mit Sicherheit „höheren Orts“ ohne Kontakt zu den Bedürftigen anonym ausgedacht und festgelegt worden, und die konkrete Notlage des einzelnen „Falles“ vor Ort konnte daran nichts ändern. Das ergab dann eben für diese 5 Personen den stolzen Betrag von 4,53 DM pro Tag! Berechnet aus monatlich 36.- DM „für den Haushaltungsvorstand“, für jedes Kind monatlich 20.- DM und fürs Wohnen 20.- DM = 136.- DM im Monat. 35 (Ein 2-kg-Graubrot kostete damals 2.- DM !!)

34 laut „Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland“, Band 1952 35 ab 1955 gab es erst realistische Berechnungen über den Bedarf einer solchen Familie; nach heutigen Verhältnissen bekäme diese Familie einen Tagessatz in 30-facher Höhe

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Für eine alleinstehende Person zeigten solche Akten einen Tagessatz von 1,33 DM ohne eine Mietbeihilfe = 40,- DM monatlich. Bekam derjenige eine „Miet- bzw. Hauslastenhilfe“ zugestanden, so kam er auf einen Tagessatz von 1,56 DM = 47,- DM monatlich. Wurde jemand krank, so war wieder der Gang zum Wegberger Rathaus nötig, um einen „Behandlungsschein“ zu erbitten, mit dem dann die Kosten für die ärztliche Behandlung geregelt werden konnten. Folgend solch ein Dokument von 1948 für eine herzkranke Frau, was an der „amtlichen“ Notiz „Myocardschaden“ zu erkennen ist. Wegen jeder unvorhergesehenen zusätzlichen Belastung, wie zusätzliches Heizmaterial, zu erneuernder Hausrat usw. musste der Bittsteller-Gang auch wieder neu angetreten werden.

„Amtliche“ Notiz „Myocardschaden“ Flüchtlingsakten Stadtarchiv Wegberg

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Ein Beispiel aus den Flüchtlingsakten im Wegberger Stadtarchiv: Am 6. September 1950 erscheint als Bittsteller beim Sozialamt ein „Haushaltungsvorstand“ mit der Bitte um eine Beihilfe zur Beschaffung von Mobiliar. Er muss ein umfangreiches Formular ausfüllen, in dem er zur Antragsstellung dann schreibt als Punkt 11. „Ich wohne mit meiner Familie seit Oktober 1948 als Flüchtling der Gruppe A in der Gemeinde Wegberg. Die bisher in meinem Besitz befindlichen Möbelstücke waren sämtlich geliehen. Der Eigentümer hat die leihweise zur Verfügung gestellten Gegenstände inzwischen wieder an sich genommen, so daß mir z. Zt. auch das allernotwendigste im Haushalt fehlt. Eine einmalige Beihilfe zur Anschaffung von Mobiliar bezw. Hausratshilfe habe ich bisher noch nicht erhalten.“

Unter Punkt 12. ist im Antrag der Satz vorgedruckt: Wir werden die Aufwendungen erstatten, sobald wir dazu in der Lage sind. Unter dem 28. Dezember 1950 erhält er vom Sozialamt einen Gutschein: Herr/Frau xxxxxx in Buchholz (Behelfsheim) wohnhaft, ist berechtigt, gegen Vorlage des Gutscheins innerhalb des Kreises Erkelenz, Tisch u. Stühle bis zu 70,00 DM, i. W. Siebenzig, zu kaufen. Stempel, Siegel Gemeinde Wegberg Unterschrift Zu manchen besonderen Anlässen gab die Gemeinde Wegberg von sich aus Zuschüsse oder Sachwerte aus unterschiedlichen Quellen. Dazu ein Beispiel von Weihnachten 1948: Die Gemeinde hatte zusammen mit dem Deutschen Roten Kreuz eine Sammlung durchgeführt zu Gunsten der Ostvertriebenen und Armen der Gemeinde zum Weihnachtsfest. Der Rathaus- Sitzungssaal war zum Warenlager geworden. „Die eingegangenen Geldspenden im Wert von 8.000 Mark haben wohl auch die kühnsten Erwartungen weit übertroffen. 60 Paar Schuhe, 20 Oberhemden, 200 gestrickte Wäschegarnituren, in einem Flüchtlingsbetrieb im Kreise Erkelenz in Auftrag gegeben und hergestellt, und viele andere nützliche 65


Dinge werden viel Freude bereiten. Insgesamt wurden über 400 Päckchen im Werte von je fünf bis zwanzig Mark und darüber fertiggemacht.“ 36 Noch einige Beispiele aus dem Jahr 1949 dazu: Als im Frühjahr die Erstkommunion anstand und die Konfirmation zahlreicher Vertriebenen-Kinder, stellte die Gemeinde als Beihilfe für Bedürftige in diesem Zusammenhang 1.200.- DM aus den Steuereinnahmen des Grenzlandring-Rennens vom Vorjahr zur Verfügung. 37 Vielleicht plagte da auch ganz zart ein schlechtes Gewissen, weil man die Rennveranstaltung nur mit einem ganz kleinen Betrag besteuert hatte, im Gegensatz zu sonst in der Gemeinde üblichen Veranstaltungen und deren Steuersätzen. 38 Als im Sommer keine „Betten für Flüchtlinge“ mehr zur Verfügung standen, beschloss man „die Anschaffung von 15 Betten zum Preis von 25.- DM das Stück.“ 39 Vor Weihnachten wurden dem Sozialamt für Arme zum Weihnachtsfest 1.200.- DM genehmigt und als Beihilfen für Weihnachtsfeiern der Vertriebenen und Kriegsbeschädigten 400.- DM. 40 Nun gab es unter den Vertriebenen nicht wenige, die sich selbst nicht zutrauten oder auch nicht in der Lage waren, als Bittsteller vorstellig zu werden oder gar Ansprüche geltend zu machen. Zu deren Unterstützung gab es in den Ortsteilen ehrenamtliche Flüchtlingsbetreuer, die vielfach hilfreich tätig waren, aber natürlich keine amtlichen Befugnisse hatten. Erst 1949 meldete daher dann auch das Flüchtlingsamt des Kreises, dessen Leitung zu der Zeit Herr Huebert hatte, ein Vertriebener aus Klinkum:

36 so in Aachener Volkszeitung vom 21. Dezember 1948 37 nach Ratsprotokoll vom 25.03.1949 38 in diesem Zusammenhang gab es starken Protest z. B. der Klinkumer (so in Aachener Volkszeitung v. 1.10.49) 39 nach Ratsprotokoll vom 31.8.1949 40 nach Ratsprotokollen vom 99. + 12.12.49 66


„Der OberkreisdirektorErkelenz, den 2.4.1949 Kreisflüchtlingsamt A.Z. IV 50-02 Hue. An die Herren Amts- und Gemeindedirektoren des Kreises Zur besonderen Förderung der öffentlichen Flüchtlingsfürsorge insbesondere der Jugendwohlfahrtspflege und der wirtschaftlichen Fürsorge im Kreis habe ich als kommunale Flüchtlingshelferin Frau Margret Drost in Elmpt mit Wirkung vom 1.4.1949 eingestellt. Ich bitte, sie in ihrer Arbeit zu unterstützen und ihr jedwede Hilfe angedeihen zu lassen. ...“ 41 In welcher Weise die Vertriebenen aus eigener Initiative Hilfe gaben und Einfluss nahmen, ist im übernächsten Abschnitt 4.4.3 erwähnt. Natürlich haben auch die Wegberger Kirchengemeinden, soweit ihnen das möglich war, Hilfe für die Vertriebenen geleistet, auch in Zusammenarbeit mit den ihnen nahestehenden Organisationen Caritas und Evgl. Hilfswerk, mit Geld- und Sach-Spenden, in den ersten Jahren schon vielfach aus ausländischen Hilfsquellen, wobei jede Gemeinde selbstverständlich in erster Linie bemüht war, ihre Glaubensgenossen zu unterstützen. Dabei war durch die örtlichen Verhältnisse und dadurch, dass die Vertriebenen überwiegend evangelisch waren, allerdings die zuständige evangelische Kirchengemeinde in Schwanenberg in einer weit schwierigeren Situation als die katholischen Gemeinden. Verteilten sich doch 1948 die in Wegberg zugewiesenen etwa 400 katholischen Vertriebenen auf die sechs katholischen Gemeinden, während die etwa 600 evangelischen alle zum Bereich der Evgl. Kirchengemeinde Schwanenberg gehörten, deren Bereich übrigens damals von Wegberg bis Gerderath und Golkrath reichte, wo auch zahlreiche evangelische Vertriebene eingewiesen waren, wie auch in Schwanenberg, das damals selbst nur etwa 1.000 einheimische Evangelische hatte.

41 Flüchtlings-Akten im Statdtarchiv

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Zum Weihnachtsfest 1946 verteilte die Schwanenberger Kirchengemeinde aus einer Sammlung, die sie für diesen Zweck in der Gemeinde durchgeführt hatte, zahlreiche Kleidungstücke und Naturalien und 1600 Reichsmark „für die Ostflüchtlinge“. Und auch in den folgenden Jahren vergaß sie die Vertriebenen in Wegberg nicht. 1947 beschloss das Presbyterium etwas ungewöhnlich, dass die Pächter von Kirchenland 5 RM pro Morgen in Naturalien zahlen sollen, um damit dann Bedürftige unterstützen zu können. Am 23.11.1948 gab es sogar folgenden Beschluss: „Die Landpacht wird auf 45 DM pro Morgen für 1948 festgesetzt. Außerdem sollen pro Morgen 5kg Mehl erbeten werden, damit den Bedürftigen zu Weihnachten pro Person 2kg Mehl gegeben werden können“. 42 Ohne gegen irgendwen ungerecht zu sein, wird man wohl sagen können, dass alle diese Zuwendungen an die Vertriebenen von kommunaler wie auch von kirchlicher Seite wirklich nur Tropfen auf heiße Steine sein konnten, aber ohne diese Hilfen wäre wohl die große Not noch schlimmer gewesen. Besonders das Gefühl der völligen Verlassenheit und Trostlosigkeit wird dadurch sicher um manches aufgehellt worden sein. Bis Ende 1948 jedenfalls war die Versorgung für alle Bereiche des täglichen Lebens ein ständiger Überlebenskampf. Einen ziemlich schweren aber wirkungsvollen Weg, in der Notzeit nicht unterzugehen, besonders nach dem finanziellen Schnitt der Währungsreform, gingen einige Frauen, die keine Arbeit in Betrieben oder anderswo aufnehmen konnten, weil sie Familien mit minderjährigen Kindern versorgen mussten: Sie nähten „neben“ der Haushaltsbewältigung für andere Bekleidung oder besserten sie aus. Das begann meist so, dass sie von den Familien, bei denen sie eingewiesen worden waren, gebeten wurden eine Näharbeit zu übernehmen, weil man erfahren hatte, dass sie dazu befähigt waren. Da wurde dann die Nähmaschine dazu zur Verfügung gestellt, und es fand sich auch Stoff und Nähmaterial. Das setzte sich so fort und weitete sich dann dazu aus, dass schließlich auch für Eigenbedarf und gegen Entgelt dann auch für andere genäht wurde. 42 die Angaben sind aus „Presbyteriumsprotokolle“, aus dem Jahren 1945 - 1949 68


Das brachte zwar einiges ein, war aber „Stress“, würde man heute sagen und nicht mehr so ganz nachvollziehen können. Da hatten es Alleinstehende, die in die Näherei gingen, sicher doch einfacher. Ende der 40er Jahre wurden auf diesem Weg viele Kommunions- und Konfirmations-Kleider aus Kleiderstoff-Gaben der Firma Bartmann genäht. Von einer sehr ungewöhnlichen Regelung in Bezug auf Geld aus den Jahren 1945/46 muss ich hier einfach berichten, obwohl ich selbst bisher nie etwas davon gehört hatte und auch in Wegberg niemanden habe finden können, der davon betroffen war. 43 Da gab es eine Anordnung der Militärregierung von 1946 (Banking Branch, Finance Division, Zonal Executive Offices, CCG, Hamburg): „Flüchtlinge, die in die britische Zone kommen, dürfen nur einen Höchstbetrag von RM 1.000.- behalten. Das in ihrem Besitz befindliche darüber hinausgehende Bargeld soll ihnen abgenommen und auf ein gesperrtes Konto, das auf den Namen des Flüchtlings lautet, eingezahlt werden. ... Anträge auf Freigabe von Flüchtlingsgeldern, die auf einem auf den Namen des Flüchtlings lautenden Sperrkonto eingezahlt worden sind, können auf dem üblichen Wege mit Vordruck MGAF – A (1) eingereicht werden.“ Ich kann mir zwar kaum vorstellen, dass es bei den damals stattfindenden Vertreibungen mit all den gründlichen Plünderungen und „Filzungen“ vielen gelungen sein könnte, größere Geldbeträge bis in die britische Zone durchzubringen, aber das Befremden, milde ausgedrückt, von Betroffenen bei einem Vorgang nach dieser Anordnung kann ich mir schon vorstellen.

43 hier berichtet und zitiert nach „Sozialministerium 1947“, Seite 88 69


4.4.2 Weiterkommen Mit der Währungsreform und der Gründung der Bundesrepublik 1949 trat, wie schon mehrfach erwähnt, eine wesentliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage ein, was sich natürlich auch auf die Verhältnisse bei den Vertriebenen auswirkte. Die Versorgung mit allen Gütern des täglichen Bedarfs wurde langsam wieder möglich. Nach anfänglichem Anstieg der Arbeitslosigkeit unter den Vertriebenen, was leider bei vielen zu erneuten Geldproblemen führte, belebte sich aber ab den 50er Jahren die Wirtschaft. Umfangreiche neue gesetzliche Regelungen (wie z.B. Soforthilfegesetz 1949, Bundesversorgungsgesetz 1950, Wohnungsbaugesetz, Lastenausgleichsgesetz 1952 ...) trugen dazu bei, dass sich bei vielen Vertriebenen die wirtschaftlichen Verhältnisse sehr verbesserten. Nach Jahren des Mangels an Lebensmitteln gab es seit 1950 gar keine Lebensmittelkarten mehr, und es begann schon das, was man später spöttisch „die Fresswelle“ genannt hat. Ging es in den Jahren vorher fast nur ums Auskommen und Überleben, so begann nun langsam ein Weiterkommen in den Lebensverhältnissen allgemein, auch der Wegberger Vertriebenen. Da freute man sich auch über die kleinsten Fortschritte. Sehr genau erinnere ich mich daran, wie ich im Juni 1950 nach längerem Sparen beim Händler auf der Fußbachstrasse mein erstes Rundfunkgerät kaufte, es stolz in meine Wohnung trug und nach dem ersten Ausprobieren gleich zur Post in Wegberg ging, es anzumelden. Das amtliche Dokument, die „Rundfunkgenehmigung“, hat ja heute noch seine Gültigkeit.

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Die Rundfunkgenehmigung Das amtliche Dokument hat heute noch seine Gültigkeit

Für mich war das neue Radio, in schönem Holzgehäuse ein ganz einfacher „Einkreiser“, so etwas wie ein erster Luxusgegenstand. Zu dieser Zeit wird es wohl in so manchem Flüchtlingshaushalt auch schon zu solcher Anschaffung gekommen sein, mit der man bequem etwas an der „Kultur“ teilnehmen konnte. Fahrräder begannen nun auch langsam zum Haushalt zu gehören. Trotzdem gab es noch immer zahlreiche Haushalte, die noch um Tisch und Stühle kämpfen mussten, wie im vorigen Abschnitt erwähnt. Dass die allgemeine Lage schon besser war, auf jeden Fall im Vergleich z.B. mit dem Land Schleswig-Holstein, wo der Vertriebenen-Anteil trotz Umsiedlungen immer noch weit höher war als hier, zeigt folgender schöner Vorgang, dokumentiert in der Schulchronik Klinkum, 1950:

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Schulrat und Oberkreisdirektor baten die Schuljugend, den in Not befindlichen Kindern des „Flüchtlingslandes Schleswig-Holstein eine Weihnachtsfreude zu bereiten“... „Da schaltete sich auch unsere Schuljugend ein. Verschiedene Gruppen packten gemeinsam größere Pakete. Dieselben wurden mit einem hübschen Brief versehen. Insgesamt konnten wir dem Kreisverband Erkelenz des Jugendrotkreuzes 74 Pakete bzw. Päckchen zur Verfügung stellen. Später eingegangene Briefe zeugten davon, daß wir mit unseren Gaben armen Kindern eine schöne Weihnachtsfreude bereitet hatten.“ Die dreißig Vertriebenen-Schüler werden sich bei der Aktion sicher nicht ausgeschlossen haben.

Einige der ersten Häuser von 1953 in Forst Dass es beim Wohnraum ein großes Weiterkommen gab, ist im Abschnitt 4.3 erwähnt. Diese Häuserreihe hat eine Besonderheit dieser Zeit. Es gibt keine Garagen Bild: HJH

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Kleinwagen aus dem Jahr 1956, Marke BMW ISETTA Erstes wasserdichtes Fortbewegungsmittel zur Arbeitsstelle mit stolzer Besatzung. War das nicht ein „Weiterkommen“? Foto: G. Schulte

Nach der Statistik von Ende 1952 hatte der Kreis Erkelenz etwa 70.000 Einwohner und es waren etwa 1.100 Kraftwagen zugelassen, etwa 1 Kraftwagen auf 60 Einwohner. 44 Es waren daher wirklich nicht viele Garagen in den Wohngebieten nötig, in Forst, wo damals fast nur Vertriebene wohnten, schon gar nicht. Nur ein paar Jahre später waren auch schon zahlreiche Vertriebene von Fahrrad und Motorrad auf niedliche Kleinwagen umgestiegen, von denen Lästerzungen spotteten, dafür brauche man auch gar keine Garagen, da man sie problemlos im Hausflur neben dem Kinderwagen abstellen könne. 44 so im Heimatkalender 1953 73


4.4.3 Interessen Ganz besonders in der allgemeinen Notzeit der ersten Nachkriegsjahre gab es auch in Wegberg einen Konkurrenzkampf Aller gegen alle bei der Versorgung mit dem Nötigsten. Durch die Einweisung so vieler Vertriebener, die zwangsläufig in diese Verhältnisse einbezogen wurden, verschlimmerte sich diese Lage noch. Jeder versuchte natürlich zu erreichen, dass er das Nötigste bekam und nicht benachteiligt wurde, und jeder versuchte natürlich auch, sich gegen Ansprüche, die er von anderen befürchtete, so gut wie möglich abzuschotten. Das ist menschlich, fast allzu menschlich, und wird ja auch heute noch häufig praktiziert. Solche Interessenkonflikte gingen quer durch die gesamte Bevölkerung. Da standen Alteingesessene gegen Vertriebene und umgekehrt, beide Gruppen gegen die Behörden und umgekehrt, und auch die Gruppen unter sich gingen aufeinander los. Auch die britische Militärregierung blieb nicht verschont von beträchtlichen Interessenkonflikten in Bezug auf das Vertriebenen-Problem. Sie selbst hatte in den Vereinbarungen der Siegermächte übernommen, Vertriebene aus Polen und den polnisch gewordenen Gebieten herzutransportieren und aufzunehmen in ihre Zone, und sie wusste natürlich, dass sich dadurch die Notlage und die daraus folgenden sozialen Spannungen gewaltig vergrößerten. Das gerade brachte die Gefahr von Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen oder gar Aufruhr mit sich, was sicher gar nicht den britischen Interessen entsprach. Seit 1945 schon übertrug sie nun die gesamte Abwicklung des Problems, durch britische Anordnungen streng geregelt, der deutschen Verwaltung, ohne aber, voller Misstrauen, die Kontrolle aus 74


der Hand zu geben, um jede Form von offenem oder subversivem Widerstand zu verhindern. Wirklich kein konfliktfreier Zustand, der ja auch nach Bildung der Bundesrepublik 1949 noch lange nicht unbedingt beendet war. Ergänzend zu den Anmerkungen in Abschnitt 4.4.3 über die Probleme bei der Einweisung von Vertriebenen in Wohnraum in den ersten Nachkriegsjahren soll der dabei quer durch alle Gruppen gehende Interessenkonflikt hier etwas erläutert werden. Das Wegberger Wohnungsamt musste für die „Erfassung“ von Wohnraum sorgen. Zwei Mitarbeiter, Einheimische, die ziemlich jeder kannte und die ziemlich jeden kannten, mussten von Haus zu Haus „freien“ Wohnraum ermitteln. Man kann sich vorstellen, mit welcher Schärfe die Interessen der Beauftragten und der von der Ermittlung Betroffenen aufeinander trafen. Später wurde auch ein Mitarbeiter, der selbst Vertriebener war, in das Verfahren mit einbezogen, was den Konflikt eher noch verschärfte. Die förmliche Beschlagnahme von Wohnraum und die Einweisung darein verfügte dann der „Wohnungsausschuss“ des Gemeinderates, in dem seit Januar 1948 auch der Vertriebene Georg Nowack war, 45 und den man anschließend auch noch als zusätzlichen Wohnungsermittler einstellte für den fürstlichen Lohn von 1.- RM die Stunde. 46 Und die Beauftragten mussten dann diese Beschlüsse verwirklichen. Da bei Einweisungen auch der „Flüchtlingsausschuss“ Einfluss nahm und oder der „Wohlfahrtsausschuss“, kann man sich den zusätzlichen Interessenkonflikt zwischen den Ämtern und den Ausschüssen ausmalen. Wer von all diesen Beteiligten konnte sich da am besten durchsetzen? Meist werden die dabei betroffenen Vertriebenen, die Schwächsten gewesen sein, was den Einfluss und die Durchsetzung betraf. Ein Zeitzeuge dazu: „Es gab viel böses Blut in dieser Zeit in der Gemeinde“. Die britische Militärregierung hatte ja schon 1945 durch ihre „Anweisung Nr. 10“ angeordnet, dass deutsche Behörden für die Betreuung der Vertriebenen einzurichten seien, weil natürlich damals schon klar war, dass in den Interessenkonflikten eben die Vertriebenen das schwächste Glied sein würden. 45 Ratsprotokolle, Ratsbeschluss vom 05.01.1948 46 Personalausschussprotokolle, vom 05.03.1948 75


Wie schon im Abschnitt 4.1 erwähnt, hatte damals im Sommer 1946 die Gemeinde Wegberg trotzdem kein Interesse, ihre Verwaltungsstruktur zu ändern, und hatte die besonderen Aufgaben bei der Bearbeitung des Problemkreises der immer mehr werdenden Vertriebenen auf die schon vorhandenen Amtsbereiche verteilt. Als dann ein Jahr später durch ausdrückliche Erlasse der Landesregierung die Einrichtung eines vom Wohlfahrtsbereich getrennten besonderen Flüchtlingsamtes gefordert wurde, kam man der Forderung wohl nach; denn Ende 1947 gibt es dann ein Flüchtlingsamt, und auch einen beratenden Flüchtlingsausschuss, wie aus Protokollen ersichtlich ist. Einen Termin für die Veränderungen habe ich nicht gefunden. Der beratende Flüchtlingsausschuss, der zur Hälfte aus Vertriebenen bestehen musste, stellte nun den Antrag auf „Besetzung des Flüchtlingsamtes mit einem Flüchtlingsvertreter.“ 47 Die Gesetzeslage forderte auch da eine Besetzung zur Hälfte mit Vertriebenen, aber die Wegberger Gemeinde hielt das nicht für nötig. Am 18.07.1949 (!) lag ein Antrag der „Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen“, über die weiter unten noch berichtet wird, vor, einen Ostvertriebenen für das Flüchtlingsamt einzustellen, mit ausdrücklichem Hinweis „auf Grund des Flüchtlingsgesetzes“ von 1948. Am 30.09.1949 lag ein erneuter Antrag der Interessengemeinschaft zu diesem Problem vor, aber der Personalausschuss stellte sich „auf den Standpunkt, daß die Bearbeitung der Flüchtlingsangelegenheiten durch das hierfür tätige Personal zum Wohle dieses Personenkreises stets erfolgt ist. Durch die Beschäftigung des Flüchtlingsbeirat Nowack im Wohnungsamt, ist eine erfolgreiche Fühlungsnahme gewährleistet.“ 48 Im Dezember wurde dann endlich beschlossen, Vorschläge beim Flüchtlingsbeirat und beim beratenden Flüchtlingsausschuss anzufordern. Interessenkonflikte!

47 Personalausschussprotokolle, vom 09. 12. 1947 48 Personalausschussprotokolle, vom 18. 07. und 30. 09 und 08. 12. 1949 76


Schon ab 1946, trotz Verbots der britischen Militärregierung 49, die Solidarisierungen wohl fürchtete, schlossen sich Vertriebene in der Erkenntnis, dass man nur gemeinschaftlich für die Verbesserung der Lage der Vertriebenen wirken könne, zu „Interessengemeinschaften“ zusammen, und auch landsmannschaftliche Zusammenschlüsse bildeten sich. Dem widerspricht nicht die Tatsache, dass sehr viele Vertriebene sich ins „Private“ zurückzog und Halt und Zusammenhalt in ihren früheren Ortsgemeinschaften und mit ihren früheren Bekanntenkreisen suchten und fanden. So hat bis in heutige Zeit fast jede größere Ortsgemeinschaft aus der alten Heimat noch regelmäßige Heimattreffen und eigene Heimatbriefe und zum Teil intensive Kontakte zu den jetzigen Einwohnern ihrer Heimatorte. So gab es also auch in Wegberg eine „Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen für den Amtsbezirk Wegberg Kreis Erkelenz“ mit dem Status eines eingetragenen Vereins und Mitgliedsbeiträgen. Der Zusammenschluss dieser Interessengruppe erfolgte im Oktober 1947 auf einem kleinen Umweg über die Gründung der „Interessengemeinschaft im Kreis Erkelenz“, erst danach konstituierte sich der Ortsverband Wegberg. Die Initiative dazu ging wohl von den Wegberger Vertriebenen Huebert, Lindner und Pinzek und anderen aus, die ja noch heute bei den Älteren bekannt sind. Im Mitteilungsblatt der Interessengemeinschaft ist das so dargestellt: 50 „Sechs Männer waren es damals Huebert, Ruffert, Lindner, Hennig, Carl und Pinzek, die sich in Erkelenz zusammenfanden und den Kreisverband aus der Taufe hoben. In zäher und unermüdlicher Arbeit wurden dann in allen Gemeinden und Amtsbezirken die Ortsverbände ins Leben gerufen. Da diese Arbeit nur von ganz wenigen Schultern getragen wurde, war es eine aufopfernde Pionierarbeit, zu der viel Idealismus und Liebe zur Sache gehörte, da sie nicht nur der Kritik der Mitglieder sondern auch der Behörden und politischen Parteien ausgesetzt war. Persönliche Differenzen und Diffamierungen machten dem Vorstand die Arbeit ungeheuer schwer und drohten den Verband zu zerschlagen. ...“ 49 im Abschnitt 3 ist das schon erwähnt 50 so in „Heimatbrief, Mitteilungsblatt der Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen Nr. 5/1948“

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Mitgliedskarte der Wegberger Interessengemeinschaft, ausgestellt 1947 Auf der Mitgliedskarte sind die Interessen der Gemeinschaft kurz und klar ausgef端hrt Bild: HJH 78


Die Mitgliedskarte trägt die Nummer 0215. Man könnte daraus schließen, dass die Interessengemeinschaft Ende 1947 über 200 Mitglieder gehabt habe. Das ist aber nicht anzunehmen, da die amtliche Statistik für Wegberg für den Dezember 1947 die Zahl von 541 Ostvertriebenen 51 (Kinder, Erwachsene und Alte) angibt und aus solcher Zahl kaum eine so hohe Mitgliederzahl anzunehmen ist. Außerdem berichteten mir Zeitzeugen, dass in den Versammlungen der Wegberger Interessengemeinschaft damals nur 20 bis 30 Personen anwesend waren. Wahrscheinlich bezieht sich die Ausweis-Nummer auf die Gesamtzahl der Ausweise der Gemeinschaft im Kreis Erkelenz, denn die Amtsbezirks-Angabe „Wegberg“ ist von Hand eingetragen. Mag sein, wie es will, jedenfalls war wohl diese Vertriebenengemeinschaft von einigem Einfluss in Wegberg und im gesamten Kreis Erkelenz. Als Aufgabe der Gemeinschaft ist auf dem Ausweis aus der Satzung zitiert: Die Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen ist eine Gemeinschaft im bittersten Schicksal. Sie wird von Schicksalsgenossen gebildet, welche die gleichen Interessen und Bedürfnisse infolge Verlustes ihrer Heimat, Existenz und des Vermögens haben. Schicksalsgenossen, welche dieser Interessengemeinschaft beitreten, Interessenten genannt, verpflichten sich zu gegenseitiger, selbstloser und kameradschaftlicher Hilfe mit Rat und Tat. Die Interessengemeinschaft sieht ihre Aufgabe vorzugsweise auf folgenden Gebieten: a) gemeindliche, wirtschaftliche und seelische Eingliederung der Interessenten in ihre derzeitigen Aufnahmegebiete, b) Betreuung der Interessenten und ihrer ausreichenden Verhältnissen der Einheimischen entsprechende Versorgung mit: 1) Wohnraum, Möbeln, Bedarfsgüter, Mangelware, 2) Arbeitsplätze und Erwerbsmöglichkeiten; c) Besetzung der Flüchtlingsämter und Fürsorgestellen durch Interessenten, d) Fürsorge für die in der alten Heimat und den neuen Aufnahmegebieten getrennten Familienmitglieder, e) Hilfe und Beratung bei Geltendmachung der Entschädigungsansprüche. 51 so die amtliche Fortschreibung der Flüchtlings-Statistik vom 1.12.1947, im Stadtarchiv

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So steht es ausdrücklich auf dem abgebildeten Ausweis vermerkt. In diesem Sinne ist man dann auch tätig gewesen. Schon 1947 sind Vertriebene in Wegberg in entsprechenden Ausschüssen und dann auch Ratsmitglieder, und so finden sich in den Ratsprotokollen daraufhin immer wieder Namen Ostvertriebener wie Nowack, Meyer, Huebert, Hübler, Pistor oder Franke. Und auch für die Kreisebene gilt das. Als Beispiel aus dem Ratsprotokoll vom 07.05.1948: ... „Neuwahl des Vorsitzenden vom beratenden Flüchtlingsausschuß Wegberg“ „Herr Huebert aus Klinkum ist als Vorsitzender des obigen Ausschusses zurückgetreten. Zum neuen Vorsitzenden wurde Herr Nowack aus Rickelrath gewählt. Die Versammlung erhob hiergegen keine Bedenken.“ Ernst Huebert war ab 1948 Leiter des Kreisflüchtlingsamtes in Erkelenz.

Dass auch unter diesen Gruppierungen die oben erwähnten Interessenkonflikte nicht ausblieben, zeigt z.B. ein Bericht in der Aachener Volkszeitung vom 9.10.1948: „Wie die Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen, Kreis Erkelenz e.V. mitteilt, wurde in der erweiterten Kreisversammlung am 25. September mit Rücksicht darauf, daß der bisherige erste Vorsitzende Ernst Huebert, Klinkum, gleichzeitug Leiter des hiesigen Kreisflüchtlingsamtes ist und eine Vereinigung beider Funktionen in einer Hand nicht tunlich erschien, eine Neuwahl des ersten Vorsitzenden vorgenommen. Der Rechtsbeistand Friedrich Stoll, Kückhoven, wurde einstimmig zum ersten Vorsitzenden der Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen Kreis Erkelenz e.V. gewählt. ... ...

Misstrauen gegen Huebert?

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Der Misstrauensantrag der Erkelenzer Gruppe wurde von der Kreisversammlung seinerzeit abgelehnt. ... Die Ostvertriebenen des Kreisgebiets erheben gegen den Erkelenzer Ortsantrag schärfsten Protest. Sie halten nach wie vor zu dem Leiter des Kreisflüchtlingsamtes und möchten ihm auch an dieser Stelle für seine unermüdliche Arbeit Dank sagen.“ 1950 wurde Erich Hübler, als Vorsitzender der „Interessengemeinschaft“ als beratendes Mitglied in den Sozialausschuss des Wegberger Rates berufen. 52 Bei der Kommunalwahl 1952 kandidierte Erich Hübler für den BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten), der inzwischen bundesweit bestand, und wurde in den Gemeinderat gewählt (5,6 % der Stimmen). Zwei andere Vertriebene waren in der SPD-Fraktion. 53 Der BHE erreichte übrigens bei der Bundestags-Wahl 1953 auch 5,9 % der Stimmen. 1957 bei der nächsten Wahl fiel er unter die 5% - Hürde. So ändern sich Interessen. Trotzdem haben sicher in Wegberg und auch im Kreisgebiet „Interessengemeinschaft“, „BHE“ und auch „BvD“ (Bund der vertriebenen Deutschen) bis Ende der 50er Jahre einen bedeutsamen Einfluss in Bezug auf die Betreuung, Versorgung und die Integration der Vertriebenen gehabt, auch wenn sie wohl nie mehr als 10% der Vertriebenen organisatorisch erfasst haben, wie in der Flüchtlings-Literatur gesagt wird. 54 Schon die Anweisung der Militärregierung von 1945 und dann die Bestimmungen der Landesregierung von 1947 sahen zur Unterstützung der Vertriebenen bei der Wahrung ihrer Interessen die Einsetzung von ehrenamtlichen Betreuern vor, bezeichnet als Flüchtlingshelfer. 55 So sind auch für die Ortsteile Wegbergs solche „Flüchtlingsbetreuer“ berufen worden. Konkrete Daten über deren Tätigkeit waren in den Akten aber nur sehr spärlich vorhanden. Lediglich über die Tätigkeit „des Flüchtlingsbetreuers Kühn in Rickelrath“ finden sich Angaben. 56 52 53 54 55 56

Ratsprotokolle, vom 30.10.1950 Ratsprotokolle, vom 08.12.1952 so z.B. bei Kossert 2008, Seite 145 Sozialministerium 1947, Seite 33 Ratsprotokolle, vom 24. 02. 1950

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Als eine konkrete Unterstützung bei der Wahrung berechtigter Interessen hatte die Landesregierung für die Vertriebenen und für Betreuer eine Broschüre schon im Herbst 1947 drucken lassen, in der sehr hilfreich Ratschläge und entsprechende Gesetzliche Regelungen z. B. bei Forderungen gesammelt waren, eine Art Rechtsbeistand: „Flüchtlingsbetreuung in Nordrhein-Westfalen“. 57 Darin heißt es im Vorwort: „Aus dem Flüchtlingschaos der ersten Zeit ist inzwischen durch die unermüdliche Arbeit vieler Stellen ein Zustand der vorläufigen Ordnung geworden. Die endgültige Regelung bleibt einem baldigen Flüchtlingsgesetz vorbehalten.“ Das kam ja in den folgenden Jahren dann auch so. Ich kann nur hoffen, dass viele Vertriebene und vor allem Betreuer solches Hilfsbüchlein in die Hände bekamen, weil die Kenntnis der Rechtslage immer noch die beste Voraussetzung für Fragen und Bitten und auch Forderungen ist. Auf Seite 15 wird auch noch in Bezug auf kulturelle Betreuung der Vertriebenen ausdrücklich gefordert: „Vor allem aber sind Bücher für die Flüchtlinge zu beschaffen. ...“ Die meisten Vertriebenen werden ja kaum bei ihrer Austreibung Bücher haben mitnehmen können. Welcher Interessenkonflikt allerdings in diesem Zusammenhang 1948 zum folgenden Ratsbeschluss geführt haben kann, ist mir nicht klar geworden: 58 „6. Begutachtung von Gewerbeanträgen.“ „a) Bodin Werner, Wegberg - Buchverkaufsstelle – abgelehnt, da kein Bedürfnis.“ Ein interessantes Beispiel für einen Interessenkonflikt, bei dem die Gruppierungen ganz ungewöhnlich gemischt waren, ist die schon erwähnte Beschwerde aus Klinkum. 59

57 in der Literaturangabe als „Sozialministerium 1947“ 58 Ratsprotokolle, vom 12. 04. 1948 59 Aachener Volkszeitung, vom 01. 10. 1949 82


1949 kam im Gemeinderat eine Resolution der „versammelten Ortsgemeinschaft von Klinkum“ zur Verlesung, in der harsche Kritik an der Finanzpolitik der Gemeinde und dem Wohnungsbau und noch anderem geübt wurde. Hier standen also anscheinend „Einheimische“ und „Neubürger“ gemeinsam mit ihren Interessen gegen den Rat und die Verwaltung. Laut Zeitungsbericht erklärte Bürgermeister Kohlen gegenüber dem Vorwurf, dass für den Wohnungsbau zu wenig getan worden sei: „daß die Gemeinde für Wohnungsbau aus eigenen Mitteln rund 16.000 DM aufgebracht habe. Noch letzthin sei eine sehr schöne Baracke erstanden worden für Rickelrath, in deren winterfeste Dreizimmer-Wohnung im Falle plötzlicher Flüchtlingszuweisung jederzeit eine Flüchtlingsfamilie eingewiesen werden könne. Und wenn keine Flüchtlinge mehr kämen, würde dieser Bau eine solide Wohnung jedenfalls für die Zeit der Wohnungsnot abgeben. Es dürfe wohl im Kreise kaum eine Gemeinde geben, die gerade zur Beseitigung der Wohnungsnot soviel getan habe wie die Gemeinde Wegberg.“ Ein kleines Beispiel für einen Vorgang, bei dem in Wegberg die Interessen sich ausglichen, statt aufeinander zu prallen, war die Textilindustrie in den Nachkriegsjahren. Gerade wegen des Mangels damals begannen die Spinnereien, Webereien und Nähereien wieder aufzublühen. Da war das Interesse an arbeitsamen und verlässlichen Arbeitskräften groß. Zahlreiche Vertriebene nutzten diese Gelegenheit ihrer vor allem finanziellen Notlage dadurch zu entkommen, dass sie in diesen Betrieben Arbeit und Einkommen suchten und fanden, auch wenn das nicht unbedingt ihren Berufsvorstellungen entsprach, wie schon in Abschnitt 4.4.1 erwähnt. Und sie waren dann arbeitsame und verlässliche Arbeitskräfte. Auf diese Weise trugen die Wegberger Textilbetriebe und die Vertriebenen selbst zur Integration erheblich bei und profitierten beide davon. Im Abschnitt 4.2 wurde schon von der Jugendgruppe der Vertriebenen berichtet, die es ab 1949 in Wegberg gab. Sicher war das Interesse dieser Gruppe außer auf jugendliche Geselligkeit auch darauf gerichtet, das Kennenlernen der neuen Heimat zu fördern, eine Gruppe im Sinne einer Interessenvertretung von Belangen der Vertriebenen war sie aber sicher nicht. 83


Nach meinem Kenntnisstand hatte sie auch keine Verbindung zur offiziellen Organisation „Deutsche Jugend des Ostens“ (DJO). Da aber zu dieser Gruppe auch Jugendliche der Alteingesessenen gehörten und auch katholische und evangelische, hat sie durchaus einen Beitrag zum Interessenausgleich geleistet. Einen wesentlichen Beitrag zum Ausgleich der Interessen leisten mit Sicherheit Eheschließungen von Partnern aus den unterschiedlichen Bevölkerungs-Gruppen. Leider sind korrekte Zahlen über solche Eheschließungen in den 40er und 50er Jahren aus Personen-Daten-Schutz-Gründen natürlich jetzt noch nicht zu bekommen, aber aus meiner persönlichen Kenntnis meine ich so behaupten zu können: In den 40er Jahren waren Ehen zwischen „Einheimischen“ und „Ostflüchtlingen“ in Wegberg, womöglich gar „konfessionsverschieden“, eine echte Ausnahme, mir sind jedenfalls nur wenige bekannt. Am Ende der 50er Jahre, als dann schon eine neue Generation den gemeinsamen Weg ins Leben fand, war das nun gar nicht mehr so, aber die Ehen mit Partnerschaften der Ostvertriebenen untereinander blieben immer noch in der Überzahl. Es war einfach unvermeidlich, dass in Wegbergs Nachkriegs-Bevölkerung so viele unterschiedliche Interessen zu ständigen Auseinandersetzungen führten, und schließlich war es sehr förderlich für die Besserung der Lebensverhältnisse hier, dass es so stattfand, denn ein träges Hinnehmen des damaligen Zustands hätte zu einem langsamen Sterben der ganzen Gemeinschaft geführt. Bei aller menschlichen Unzulänglichkeit haben immer wieder viele der Einheimischen und auch der hinzugekommenen Vertriebenen durch ihre Aktivität dazu beigetragen, dass es keinen Stillstand gab. Den beharrlichen Bemühungen der Vertriebenen durch ihre unterschiedlichsten Interessenvertretungen im Ort, im Kreis und besonders nach Bestehen der Bundesrepublik ab 1949 bundesweit ist zu verdanken, dass dann grundlegende gesetzliche Regelungen einen gangbaren Ausgleich der Interessen ermöglichten. 84


Darum sei hier wieder an folgenreiche Gesetze erinnert, wie z.B. das Soforthilfegesetz von 1949. Dazu eine Einschätzung aus heutiger Zeit: „Die besondere Bedeutung des Soforthilfegesetzes bestand darüber hinaus aber auch darin, dass es im Sinne des Solidargedankens alle Bürger in das Soforthilfeprogramm einbezogen hat. Gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden die unterschiedlichen Lebensschicksale besonders deutlich. Während die einen im Krieg alles verloren hatten, konnten die anderen auf ihr erhalten gebliebenes Vermögen zurückgreifen. Es war deshalb geboten, die Lasten des Krieges möglichst gerecht zu verteilen. Wie stark der Solidargedanke damals in Deutschland verwurzelt war, zeigt die Tatsache, dass gegen die Erhebung der Soforthilfeabgaben keine grundsätzlichen Einwände erhoben wurden.“ 60

60 so in „Historie Lastenausgleich – Bundesamt für zentrale Dienste ...“, vom 10. 07. 2009 85


5. Besonderheiten 5.1.1 Einige Besonderheiten Einige Besonderheiten beim neuen Leben in Wegberg gab es für die Vertriebenen als „Neuankömmlinge“ schon, und die „Einheimischen“ werden beim Blick auf die neuen Verhältnisse ähnlich empfunden haben: Man wusste ziemlich wenig „voneinander“. Z.B. kannte ich vorher das ganze Rheinland nicht. Bei der ersten Anreise nach Wegberg stutzte ich daher etwas bei der Bahnstation „München-Gladbach“, wie es damals noch hieß, und vermutete fast bayrische Verhältnisse. Für den berühmten Adenauer begann ja ab Deutz nach Osten „Sibirien“. So hatten beide Seiten noch viel zu lernen. Die kleinen Bach-Täler in Wegberg mit den vielen Wassermühlen sind schon eine Besonderheit. Das Klima war für „Ostdeutsche“ gewöhnungsbedürftig wegen des milden „See-Klimas“ in Wegberg, wo man nicht nötig hatte, ein Schlafzimmer heizbar zu machen. In den Gebieten des Ostens hatte man trockene heiße Sommer und streng kalte Winter. Im ersten Wegberger Jahr war ich wegen des feuchten Wetters beständig leicht erkältet. Die echte Wegberger Umgangssprache war wohl für ostpreußische, pommersche oder schlesische Neuankömmlinge nicht gleich eingängig, vor allem wenn sie noch auf gepflegte ostdeutsche Dialekte traf. Da blieb nur der Rückgriff auf vorhandenes Hochdeutsch, womit selbst heute noch so mancher gewisse Schwierigkeiten hat. 86


Die „karnevalistische Anlage“ war bei Vertriebenen nicht so weit verbreitet, wie bei Wegbergern. Bei einer Umfrage 2009 erklärten im Erkelenzer Umfeld 70% der Befragten, sie würden gerne vor dem Karneval fliehen. 61 Sollten da womöglich noch heute die Meinungen von Ostvertriebenen mitgewirkt haben? Auch stelle ich mir einen schlesischen Bauern vor, der staunend einen mit einem Kaltblut-Belgier-Pferd bespannten 2-Rad-Karren, wie sie damals üblich waren, sieht; oder der der Kornernte mit Kurz-Sense und Haken zusieht.

Eine ganz seltene Besonderheit war der seit dem 2. Weltkrieg vorhandene, um Wegberg führende „Grenzlandring“

Von Bedeutung für das Vertriebenen-Problem wurde diese Besonderheit im Jahr 1948, denn da wurde nach der für die gesamte Entwicklung so wichtigen Währungsreform im Sommer dann im Spätsommer auf dieser Wegberger Straße als Riesenspektakel das erste „Grenzlandring-Rennen“ veranstaltet, dem in den nächsten Jahren noch einige folgten. Diese Veranstaltungen haben in gewisser Weise zum wirtschaftlichen Aufschwung in Wegberg beigetragen, was zur Bewältigung des Vertriebenen-Problems durchaus beigetragen hat, indem Steuer-Einnahmen aus den Rennveranstaltungen in diesem Zusammenhang zur Verfügung gestellt wurden, wie z.B. im Abschnitt 4.4.1 berichtet. 61 So eine Umfrage der Rheinischen Post in Erkelenz vom 21.02.2009 87


5.2 Besondere Besonderheiten 5.2.1 Baldige Heimkehr Besonders die älteren unter den Vertriebenen gingen in den Anfangsjahren der Vertreibung auch in Wegberg davon aus, dass sie recht bald, bald oder überhaupt in ihre Heimat zurückkehren könnten. Der Verlust ihres lebenslangen Zuhauses, als ihrer gesamten Lebensgrundlage, führte dazu, dass sie sich eine Heimkehr in alte Verhältnisse sehnlich wünschten. Da der nötige Überblick über die völlig veränderten politischen Verhältnisse in Europa fehlte, sah man durchaus die Möglichkeit einer Rückkehr. Hinzu kam, dass formaljuristisch die abgenommenen Ostgebiete Deutschlands nur als unter polnischer bzw. Sowjet-russischer Verwaltung stehend bezeichnet wurden. Von offizieller Seite gab es zu dieser Heimkehr-Hoffnung allerdings längst klare Aussagen, wie z.B. in einer Veröffentlichung des Sozialministeriums von NRW aus dem Jahr 1947 mit dem Titel „Flüchtlingsbetreuung in Nordrhein – Westfalen“, wo es auf Seite 5 heißt: 62 Ungeachtet der in einem gerechten Friedensvertrag zu erwartenden Grenzregelung im Osten sind alle Maßnahmen auf endgültige Eingliederung und Gleichstellung der Flüchtlinge mit den Einheimischen zu richten.“ Die Hoffnung darauf, eines Tages wieder zurückkehren zu können, wurde trotzdem in der Öffentlichkeit noch jahrelang eher unterstützt statt gedämpft. 62 so in „Sozialministerium 1947“, Seite 5 88


Als der für mehrere Jahre auf Kreisebene organisierte „Tag der deutschen Heimat“ am 12. September 1954 in Wegberg stattfand, rief in der Presse der Landrat dazu auf: 63 Ein Wort zum „Tag der deutschen Heimat“ Aufruf des Landrats Morgen wird in Wegberg der diesjährige „Tag der deutschen Heimat“ veranstaltet. Er verdankt seinen Ursprung einer Anregung des Kreisverbandes Erkelenz im Bund vertriebener Deutscher und wird von ihm durchgeführt. Wenn er auch in erster Linie die Erinnerung an die verlorene Heimat im Osten unseres Vaterlandes wachhalten soll, so liegt sein Sinn doch klar darin, die Deutschen aufzurufen, der gemeinsamen Aufgabe bewußt zu bleiben. Deshalb verdient diese Veranstaltung Beachtung über die Reihen der Vertriebenen hinaus. Am 11. September 1954. Josef Rick, Landrat, MDL. Die Aachener Volkszeitung vom 14. September 1954 berichtet dann über die Veranstaltung vom Sonntag, dem 12. September 1954, im Saal Houben am Hagelkreuz in Wegberg. Hier einige Zitate aus diesem Bericht: „Der Kreisvorsitzende des Bundes vertriebener Deutscher hatte die Feierstunde im vollbesetzten Saal Houben eröffnet und u.a. als Gäste den Vertreter des Landrats, des Oberkreisdirektors, den Wegberger Bürgermeister, den Vertreter des Wegberger Gemeindedirektors und die Mitglieder des Rates der Gemeinde Wegberg begrüßt.“ Der Vorsitzende des Heimatvereins der Erkelenzer Lande Studienrat Krings wird zitiert: „Sie allein können ihre verlorene Heimat nicht wiedergewinnen, Sie bedürfen dazu der Hilfe des gesamten deutschen Volkes. Wir Einheimischen können dann nicht sagen, damit haben wir nichts zu tun. ...“

63 so in Aachener Volkszeitung vom 11.09.1954, Seite 11 D 89


Wegbergs Bürgermeister Kohlen wird zitiert: „Geben Sie die Hoffnung auf die Rückkehr in die Heimat nicht auf, denn einmal muß die Welt doch vernünftig werden.“

Solch sicher gut gemeinter „Beihilfe“ zur Rückkehr-Hoffnung stand ja längst die Tatsache gegenüber, dass zahlreiche Vertriebene inzwischen durch Erwerb von Grund- und Hauseigentum festen Fuß in Wegberg gefasst hatten und damit eine neue Heimat schufen, wie schon weiter oben erwähnt z.B. in Wegberg-Forst, wo durch Ansiedlung von Vertriebenen ein ganzer Stadtteil neu entstand: 1952

7 Haushalte =

17 Personen

1956

94 Haushalte =

279 Personen

Besonders die jüngeren unter den Vertriebenen, die inzwischen auch beruflich Fuß gefasst hatten und langsam begannen, eigene Existenzen aufzubauen, sahen keine Notwendigkeit und auch keine Möglichkeit in irgendeiner Weise auf eine Rückkehr in die alte Heimat zu bauen.

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5.2.2 Nazistische Vergangenheit Eine weitere schwerwiegende Besonderheit war, dass es so gut wie keine offene, befreiende Auseinandersetzung mit dem doch vorher noch allgegenwärtigen Nazi-Problem gab. Natürlich veranstalteten die Alliierten als Siegermächte den Nürnberger Prozess und betrieben eine so genannte „Entnazifizierung“, eine eigene deutsche angemessene Aufarbeitung gab es aber nur in geringem Maß. In der Wegberger „Altbevölkerung“ kannte natürlich jeder jeden. Das Maß an Mitläufertum in der Nazizeit und die Zahl derer, die sich stärker linientreu zeigten, wird nicht anders gewesen sein, als es überall war. Und da man sich eben gut kannte, wird der Blick auf die eigenen Schwächen auch genügend Anlass gegeben haben, die Vergangenheit schweigend ruhen zu lassen. Peinlich ruhen zu lassen, vielleicht gerade im Blick auf die wenigen Mitbürger, die offen bei dem „normalen“ Mitläuferverhalten in der nationalsozialistischen Zeit nicht mitmachten und dadurch üblen Repressalien ausgesetzt waren, wie z.B. die Familie Eickels, wobei sogar, nachdem Herr Eickels im Konzentrationslager Dachau „verstorben“ war, bei der Beisetzung der Urne die Demütigungen noch kein Ende hatten. (nachzulesen in „Arens 1999“, S. 47ff) Der Bevölkerungsanteil der „Flüchtlinge“ wurde von den Hiesigen zwar als eine einheitliche Gruppe gesehen, war aber in Wirklichkeit eine Ansammlung von willkürlich zusammengewürfelten Grüppchen aus den unterschiedlichsten Gegenden Europas östlich des „Eisernen Vorhangs“, wie man später sagte. Das ist in Bezug auf die Nazi-Vergangenheit schon von großer Bedeutung. Man kannte sich erst seit der Vertreibung und rückte 91


nun etwas zusammen, aber nur wenige kannten eigentlich den anderen von früher so gut, dass die Kenntnis z.B. der Nazi-Vergangenheit eine Rolle spielen konnte. Da war man höchstens auf Vermutungen angewiesen und man ließ es dann wohl auch dabei bewenden. Dazu ein Bericht aus der Aachener Volkszeitung vom 21.12.1946 über eine Kreistagssitzung : „... Florak (SPD) sagte zu der Resolution, daß es doch stimme, daß sich unter den Ostvertriebenen viele schlechte Elemente befänden. ... Oberkreisdirektor Dr. Schiefer stellte fest, daß im allgemeinen wenig berechtigte Beschwerden eingelaufen seien. Gerhards (SPD) führte noch an, daß man auch in politischer Hinsicht gegenüber den Vertriebenen vorsichtig sein müsse, denn keiner wolle in der Partei gewesen sein. ...“ In der Literatur über die Vertriebenen wird sogar angedeutet, dass man unter den Einheimischen verbreitet der Ansicht war, man müsse mit den Vertriebenen kein Mitleid haben, denn sie seien allesamt Nazis, so bei Kossert 2008, Seite 12. Hier werden dann auch, wie bei anderen, W. Dirks und E. Kogon zitiert, die schon 1947 in den Frankfurter Heften zu diesem Thema schrieben: „Die Nation gilt als eine Einheit im Guten, im Stolz, im Gewinn, im Sieg – sie wird auch im Bösen beim Wort genommen, als eine Einheit behandelt auch in der Niederlage und in der Schande. Die armen Opfer in Schlesien und Ostpreußen leiden stellvertretend für die wahren Schuldigen, und es ist ein Zufall, daß nicht wir es sind, du und ich, die stellvertretend leiden und sterben müssen.“

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5.2.3 Konfessionen Eine ganz andere besondere Besonderheit muss aber noch erwähnt werden. Man sah sich in der Gemeinde Wegberg nach 1945 wieder als dörflich, kirchlich geschlossene Gemeinschaft, gerade weil die politischen und auch kirchenfeindlichen Verirrungen der NS-Zeit nun nicht mehr gegeben waren. Die Eingliederung der Vertriebenen jedenfalls wurde durch diese konfessionelle, röm. katholische Geschlossenheit zusätzlich erschwert, denn der überwiegende Teil der Vertriebenen, die nach Wegberg kamen, war evangelisch, und das machte alles eben noch komplizierter, vielleicht sogar dadurch, dass Wegberg seit Jahrhunderten durch die Nachbarschaft zum rein evangelischen Schwanenberg die kleine „calvinistische“ Minderheit in Geneiken und Genfeld hatte. Manche Ablehnung der „Flüchtlinge“ war jedenfalls durch das Unverständnis gegenüber „den Protestanten“ verstärkt oder gar bedingt. Kossert hat sicher recht, wenn er wohl mit besonderem Blick z.B. auf norddeutsche Verhältnisse sagt: 64 „Oft kamen die Vertriebenen in weithin geschlossene Gebiete anderer Konfessionen, wo sie nicht nur als Vertriebene, sondern auch als Andersgläubige auf Vorurteile stießen. Sie litten also sowohl unter dem Verlust ihres sozialen und materiellen Status als auch unter der konfessionellen Heimatlosigkeit, ... ... Daß diese Grenzen durchlässiger wurden, dazu haben die Vertriebenen erheblich beigetragen. Einerseits haben sie die Auflösung der Einheit von Religion und Lebensverhältnissen sowie die Individualisierung in der Praktizierung des Glaubens beschleunigt. Andererseits bereicherten sie durch neue Frömmigkeitsformen das religiöse Brauchtum der Einheimischen, was dazu führte, daß das kirchlich-religiöse Leben eine tiefere Frömmigkeit erhielt und zugleich le93


bendiger wurde. Der starre Traditionalismus schwand, und die konfessionellen Abgrenzungen lösten sich auf. Diese religiöse Renaissance der Nachkriegszeit wurde durch die Vertriebenen angestoßen.“ Die Problematik war in Wegberg noch etwas komplizierter. Die evangelischen Vertriebenen, die alle aus lutherisch geprägten Landeskirchen kamen, hatten eben nicht nur Probleme mit dem röm.-katholischen Umfeld, sondern konnten sich zum Teil auf die leicht „reformiert“, „calvinistisch“, ausgerichtete Gemeinde Schwanenberg, zu der sie nun kirchlich gehörten, nicht ohne weiteres einstellen. Es kam sogar zu Reibereien, bei denen aber auch noch völlig andere Gründe als Ursache mitwirkten, wie z.B. die Tatsache, dass manche der Vertriebenen aus pietistisch geprägten Gemeinschaften kamen, die auch in ihrer Heimat einen gewissen Abstand zur „Landeskirche“ hatten und diese Form religiösen Lebens hier weiterführen wollten, oder z.B. der Tatsache, dass so mancher auch in seiner Heimat schon kaum wirklich Kontakt mit „seiner Kirche“ hatte, oder schließlich auch der Umstand, dass viele von „ihrer Kirche“ weit mehr Unterstützung erwarteten, die in solchem Umfang von der Schwanenberger Gemeinde gar nicht erbracht werden konnte, wie im Abschnitt 4.4.1 schon erläutert wurde. Auf lange Sicht hat das dazu geführt, dass die zahlreichen evangelischen Vertriebenen Wegbergs überhaupt erst ein selbständiges evangelisches Gemeindeleben in Wegberg ermöglicht haben. Sah man in der evgl. Kirchengemeinde Schwanenberg anfangs die evgl. Vertriebenen in Wegberg zusammen mit den schon dort wohnenden wenigen Evangelischen einfach als verstreut wohnende Mitglieder der Gemeinde, wie es schon seit langem welche gab, so galt ab 1948/49 bei dem starken Anstieg der Zahl der evgl. Vertriebenen Wegberg bald als „Gemeinde-Bezirk“. Alles wuchs in solchem Umfang, dass eine eigene Kirche, ein Pfarrhaus und ein Gemeindehaus gebaut wurden und sogar in Wegberg eine 2. Pfarrstelle der Gemeinde eingerichtet wurde. Schließlich hat sich dieser „Gemeindebezirk“ kirchenrechtlich von Schwanenberg gelöst und wurde 1967 zu einer selbständigen Evangelischen Kirchengemeinde (uniert).

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Der aus Schlesien vertriebene Lehrer Franke Er kam in den ersten Nachkriegsjahren nach Wegberg in den Schuldienst Das Bild zeigt ihn 1934 noch in Schlesien im Dienst Bild: Helmut Franke

5.2.4 Schulkinder Schwere Last hatten in der damaligen Zeit die Kinder zu tragen, denn an allem, was Kinder nun einmal zum Leben brauchen, herrschte ja der größte Mangel. Angefangen von der Ernährung und Bekleidung über die Unterkunft bis zu den allgemeinen Lebensumständen war alles geprägt durch den Mangel und den täglichen Kampf, das Notwendigste zu besorgen. Kindern gelingt es zwar, solche Belastungen fast „leicht wegzustecken“, aber Schädigungen 95


Lehrer Franke mit seiner Klasse 1950 an der alten Schule in Wegberg Man beachte die Schülerzahl und die Tatsache, dass Einheimische und Flüchtlinge und Katholiken und Protestanten wirklich nur von Eingeweihten zu erkennen sind. Bild: Helmut Franke

geschehen trotzdem und wirken ein Leben lang nach. Eine besondere Schädigung erlitten die Schulkinder, weil für ein Jahr oder sogar länger kein Unterricht stattfinden konnte, bei den Schulkindern der Vertriebenen war das meist ein Ausfall von fast zwei Jahren. Die dadurch entstandenen Bildungslücken waren ein bleibender Schaden, wie schon die Volksweisheit sagt: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ In der Gemeinde Wegberg war in den ersten Nachkriegsjahren die Durchführung des Schulunterrichts sehr schwierig angesichts der allgemeinen Not und vor allem angesichts der Raumverhältnisse und des Zustands der Schulen und der Tatsache, dass in die vorhandenen Schulen eine große Zahl von Kindern der neu hinzugekommenen Vertriebenen aufgenommen werden mussten.

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In Klinkum war zu der Zeit der Ostvertriebene Herr Kuhn im Schuldienst Im Bild links mit Frau Hastenrath und Schulleiter Gotzen auf dem Pausenhof 1952 Bild: HJH Die Schulchronik von Klinkum nennt dafür folgende Zahlen: Ortsteil Klinkum

1531 Einwohner

Kath. Volksschule Klinkum, Ostern 1951 davon

201 Schüler

31 Flüchtlingskinder =15,4 %

Dazu gab es wegen der Nachkriegsverhältnisse einen großen Mangel an Lehrkräften, was dazu führte, dass man Lehrkräfte, die sich unter den Vertriebenen befanden, in den hiesigen Schuldienst aufnahm. So kam z.B. in den ersten Nachkriegsjahren der aus Schlesien vertriebene Lehrer Franke in Wegberg in den Schuldienst. In Klinkum war zu der Zeit der Ostvertriebene Herr Kuhn im Schuldienst. Auch die Ostvertriebenen Frau Scholich, Herr Filzek, Herr Sonnenfeld und Herr Nickel waren schon in den ersten Nachkriegsjahren in Wegberg im Schuldienst.

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Zusätzlich wirkte sich nun auch noch auf diesem Gebiet des Schulwesens die konfessionelle Verschiedenheit vieler Vertriebener aus, auf die hier eingegangen werden muss, und führte zur Besonderheit.

Die neue Katholische Volksschule in Wegberg, eine „Pavillon-Schule“ Der für die Nachkriegszeit sehr frühe Neubau fand in Fachkreisen höchste lobende Beachtung Bild: Historischer Verein Wegberg

In der Aufbruchszeit am Anfang der 50er Jahre mit dem Beginn der umfangreichen Bautätigkeit ist die neue Kath. Volksschule in Wegberg gebaut worden, eine „Pavillon-Schule“, ein für damals völlig neuartiges Konzept. Der für die Nachkriegszeit doch sehr frühe Neubau fand in Fachkreisen höchste lobende Beachtung. Schon im Januar 1952 konnte der Schulbetrieb aufgenommen werde. Und damit wurde ein großer Schritt zur Lösung eines weiteren „Wohnungs-Problems“ getan: Schaffung von Schulraum, Lebensraum für Schulunterricht. Eine geordnete Durchführung des Schulunterrichts ist nun mal ohne angemessenen Schulraum nur ein Provisorium. Die hohe Anzahl der schulpflichtigen Kinder der Vertriebenen, die in den Schulen damals zusätzlich aufgenommen werden mussten, hat wohl nicht unerheblich dazu beigetragen, dass dieser Schulneubau in Wegberg so schnell nötig wurde und dann auch so schnell und in dieser Größe vorbildlich ausgeführt wurde. Als im Herbst 1945 in den Volksschulen der Gemeinde Wegberg der Schulunterricht wieder aufgenommen werden konnte, war das in Wegberg in der alten Volksschule an der Bahnhofstraße nicht möglich, weil die Schulräume 98


so weit beschädigt waren, dass Unterricht darin nicht möglich war. Die Schulkinder wurden auf die umliegenden Schulen verteilt. Die Kinder aus Bissen z.B. mussten nach Klinkum zur Schule. In der Schulchronik Klinkum z.B. wird dazu berichtet: „Am 18.11.1945 wurden die Kreuze, die im Jahr 1940 aus der Schule entfernt worden waren, wieder in die Klassenräume gebracht. Eine stattliche Anzahl Klinkumer wohnte dieser schönen Feier bei. Als dann am 19.11.1945 der Unterricht wieder aufgenommen werden konnte, waren alle Schulkinder wieder zur Stelle. ... Am 19.11.1945 waren in unserer Schule: 155 Kinder aus Klinkum und 19 Kinder aus Bissen anwesend.“ Ab Mai 1946, als die Schulräume an der Bahnhofstraße notdürftig instandgesetzt waren, war dann in allen Schulen Wegbergs wieder geregelter Unterricht, wie man es gewohnt war, ehe die nazistischen Einflüsse die Schulen verändert hatten. Die Schulen waren wieder röm. kath. Konfessionsschulen, wie es ja durch die von der britischen Militärregierung durchgeführte Abstimmung geregelt war. (siehe in Abschnitt 3.) Der Aachener Bischof hatte im März 1946 in einem Hirtenwort die Eltern in seinen Gemeinden ausdrücklich zur Abstimmung für eine „katholische Schule“ aufgefordert und dazu erläutert: „Es braucht keine Besorgnis zu bestehen, daß diese Schule das Verhältnis zu den andersgläubigen Christen trüben werde. Wir wissen, daß unsere gläubigen evangelischen Landsleute in ihrer Mehrheit aus ähnlichen Gründen gleichfalls die Bekenntnisschule fordern.“ 65 Diese Sichtweise war damals eine sicher zutreffende Einschätzung. Die Entwicklung in den folgenden Jahren durch die Einweisung so vieler in der Mehrzahl evangelischer Vertriebener mit schulpflichtigen Kindern brachte nun aber doch in dieser Beziehung Schwierigkeiten, weil die konfessionelle Geschlossenheit Wegbergs erheblich verändert wurde und dadurch die alleinige kath. Konfessionsschule nicht mehr den örtlichen Verhältnissen entsprach. 65 so in Aachener Volkszeitung, März 1946 99


Zu der Zeit gab es in der Gemeinde Wegberg zehn kath. Volksschulen, nämlich Wegberg, Beeck, Holtum, Rath-Anhoven, Uevekoven, Tüschenbroich, Klinkum, Harbeck, Rickelrath, Beeckerheide. In Geneiken gab es eine einklassige Evgl. Volksschule, die einzige in der Gemeinde Wegberg, bedingt dadurch, dass die dortige Einwohnerschaft seit der Reformationszeit etwa zur Hälfte evangelisch war. Die katholischen Schulkinder mussten daher in die Schule in Tüschenbroich gehen, immerhin für die meisten 1,5 km Schulweg. Im Herbst 1948 waren in diesen Schulen 1.429 Schüler, davon 40 evangelische Schüler in Geneiken. 66 Die beträchtliche Anzahl von evgl. Schülern aus den anderen Ortsteilen der Gemeinde, das waren etwa 180, hätten also in Geneiken aufgenommen und dort unterrichtet werden müssen, was angesichts der Anzahl, der unzumutbaren Schulwegs-Entfernung (zwischen 1 bis 7 km Luftlinie!) und den damaligen Verhältnissen im Personennahverkehr unmöglich war, von den Problemen der „Flüchtlingskinder“ für solche Schulwege bei Winterwetter wegen des Schuhwerks und der Bekleidung ganz zu schweigen. Also wurden diese Schüler in den örtlichen kath. Konfessionsschulen aufgenommen und unterrichtet, was für alle Beteiligten erhebliche Probleme mit sich brachte, für die Eltern, die Schüler und für die Lehrer, in deren Händen ja die Schulorganisation liegt. Es gab gegenseitige Berührungsängste, entzündet nicht nur an Äußerlichkeiten und Formen wie Bekreuzigen oder ob man Hände faltete oder zusammenlegte beim Gebet, sondern durchaus auch an für viele schwerwiegenden religiösen Inhalten, nicht nur in der religiösen Unterweisung sondern auch z.B. im Deutsch- oder Geschichts-Unterricht, denn der gesamte Unterricht und das Schulleben war damals in der Regel bewusst geprägt durch röm. kath. Glaubensvorstellung.

66 so Evertz, Nachlass. Über die Zahl evangelischer Schüler in den anderen Schulen meldet er nichts. Aus den Zeugnislisten für evgl. Religionsunterricht von Ostern 1949 kann man schließen, dass das schon etwa 180 Kinder waren 100


Für die evangelischen Vertriebenen-Kinder und ihre Elternhäuser war das alles besonders problematisch. War es doch in den Anfangsjahren schon schwierig genug als „Flüchtling“ von so manchen in der allgemeinen Notsituation als „Landplage“ oder „Kartoffelkäfer“ 67 beschimpft zu werden, so kam nun noch die Ausgrenzung als „Andersgläubiger“ dazu. Zeitzeugen berichteten mir, dass, vor allem in den 40er Jahren, einheimische Eltern ihren Kindern verboten hatten, nach der Schule mit Vertriebenen-Kindern zu spielen, obwohl sie doch gemeinsam zur Schule gingen. Dass das in den späteren Jahren nicht mehr so war, kann man vielleicht sogar als Erfolg dieser erzwungenen „Koedukation“ in den Schulen ansehen. Die jeweiligen Kirchengemeinden und Pfarrer unterstützten naturgemäß „ihre Seite“ nach Kräften und suchten nach Lösungsmöglichkeiten für die problematische Situation. Die Schulleitungen verfuhren dann so, dass sie die Religionsstunden möglichst in die ersten oder letzten Stunden des Unterrichts legten und die „Protestanten“, wie man meist sagte, dann von diesen Stunden befreiten. Damals waren in der Stundentafel noch vier Religionsstunden in der Woche vorgesehen: 2x „Biblische Geschichte“ durch den Lehrer/Lehrerin, plus 2x „Katechismus“ durch den Ortsgeistlichen. Für die Stundenplangestaltung war das kein kleines Problem. Pfarrer Wirtz von der Evangelischen Kirchengemeinde Schwanenberg, zu deren Bereich Wegberg gehörte, versuchte dann einmal wöchentlich die evgl. Schulkinder in der Schule zum Religions-Unterricht zu sammeln, wegen der Raumnot natürlich nachmittags. Das aber konnte man nicht einmal als Notlösung bezeichnen. Eltern und die Schwanenberger Kirchengemeinde versuchten die Einrichtung einer Evgl. Konfessionsschule in Wegberg zu erreichen. Das Kreisschulamt hatte Uevekoven dafür vorgesehen. Das Vorhaben kam aber lange Jahre 67 „Sehr unerfreulich für die Kartoffel ist das Auftreten des Kartoffelkäfers. Er wurde bereits in allen Teilen des Kreises angetroffen. ...“ So stand es in einem Bericht über die Lage der Landwirtschaft in der Aachener Volkszeitung vom 22. Mai 1946. Aus dieser Situation war wohl das Schimpfwort entlehnt 101


nicht zu einem Ergebnis. Hinderungsgrund waren nicht nur die Bedenken wegen der langen Schulwege, der Raumnot und des Lehrermangels, sondern wohl auch die Tatsache, dass man seitens der Eltern gegenüber den Problemen einer einklassigen „Zwergschule“, die es werden sollte, noch größere Vorbehalte hatte als gegen die religiöse Beeinflussung in kath. Konfessionsschulen. Im April 1950 wurde in Rath für die evangelischen Volks-Schüler entsprechend dem Elternwillen und auch dem Drängen der für Rath zuständigen Evgl. Kirchengemeinde Erkelenz eine einklassige Evangelische Volksschule eingerichtet und im Gebäude der Katholischen Volksschule mit untergebracht. Schulleiter war der Ostvertriebene Lehrer Sonnenfeld. Zeitzeugen der damaligen Schulzeit erzählten mir, teils mit Schmunzeln, wie man von beiden „Seiten“ bemüht war, seine „Schäflein“ selbst auf dem Schulhof getrennt zu halten. Für die anderen 9 Katholischen Volksschulen Wegbergs löste die dafür zuständige Evangelische Kirchengemeinde Schwanenberg in Absprache mit dem Kreis-Schulrat ab Januar 1949 das Problem auf folgende Weise: Die Kirchengemeinde Schwanenberg stellte einen Katecheten an, der in den neun katholischen Volksschulen den Religionsunterricht für die evangelischen Schüler übernehmen sollte. Allein schon wegen der Anzahl der dafür nötigen Unterrichtsstunden war das gar nicht durchführbar, ganz abgesehen davon, dass die Gemeinde ihren Angestellten auch noch in der Gemeinde einsetzte. So wurden also ab Januar 1949 für die entsprechenden evgl. Schülergruppen nur zwei Wochenstunden Religionsunterricht ausgeführt. Wegen des Raummangels in den Schulen fand dieser Unterricht in der Regel in den Nachmittagsstunden statt. In Klinkum hatte man einen kleinen Geräteraum zum zusätzlichen Schulraum gemacht, und so konnte dort der evgl. Religionsunterricht am Vormittag gehalten werden. Und nach der Fertigstellung der großzügig gebauten neuen Pavillon-Schule in Wegberg 1952 konnte das auch dort so geregelt werden. Da gab es dann den Unterricht im südöstlichsten Pavillon, später dann auch im Zeichensaal und im Werkraum. Die evgl. Schülergruppen bestanden fast ausschließlich aus VertriebenenKindern. 102


Sch端lergruppen aus dem Anfang der 50er Jahre in der neuen Pavillon-Schule in Wegberg

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Sch端lergruppe aus dem Anfang der 50er Jahre oben: in der neuen Pavillon-Schule in Wegberg, unten: vor der alten Schule in Beeck

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Sch端lergruppen vor und in der alten Schule in Beeck diese 6 Bilder: HJH

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Die Bemühungen, eine Evgl. Volksschule in Wegberg einzurichten, wurden allerdings fortgesetzt. So kam es nach langen Jahren schließlich am 1.4.1964 zur Errichtung der Evgl. Volksschule in Wegberg. Schulleiter war Paul Langhans, ein Ostvertriebener aus Ostpreußen. Die Schule nahm ihren Unterricht zuerst mit drei Klassen in den drei letzten Pavillons der Kath. Volksschule auf, weil der für die Evgl. Volksschule vorgesehene Neubau noch nicht bezugsfertig war. Zu guter Letzt gab es wohl den Versuch, das noch spitzbübisch zu stoppen, wie ein Eintrag im Konferenzprotokoll der Kath. Volksschule andeutet: 68 Dienstbesprechung am 24.3.1964 ... „Die evangelischen Eltern wünschen die vorläufige Einrichtung einer evangelischen Schule in unseren Räumen nicht. Sie haben ein entsprechendes Gesuch gemacht.“ Ab November fand dann der Schulbetrieb der Evgl. Volksschule in dem nun fertiggestellten Neubau an der Beecker Straße statt. Diese evangelische Schule bestand allerdings in dieser Form, wie auch die in Geneicken und die katholischen Volksschulen der Gemeinde, nur bis zur Schulreform im Jahre 1968.

68 so im „Protokoll der Systemkonferenzen Volksschule Wegberg“ vom 24.3.1964 106


Der Rathaus-Sitzungssaal als Gottesdienstraum, 1953 Die Wegberger Kommunalgemeinde stellte von 1949 bis 1953 großzügig den Rathaus-Sitzungssaal als Kirchraum für die „Protestanten“ zur Verfügung Bild: HJH

6. Wegberg verändert sich Wegberg hat sich nach 1945, dem Ende der Nazi- und Kriegszeit sehr verändert. Meinte man vielleicht damals, man könnte die davor gewohnten Lebensverhältnisse nun wieder fortsetzen, so zeigte sich bald, dass sich vieles unvermeidbar veränderte, und das kam nicht nur durch die völlig veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern auch durch das Hinzukommen so vieler „Neubürger“ mit ganz anderem Lebenshintergrund. 107


Die Schilderung des ganzen Problems musste sich schon allein wegen des Umfangs auf knapp das erste Jahrzehnt nach 1945 beschränken. Später dann begann die Problematik glücklicherweise immer mehr an Gewicht zu verlieren. Aber gerade ein Erinnerungssprung über so viele Jahrzehnte in die ersten Nachkriegs-Jahre lässt die Veränderungen umso deutlicher werden. Viele der damaligen Kinder dieser Mangelgesellschaft, die nichts wegwerfen konnte und alles Beschädigte flicken und reparieren musste, haben noch auf Zeitungsrändern und Altpapier ihre ersten Schreibübungen machen müssen, sind damals nie richtig satt geworden und mussten drum Kartoffeln stoppeln und Bucheckern sammeln gehn, haben Spielsachen selber basteln müssen. Wen wundert es, dass sie heute mit Stirnrunzeln den Umgang mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen usw. sehn, den die heutige Spaß- und Wegwerf-Gesellschaft praktiziert. Einen Propheten, der in der damaligen „Flüchtlingszeit“ von einer „Abwrack-Prämie“ 69 gepredigt hätte, hätte man sofort psychiatrisch behandeln lassen oder gleich gesteinigt. Die damalige Gemeinde Wegberg veränderte sich durch die neuen Bürger allein schon immer mehr in ihrer Größe, was ganz unpolitische, handfeste Maßnahmen erforderlich machte. Aus „Ratsprotokolle“: 31.08.1949 3. Kanalisation des Ortes Wegberg Verwaltung: „... daß Wegberg nun endgültig den kleindörflichen Charakter verlassen habe und deshalb eine ordnungsgemäße Kanalisation unerläßlich geworden sei.“ Da hatte die Verwaltung nun sicherlich recht, vermutlich ohne zu ahnen, welch umfangreiches und lang andauerndes Vorhaben das werden sollte. 69 Achtung! Diese Fußnote ist für diejenigen glücklichen Leser bestimmt, die diesen Begriff nicht kennen können: Abwrack-Prämie = vom Steuerzahler finanzierter Zuschuss für jemanden, der seinen noch brauchbaren Kraftwagen vernichten lässt und sich einen neuen kauft 108


Und noch heute kann man getrost weiter argumentieren, dass Wegberg nun auch langsam „den kleinstädtischen Charakter“ verlassen will. Aber noch auf ganz andere Weise gingen ja die Veränderungen. Die von alters her gewohnte Einheit „Kirche-Rathaus-Schule“ begann, sich zu verändern. Da sei noch einmal an das Konfessionsproblem erinnert, das durch die Aufnahme so vieler evangelischer Vertriebener entstanden war. Noch nie hatte es auf dem Gebiet der Gemeinde Wegberg andere als röm. kath. Kirchengebäude gegeben. Seit 1953 gibt es nun hier eine kleine evangelische Kirche, sogar gelegen an der „Martin-Luther-Straße“. Dass bis dahin die Wegberger Kommunalgemeinde geduldig und großzügig ihren RathausSitzungssaal vier Jahre lang als Kirchraum für die „Protestanten“ zur Verfügung stellte, lässt eindrücklich erkennen, welche Veränderungen möglich wurden. In diesem Zusammenhang sei nochmals auf die Entwicklung des Schulwesens in Wegberg hingewiesen, wie im Abschnitt 5.2.4 beschrieben. Und falls man die dort beschriebenen Probleme mit den Konfessionsschulen, wie sie vor 60 Jahren vorkamen, etwa beim Lesen etwas belächelt haben sollte, dann sollte man bedenken, dass man sogar in heutiger Zeit noch ähnliche Vorgänge finden kann, wie die „Rechtsverordnung über die Bildung von Schulbezirken für die Grundschulen der Stadt Wegberg vom 25. Januar 2005“ belegt, worin z.B. das Aufnahmeverfahren für die Katholische Grundschule Arsbeck geregelt wird. Unternehmerischer Geist und Aufbauwille und handwerkliches Können von Vertriebenen, die in Wegberg ansässig wurden, haben hier überlebt und Wegberg bis heute mitgestaltet. Zwei Beispiele dazu: Die Firma UBeyer Meisterbetrieb für Sanitär- und Heizungsanlagen, Wegberg. Vor über 100 Jahren gründete der Urgroßvater der Beyers einen Betrieb in Schweidnitz in Schlesien, der dann vom Großvater weitergeführt wurde. Nach der Vertreibung und dem Verlust von Heimat und Eigentum 109


baute der Vater aus dem Nichts in Wegberg wieder einen Betrieb dieser Fachrichtung auf, der nun heute von Udo Beyer als der vierten Generation auf neuestem Stand geführt wird. Die Firma J. Hanisch GmbH & Co. KG, Autohaus in Wegberg, RathAnhoven. Großvater Hanisch, Ostvertriebener aus Oberschlesien und Fachmann für Landmaschinen-Technik, kam 1946 nach Rath-Anhoven, war erst auf seinem Fachgebiet tätig und gründete dann aus kleinen Anfängen das Autohaus, das in der heutigen Größe nun in zweiter und dritter Generation von Sohn Günter und Enkelsohn Jörg Hanisch geführt wird. Eine ganze Reihe weiterer Betriebsgründungen von Vertriebenen gab es in Wegberg, von kleinen Webereien bis zum Frisörsalon, die allerdings keinen Bestand bis heute hatten. Solche unternehmerische Aktivität ist natürlich ohne vernünftige Finanzierung nicht möglich. Der damalige Kreis Erkelenz hat dazu in guter Weise beigetragen und meldete das auch z.B. 1951 stolz: 70 „Zur Neugründung selbständiger Existenzen sind in den Jahren 1948 – 1951 an Vertriebene Kredite in einer Gesamthöhe von 254.100.- DM bewilligt worden.70 Im gleichen Zeitraum wurden zur Förderung begabter jugendlicher Vertriebener Ausbildungsbeihilfen im Gesamtbetrag von 38.447.- DM ausgezahlt.“ Ein Teil der Gelder dürfte wohl nach Wegberg geflossen sein. Die genannten Ausbildungsbeihilfen sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig. In unsrer heutigen Zeit scheint der Blick auf Bildung und Ausbildung eher leicht getrübt zu sein.

70 so im Heimatkalender 1952 auf Seite 133 110


Auch eine Veränderung in Wegberg: In seiner „Geschichte der Gemeinde Wegberg“ schrieb der damalige Bürgermeister Vollmer vor hundert Jahren: 71 „Ebenso wie das St. Martinsfest ist auch St. Nikolaus der Freudenbringer für die Kinder. Die Weihnachtsbescherung hat nur wenig Eingang gefunden. ...“ Das ist inzwischen in Wegberg anders geworden; denn die Weihnachtsbescherung hat nun „Eingang gefunden“. Dazu hat sicher die aus der Heimat mitgebrachte Tradition der Ostvertriebenen beigetragen; denn bei ihnen war nun mal seit alters die Weihnachtsbescherung der „Freudenbringer“. 1948 gab es Weihnachtsfeiern der Vertriebenen Wegbergs. Landrat Rick nahm an den Feierstunden teil und „überbrachte die Grüße und Wünsche der Kreisbevölkerung und betonte, daß er nirgends so innige und schöne Weihnachtsfeiern miterlebte wie bei den Ostvertriebenen, denn in christlichem Sinne gefeiert habe dieses Fest für die Heimatvertriebenen eine ganz besondere tiefe Bedeutung.“ 72 Auch in den Jahren danach gab es von den Vertriebenen selbst veranstaltete Weihnachtsfeiern, z.B. in Gaststätten in Watern und Gerichhausen, die davon zeugten, welche große Bedeutung es für die Vertriebenen hatte, dieses Fest zu feiern. Und am 24. Dezember selbst gab es alljährlich, wie man es aus der alten Heimat kannte, in den Familien, ganz besonders in denen mit Kindern, einen festlichen „Heilig Abend“, selbst in den ersten Jahren und selbst auch mit ganz bescheidenen Mitteln. Es ist nicht verwunderlich, dass das dann auch im größeren Umfang in Wegberg Eingang gefunden hat. Damals nach 1945 waren „Zugewanderte“ nicht unbedingt gleich am Gesicht zu erkennen. Schließlich wurden ja deutsche Mitbürger bei deutschen Mitbürgern eingewiesen, denen man dazu den konfessionellen Unterschied gewiss nicht am Gesicht ablesen konnte. 71 Vollmer 1912, Seite 66 72 so in Aachener Volkszeitung vom 21. 12. 1948

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Inzwischen hatte man ja auch wohl dazugelernt, dass ohne fanatische rassistische Verblendung man das vorher bei jüdischen und anderen Deutschen auch nicht gekonnt hätte. Da ist heute unsre Aufgabe in dem sich weiter verändernden Wegberg noch um Einiges schwieriger, geht es doch heute in unsrer Stadt darum, Vorbehalte gegen völkische und religiöse und sprachliche Verschiedenheiten im Zusammenleben zu überwinden, die man durchaus auch schon am äußerlichen Erscheinungsbild erkennen kann. Man kommt auch heute nicht umhin, im Zusammenhang mit dem Thema „Vertreibung“ an die zur Zeit in unsrer Nachbarschaft gerade stattfindende Vertreibung ganzer Ortsgemeinschaften zu erinnern, die durch den zur Energie-Gewinnung fortschreitenden Tagebau geschieht. Uns Nichtbetroffenen, bei denen ja niemand mit Zwang eingewiesen wird, wird kaum bewusst, welch schmerzlicher Eingriff in das Leben der „Umgesiedelten“ hier abläuft, weil alles fast „geräuschlos“ vor sich geht. Ein aufmerksamer Blick auf diese Vorgänge kann uns beim Verständnis behilflich sein für das Ausmaß des ungeheuren Eingriffs in das Leben der heutigen Betroffenen und auch bei der durchaus nicht geräuschlosen Vertreibung der damals nach 1945 Betroffenen und ihrer „Ansiedlung“ in Wegberg. Am Schluss sei besonders auf etwas hingewiesen, das sich in den Jahrzehnten nach 1945 in Wegberg, und auch in unserm ganzen Land, nicht verändert hat: Bei allen Spannungen, Problemen und Herausforderungen, Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten, notwendigen und häufig auch unnötigen Härten dieser Jahrzehnte ist es trotzdem eine friedliche wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreiche Entwicklung gewesen. Das wäre ohne die solidarische Hilfe vieler der „Hiesigen“ nicht möglich gewesen und auch nicht ohne die stille, geduldige Strebsamkeit vieler der „Neubürger“. Gerade auch sie hatten eine besondere Arbeitsmotivation, da jeder von ihnen für sich und seine Familie eine neue Existenz aufbauen musste.

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„Es war ein Geben und Nehmen, denn letztlich haben von dem tatkräftigen Einsatz der Geschädigten beim Wiederaufbau auch diejenigen profitiert, die im Rahmen des Lastenausgleichs finanzielle Opfer bringen mussten.“ 73 Wir nun hier gemeinsam lebenden Wegberger, seit damals schon längst „europäisch“, wie oben im Abschnitt 4.1 ja gezeigt, sollten nie vergessen, dass wir nicht zu den Opfern des wahnsinnigen 2. Weltkriegs zählten, denn die sind längst in der Erde wieder vergangen, sondern zu den Begünstigten, die in dieser Schreckenszeit, wenn es um Tod und Leben ging, nicht zur falschen Zeit auch noch am falschen Ort waren und darum überlebten, nicht aus unsrer eigenen überragenden Leistung, sondern durch gütige Fügung. Nehmen wir daher als Auftrag, was Siegfried Lenz einmal sagte: Vergangenheit hört nicht auf; sie überprüft uns in der Gegenwart.

73 so in „Historie Lastenausgleich – Bundesamt für zentrale Dienste ...“ 113


7. Anhang Anhang 1.1 Brief des Kommandeurs der britischen Militärregierung in Aachen vom 24.09.1946, Abschrift aus Ratsprotokolle unter diesem Datum Ansprache des Kommandeurs der Militärregierung des Regierungsbezirks Aachen an die Mitglieder der neugewählten Räte. Es ist mir leider nicht möglich, bei der ersten Sitzung Ihres gewählten Rates zugegen zu sein, aber ich möchte Ihnen einige Worte sagen, bevor Sie Ihre Arbeit beginnen. Sie sind von der Bevölkerung Ihrer Gegend in den seit Jahren zum ersten Mal stattfindenden freien demokratischen Wahlen gewählt worden. Sie sind nach einer der schlimmsten Katastrophen in der deutschen Geschichte gewählt worden, und Sie beginnen Ihre Arbeit zu einer Zeit, in der alle Deutschen sehr grossen persönlichen und sozialen Problemen gegenüberstehen. Sie dürfen die Hoffnung aber nicht aufgeben angesichts dieser schweren Aufgabe; die Not Ihrer Landsleute soll Ihnen Ansporn sein, Ihre Zeit und Energie schonungslos einzusetzen. Eine schwere Verantwortung liegt vor Ihnen, aber auch eine goldene Gelegenheit.

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Der örtliche Verwaltungsapparat steht auf festem Boden, er fordert jedoch die vollkommene Zusammenarbeit Aller, die daran beteiligt sind. Während Ihrer Rats- und Ausschuss-Sitzungen sollen Sie sich daran erinnern, dass Sie Vertreter Ihres Volkes sind. Von den Menschen, die Sie heute vertreten, sind viele hungrig, schlecht gekleidet und untergebracht und manchmal auch ohne Hoffnung. Für sie müssen Sie Ihr Bestes hergehen. Alle Ihre Energie und Gedanken müssen dahin gerichtet sein, für die Menschen, die Sie vertreten, bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Wenn Sie diesen Gedanken immer vor Augen haben, werden Sie Ihre Zeit weder mit Parteistreitigkeiten noch mit persönlichen Anschuldigungen verschwenden. Heute mehr denn je braucht Deutschland selbstlose, ehrliche und wagemutige Männer und Frauen, und es liegt in Ihrer Hand, in dieser schweren Zeit viel Gutes für Ihr Volk zu tun. Wenn Sie in einem Geiste von Kameradschaft, Toleranz und Selbstaufopferung zusammenarbeiten, wird Ihr Erfolg unbegrenzt sein. Es wird nicht immer leicht, aber es wird immer der Mühe wert sein. Möge Gottes Segen auf Ihrer Arbeit ruhen! ( Unterschrift ) Colonel Comd MilitaryGovernment 227 HQ CCG AACHEN Mil 23373 JLP/DB!

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Anhang 1.2 Ansprache des britischen „Kreis-Resident-Offiziers” Major Spragge vom 24.09.1946, Abschrift aus Ratsprotokolle unter diesem Datum

Meine Damen und Herren ! Ich möchte nur einige kurze Erläuterungen geben. Sie haben den Brief des Kommandanten gehört und ich möchte dem nur meine persönliche Ansicht hinzufügen, nämlich, Sie können sich selbst Glück wünschen, daß Sie sich in dieser schwierigen Zeit als Vertreter Ihrer Mitbürger zur Verfügung gestellt haben. Ich möchte jetzt ein paar Worte über die Technik Ihrer Arbeit sagen, weil viele von Ihnen noch nicht Mitglieder der Vertretungen waren, die Sie jetzt ablösen. Bei jeder menschlichen Tätigkeit gibt es vier Stufen: Die Idee, den Plan, die Entscheidung und die Ausführung. In England, wo sich die Erfahrungen der Selbstregierung über mehrere Jahrhunderte erstrecken, sind wir zu der Überzeugung gekommen, daß es nicht ratsam ist, alle diese vier Stufen einem Einzelnen anzuvertrauen. Die Vorbereitung des Planes und seine Ausführung (Stufe 2 und 4) müssen von Fachleuten gemacht werden. Wenn Sie jetzt auch den Fachleuten genehmigen, die Idee zu formen (Stufe 1) und die Entscheidung zu treffen (Stufe 3), geben Sie ihnen alle Macht. Auf diese Weise bekommen Sie dann Beamte auf jedem Regierungsniveau, die Befehle von höheren Beamten entgegennehmen und nun wieder Befehle ihrerseits an untere Beamte geben. - Auf diese Art und Weise bekommen Sie den Nazi-Staat. Aus diesem Grunde sagen wir, die Ideen sollten und die Entscheidungen müssen bei Ihnen, als den gewählten Vertretern der Bevölkerung liegen. Nur so können Sie Kontrolle über Ihr eigenes Schicksal haben. Sie haben einen Direktor und andere erfahrene Beamte, die Ihnen helfen können, aber Sie dürfen nicht zulassen, daß diese die allgemeinen Richtlinien für Sie bestimmen. Sie, und nicht die Beamten, sind verantwortlich für eine 116


gute Führung Ihres Bezirkes. Wenn Sie Lob für das geleistete Gute ernten wollen, können Sie sich nicht hinter Ihren Beamten verstecken, wenn etwas Verkehrtes gemacht worden ist. Es scheinen einige Mißverständnisse in Bezug auf die Direktoren und andere Beamte zu bestehen. Es sind unpolitische Berufsbeamten. Sie werden weder von Ihnen ernannt noch entlassen. Sie können von der Militärregierung wegen schlechter Führung oder Unfähigkeit entlassen werden, dürfen aber nicht zum Spielball der Politik oder anderer Interessen werden. Und als letztes ein Wort über die Ausschüsse. Die formelle Sitzung der ganzen Vertretung kann die gesamte Kleinarbeit nicht halb so gut erledigen, wie 3 oder 4 Mitglieder, die gemütlich bei einem Glas Bier mit einem erfahrenen Beamten an einem Tisch sitzen. Deshalb sagen wir auch, daß für jede Hauptarbeit der Vertretung ein Ausschuss vorhanden sein muss, der die Kleinarbeit leistet und die betreffenden Beamten beaufsichtigt. Dann braucht auch keine Zeit bei den formellen Vertretersitzungen über langatmige Diskussionen und Kleinarbeit vergeudet werden. Es sollte genügen, wenn der Vorsitzende jedes Ausschusses berichtet, was seit der letzten Gemeinde- bezw. Amtsvertretersitzung an Arbeit geleistet wurde, sodaß die Vertretung nur genehmigt oder ablehnt. Mit anderen Worten, die Tagesordnung jeder Vertretersitzung sollte hauptsächlich daraus bestehen, die Berichte der einzelnen Ausschüsse in Empfang zu nehmen. Die wirkliche schwere Arbeit sollte von den Ausschüssen geleistet werden. Wählen Sie daher die Mitglieder der Ausschüsse sorgfältig. Jeder Ausschuss wende größte Sorgfalt darauf, den besten Mann oder die beste Frau zum Vorsitzenden zu wählen. Sie haben eine große Aufgabe vor sich, und ich möchte schließen, indem ich Ihnen viel Glück wünsche und Ihnen versichere, daß Sie sich immer an die Militärregierung um Hilfe und Unterstützung wenden dürfen, solange Sie selbst Ihr Bestes tun.

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Lauban, Naumburger Straße, 1945 Mein Geburtshaus: Die Trümmer links neben dem zerstörten russ. Panzer

Mein erster „Ausweis“ nach meiner Rückkehr in meine alte Heimat Ein dünnes DIN A5-Blättchen. Von der Sowjet-russischen Kommandantur in Marklissa ausgestellt, wie die respektheischende Bestempelung zeigt

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Die Schulzahnkarte aus meiner Grundschulzeit Die Kommandantur in Lauban war mit dem dünnen Papier nicht einverstanden. Er stellte diesen neuen „Ausweis“ auf festem Papier her. Anderes Festes konnte ich nicht beschaffen. Hauptsache: Stempel! Nun konnte man wieder getrost in die nächste Kontrolle gehen. Und immer wurde zuerst scharf gefordert: „Dokumente, Dokumente!“ 119


Polnischer „Ausweis“ vom Januar 1946 der Behörde von Lesna = Marklissa Er war auch noch ziemlich einfach

rechts Erster Ausweis der „Britischen Zone“ Der nach der Vertreibung in die „Britische Zone“ im März 1946 nach Anordnung der britischen Besatzungsmacht ausgestellte erste Ausweis hatte schon mehr etwas westeuropäischen Charakter. Korrekte Datierungen für die Eintragungen fehlen hier allerdings! Der Zuzug nach „Wegberg Tüschenbroicherstr. 40“ erfolgte nach der amtlichen Anmeldequittung am 1.10.1949

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Dieser Ausweis vom 1. Mai 1946 ist nun schon eher korrekt

Der erste „Flüchtlingsausweis“ 1946

rechte Seite Dokument für die für unsere Erfahrungen sehr humane „Vertreibung“ meiner Großeltern mütterlicherseits mit drei Kindern aus Posen/Westpreußen 1920

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Dokumente Vertriebene nach dem 1. Weltkrieg 1914 – 1918 Oben Der „Verdrängungsschein“ 1924 Er war so etwas wie der „Flüchtlingsausweis“ nach 1945 Linke Seite Optionsurkunde 1922 Das Dokument für die „Option“ für „die deutsche Reichsangehörigkeit“

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Vereinslied des Ostdeutschen Heimatbundes in Lauban. Dieses gewaltig treu-deutsche Lied, gedichtet vom ebenfalls vertriebenen „Heimatfreund" Kwiatkowski aus Lauban, werden wohl meine Eltern, damals noch Frieda Wandelt und Hugo Haude, bei den Treffen der Vertriebenen in Lauban nach dem 1. Weltkrieg in den Jahren nach 1920, vermutlich in der Gaststätte "Weigt's Bierstuben', immer gesungen haben

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Literatur / Dokumente Aachener Volkszeitung Jahrg. 1946 - 1950 Arens 1999: Arens, Dr. Herbert, Herausgeber. DU ALLEIN DER HERR. Zwanzig Lebensbilder. Bischöfliches Generalvikariat Aachen, Hauptabteilung Gemeindearbeit, 1999 Bertrams 1: Bertrams, Karl. Erinnerungen an die Nachkriegsjahre 1945 bis 1948. Unveröffentlichtes Material aus dem Stadtarchiv Wegberg. Bertrams 2: Bertrams, Karl. Anmerkungen zum „Einnahme- und Ausgabenbuch der Gemeindekasse Wegberg 1945/46“. Unveröffentlichtes Material aus dem Stadtarchiv Wegberg. Evertz, Nachlass: Evertz, Gerhard. Bestand: Nachlass Gerhard Evertz, Nr. 112. Unveröffentlichtes Material aus dem Stadt-Archiv Wegberg Heimatkalender 1952: Heimatkalender 1952 der Erkelenzer Lande. Heimatkalender 1954: Heimatkalender 1954 der Erkelenzer Lande. Heimatkalender 1955: Heimatkalender 1955 der Erkelenzer Lande. Herbrandt 1995, unveröffentlichte Aufzeichnungen für ihre Familie von Frau Herbrandt Kossert 2008: Kossert, Andreas. KALTE HEIMAT. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. Siedler Verlag, München, 2008 Ostendorf 1996: Ostendorf, Karl August. Die Wegberger Fotografin Maria Billmann vorgestellt von K. A. Ostendorf. ROKA-Verlag, Wegberg 1996 Pothmann 1995: Pothmann, Jochen. Wegberg zwischen 1936 und 1946 – Aus der Geschichte einer Gemeinde-. Hrsg.: Historischer Verein Wegberg e.V., Roka-Verlag, Wegberg 1995

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Personalausschussprotokolle: Protokolle der Sitzungen des Personal-Ausschuss, 1945 – 1949, Stadtarchiv Wegberg Presbyteriumsprotokolle: Protokollbuch der Sitzungen des Presbyteriums der Evangelischen Kirchengemeinde Schwanenberg, 1945 ff, im Archiv der Kirchengemeinde Ratsprotokolle: Protokollbuch der Sitzungen der Gemeindevertretung der Gemeinde Wegberg, Jahrgänge 1945 – 1951, Stadtarchiv Wegberg Schulchronik Klinkum: Durch den Schulleiter geführte Schulchronik der Kath. Volksschule Klinkum, ab 1945 Sozialministerium 1947: Flüchtlingsbetreuung in Nordrhein-Westfalen. Herausgeber: Sozialministerium der Landesregierung Nordrhein-Westfalen. Verlag: Gesellschaft für Buchdruckerei und Verlag Düsseldorf 1947 Vollmer 1912: Vollmer, Adolf. Geschichte der Gemeinde Wegberg. Druck und Verlag von Th. Quos, Cöln 1912 Protokollbuch für die Systemkonferenzen an der Volksschule in Wegberg (3.2.1950 - 22.3.1966), Stadtarchiv Wegberg

Bilder Die Herkunft der Bilder ist bei den Bildern angegeben. Die mit HJH bezeichneten und die persönlichen Dokumente im Anhang sind von mir.

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8. Stichwortverzeichnis Huebert, Ernst 33, 43, 51, 52, 53

BdV = Bund der Vertriebenen 4 Beeck 34, 37, 65, 68 0 Bundesrepublik 4, 5, 15, 33, 38, 46, 49,

Interessengemeinschaft 29, 31, 33, 50, 51,

55

52, 53

Bürgermeister Jansen 9, 13, 16, 31 Jugendgruppe 26, 54

Bürgermeister Kohlen 54, 58 Bürgermeister Peters 8, 9

Kanalisation 70 Karduck, Gemeindedirektor 17, 35

Caritas 44

Kartoffelkäfer 65 Klinkum 11, 16, 37, 43, 52, 53, 54, 62, 63,

Dobrowolny, Wolf 27

64, 65, 66, 84 Entlausung 28

Klinkum, Kath. Volksschule 11, 47

Erkelenz 8, 10, 13, 14, 16, 26, 29, 31, 32,

Konfessionsschule 65, 66

33, 42, 43, 48, 50, 51, 52, 56, 57, 66, 72

Krankenhaus Wegberg 8

Evangelisches Hilfswerk 44

Kriegsgefangene 18, 20

Evertz, G., Rentmeister 28, 84 Langhans, Paul, Schulleiter 69 Lindner, J. 51

Firma J. Hanisch 71 Firma UBeyer 71 Flüchtlingsausweis 20, 23, 80

Militärregierung, britische 13, 14, 16, 17,

Flüchtlingsbetreuer 25, 43, 53

29, 38, 45, 49, 50, 53, 64, 74

Flüchtlingskartei 17, 18, 20

Militärregierung, französische 13 Militärregierung, sowjetische 13

Gartenland 32 Geld 9, 14, 34, 35, 38, 39, 43, 44, 45, 46,

Nachgeborene 20

72

Nazizeit 59

Gerhards, Gemeindesekretär 17

Notquartier 16, 29

Grenzlandring-Rennen 43, 56

Nowack, Georg 32, 49, 50, 52

Herkunft der Vertriebenen 21

Pavillon-Schule 64

Hitler, Adolf, Reichskanzler 4

Polizei 29, 31 130


Rath-Anhoven 16, 30, 32, 37, 65, 71

Zerstörungen, Kriegsschäden 4, 7, 8, 14,

Rick, J., Landrat 33, 57, 72

28

Rickelrath 16, 52, 53, 54, 65

Zone, amerikanische 13 Zone, englische 5, 12, 13, 14, 45, 79

Schleswig-Holstein 11, 47

Zone, französische 13

Schwanenberg 44, 60, 66, 84

Zone, russische 12, 15, 18, 21

Schwarzmarkt 8, 15

Zuwanderung 21

Sozialamt 14, 42, 43

Zwangsbewirtschaftung 8, 16

Steuern 38, 39, 56

Zwangseinweisung 10, 11, 16

Tanzvergnügen 9 Textilindustrie 38, 54 Tüschenbroich 16, 27, 65 Typ Haus „Wegberg" 34 Uevekoven 16, 65, 66 Verdrängte 5 Volksschule, evgl. 65, 66, 69 Volksschule, kath. 14, 62, 64, 65, 66, 69 Währungsreform 5, 8, 14, 15, 32, 33, 38, 44, 46, 56 Wegberg, nach 1945 7 Weltkrieg, 1. Weltkrieg 5, 82 Weltkrieg, 2. Weltkrieg 4, 5, 28, 56 Wipperfürth 16, 28 Wohlfahrt 9, 10, 16, 17, 38, 43, 49, 50 Wohnbaracke 34, 54 Wohnungsausschuss 9, 31, 49 Zählung 18, 20 131


Die Geschichte der Stadt Wegberg

Die über 500 Jahre alte Wegberger Mühle mitten im historischen Zentrum von Wegberg zwischen Burg, Kloster, Kirche und Rathaus ist der Ort für alle, die Spass an der Geschichte haben. Hier arbeitet der Historische Verein. Die Fotoarbeitsgruppe hat ca. 3.000 Dias und Bilder archiviert. Zeitzeugenbefragungen mit Tondokumentationen und die archäologische Gruppe beschäftigen sich mit Orts- und Militärgeschichte, dem Grenzlandring, Höfen, Mühlen und Motten. Die Ahnen- und Familienforschung arbeitet mit einem umfangreiche Familienarchiv, mit Kirchenbüchern, Standesamtsunterlagen, Bevölkerungslisten und Flurbüchern. In der neu eingerichteten Archiv-Bücherei ca. 6.000 Bücher, Heimatliteratur und Ortsgeschichte, Sammlung von Zeitungsausschnitten, über 100 Tranchot-, Flur- oder Katasterkarten, alte Urkunden und ein Totenzettelarchiv. Veranstaltet werden Führungen, Wanderungen und Radtouren durch das Stadtgebiet und die beliebten Mundartabende. Von kleinen Vitrinenausstellungen bis zur großen Dauerausstellung in der Schrofmühle wird die Arbeit des Vereins dokumentiert.

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Bisher sind erschienen

Der Verein gibt eigene Publikationen heraus, der Berker Bote erscheint seit 1994 und die 29. Ausgabe ist gerade in Arbeit.

Adolf Vollmer: Geschichte der Gemeinde Wegberg, nach urkundlichem Material bearbeitet von Adolf Vollmer, Bürgermeister zu Wegberg, nebst einem Anhang, enthaltend die ortsstatutarischen und Orts-Polizeiverordnungen, Cöln 1912. Reprint-Ausgabe, Historischer Verein Wegberg, 2008, ISBN: 978-3-00-024254-0 Wegberger Erinnerungen, Kriegwinter 1945, Dr. Walter Klötzer Wegberg zwischen 1936 und 1946, Jochen Pothmann Die Wegberger Fotografin Maria Billmann, Karl-August Ostendorf Der Grenzlandring, die „Avus" des Westens, Dietmar Schmitz, Folkmar Pietsch Archivbilder Wegberg, Bilder erzählen Geschichte, D. Schmitz, R. Körner, K. Bürger

Die „Berker Hefte“ Chronik des Ortsteils Freiheid, Dietmar Schmitz Wegberg Haus Nr. 1, Hotel zum Schwan, Georg Heinrichs Wegberger Apotheken, Dietmar Schmitz Geschichte der Familie Herbrand von 1936-1995, Maria und Ludwig Herbrand Die Gefallenen von Klinkum, Dietmar Schmitz, M. Schulze-Dephoff Wegberger Originale, Klaus Bürger, Manfred Langela, Dietmar Schmitz Als es noch keine „Wegberger" gab Der Grenzlandring 1948-1952

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Unterwegs in Wegberg Route 1

Wegberg-Holtum-Rath-Beeck, H. D. Jansen

Route 2

Tüschenbroich, 2. Aufl., H. Langerbeins, D. Schmitz

Route 3

Wegberg-Schönhausen-Ellinghoven-Schwaam, H. D. Jansen

Route 4

Bissen-Klinkum-Arsbeck

Route 5

Denkmale in Kipshoven, D. Schmitz

Route 6

Entlang des Beeckbaches, Motten, feste Häuser und Mühlen,

Eine Radtour zu christlichen Kleindenkmalen, D. Schmitz

D. Schmitz Route 7

Zentrum Wegberg, D. Schmitz, M. Langela

Route 8

Wanderung um das Kloster St. Ludwig, W. Schröder

Route 9

Stadtgebiet Wegberg - Das Jahr der Dorfkirchen 2005, D. Schmitz, F. Weide

Route 10 Rickelrath und Schwaam, Häuser, Mühlen, Höfe, D. Schmitz, K. Küppers Route 11 Watern - Tüschenbroich - Geneiken, D. Schmitz Route 12 Wegberg - Dorp - Berg - Busch, D. Schmitz, K. Küppers Route 13 Harbeck - heute und früher, (unveröffentlicht), D. Schmitz, K. Küppers Route 14 Wanderung entlang der Kahrbahn zur Landwehr in Varbrook, D. Schmitz, H. Joilet, R. Körner Route 15 Wanderung entlang des Schaagbaches in Wildenrath, (unveröffentl.), D. Schmitz, M. Straube Route 16 Historische Stationen in Arsbeck und Dalheim (unveröffentl.), D. Schmitz, H. L. Schrötgens Route 17 Route Rath - Anhoven und Umland Hermann Josef Heinen (noch nicht veröffentl.)

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Vertriebene in Wegberg Ein kleiner Rückblick in die Geschichte Wegbergs

Vom Januar 1945 bis ins Jahr 1948 kamen zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene aus Osteuropa und aus den deutschen Ostgebieten nach Wegberg. Überwiegend Kinder, Frauen und alte Menschen. Sie besaßen nichts außer dem, was sie bei sich tragen konnten. In den ersten Nachkriegsjahren mangelte es an Wohnraum und allen Dingen des täglichen Bedarfs. Erst der wirtschaftliche Aufschwung und der Wohnungsbau in den 50er und 60er Jahren schufen die Voraussetzung für die Integration der etwa 1.700 Menschen aus dem Osten. Durch kulturelle, kirchliche, politische und soziale Aktivitäten haben die Vertriebenen mit 17% der Gesamtbevölkerung das heutige Wegberg mit geprägt. Durch den großen Anteil evangelischer Vertriebener entstand die evangelische Kirchengemeinde, die Kirche wurde gebaut, neue Schulen, Stadtteile und Straßen entstanden. Zahlreiche Zöllner, Polizisten und Eisenbahnbedienstete wurden aus der evangelischen Bevölkerung gestellt. Hans Joachim Haude, geboren in Lauban, Niederschlesien, kam 1949 als Ostvertriebener durch seinen Beruf als evangelischer Religionslehrer nach Wegberg. Seine Eltern wurden nach dem 1. Weltkrieg 1920 mit ihren Eltern aus Westpreußen, das damals polnisch wurde, nach Lauban „verdrängt“. Als „Vertriebener in 3. Generation“ fühlt er eine gewisse Berechtigung, die Thematik der Vertriebenen heutzutage noch anzusprechen. Als Religionslehrer unterrichtetete Hans Joachim Haude lange Zeit die Kinder der „Evangelischen“, die vor dem Krieg nur eine kleine Minderheit in Wegberg bedeuteten. Bei der Beschäftigung mit alten Akten und Dokumenten, bemerkt er, wie vieles aus damaliger Zeit in Vergessenheit geraten oder verloren gegangen ist. Es wäre sehr schön, wenn viele Leser nun ermuntert würden, dazu beizutragen, dass diese Erinnerungen wach gehalten werden.

ISBN 978-3-00-032103-0


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