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eBook-Ausgabe

Perfekt - defekt … oder ein perplexes Paradoxon

von Johanna S. Bach Die Rechte an den veröffentlichten Texten liegen bei der Autorin Johanna S. Bach. Vervielfältigungen zum Zwecke der Veröffentlichung – Publikationsrechte liegen beim Verlag art of arts. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung zum Zwecke der Weiterveröffentlichung darf nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages und des Einverständnisses der Autorin erfolgen.

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Perfekt defekt … oder ein perplexes Paradoxon

Aufmachung und Schilderung

Johanna S. Bach

eBook-Ausgabe © 2006 -

Verlag art of arts -2-

www.artofarts.de


Nachdruck oder Vervielfältigung auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Verlages gestattet, die Verwendung oder Verbreitung unautorisierter Dritter, in allen anderen Medien ist untersagt. Für Druckfehler keine Gewähr. Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie – detaillierte bibliografisch Daten im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 3-9811047-4-9

978-3-9811047-4-5 eBook Perfekt – Defekt …oder ein perplexes Paradoxon

Johanna S. Bach eBookausgabe 2006 Herstellung: © 2006 Verlag art of arts, Forchheim Umschlaggestaltung und Satz: art of formation / Silvia J.B. Bartl

gedruckte Originalausgabe Copyright 2003 – Johanna S. Bach published by Rhombos Verlag, Berlin eBook Orignalausgabe 2006 by art of arts created in Germany

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Dieser Roman schildert in Erzählform das Leben und Leiden (k)einer perfekten Frau, welches durchaus der Wahrheit entsprechen könnte. Deshalb sind alle Namen und Orte frei erfunden. Ähnlichkeiten und/oder Übereinstimmungen mit Personen des reellen Lebens sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. „Leben lassen und leiden lernen“, wurde im Sinne einer mir Wohlbekannten detailliert geschrieben und unter dem Titel „Perfekt Defekt - oder ein perplexes Paradoxon“, veröffentlicht. Der bürgerliche Name dieser Person ist für den Inhalt nicht relevant. Gerne sollen ihre Worte aber anhalten, all jenen Trost und Hoffnung zu spenden, die sich damit identifizieren können. Sie widmet dieses Buch allen ihr nahe stehenden Menschen, die sie so akzeptieren wie sie ist und die auch sie respektiert und von ganzem Herzen liebt. Ihr wahrlich geltendes Lebensmotto, das auch allen anderen Mut machen lässt ist: „Was man nicht aufgibt, hat man nicht verloren!“

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In den nachfolgenden sieben Kapiteln

mรถchte sie ihre Lebensgeschichte allen Interessierten mitteilen, in der Hoffnung dadurch Manchem ein wenig seines eigenen Leides durch Verstehen zu nehmen um jedem Einzelnen davon etwas seines eigenen Perfektem zu geben ...

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Inhaltsverzeichnis: Kapitel 1

ab Seite 007 …wie alles begann

Leiden - Ansichtssache einer Einzelnen?

Kapitel 2

ab Seite 142 …wie der Sinn des Lebens

Leben – kann wunderbar befreiend sein!

Kapitel 3

ab Seite 251 …wie Unmögliches wahr wird

Lieben – der eigentliche Sinn des Lebens?

Kapitel 4

ab Seite 346 …wie Wunder fassbar werden

Perplex – ein Wunsch kommt selten allein!

Kapitel 5

ab Seite 416 …wie im Traumland

Paradox – die Widersprüchlichkeit ansich?

Kapitel 6

ab Seite 492 …wie alles einen Sinn gibt

Perfekt – kann doch ein jeder sein!

Kapitel 7

ab Seite 565 …wie ein sanfter Regenschauer

Poetisch – die Ader des Herzblutes…

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Kapitel 1 …wie alles begann Leiden - Ansichtssache einer Einzelnen?

Perfekt sein oder Perfektion war schon immer eines der Worte, welches für alle anderen Menschen um mich herum, von großer Bedeutung zu sein schien. Auch ich sollte mit ihm in meinem ganzen Leben konfrontiert werden, obwohl ich ganz und gar nicht perfekt war und es zugegebenermaßen nicht in dieser Art sein wollte. Dieses Wort konfrontierte mich schon im Mutterleib, kurz nach meiner Zeugung. Doch das Bild eines perfekten Menschen, stellte sich bereits mit meinem ersten Atemzug, als Trugschluss meiner Eltern dar. Es ist nicht so, dass ich ein hässliches Baby war, wie manche von Ihnen vielleicht jetzt denken mögen. Nein, es war auch nicht, dass irgendetwas an mir missgebildet gewesen wäre; zugegeben, ich war nicht gerade besonders groß und schwer. Aber diese einigen wenigen Zentimeter, die meinen Eltern nach, ein perfektes Baby ausmachten, fehlten mir, nämlich die, welche normalerweise ein männlicher -7-


Säugling aufweist. Nachdem mein Vater sich davon überzeugt hatte, dass ich also nur ein Mädchen war und nicht der erhoffte Stammhalter, konnte er das einfach nicht glauben, denn die Zeugung war von ihm so geplant, dass ich mit 50%iger Sicherheit ein Junge sein müsste. Zusätzlich nahm ich mir die Frechheit, auch noch exakt vier Tage zu früh das Licht der Welt zu erblicken. Eigentlich hätte ich ja genau an Vaters Geburtstag auf diese Welt kommen sollen und dann so etwas! Schämen sollte ich mich, seine Geburtstags-Überraschung so zu vermiesen, denn für meinen Vater war ich alles andere als perfekt ... Dass ich diese Tatsache schon viel früher als meine Eltern wusste, machte mir das Leben schon im ungeborenen Zustand schwer. Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt schon über fünf Jahre mit meinem Vater verheiratet, wenn es aber nach ihr gegangen wäre, hätte sie nicht unbedingt Lust darauf gehabt, Mutter zu werden. Sie ließ sich dann aber doch von meinem Vater, bei einer Frankreichreise dazu überreden. Nachdem er wieder mal eines seiner großartigen Konzerte gegeben hatte und auch das Datum optimal zu einer Zeugung passte, stand also mir nichts mehr im Wege. Und weil ich schon immer ein Dickkopf war, setzte ich mich durch und verharrte die neun Monate in Mutters Bauch. Egal, was sie auch unternahm um mich, diesen unüberlegten, schon wieder bereuten Fehltritt, zu verhindern. Bestimmt wollte ich nicht den geplanten Geburtstagsauftritt zunichte machen, doch da ich eh schon -8-


ein Mädchen war, wäre es auf ein paar Tage hin und her egal, dachte ich mir. Aber da hatte ich mich gründlich getäuscht! Also suchte ich mir einen wunderschönen, sonnigen Sommertag aus, den letzten, den es im Juni gab und beschloss, dass es an der Zeit war, diese enge 1-ZimmerWohnung zu verlassen, in der Hoffnung, dass sich alle Eltern, auch meine, über die Ankunft eines gesunden Mädchens genauso freuen würden, wie über die eines Jungen. Mein Vater, im übrigen ein fast perfekter Mann, wie er glaubte, außer dass er ein bisschen klein geraten war, konnte sich aber einfach mit die Tatsache, ab sofort eine Tochter zu haben, nicht abfinden. Und deshalb beschloss er, nur wenigen von meiner weiblichen Existenz zu berichten. Allen anderen machte er weis, dass er ab sofort einen Stammhalter hätte. Um wenigstens den äußeren Schein zu wahren, wurde ich in babyblauen Sachen gekleidet. Sein Ego wurde vielleicht sogar durch meinen hellblauen Anblick getäuscht, doch wiederum kam ich durch diesen Schwindel in den Genuss einer Märklin Eisenbahn. Schließlich hatte mein Vater vor meiner Geburt darum gewettet, dass ich ein Sohn sein würde und dieses Spielzeug wollte er sich von mir nicht verderben lassen. Also wurde meine Welt ab sofort himmelblau und nicht rosarot, obwohl ich mir den „Himmel auf Erden“ mit -9-


Sicherheit etwas anders vorgestellt hätte. Meine Mutter schämte sich sichtlich, dass es ihr nicht gelungen war, einem Sohn das Leben zu schenken und vertrieb sich ihre Zeit nicht etwa mit liebevollem Babysitten, nein, sie war viel zu frustriert und vergrub sich in Arbeit. Das Einzige, was ihr meiner Meinung nach Sinn gab. Also kam die Gelegenheit wie gerufen, dass mein Vater ein Musikgeschäft in die Ehe mit einbrachte. Obwohl sie von der Geburt ausgepowert war, schonte sie sich kaum und stand schon kurz danach wieder im Geschäft. Weil unsere Wohnung eine Etage über dem Geschäft lag und ich viel schlief, konnte sie das auch mit sich selbst vereinbaren. Mein Vater war passenderweise von Beruf her Musiklehrer und konnte sich seine Arbeitszeit selbständig einteilen. Er unterrichtete in Schulen und fuhr auch gelegentlich zu seinen Schülern ins Haus. Ansonsten war er zeitunabhängig. Also kam es auch schon einmal vor, dass er öfter mal einen halben Tag zu Hause war. Doch seine Einstellung mir gegenüber war gleich geblieben. Ich war leider nur ein Mädchen und musste die Ungerechtigkeit mit dem Verzicht auf Liebe hinnehmen. Wenn er schon auf einen Sohn verzichten musste, sollte wenigstens das andere Drumherum stimmen, wie genügend Geld. Um genug davon zu verdienen, spielte er in einer Unterhaltungsmusikband. Viele Abende war er unterwegs, was auch dazu führte, dass des Öfteren einige lautstarke Auseinandersetzungen zwischen meinen Eltern - 10 -


stattfanden. Natürlich kam er sehr spät nach Hause und wie es bei Musikern öfter der Fall ist, kam er nicht immer nüchtern. Manchmal schien meine Mutter ziemlich überfordert mit der Situation. Doch schließlich konnte man das verdiente Kleingeld gut gebrauchen, was man von einem quengelnden Baby nicht behaupten konnte. Deshalb hatten die Frauen seiner Bandmitglieder ab und an ein Einsehen und gingen mit mir im Kinderwagen in den Park spazieren, damit ich wenigstens auch einmal an die frische Luft kommen würde. Eines Tages griff eine ältere Dame meiner Mutter unter die Arme und fuhr mich regelmäßig spazieren. Diese Ersatz-Oma war eine sehr liebevolle Frau und ich bekam von ihr die langersehnte Wärme, die, die ein Baby normalerweise von den Eltern bekommt. Meine Eltern waren sichtlich froh, dass sie sich nun ganz der Arbeit widmen konnten und ich unter Obhut war. Weil mein Vater ein nach Erfolg strebender Mann war und sich noch immer nicht mit der Tatsache abfinden konnte, dass ich ein Mädchen war, probierte er es, mich umzuperfektionieren. Zu meinem ersten Geburtstag bekam ich von ihm eine Mundharmonika, die er mir so lange unter den Mund hielt, bis ich tatsächlich einen Ton darauf pusten konnte. Ob ich das aus Freude einen Ton zu hören tat oder nur um des lieben Friedens Willen, kann ich jetzt nicht mehr so genau sagen, denn ein Baby wie ich es war, verfügt noch - 11 -


nicht über ein derartiges Langzeitgedächtnis. Über die freu-dige Reaktion meines Vaters, der dies mit einem Lächeln bestätigte, bahnte sich allerdings in mir ein Gedanke an. Nämlich der, dass ich vielleicht durch Gehorsamkeit seine Liebe gewinnen könnte, um schließlich doch nun eine Art von Perfektion zu erreichen. Also beschloss ich von nun an immer das zu tun, was meine Eltern von mir erwarteten. Sei es brav zu sein oder sich musikalisch zu entwickeln, um ein wenig Anerkennung und Liebe zu ernten. Ab und zu gelang es mir auch. Doch wie Kleinkinder so sind, wenn sie oft alleine gelassen werden, stellte ich allerhand Unfug an, bei dem ich wieder einmal an dem Punkt angelangt war, nicht perfekt zu sein. Am heutigen Tag, hat sich wieder einmal so ein Unfugstag ergeben. Meine Mutter war gerade dabei Wäsche in der Küche zu bügeln, als die Ladenglocke klingelte. Natürlich rannte sie gleich eine Etage tiefer, ohne an das eingeschaltete Bügeleisen zu denken. Obwohl ich noch sehr klein war, war mir sehr wohl bewusst, als das Bügeleisen zu rauchen anfing, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Deshalb versuchte ich den Stecker aus der Steckdose zu ziehen, was mir nach mehrmaligen Versuchen auch gelang. Allerdings zog ich am Kabel und dies führte dazu, dass selbiges abriss. Entsetzt blickte ich auf den Stecker in der Dose, mit dem Kabel in der Hand. Irgendwie wollte ich das Kabel unbemerkt wieder an den Stecker befestigen und hielt es in dessen Nähe. Im gleichen - 12 -


Moment sah ich etwas auflodern und vernahm ein Knistern. Erschrocken starrte ich auf meine Hand und auf den schwarzen Daumen. Der Geruch von verbranntem Fleisch, ließ nichts Gutes erahnen. Der Schreck saß mir in den Knochen und Tränen kullerten aus meinen Augen. Vor Schmerz schrie ich so laut ich konnte und hoffte auf tröstende Worte. Nach einigen Minuten kam meine Mutter die Treppe hinaufgehetzt und schimpfte erzürnt vor sich hin, was ich denn schon wieder angestellt hätte. Schluchzend sah ich meine Mutter an, doch anstatt des erwarteten Trostes bekam ich nur zu hören, was ich doch für ein dummes Kind sein würde, welches man nicht einmal ein paar Minuten allein lassen könnte. Stotternd versuchte ich ihr zu erklären, dass ich nur helfen wollte. Doch dies wurde einfach ignoriert und sie sperrte mich in mein Zimmer, damit ich nicht noch mehr anstellen würde. Da saß ich nun, allein mit meinem Schmerz und weinte bitterlich. Irgendwie muss meine Mutter doch ein schlechtes Gewissen gehabt haben, denn ein paar Minuten später, zerrte sie mich murmelnd zur Tür hinaus, um mich zur Kinderärztin zu bringen. Glücklicherweise lag die Praxis nur wenige Meter vom Geschäft entfernt. Mit tröstenden Worten empfing mich die Kinderärztin und ich durfte gleich ins Behandlungszimmer gehen. Ein Trostbonbon ließ mich die - 13 -


Schmerzen für kurze Zeit vergessen. Der Geschmack dieser länglichen, dünnen Bonbons ließ Kinderherzen höher schlagen. Vorsichtig lutschte ich es und beobachtete die Ärztin beim Verbinden meines Daumens. Sie diagnostizierte eine starke Verbrennung des linken Daumens, an dem ich, wahrscheinlich, keinen Fingerabdruck mehr haben würde. Nachdem ich mich vom ersten Schreck erholt hatte, zeigte ich natürlich jeden meinen verbundenen Daumen und genoss die mitleidigen Blicke. So floss die mir fehlende Beachtung meiner zu beschäftigten Eltern, von anderer Seite zu. Was ja eigentlich einem Kleinkind, wie ich es war, im Moment noch gar nicht so bewusst war. Leider bemerkte ich, dass ich wenig Aufmerksamkeit von meinen Eltern dafür erntete. Um eine kleine Verletzung wurde kein großes Aufheben gemacht. Also musste ich auf anderem Wege um die Gunst meiner Eltern ringen. Deshalb versuchte ich dem Idealbild des Kindes, welches meine Eltern sich gewünscht hatten, ein wenig näher zu kommen. Ich wollte kein dummes Kind sein, das nur Flausen im Kopf hatte und versuchte, mich entsprechend zu verhalten. Trotz aller guten Vorsätze sind mir aber noch einige Tollpatschigkeiten passiert. Logisch, schließlich war ich noch ein Kleinkind, das die Welt erkunden musste. Langeweile und Alleinsein macht neugierig. Heute war wieder mal ein so langweiliger Nachmittag, an dem ich allein in der Wohnung spielte. Meine - 14 -


Mutter ging hinunter ins Geschäft und ich spielte mit meinen Stofftieren. Die schienen mich wenigstens zu verstehen, denn kein Ton kam über ihre Lippen. Spielen macht durstig, doch niemand war da, um mir etwas zu geben. Kurzentschlossen sah ich mich um und entdeckte im Wohnzimmerschrank eine sehr schöne Flasche. Ich schraubte sie auf und probierte. Der Inhalt schmeckte etwas scharf, aber gleichzeitig auch sehr süß, so gut nach Kirschen. Mit großen Schlucken trank ich den Rest der Flasche aus, ohne mir irgendetwas dabei zu denken. Warum sollte ich auch? Etwas komisch war mir aber doch zumute, denn ich fühlte mich auf einmal sehr müde. Also legte ich mich aufs Sofa im Wohnzimmer, worauf ich wenig später einschlief. Keine Ahnung, wie lange ich dort geschlafen hatte, denn Kleinkinder haben ja noch kein ausgeprägtes Zeitgefühl. Plötzlich spürte ich, wie mich jemand schüttelte und immer wieder meinen Namen rief. Alles um mich schien sich zu drehen. Mein Vater, der inzwischen nach Hause gekommen war, rief aufgeregt nach meiner Mutter. Nachdem beide die leere Flasche auf dem Tisch stehen sahen, waren sie sichtlich beunruhigt, denn wie es sich herausstellte, handelte es sich um einen Kirschlikör. Sofort hob mich jemand hoch und trug mich in unser Auto. Keine Ahnung wer das war, denn alles um mich herum wirkte irgendwie komisch. Ich musste ununterbrochen lachen und konnte nur schwer meine Augen offen halten, in - 15 -


meinem beschwipsten Zustand. Im Krankenhaus angekommen hörte ich, wie der Arzt mit meinen Eltern flüsterte und dann zu mir sagte, dass ich keine Angst haben bräuchte. Wovor Angst, merkte ich erst in dem Moment, als sich irgendein merkwürdiger Gegenstand in meinem Mund befand, den ich schlucken sollte. Doch ich war so benebelt, dass ich alles über mich ergehen ließ. Im Hintergrund vernahm ich etwas von Magenauspumpen und Alkoholvergiftung. Irgendwie konnte ich zu diesem Zeitpunkt mit diesen Worten nichts anfangen, denn ich fühlte mich nur hundemüde und wahnsinnig durstig. Von der Tortour habe ich wenig mitbekommen, worüber ich ganz glücklich war. Komischerweise habe ich diese Dummheit sehr gut weggesteckt. Doch zog ich eine Lehre daraus und zwar die, dass ich in Zukunft vorsichtiger beim Genuss von unbekannten Getränken bin. Meinen Eltern hatte dieser Vorfall einen derartigen Schrecken eingejagt, so dass sie alkoholische Getränke von nun an verschlossen aufbewahrten. Doch behüteten sie mich deswegen nicht etwa besser, nein. Mein Vater dachte sich aber eine Art Beschäftigungstherapie aus, die mir die Flausen austreiben sollte. Auch für ihn sollte es von Vorteil sein! Zwar hatte er keinen perfekten Jungen, aber doch wenigstens ein Kind, das vorzeigbar wäre. Da er, wie bereits erwähnt, Musiklehrer war, galt seine ganze Liebe der Musik und der, zu musizieren. Also schien es meinen - 16 -


Vater als wichtig, so früh wie möglich mit der Musik anzufangen. Deshalb bekam ich im Alter von knapp drei Jahren die Miniaturausgabe eines Akkordeons geschenkt. Mit diesem würden sich meine Flausen schon von alleine geben. Mein Vater versuchte nun tagtäglich, mir das Musizieren damit beizubringen. „Übung macht den Meister“, heißt es doch so schön. Obwohl ich viel lieber einfach nur gespielt hätte, wie es Kinder in meinem Alter eigentlich tun. Doch schließlich ist noch „kein Meister vom Himmel gefallen“. Und als Zeitvertreib war das Üben auf dem Akkordeon durchaus geeignet. Schon nach kurzer Zeit konnte ich einige Lieder spielen und war stolz auf mich. Tatsächlich schaffte es mein Vater, dass ich mit 3 ½ Jahren zu seinem Weihnachtskonzert, einen Vortrag zum Besten geben konnte. Die Zuhörer waren entzückt und ich konnte das erste Mal einen Funken Stolz in den Augen meines Vaters, entdecken. Auch kündigte er mich mit den Worten an, dass ich seine Tochter sei, obwohl mein Aussehen, insbesondere der kurze Haarschnitt, eher dem eines Jungen ähnelte. Um auch weiterhin das Lob meines Vaters zu ernten, übte ich von nun an genau das ein, was er von mir erwartete. Eigentlich hatte ich am Akkordeonspiel Spaß, wenn man mal von den Drill meines Vaters absah. Er glaubte, mich nur mit dem nötigen Druck formen zu - 17 -


können. Manchmal übte ich wirklich stundenlang, um ihn zufrieden stellen zu können. Wie eine Marionette, die nach den Händen ihres Besitzers tanzt. Obwohl ich noch so klein war, übte ich nicht nur, zum Zeitvertreib, sondern vielleicht auch darum, um noch ein bisschen näher an das Wort perfekt zu gelangen. Gefügig saß ich im Zimmer und spielte Akkordeon, um die Gunst meines Vaters zu erlangen. Ab und zu kam es auch einmal vor, dass ich mir die Zeit damit vertrieb, im Geschäft auf einer kleinen Treppe zu sitzen und die Kunden zu beobachten. Diese Auszeit gönnte ich mir als Belohnung, denn ich liebte es, Menschen zu beobachten. Einfach nur dasitzen und zusehen, wie sie was sagten, oder wie sie sich verhielten. Dabei löffelte ich genüsslich etwas selbst zusammen Gemischtes, das sich aus Kondensmilch und Zucker zusammensetzte. Irgendwie mochte ich das Knirschen des Zuckers, wenn er sich in der Milch auflöste oder ich ihn mit den Zähnen zerbeißen konnte. Und so saß ich da, rührte mit dem Löffel und träumte beobachtend vor mich hin. Eigentlich fand ich mein Leben nun gar nicht mehr so unperfekt, denn ich hatte eine Aufgabe, die mir die Langeweile vertrieb, bei der ich auch noch gelobt wurde. Im Großen und Ganzen war ich zufrieden und konnte ziemlich selbständig tun, was mir in den Kram passte. Mit meinen vier Jahren, durfte ich sogar für meine Mutter - 18 -


einige Besorgungen tätigen, denn das Milchgeschäft war gleich um die Ecke. Ich liebte es allein etwas einzukaufen, denn ich bekam immer eine Süßigkeit oder Ähnliches geschenkt und wurde auch noch gelobt, dass ich schon so groß sei. Weil meine Mutter immer beschäftigt war, fand sie meine Selbständigkeit ganz gut, denn somit blieb ihr mehr Zeit, ihren fast sterilen Haushalt zu pflegen oder ihren geschäftlichen Belangen nachzugehen. Auf die Idee, dass ein Kind nicht nur Zucht und Ordnung brauchen würde, ist sie nie gekommen, was ich doch manchmal sehr bedauerte. Denn wie gerne wäre ich einfach nur einmal auf ihrem Schoß gesessen, hätte sie umarmt und mit ihr geschmust. Doch für diese Gefühlsduseleien gab es in Mutters geordneten bodenständigen Leben keinen Platz. Kein Wunder also, dass sie oft vor Erschöpfung in Hysterie ausbrach und nur mürrisch vor sich hinnörgelte. In ihrem Leben war alles außer Arbeit ein Fremdwort, egal ob es Freunde, Entspannung oder Gefühle waren. An einiger ihrer Aussagen hält sie auch heute noch fest, wie: „Nicht können gibt es nicht“, oder „Du musst einfach“. Diese Einstellung konnte ich schon in jungen Jahren nicht mit ihr teilen und deshalb fanden wir auch nie den richtigen Draht zueinander. Aber weil sie für mich eine Respektperson war, die ich liebte, fügte ich mich ihren Wünschen. Nur so hatte ich die Chance ihrem Wunschbild zu entsprechen, um liebenswürdig zu sein. Ich bedauerte es sehr, dass ich meine Mutter nie ausgelassen erlebt habe, - 19 -


nur streng, gewissenhaft, penibel genau. Es schien so, als wäre sie nie Kind gewesen, von Anfang an, vom Ernst des Lebens gezeichnet. „Ordnung ist das A und O“, könnte ihr Lebensmotto lauten. Nicht nur, dass man bei uns vom Fußboden essen hätte können, nein, auch die Natur musste sich ihren Wünschen fügen. Ja, sie war sogar von Ordnung besessen, wenn es um Unkraut in unseren Garten ging. Da wir in der Stadtmitte wohnten, kaufte mein Vater ein etwas außerhalb liegendes, sehr günstiges Wiesengrundstück, welches meine Mutter in ein wahres Schmuckstück verwandelte. Doch anstatt sich dort von der Arbeit zu entspannen, bastelte sie hier ein bisschen, pflanzte dort und jätete immerzu, jeden nicht gerade gewachsenen Grashalm. „Arbeit ist das halbe Leben“, wobei sie ja nicht einmal Unrecht hatte, doch wo blieb bei ihr dann bitte die andere Hälfte? Jedoch für mich als Stadtkind war dieses Wochenendgrundstück wie ein Paradies, in dem ich stundenlang träumen konnte. Mittlerweile war dieses eingezäunt, säuberlich mit einem Steingarten bepflanzt, ein Brunnen ausgehoben und ein kleines Gartenhäuschen gebaut. Jedes Wochenende konnte ich dort meiner Phantasie freien Lauf lassen. Ich beobachtete Käfer oder lag im Gras und sah den vorüberziehenden Wolken zu. Der Duft der wilden Blumen betörte mich, so dass ich die Welt für einige Momente anhalten wollte. Manchmal kamen Freunde meines Vaters - 20 -


zu Besuch auf ein Picknick, worüber ich mich sehr freute. Für meine Mutter allerdings, stellte dies nur eine mit Arbeit verbundene, zeitraubende Sinnlosigkeit dar. Denn für Sie gab es einfach keinen Sinn, nur dazusitzen und seine Zeit untätig zu vergeuden. Freunde brauchte sie in ihrem Leben nicht, genauso wenig wie ich. Laut ihrer Meinung, benötigte auch ich zu anderen Kindern, nicht mehr als den nötigen Kontakt. Sicherlich ging ich in einen Kindergarten, zwecks der besseren Beaufsichtigung, aber außerhalb durfte ich nie eine Bekanntschaft zu mir nach Hause einladen. Darüber war ich sehr traurig, weil ich es nicht verstand. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich ein Mädchen, namens Marie sehr gut leiden konnte. Sie ging mit mir in den Kindergarten. Gerne hätte ich mit ihr auch außerhalb des Kindergartens gespielt, aber dies wurde mir nicht erlaubt. Meine Eltern erfuhren davon, dass sie adoptiert und ausländischer Herkunft war und versuchten, diese Freundschaft zu unterbinden. Also blieb uns nichts weiter, als unsere heimliche Kindergartenfreundschaft. Sie war das netteste Mädchen, das ich in meinem kurzen Leben kennen gelernt hatte, mit ihrem warmherzigen Lachen, aus ihren dunklen Augen. Deshalb verstand ich auch nicht, was meine Eltern gegen sie hatten, denn sie war ein Mensch, den man einfach lieb haben musste. Ihre Hautfarbe und ihre Herkunft waren mir egal, denn ein Kind entscheidet meistens aus dem Herzen. Komischerweise - 21 -


übten in meinem Leben immer wieder andersartige Menschen eine große Anziehungskraft auf mich aus, wahrscheinlich deshalb, weil auch ich etwas ungewöhnlich in meinem Dasein war. Seitdem entwickelte sich bei mir ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, denn für mich war das einfach nur ungerecht. Meine Eltern legten viel Wert auf ihr Ansehen und ihren Status und da passte es einfach nicht ins Klischee, dass ihre Tochter mit einer Ausländerin befreundet war. Eigentlich waren bisher nur einige gut genug, um sich mit mir abzugeben, die ich allerdings nicht leiden konnte. Ich fühlte mich wie ein Vogel in einem goldenen Käfig, der zum Alleinsein verdammt war. Was blieb mir anderes übrig, als mich mit anderen Dingen abzulenken, um der grausamen Wahrheit zu entfliehen? Wenigstens konnte mir niemand meine Phantasie wegnehmen, um mir meine eigene Welt zusammen zu träumen. Mein einziger erlaubter Freund war das Akkordeon, auf dem ich stundenlang übte. Geduldig versuchte ich meinen Schmerz mit Musik zu trösten und hoffte auf anerkennendes Lob. Ob ich wohl je gut genug spielen würde? Ich wollte es zumindest versuchen. Nach Außen hin verschlossen, hatte es den Anschein, dass ich ein ziemlich glückliches Kind war, soweit man Glück in diesem Alter schon definieren kann. Ein Glücksfall, zumindest für meine Eltern, war die Neuigkeit meines Vaters. Eines Tages stellte diese unser so gut organisiertes Leben, völlig auf den Kopf. Da er immer - 22 -


schon bei den ersten war, die früh die Tages-Zeitung durchstudierten, glückte ihm ein überaus preisgünstiger Grundstückskauf. Dieser Baugrund lag etwas außerhalb der Stadt und war wie geschaffen für ein eigenes Haus. Kurzerhand wurde beschlossen, ein Haus darauf zu bauen. Irgendwie fand ich die Idee ziemlich toll, denn vielleicht würden in der Nachbarschaft nette Kinder wohnen? Meine Mutter stand dem Ganzen etwas skeptisch gegenüber, denn schließlich fasst man einen solchen Entschluss nicht alle Tage. Außerdem käme da noch mehr Arbeit auf sie zu und letztendlich würde ein Haus ziemlich viel Geld kosten. Doch mein Vater ließ sich nicht beirren und setzte so ziemlich alle seine Kontakte ein, die er durch seine Musikschüler hatte. Und somit nahm das Haus Backstein um Backstein Formen an und ich freute mich jedes Mal, wenn ich mit auf die Baustelle durfte. Mit Sand und Lehm spielen, war das Höchste für mich. Daraus konnte man prima Figuren kneten und Puppentheater spielen. Warum Kinder so gerne im Dreck spielen, war meiner Mutter ein Rätsel, doch ich war glücklich in meinem Element. Als ich fast sechs Jahre alt war, stand unserem Einzug nichts mehr im Wege. Zwar musste der Garten noch angelegt und das Haus verputzt werden, doch bewohnbar war es alle Mal. Da es sich um ein Zweifamilienhaus handelte, vermieteten wir den oberen Stock, der - 23 -


Mieteinnahme wegen. Dieses sollte aber nicht von langer Dauer sein, wie sich später herausstellte. Meine Mutter blühte irgendwie auf, trotz der Mehrkosten. Sie liebte Gartenarbeit und konnte sich nun so richtig austoben. Jede ihrer raren Minuten, legte sie den Garten an und hegte und pflegte ihn. Im Keller war für meinen Vater ein großer Raum geplant, mit einem separaten Eingang. Diesen nutzte er für seinen Musikunterricht, den er von nun an zu Hause tätigen konnte. Jeden Nachmittag absolvierten viele Schüler, ihre Unterrichts-Stunden. Seine Vormittage verbrachte er damit, meine Mutter im Geschäft zu unterstützen. Ab und an konnte meine Mutter so auch mal vormittags den Haushalt tätigen, was dem Familienwohl sehr zugute kam. Schade, dass der Sommer sich dem Ende neigte und ich nun den Ernst des Lebens kennen lernen sollte. Im Herbst würde ich eingeschult werden und ein neuer Lebensabschnitt sollte beginnen. Dem Schein nach führten wir ein ziemlich geregeltes, gut organisiertes, glückliches Leben. Trotzdem fühlte ich mich meiner Freiheit ein bisschen beraubt, denn von nun an war eines meiner Elternteile immer zu Hause. Eigentlich sollte ich mich in dieser neuen Situation jetzt glücklich schätzen, doch irgendwo bedauerte ich es ein wenig, nicht mehr all das tun zu können, was mir so viel Freude gemacht hatte. Die Lage unseres Hauses war zwar perfekt, doch für mich als Stadtkind gewöhnungsbedürftig. Dort waren keine Geschäfte, - 24 -


in die ich bummeln gehen konnte, ja nicht einmal mehr Musikgeschäfts-Kunden, die ich beobachten konnte. Dies bedauerte ich sehr, denn so hatte ich es mir nicht vorgestellt. Das Einzige was mir zu bleiben schien, war mein Akkordeon und meine eigene Traumwelt, die mir niemand wegnehmen konnte. War ich vielleicht undankbar? Andere Kinder würden bestimmt so denken, aber sie waren ja nicht in meiner Lage. Unsere Nachbarschaft bestand fast ausschließlich aus älteren Ehepaaren, deren Kinder schon groß waren und mit dem kleinen, albernen Jungen, der bei uns einzog, wollte ich nicht spielen. Im wahrsten Sinne des Wortes kam es mir vor, wie unter absoluter Kontrolle zu stehen, weil ja ständig jemand um mich herum war. Für mich äußerst ungewohnt und leiden mochte ich es außerdem nicht. Ständig von jemand zu hören, was ich zu tun hätte oder auch lieber lassen sollte, nervte mich, was ich im Übrigen auch heute noch nicht ertrage. Die Stäbe meines „goldenen Käfigs“ erdrückten mich fast und ließen mir keine freie Entfaltungsmöglichkeit. Nur eine Alternative und zwar das Musizieren. Es demütigte mich, wenn mein Vater genauestens überprüfte, was und wie lange ich auf dem Akkordeon spielte. Fand er meinen Vortrag nach drei Stunden immer noch nicht gut genug, musste ich eben noch einmal eine Stunde dranhängen. Meine Belange und Gefühle interessierten ihn nicht, denn er wollte ja schließlich Perfektion in höchstem Maße. So saß ich tagtäglich in einem kleinen Zimmer im Keller - 25 -


und übte, wobei mir nicht nur einmal, vor Wut und Verzweiflung, Tränen übers Gesicht gelaufen sind und mein Schluchzen von den Musikklängen übertönt wurde. Kaum vorstellbar aber leider der Realität entsprechend. Schließlich konnte ich doch nichts dafür, dass ich tief im Inneren ein gefühlvolles, sehr sensibles Kind war, welches alles Mögliche versuchte, um seinen Eltern zu gefallen. Gehorsamkeit war oberstes Gebot, bei dem ein eigener Wille gebrochen wurde. Wo kämen wir denn da hin, wenn alle „Kinder ihren Eltern auf der Nase herumtanzen würden“, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Ein Kind in meinem Alter konnte sich dagegen nicht wehren, auch wenn mir die Ungerechtigkeit sehr zusetzte. Mein Körper hingegen übernahm diese Arbeit für mich, in dem ich öfter krank war oder hohes Fieber hatte. Bisher hatte ich fast alle bekannten Kinderkrankheiten, und mein Innerstes schien immer noch „Ja“ bei Weiteren zu schreien. So kam es, dass sich mein Körper wieder einmal einen absolut unpassenden Zeitpunkt (für meine Eltern) aussuchte, um mich mit den Masern zu infizieren. Es war einige Wochen vor Weihnachten, eine stressige Zeit, wenn man bedenkt, dass das Weihnachtsgeschäft bevorstand und an die Weihnachtskonzerte meines Vaters dachte. „Ein krankes Kind gehört ins Bett“, war die Überzeugung meiner Mutter. Alleingelassen und krank lag ich in meinem Zimmer im Bett und wartete, bis jemand wieder nach - 26 -


mir sehen würde. Eigentlich war ich ja auch groß genug um ein paar Stunden ohne Aufsicht zu sein. Und das Beste daran war, dass ich vorläufig nicht zu üben brauchte. Endlich konnte ich in aller Ruhe in meinen Tagträumen schwelgen und mir Geschichten ausdenken. Geschichten über Tiere, die ich gerne gehabt hätte oder Freunde, die ich nicht hatte. Ich kam sogar auf die Idee, dass meine Eltern vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen plagen könnte. In dieser Zeit nämlich bekam ich allerhand Süßigkeiten, vor allem Kaugummis mitgebracht. Dieser „Liebesersatz“ ließ mich durchaus auf den Gedanken kommen, dass sie mich doch mögen mussten. Kaugummis waren und sind noch immer meine Lieblingsnascherei. Schon als Kleinkind kam ich sehr schwer an einem Automaten vorbei, ohne einen Kaugummi zu ergattern. An jene, als ich die Masern hatte, kann ich mich noch ganz genau erinnern. Sie schmeckten einmalig nach Kaugummi, nicht so wie die komischen Geschmacksrichtungen, die es heute gibt. Das Beste war jedoch an ihnen, dass jeder Streifen in einem geldscheinähnlichen Papier eingewickelt war, welches sich wunderbar zum Spielen eignete. Eigentlich war ich trotz meines mit Masern übersäten Körpers ganz gut drauf, denn erstens musste ich nicht ständig üben und zweitens konnte ich endlich nach Herzenslust Kaugummis essen. Die Betonung liegt auf essen, weil ich kein Stück davon hergegeben habe. Dass man diese Dinger nicht verschlucken soll, wusste ich allerdings - 27 -


nicht, oder nahm es auf die leichte Schulter, als mich die Erwachsenen darauf hinwiesen. Was könnte denn da schon passieren? Bis jetzt war noch nie etwas geschehen, obwohl ich sie schon immer verschluckt hatte. Doch dieses Mal sollte ich mich gewaltig irren. Irgendwann ist eben immer das erste Mal, oder besser gesagt, der eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Von den Masern kuriert, stand dem Weihnachtsfest nichts mehr im Wege. Etwas schwach und blass war ich schon noch, aber dies ließ mir die Freude nicht verderben. Am Nachmittag des selbigen Tages, überkamen mich urplötzlich eigenartige Bauchschmerzen. Irgendwie dachte ich, dass sie schon von alleine wieder weggehen würden und versuchte diesen Schmerz so gut es ging zu verheimlichen. Schließlich wollte ich Niemanden die Heilige Nacht verderben. Meine Mutter bereitete das Essen und die Geschenke vor und mein Vater schmückte den Baum, was ich ja eigentlich noch gar nicht wissen durfte, denn schließlich glauben ja kleine Kinder noch ans Christkind. Als dann endlich ein Glöckchen im verdunkelten Wohnzimmer ertönte und ich hineinspitzen konnte, vergaß ich über die verklärten, friedlichen Gesichter, meine Bauch-Schmerzen. Die liebliche Melodie von Stille Nacht erklang aus Vaters Klavier und der Raum hatte ein wundervolles Leuchten und Strahlen. Für kurze Zeit, fühlte ich mich wie in meiner Traumwelt und nahm glücklich meine - 28 -


erste Puppe, ein Schlummerle, in Empfang. Diese Puppe hatte als Erste einen weichen Körper und flexible Arme und Beine, falls der Begriff „Schlummerle“ keine Erinnerung bei einigen von Ihnen wecken sollte. Zufrieden und andächtig genossen alle, außer mir das köstliche Weihnachtsmenü, welches Mutter für uns gekocht hatte. Nicht dass es mir nicht schmeckte, nein, meine Mutter ist eine hervorragende Köchin, aber plötzlich traten diese komischen Schmerzen wieder auf. Ich stocherte also im Essen herum und hielt mir den Bauch. Ab und zu rutsche mir ein leises Stöhnen heraus, welches auch meine Eltern vernahmen. „Warum isst Du denn nicht?“, wollten sie wissen. Schmerzverzerrt krümmte ich mich, mit den Händen den Bauch haltend. Schweißtropfen bildeten sich auf meiner kalten Stirn worüber meine Mutter sehr hektisch und nervös reagierte. „Aua“, jammerte ich und versuchte die Tränen zu unterdrücken. Mein Vater meinte, es wäre besser die Kinderärztin zu informieren, was er auch dann sofort tat. Diese Ärztin war wirklich eine kompetente Frau und kam trotz des heutigen Feier-Tages so schnell sie konnte, um nach mir zu sehen. Diese winzige, hagere Frau war sehr um das Wohl ihrer kleinen Patienten bemüht und tätigte nach Bedarf Hausbesuche, vielleicht auch weil sie selbst kinderlos war und in ihrem Beruf die Erfüllung sah. Schon kurz nach dem Telefonat traf sie ein und unter- 29 -


suchte mich. Ihre tröstenden Worte waren eine Wohltat. Vorsichtig tastete sie meinen Bauch ab, der sich mittlerweile heiß und hart anfühlte. Es war mir ziemlich unangenehm, weil es trotz ihrer Behutsamkeit sehr schmerzte. Sie wollte wissen, wie lange die Masern schon ausgeheilt waren und ob ich regelmäßig Stuhlgang hatte. Auch auf und ab springen und mein Bein so weit heben, wie es ging, war Teil ihrer Untersuchung. Es war zwecklos, meine Bauchschmerzen wurden dadurch nur noch schlimmer. An meinen letzten Stuhlgang konnte ich mich gar nicht mehr so recht erinnern. Woher soll das ein Kind denn so genau wissen? Und meine Eltern hatten in letzter Zeit so viel um die Ohren, dass sie auf so etwas nicht achteten. Da die Ärztin keine eindeutige Diagnose stellen konnte, wäre es besser, ins Krankenhaus zur Beobachtung zu gehen. Widerrede zwecklos, denn Weihnachten mit Bauchschmerzen war auch nicht das Wahre. Das Fest war eh futsch und alles wegen mir. Mein schlechtes Gewissen änderte aber auch nichts an den Tatsachen. Also fuhren wir in den nächsten Minuten mit der Ärztin ins Krankenhaus. Dort angekommen, waren alle sehr nett und versicherten mir, dass ich keine Angst haben bräuchte. Irgendwie müssen die was geahnt haben, weil mir die Angst ins Gesicht geschrieben war, obwohl ich eher das Gefühl hatte, mein Bauch würde jeden Moment - 30 -


platzen. Gut, dass mein Schlummerle dabei war, denn die hatte ich nun dringend nötig. Sie würde mir schon Trost spenden können, wenn die Angst wieder in mir hochkommt. Ganz fest umklammerte ich sie. Da war es wieder das komische Gefühl mit der Angst. Keine Angst haben zu müssen, hatte ich schon einmal gehört hatte und plötzlich stieg die totale Panik in mir hoch. Ich wollte einfach nicht hier bleiben und kam mir vor wie ein Häufchen Elend. Meine Beine schlodderten und ich weinte, denn meine Eltern wollten mich zur Beobachtung hier lassen. Auch wenn mir die Ärzte bei meinen Bauchschmerzen helfen könnten, wollte ich jetzt auf gar keinen Fall alleine hier verbringen. Wieso konnte denn nicht jemand bei mir bleiben? Verzweifelt bettelte ich meine Eltern an. Aber sie meinten nur, dass sie mich bald wieder abholen würden und ich mich jetzt zusammenreißen sollte. Zwischenzeitlich durfte ich mich ein weißes, steriles Krankenhausbett legen und flehte schon fast hysterisch, dass ich doch alleine Angst hätte. Aber es half alles nichts, ich musste hier bleiben; und so vernahm ich nur noch, wie meine Eltern sich leise davon stahlen und die Tür hinter ihnen in Schloss fiel. Nun schluchzte ich bitterlich, allein und verlassen und drückte meinen einzigen Trost, diese Puppe, so fest wie ich nur konnte, an mich. Wenigstens hatte ich nicht mehr so wahnsinnige Bauchschmerzen. Das kann aber auch an den Tabletten gelegen haben, die mir die Kranken- 31 -


schwester verabreichte. Meine Tränen galten ja nicht nur den Schmerzen, sondern hatten einen tieferen Hintergrund. Doch diese „fremdem Kittel in Weiß“ ahnten ja nicht, wie mir zumute war. Für sie war ich lediglich ein wimmerndes Kind mit Bauchweh, das zufällig am Weihnachtsabend eingeliefert worden war. Auch die nette Krankenschwester die an mein Bett kam, konnte mich nicht beruhigen, schon gar nicht, als ich irgendein komisches schlauchartiges Gebilde in ihrer Hand sah. Ein junger Assistenz-Arzt kam zur Tür herein und erkundigte sich, ob der Einlauf schon seine Wirkung gezeigt hätte. Natürlich wusste ich zu dieser Zeit noch nicht, was ein Einlauf war, doch hatte ich ein eigenartiges Gefühl, dass wieder etwas Schlimmes auf mich zukommen sollte. Ja, und mein Gefühl sollte sich bestätigen! Denn diese, dem Anschein nach nette Krankenschwester, übte gerade in diesem Moment ihren Eingriff aus und so stark ich mich auch dagegen wehrte, es war vergebens. Mittlerweile war auch der behandelnde Arzt eingetroffen und ich merkte ihm an, dass er lieber einen ruhigeren Feiertag gehabt hätte, als so ein quengelndes Kind wie mich. Mein Bauch schmerzte nach diesem Einlauf nicht nur fürchterlich, sondern blähte sich auch noch ungewöhnlich stark auf. Der Arzt tastete kurz und runzelte die Stirn, denn für gewöhnlich hätte der Einlauf schon seine Wirkung zeigen müssen. „Tja, schließlich gebe ich nicht gern her, was mir gehört“, dachte ich mir, in der Hoffnung, dass diese Tor- 32 -


tour bald vorbei wäre und mir nun endlich richtig geholfen werden würde. „Ich tippe da auf eine Blinddarmentzündung“, hörte ich den Arzt flüstern. „Wir sollten sofort operieren, bevor er durchbricht“, kommentierte er der Krankenschwester, die darum gebeten wurde, insbesondere mich, für die OP vorzubereiten. Natürlich hatte ich keinen blassen Schimmer, was diese Worte für Bedeutung hatten, aber dieses mulmige Gefühl, das in mir hochstieg, sagte mir, dass es sich erneut um etwas Fürchterliches handeln musste. Natürlich ist an einer Operation nichts Schreckliches, sondern im Normalfall etwas Hilfreiches, doch ich war allein und hatte furchtbare Angst. Vor Unbekanntem hatte ich immer Angst, was ja bei einem Kind verständlich ist, wenn es so etwas ganz alleine durchstehen musste. Verkrampft und schmerzgeplagt schoben sie mein Bett in einen Raum, auf dessen Tür „OP - für Unbefugte kein Zutritt“ stand. Es roch steril, nach Jod, eben so richtig schrecklich nach Krankenhaus. Die Farbe der türkisgrünen Fliesen an der Wand erdrückte mich fast, obwohl ich normalerweise diese Farbe mochte. Drei grelle Lampen, die von der Decke auf mich leuchteten, blendeten mich. Über meinen Kopf, in Nasenhöhe montierte man etwas mir Unbekanntes, aus diesem ich einen merkwürdiger Geruch vernahm. Entsetzt starrte ich in die Runde der unbekannten Gesichter. Der Gipfel war, dass auch noch meine Hände in Halterungen, die sich am Tisch befanden, - 33 -


festgeschnallt wurden, wobei ich mir jetzt entsetzlich ausgeliefert vorkam. Eine beruhigende, männliche Stimme fragte mich, ob ich denn schon bis zehn zählen könne? Nachdem ich dies mit einem Nicken bestätigte, versprach er mir lächelnd, dass ich bald keine Schmerzen mehr haben würde. Schon wenn ich mit Zählen fertig wäre, würde ich ein wenig schlafen und von alledem nichts spüren. Irgendwie nahm es mir die Angst, weil es sehr einleuchtend war. Also fing ich an: „1-2-3 ... sieeeb“, vernahm einen Äther-Geruch, fühlte mich müde und unheimlich leicht und war weg, besser gesagt in Narkose versetzt. Was danach genau passierte, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, denn aus dieser Narkose sollte ich nicht mehr so schnell aufwachen, wie erwartet. Um trotzdem mit meiner Geschichte fortfahren zu können, greife ich auf die Aussagen meiner Eltern und den Ärzten zurück. Während der Blinddarmoperation fiel mein Blutdruck ziemlich in den Keller. Mein Zustand schien ziemlich instabil zu sein, sogar soweit, dass ich reanimiert werden musste, weil ich für einen kurzen Augenblick klinisch tot gewesen sein soll. Nachdem ich wieder belebt worden war, schien mein Zustand noch immer kritisch, da die Blinddarm-Entfernung nicht die Ursache bekämpfte, wie sich herausstellen sollte. Natürlich wurden sofort meine Eltern verständigt, denn die Ärzte benötigten ein weiteres Einverständnis von ihnen, um noch einmal den Bauchraum zu öffnen. Mein Vater war außer sich, denn wie er behauptete, wäre das - 34 -


alles nicht passiert, wenn der Chefarzt an diesem Tag Dienst gehabt hätte, um mich zu operieren. Doch wie es eben an Weihnachtsfeiertagen ist, ist nicht jeder diensthabende Arzt ein Chefarzt, den man persönlich kennt. Da kann man noch so einflussreich sein und trotzdem ist man den „Göttern in Weiß“ ausgeliefert. Nachdem ich mich zu diesem Zeitpunkt noch immer in Narkose befand, konnten die Ärzte meinen lebensrettenden Eingriff vornehmen. Sie öffneten meinen Bauch, vertikal beginnend oberhalb vom Nabel bis in die Schamgegend, mit einem langen Schnitt. Voller Entsetzen wurde festgestellt, dass es sich bei meinen Bauchschmerzen um einen Darmverschluss handelte. Die Ärzte operierten lediglich auf einen Verdacht daraufhin. Von meinem Darm musste ein Stück entnommen werden, dessen Verschluss auch darauf zurückzuführen war, dass ich in Unmengen Kaugummis konsumiert hatte, die den Darm verklebt haben sollen. Diese schnellstmögliche Notoperation hätte auch weitere negative Auswirkungen für mich, laut medizinischen Aussagen. Nämlich die, dass ich jahrelange strenge Diät einhalten müsse und im gebärfähigen Alter zu 99% keine Kinder mehr bekommen könne. Bei der Resektion des Darmstückes sei die Gebärmutter in Mitleidenschaft gezogen worden und deshalb wäre nicht mehr gewährleistet, dass sie ihre natürliche Funktion jemals aufnehmen - 35 -


werden würde. Natürlich wusste ich von all dem nichts, auch würde sich nichts daran ändern, wenn es mir gesagt worden wäre. Eigentlich hätte ich in meinem Alter, mit derartigen Tatsachen, sowieso nichts anfangen können. Doch zurück zu meinem jetzigen Zustand. Es soll ja vorkommen, dass manche Menschen von Operationen nach gewisser Zeit nicht wieder selbst erwachen. Und sicherlich erahnen Sie bereits, dass ich zur obigen Sorte gehöre, weil ich ja bei so etwas immer „hier“ schreie. Wann genau ich von der Narkose erwacht bin, kann ich heute auf den Tag, nicht sagen, denn laut der Ärzte befand ich mich im Koma. Die Umstände und mein Aussehen bereiteten meiner Mutter allerdings einen Schock, der dazu führte, dass auch sie für einige Tage im Krankenhaus aufgenommen werden musste. Schließlich war ich doch ihr einziges Kind und selbst die herzlosesten Frauen empfinden in solchen Situationen ein Gefühl der Mutterliebe, eine Art Urinstinkt. Warum ich mich nun im Koma befand, konnte nicht genau diagnostiziert werden, denn auch Ärzte sind nur Menschen. Mir selbst ist dieser Zustand eigentlich erst bewusst geworden, als ich einen wie ich annahm, weit entfernten Schrei hörte. Ich lauschte, versuchte zu sprechen, doch ich konnte meinen Mund nicht öffnen, um damit einen Laut zu erzeugen. Meine Augenlider waren zu schwer, um sie zu öffnen, selbst meine Arme und Beine fühlten sich wie - 36 -


Blei an. Ich spürte das Bettlaken, das meinen Körper fast zu erdrücken schien. Ich lag einfach nur da und versuchte Geräusche wahrzunehmen. Das Einzige was zu funktionieren schien waren meine Gedanken, weder ein Gefühl für Zeit noch Raum. Ich wusste nicht wo ich war, welchen Tag wir hatten, geschweige denn, um welche Tageszeit es sich handelte. Dieser mir unbekannte Zustand war für mich unheimlich und angsteinflößend, doch wem würde es an meiner Stelle anders gehen? Aber wo kam dieser Schrei her, den ich mir nicht eingebildet hatte? In diesem Moment hörte ich, wie eine leise Stimme kaum hörbar ertönte: „Schwester Maria, was ist passiert?“. „Mein Auge, aua“, antwortete eine Frauenstimme. Mit größter Wahrscheinlichkeit, hatte diese Schwester Augenschmerzen, kombinierte ich, denn sehen konnte ich es ja nicht. Wie sich später herausstellte, flog ihr an dieser Silvester-Nacht ein Feuerwerkskörper ins Auge. Das war auch der Grund weshalb sie so geschrieen hatte. In meinem gefangenen Körper versuchte ich, so gut es ging weitere Geräusche wahrzunehmen und sie wurden mit jedem Tag etwas besser und deutlicher hörbarer. Mittlerweile hatte ich mitbekommen, dass ich mich auf der Intensivstation im Krankenhaus befinden musste. Das Lauschen war mein einziger Draht zur Außenwelt, von dem nur ich wusste. Die Ärzte und Schwestern waren zwar sehr bemüht um mich, sahen mich aber als hoff- 37 -


nungslosen Fall an, ja sie merkten noch nicht einmal, dass mein Gehör wieder funktionierte. Aber wie sollten sie auch, ich hatte ja keine Möglichkeit zur Verständigung. Meine Eltern besuchten mich, so oft es ihnen möglich war und saßen fassungslos an meinem Bett. Ihre Unterredungen mit den Ärzten über mich, ergaben immer dasselbe aussichtslose Resultat und zwar jenes, dass niemand wissen würde, wann und ob ich jemals aus dem Koma wieder erwachen werde. Auch über mögliche Folgeschäden, konnten sie meinen Eltern keinerlei Auskunft geben. Diese angespannte Verzweiflung stimmte nicht nur mich traurig. Am liebsten hätte ich gerufen: „Hallo Mama, hallo Papa, nicht aufgeben, ich bin doch noch da!“ … aber niemand konnte mein lautloses Flehen hören. Stattdessen nahm ich nur den monotonen Takt des Gerätes wahr, welches meinen Herzrhythmus aufzeichnete und das hoffnungslose Schluchzen meiner Mutter. Dazwischen ging immer wieder die Tür auf, eine Krankenschwester oder ein Arzt kam, um nach mir zu sehen oder mir Medikamente zu verabreichen. Mein Arm muss von den Infusionen schon ganz wund gewesen sein, denn er schmerzte fürchterlich. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie mir die Spritzen von nun an in den Fuß gaben. Es war grauenhaft! Die Einstiche zwischen meinen kleinen Fußzehen, gingen mir durch Mark und Bein. Mein Bauch war eine einzige große - 38 -


Wunde, deren Schmerz unerträglich schien. Wie lange konnte ich diesen Zustand aushalten? Immer und immer wieder stellte ich mir diese Frage, doch ich fand keine Antwort darauf. Mir war nur bewusst, dass ich mich nicht wehren konnte und genau das war es, was mir Angst machte. So verbrachte ich bangend und hoffend einen nach dem anderen Tag. Dunkel und farblos war meine Welt geworden. Obwohl es unsinnig klingen mag, glaubte ich, dass alles ein böser Traum war, aus dem ich endlich erwachen würde. Wieso war da niemand, der mich weckte? Fassungslos lauschte ich in den nächsten Tagen, einer niederschmetternden Unterhaltung meiner Eltern. Diese hatten zu diesem Zeitpunkt bereits in Erwägung gezogen, dass mein aussichtsloser Zustand einen tödlichen Ausgang nach sich ziehen könnte. Das Kurioseste an der Sache aber war, sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, einen neuen Erdenbürger in die Welt setzen zu wollen. Dieses Ziel weckte in ihnen die Hoffnung, über meinen Verlust hinwegzukommen. Jede einzelne Zelle meines Körpers sträubte sich und es wäre mir lieber gewesen, ich wäre taub geblieben. Mein Herz schrie, denn es wurde so verletzt, als wäre es mit einem Hammer zertrümmert worden. Hörte denn niemand mein lautloses Flehen? Vielleicht hatte ich einen Schutzengel, der gleichzeitig den Kampfgeist in mir weckte. Denn ich wollte nicht einfach aufgeben und sterben! Nein, ich musste einfach - 39 -


weiterleben. Also nahm ich meine ganze Kraft zusammen und versuchte meinem geschwächten Körper irgendein Lebenszeichen zu entlocken. In diesem Moment öffneten sich meine Augen und blinzelten verschwommen in das erstaunte Gesicht des Doktors, der gerade wieder den Luftschlauch in meiner Nase zurechtrückte. Freudig überrascht war seine Reaktion. Ruhig und sachte fragte er, wie es mir gehen würde. Meine Lippen fühlten sich trocken und taub an. Kein Wunder, denn es war ja schon lange kein Wort mehr über sie gekommen. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und versuchte zu antworten. Ein kaum hörbares, heißeres Kauderwelsch, das niemand verstand, kam zum Vorschein. Aber halb so schlimm! Wichtig war ja, dass ich mich nun wieder verständigen konnte. Die Sprache würde sich mit der Zeit von allein wieder finden. Ich glaubte ein tiefes Aufatmen zu vernehmen, welches den ganzen Raum ausfüllte. „Hallo, ich bin wieder da“, wollte ich am liebsten laut rufen und war überglücklich. Jede Faser meines Körpers schien sich mit mir zu freuen. Auch dem Klinikpersonal schien ein Stein vom Herzen zu fallen, dass ich tatsächlich aufgewacht war. Ein hektisches Treiben erfüllte dieses Zimmer, welches ich zum ersten Mal, mit eigenen Augen sehen konnte. Natürlich unternahm man sofort alle möglichen Untersuchungen, um festzustellen, wie viele körperlichen Funktionen vor- 40 -


handen waren. Vor allem, um der Sache auf den Grund zu gehen, welche Schäden durch das Koma geblieben seien. Wie durch ein Wunder stellten sich keine organischen Fehlfunktionen heraus, aber Folgeschäden unter anderem das Gehirn betreffend, wären nicht auszuschließen. Natürlich wurde dies nur meinen Eltern mitgeteilt, aber das war auch besser so. Es hätte einem Kind wie mir nur Angst eingeflößt. Und Angst war das Wenigste, was ich nun gebrauchen konnte zum Gesundwerden. Meine Genesung im Krankenhaus, sah man mir von Tag zu Tag an. Nach einer Weile konnte ich endlich aus der Intensivstation auf die Kinderstation verlegt werden. In diesen Momenten war mir gar nicht bewusst, welches Glück ich gehabt hatte, doch Kinder denken darüber noch nicht viel nach. Stattdessen freute ich mich über die anderen Kinder, die im selben Zimmer mit mir waren. Endlich konnte ich etwas plaudern und war nicht mehr so allein. Weil ich viele Tage gelegen habe, war es an der Zeit, einmal den Kreislauf anzukurbeln. So war zumindest die Meinung der Stationsschwester. Ich fühlte mich eigentlich ganz gut so, außer meinen Bauch. Bei der allmorgendlichen Hygiene wusch ihn die Schwester, nicht gerade sanft ab. Ich konnte gar nicht hinsehen, denn beim Anblick dieser großen Narbe in der Mitte meines Bauches, konnte es einem übel werden. Einige gelbliche Jodspuren zierten noch von der OP ihre Ränder.

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Heute sollte ich nun das erste Mal auf dem Bett aufstehen. Und glauben Sie mir, ich hätte es mir viel einfacher vorgestellt. Die Pflegerin stütze meinen Oberkörper und versuchte mich langsam aus dem Liegen aufzurichten. Ich selbst, war nicht in der Lage mitzuhelfen, denn die höllischen Schmerzen durchbohrten mich wie Messer. Außerdem fühlte ich mich kraftlos und schwer wie ein nasser Sack. Verzweifelt, mit Tränen in den Augen, bettelte ich, nicht weiter machen zu müssen. Die Pflegerin hatte ein Einsehen mit mir und meinte, dass wir es morgen noch einmal probieren würden. Ab diesem Tag an, folgte dieselbe Tortour jeden Morgen, solange bis ich tatsächlich aufstehen konnte. Aber fragen Sie nicht, wie viel Schmerzen ich dabei ausgehalten habe und immer wieder neuen Mut aufbringen musste. Manchmal hätte ich am liebsten aufgegeben, doch irgendetwas verlieh mir die dazu nötige Ausdauer und Stärke. „Wo ein Wille ist, ist ein Weg“, heißt es ja so schön. Ich wuchs über mich selbst hinaus und war glücklich, außer über die Spritzen, die mir noch immer panische Angst einjagten. Weil ich ein wissbegieriges Kind war, fragte ich eines Tages die Schwester, für wen denn die große Spritze sei? Und sie antwortete: „Für den, der fragt!“ Seitdem kam nie mehr ein Wort über meine Lippen, wenn ich Spritzen erspähte, doch zu meinem Bedauern sollten auch die nicht erfragten für mich sein, was ich irgendwie nicht verstehen konnte. - 42 -


Meiner Meinung nach, musste eine Ewigkeit vergangen sein, denn ich konnte laut und deutlich die Vögel zwitschern hören. Die wärmenden Sonnenstrahlen durchfluteten den Raum. Endlich konnte ich mich frei bewegen und freute mich, dass ich nun bald nach Hause durfte. Ein letztes Mal schnupperte ich die sterile Krankenhausluft und verabschiedete mich von meinen Leidensgenossinnen. Meine Eltern waren gekommen, um mich abzuholen und warteten bereits auf meine Entlassungspapiere. Etwas geschwächt, doch frohen Mutes, verließ ich mit ihnen die Klinik. Das leise Schnappen der Pfortentür, die sich hinter uns schloss, ließ mich alles Vorgefallene zurücklassen. „Traumhaft diese grenzenlose Freiheit“, dachte ich mir. Neugeboren sah ich die Welt mit anderen Augen. Jede Blume, jedes noch so kleines Detail wurde von mir aufgesogen, als wäre es mir bisher fremd gewesen. Ich genoss die Fahrt nach Hause in vollen Zügen. Denn im Auto mitfahren und die Umgebung zu beobachten, war schon immer eines meiner Leidenschaften. Nur diesmal war es noch viel, viel schöner. Zu Hause angekommen, kam mir alles so ungewohnt fremd vor. Kein Wunder, ich war ja eine Ewigkeit nicht da! Für kurze Zeit hatte ich die große Narbe an meinem Bauch vergessen, die immer noch sehr schmerzte. Meine Eltern behandelten mich wie ein rohes Ei, was ich durchaus als Vorteil sah. Ob das nun für immer so sein - 43 -


würde, wusste ich nicht. Und es war mir eigentlich auch egal, denn ich nutzte die Gunst der Stunde. Dieses „Friede, Freude, Eierkuchen-Getue“, ließ mich jedoch hellhörig werden. Ab und zu wurde der Gedanke in mir wach, der mich skeptisch werden ließ. Schließlich hatte ich ja ihre Unterhaltung im Krankenhaus registriert und so etwas vergisst man als Kind nicht. Es nagt im Hinterkopf und legt sich wie ein rotes Tuch über Dein Innerstes. Nie wäre es meinen Eltern in den Sinn gekommen, dass ich von ihren Plänen wusste. Aber vielleicht, würden sie ihr Vorhaben nun gar nicht mehr in die Tat umsetzen wollen, weil ich ja schließlich doch nicht gestorben bin, dachte ich zweifelnd. Also beschloss ich dieses Geheimnis gut zu hüten. Wer weiß, was in den Köpfen der Erwachsenen vor sich geht. Von nun an gaben sie sich jedoch viel Mühe, nett zu mir zu sein, obwohl meine Mutter bei meiner jetzigen Ernährung vieles zu beachten hatte. Diese musste komplett umgestellt werden, denn ab sofort durfte ich nur Schonkost essen. Ein wenig Karotten, Kartoffelbrei, mageres Fleisch, kein blähendes Obst und Gemüse kein Fett, nur altbackenes Brot oder Brötchen, Haferschleim und vor allem Sauerkraut. Das Letztere, wegen der besseren Verdauung. Ich wusste bereits aus der Erfahrung im Krankenhaus, wenn ich etwas gegessen hatte, was mir nicht bekam. Mein Bauch verkrampfte sich und ich musste mich übergeben. Das Erbrochene hatte dann immer so eine grünli- 44 -


che Farbe und war echt ekelhaft. Die Ärzte erklärten mir, meine Galle würde diese grüne Flüssigkeit produzieren und müsse sich erst an die neue Situation gewöhnen. Das waren ja rosige Aussichten! Aber ich wollte ja auf keinen Fall mehr ins Krankenhaus und hielt mich deshalb strikt an die Anweisungen. Sicher gibt es Schlimmeres, als nur auf ein paar Lebensmittel zu verzichten. Besonderer Wert wurde auf meine Verdauung gelegt, denn meine Ausscheidungen schienen nun für jeden von Interesse. Tagtäglich musste ich eine Medizin nehmen, kleine braune Kügelchen, die sich „Agiolax“ nannten. Ziemlich lustig fand ich, dass ich nun jedes Mal, wenn ich Stuhlgang hatte, ein Stück Klopapier an einem extra dafür vorgesehenen Haken im WC, anbringen musste. So konnten meine Eltern dieses kontrollieren, ohne mich ununterbrochen zu hinterfragen. Doch ich vermutete hinter der freundlichen Fassade, dass irgendetwas faul sein musste. Und auch dieses Mal, sollte sich mein Gefühl nicht täuschen. Schon sehr lange vermisste ich den Besuch meines Onkels, den ich sehr mochte. Ich hatte keine Ahnung, warum er sich nicht nach mir erkundigte und deshalb fragte ich nach ihm. Meine Mutter erklärte mir erst, dass er sich auf einer langen Reise befände, welches mir zu Anfang einleuchtend erschien. Bei seinem Beruf - er spielte die erste Geige in einem Symphonieorchester - wäre das durchaus vorstellbar. Doch als ich fragte, wann er denn - 45 -


wiederkäme, sah ich die Tränen in ihren Augen. Dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte, sagte mir mein Gefühl. Schließlich erzählte sie mir nach langem Zögern, was sich zugetragen hatte: Mein Onkel war am Weihnachtsabend bei eisglatter Straße tödlich verunglückt. Bei einem Ausweichmanöver schleuderte sein Wagen gegen das Brückengeländer, wobei er die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor, in den Kanal fuhr und zu Tode kam. Was für mich noch heute unerklärlich klingt, ist, dass keine Anzeichen vorhanden waren, sich selbst zu befreien. Angeblich waren die Türschlösser gängig und nichts behinderte ihn, an die Wasseroberfläche zu schwimmen. Stattdessen erzählt man sich, er sei geborgen worden, friedlich auf dem Fahrersitz platziert und hatte ein Lächeln auf den Lippen. So als ob er da unten, ohne Angst auf seinen Tod, gewartet hätte. Grauenvolle Vorstellung! Kein Mensch weiß warum. Doch welche Gedanken er in diesen Momenten hegte, werde ich leider nie mehr erfahren. Aber hat es mir Grund gegeben, lange darüber nachzudenken, dass gerade er sein Leben gelassen hat, genau am selben Tag und zur selben Stunde, als ich um mein Leben kämpfte. „Das Schicksal geht oft seltsame Wege“… Natürlich war ich über diesen schmerzlichen Verlust sehr traurig, doch die Zeit heilt Wunden, wie es so schön geschrieben steht. Sicherlich heilen Wunden physischer Natur schneller als psychischer, doch haben beide - 46 -


einen gleichen Nenner und zwar diesen, dass sie Narben hinterlassen. Und Narben, die sich im Innersten verbergen, sind unsichtbar für die Sorte Mensch, der sie einfach nicht erkennen will. Mit dieser Tatsache musste ich mich einfach abfinden, in der Welt, in die ich vor kurzem sprichwörtlich wieder hineingeboren wurde. Jedoch eine, mir etwas komisch vorkommende Tatsache sollte mir sehr lange in Erinnerung bleiben. Es handelte sich um jene, die mich jede Nacht ein und denselben Traum träumen ließ. Es war beängstigend, denn ich wusste ja nicht warum ich Derartiges träumte. Kaum schloss ich die Augen, sah ich es schon, eine gelbe Fläche, auf der größer werdende schwarze Punkte auftauchten und zwar so lange, bis die ganze Fläche schwarz war. Dies wiederholte sich so oft in umgekehrter Reihenfolge, dass ich fast durchgedreht wäre. Jede Nacht war ich schweißgebadet und wäre am liebsten nicht mehr eingeschlafen. Aber mit meinen Eltern darüber zu reden, hielt ich für keine gute Idee, denn die hätten mich sicherlich für verrückt erklärt. Denn sie glaubten sowieso, dass seit meiner Operation etwas mit nicht stimmen musste. Zwar gab ich keinen Grund dazu, aber die Aussage der Ärzte nach meiner OP, war Anlass genug für sie. Ihre zweifelnden Blicke, bei allem was ich tat, sagten wortlos, was sie dachten. Also blieb ich allein mit meiner Angst, die unerklärliche Ursachen für mich hatte. Selbstzweifel und Schuldgefühle trieben mich fast zur Verzweiflung. Vielleicht war ja tat- 47 -


sächlich das Koma Schuld an diesen Albträumen? Oder aber war es meine kindliche Phantasie, die mit mir durchging? Ich wusste es nicht und konnte mich auch niemand anvertrauen. Wieder war ich allein, so schrecklich allein und hilflos. Das Einzige was ich tun konnte war, mich meiner Angst zu stellen und mich mit dem Erlebnis abzufinden. Welche Bedeutung dieser Traum für mich wirklich hatte, sollte ich nie erfahren und so entschloss ich mich, kein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren. Mein etwas verändertes Alltagsleben, ging von nun an behutsamer weiter. Schließlich war ich ja wieder auf den Beinen. Die vielen Wochen meiner Genesung nutzte ich, um mich für die Schule vorzubereiten. Lesen und Rechnen machte mir sehr viel Spaß und das Schreiben hatte ich schon damals im Blut. Ganz schnell wollte ich richtig Schreiben lernen, damit ich mir all die ausgedachten Geschichten aufschreiben hätte können. Über die nötige Phantasie verfügte ich ja bereits. Von neuem konnte nun für mich die Schulzeit beginnen und obwohl ich selten anwesend in der 1. Klasse war, kam ich ganz gut mit. Zum großen Erstaunen von Lehrer und Eltern, erreichte ich mit sehr guten Noten das Klassenziel. Das Leben meiner Eltern hatte inzwischen wieder ihre frühere Lebensweise angenommen. Zwar wurde ich noch immer nach strenger Diät ernährt, aber ansonsten schien alles andere vergessen. Manchmal hing mir diese Eintö- 48 -


nigkeit zum Hals heraus. Gerne hätte ich auch all das gegessen, was andere Kinder so schnabulieren. Aber na ja, bald würde ja Weihnachten sein und die Vorfreude bei Kindern ist ja bekanntlich die schönste Freude. Das Ereignis meiner Operation jährte sich und diesmal konnten wir ein frohes Weihnachtsfest feiern. Die Stimmung war ruhig und wunderbar, so ganz ohne Aufregung und Stress. Der Christbaum erstrahlte im Lichterglanz, so als ob er nur für mich leuchten würde. Aber nicht nur die Kerzen strahlen, sondern auch irgendwie meine Mutter. Sie hatte so eine ungewohnte Fröhlichkeit an sich, mit der ich aber zu diesem Zeitpunkt nichts anfangen konnte. Mir fiel nur auf, dass sie im Ganzen ein bisschen rundlicher geworden war, besonders am Bauch. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie sich in anderen Umständen befand. Auch wenn es noch so naiv klingt, glaubte ich felsenfest an die Existenz des Klapperstorchs. Ein paar Wochen später, sollte jedoch die zermürbende Wahrheit ans Licht kommen. Diese Wahrheit, die ich nur schwer verkraften sollte und mir den Verstand zu rauben drohte. Eines Morgens eröffnete mir mein Vater die fürchterlichste, freudige Nachricht meines damaligen Lebens. Nämlich die, dass ich heute Nacht ein Brüderchen bekommen hätte. Es ist nicht so, dass ich mir nicht schon öfters ein Geschwisterchen gewünscht hätte, aber unter diesen Umständen hielt ich den Zeitpunkt für eher unglücklich. Nun war es also doch wahr geworden! Doch anstatt mich - 49 -


zu freuen, grollte ich wütend vor mich hin. Ich dachte, eine Welt würde für mich zusammenbrechen. Denn dieses kleine, schreiende Menschenbündel, hatte einen kleinen, wesentlichen Unterschied zu mir. Er war ein Junge! … Außerdem gaben mir meine Eltern, nach allem was vorgefallen war, das Gefühl, er wäre perfekt. Und es war ihnen egal, obwohl ich schon öfter bewiesen hatte, dass auch Mädchen perfekt sein können. Mir war klar, dass diese Art von Perfektion für mich unerreichbar sein würde. Auch wenn ich aus purem Gold gewesen wäre, hätten sie mich nicht so beachtet, wie ich es ersehnte. Ab sofort drehte sich alles um dieses Baby! Wie ein fünftes Rad am Wagen, kam ich mir vor, welches man nur als Ersatzrad mit transportiert. Demütigung, Hass, Trauer und Eifersucht spielten sich in meinem Inneren ab. Man muss mir angesehen haben, wie eifersüchtig ich gewesen bin, denn es wurde mir nicht einmal gestattet, dieses Baby zu berühren. Ich fühlte mich völlig nutzlos, ungeliebt und lediglich geduldet in dieser Familie. Einen Lichtblick schien es jedoch zu geben. Da meine Mutter trotz ihres Sohnes keine Nur-Hausfrau sein wollte, stellte man zum Babysitten eine Kinderoma ein. Auch ich mochte diese Oma sehr, weil sie eine liebe Person war, die sich viel mit uns Kindern beschäftigte und auch für meine Sorgen Zeit hatte. Und das Wichtigste war, sie schien keinen Unterschied zwischen Mädchen und - 50 -


Jungs zu machen. Sie beaufsichtigte uns immer dann, wenn meine Mutter im Geschäft ihrer Arbeit nachging. Die Stunden mit ihr waren Balsam für meine Seele und ließen mich die Welt nicht nur schwarzsehen. Sie gab mir das Gefühl, dass auch ich ein liebenswertes Kind sei, welches einen festen Platz in ihrem Herzen hatte. Mit der Zeit verblasste sogar mein Hassgefühl gegen meinen Bruder ein wenig. Irgendwie konnte er persönlich auch gar nichts dafür. Trotzdem er so klein war, war er für meine Eltern immer der mir Überlegene. Zu meinem Bedauern wurde er auch genauso erzogen. Jeder Wunsch wurde ihn erfüllt und es gab nichts, was er nicht bekam. Das fand ich einfach gemein! Vor allem weil ein so kleiner Junge all das gar nicht gebraucht hätte. Alles fiel ihm in den Schoß, ohne einen Finger dafür zu rühren. Von allem was er tat oder lieber ließ, war man entzückt. So eine Ungerechtigkeit! Kein Wunder also, dass ich manchmal ausrastete und mir insgeheim sogar der Gedanke kam, diesen Quälgeist loszuwerden. Kinder in meinem Alter denken noch nicht an die möglichen Konsequenzen, bei Sachen, die sie lieber nicht getan hätten. Nachdem mein Konkurrent noch nicht einmal ein Jahr alt war, brachte ihn mein Vater ein kleines Taschenradio mit und stellte es in seinen Laufstall. Was der Winzling damit anfangen sollte, war mir unklar. Neidisch lugte ich auf dieses Teil, welches ich selbst gerne gehabt hätte. Ein eigenes kleines Radio besaß ich nicht und - 51 -


Niemand schien es zu interessieren. So eine Frechheit! Wo bleibt da gleiches Recht für alle? Da mein Bruder Gefallen daran fand und gespannt der Musik lauschte, die ertönte, kam mir eine teuflische Idee. Ich wartete einen unbeaufsichtigten Moment ab, schnappte mir das Radio und stellte es gut sichtbar außerhalb des Laufstalles auf. Sichtlich verärgert darüber schrie mein Bruder und versuchte mit den kleinen Ärmchen danach zu greifen. Nachdem er es nicht erreichen konnte, beugte er sich mit dem ganzen Körper über den Laufstall, der selbstverständlich kippte und samt ihm auf die Querseite fiel. Nun lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem erwähnten Radio und kreischte so laut er konnte. Sofort kam unsere Kinder-Oma geeilt, um nachzusehen, was passiert war. Ich saß wie angenagelt auf dem Boden, neben dem Laufstall in der Küche, ohne ein Wort über meine Lippen zu bringen. Erschrocken nahm sie das weinende Baby hoch und versuchte es zu beruhigen. Es blutete stark am linken Auge. Schnell drückte sie mit einem Taschentuch auf die Stelle und säuberte sein blutverschmiertes Gesichtchen. Bei seinem Anblick tat er mir schon ein wenig leid, aber es geschah ihm ganz Recht so. Zumindest sollte er merken, dass nicht nur er auf der Welt war. Meine Genugtuung sollte nur von kurzer Dauer sein, denn sofort wurde mein Vater alarmiert, der ja einen Stock tiefer Musikunterricht gab. Zwar konnte niemand beweisen, dass ich die Schuldige des Malheurs gewesen war, - 52 -


doch bekam ich trotzdem eine Strafe, die ich gerechterweise auch verdient hatte. Ich war ja sowieso immer die Schuldige, die die „Suppe auslöffeln“ musste. Nur diesmal mit gutem Recht! Die Platzwunde meines Bruders war so tief, dass sie von der Kinderärztin versorgt und genäht werden musste. Diese physische Narbe ziert auch heute noch sein Auge und lässt die Erinnerung in mir wach werden. Zur Strafe bekam ich eine gewaltige Tracht Prügel von meinem Vater und musste allein in mein Zimmer. Um so wenig wie möglich in der Nähe meines Bruders zu sein, überlegte sich mein Vater ein Ablenkungsprogramm. Er beschloss, dass ich wieder mit dem täglichen Musiktraining beginnen sollte, um auf andere Gedanken zu kommen. Weil ich wegen meiner Narbe am Bauch noch nicht so schwer heben sollte, schnallte mein Vater mir höchstpersönlich dieses Akkordeon um. Einerseits musste ich dadurch meinen Bruder nicht laufend ertragen und andererseits hatte ich wieder ein Ziel. Mit der Zeit fand ich wieder Gefallen am Musizieren und übte eifrig. Vielleicht letztendlich dadurch zu beweisen, dass auch ich liebenswert sei. Das Musizieren war meine einzige perfekte Begabung, die mein Bruder noch nicht sein Eigen nennen konnte. Bis zu dem Sommer, in dem ich neun Jahre alt wurde, verlief unser Leben in ruhigen Bahnen. Ich fügte mich den Wünschen meiner Eltern und ging meinem - 53 -


Bruder aus dem Weg. Die Schule fand ich interessant und unterhaltsam, vor allem, weil ich mich dort mit anderen Kindern austauschen konnte. Wie schon einmal erwähnt, hatten private Kontakte zu anderen Kindern, in meinem Leben keinen Platz. Zumindest war dies die Meinung meiner Eltern. Also versuchte ich mich allein zu beschäftigen. Manchmal war ich darüber sehr betrübt und übte deshalb deprimiert auf dem Akkordeon. Mein Zorn verflüchtigte sich im aber Nu und brachte mir letztendlich auch Lob ein. Wohlwollende Worte meines Vaters drangen öfter an mein Ohr, als ich wieder einmal besonders gut spielte. Manchmal durfte ich dann mit ihm samstags etwas unternehmen. Zur Belohnung gingen wir Pilze im Wald sammeln oder schwimmen. Ich liebte es zu schwimmen und wollte unbedingt das Freischwimmerabzeichen mein Eigen nennen, um es am Badeanzug präsentieren zu können. Dass mein Vater einwilligte, war für mich ein beglückendes Erlebnis. Teil dieser Prüfung war allerdings vom Einmeterbrett zu springen und zu tauchen. Natürlich ließ ich mir nicht anmerken, dass ich Angst hatte und obwohl mir das Wasser unangenehm in der Nase kribbelte, tauchte ich um diese Aufgabe zu bewältigen. Leider zog ich mir dadurch einen, wie ich annahm, harmlosen Schnupfen zu. Zwar war ich nun stolze Besitzerin des ersehnten Abzeichens, aber mein Schnupfen wollte sich einfach nicht bessern. Nachdem ich ihn nun schon einige Wochen mit mir herumschleppte und - 54 -


auch noch stechende Kopfschmerzen hinzukamen, entschloss mein Vater, einen HNO-Arzt aufzusuchen. Leider zeigten die bereits verabreichten Hausmittel keine Wirkung bei mir. Wieder hatte ich furchtbare Angst, denn verständlicherweise sah ich rot, wenn schon jemand einen Arzt erwähnte. Die unerträglichen Schmerzen, überzeugten mich dann schließlich doch noch. Ängstlich umklammerte ich die Hand meines Vaters der mich ins Behandlungszimmer des Arztes schleppte. Dieser alte Tattergreis trug ein merkwürdiges Ding um den Kopf, an dem eine Art Spiegel befestigt war. Er unterhielt sich mit meinem Vater, und setzte er mich auf einen großen, altrosafarbenen, gepolsterten Kunstlederstuhl. Dann nahm er meinen Kopf und klopfte die Stirn- und Nasennebenhöhle ab. Der leichteste Druck darauf, ließ mich laut aufschreien. Beruhigend versuchte er mir zu erklären, dass er mir helfen wollte. Dazu müsste ich allerdings ruhig sitzen bleiben und ein wenig mitarbeiten. Davon dass es wehtun könnte, erwähnte er nichts, deshalb vertraute ich ihm. Laut seiner Anweisung fixierte ich die Uhr an der Wand, während er mit der Hand eine Art Wattestäbchen, in mein Nasenloch schob. Eine Blaulichtlampe wurde in Nasenhöhe platziert, unter der ich mich ruhig verhalten sollte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging der Arzt hinaus. Einige Minuten vergingen und mein angstpochendes Herz schien ruhiger geworden zu sein. Eigentlich hatte ich nun gar nicht mehr so viel - 55 -


Angst, wenn das alles gewesen sein sollte? Ja und so genoss ich fast die wärmenden Strahlen dieses blauen Lichtes. Wenn ich allerdings gewusst hätte, was in wenigen Minuten auf mich zukommen würde, hätte ich mit Sicherheit die Flucht ergriffen. Der Arzt erschien nun wieder, lobte mich, dass ich so brav sitzen geblieben wäre und bat eine Arzthelferin und meinen Vater, doch meinen Kopf zu halten. Spätestens nachdem ich die Arme in die Schlingen am Stuhl gesteckt hatte, konnte man mir die Angst vom Gesicht ablesen. Dieser Arzt kam unangenehm nahe an mich heran, mein Kopf fest in den Händen meines Vaters und der Arzthelferin. Wieder einmal war ich wehrlos, als der Arzt mit einem langen, spitzen, metallenen Gegenstand abwechselnd in eines meiner Nasenlöcher fuhr. Diese entsetzlichen Kratz-Geräusche werde ich nie vergessen. Doch das Grausamste sollte noch folgen. In diesem Moment fing dieser Arzt an, Wasser durch meine Nasen-Nebenhöhlen zu spülen. Ich wusste nicht, wie mir geschah, ich dachte fast, ich müsste ersticken! Aus Nase und Mund schoss abwechselnd Wasser, vermischt mit blutigem Schleim. Wie ein Ertrinkender versuchte ich, in den wenigen Sekunden um Luft zu ringen. „Ob man durch die Ohren atmen kann?“, schoss es mir in Todesangst durch den Kopf. Fest klammerte ich mich an den Stuhllehnen fest und hoffte instbrünstig, dass ich bald erlöst sein würde. Zu meinem Glück schien die ganze Prozedur nun ein Ende zu haben - 56 -


und ich konnte endlich wieder richtig tief durchatmen. Obwohl der Arzt der Meinung gewesen war, dass ich zwecks der verhärteten Kieferhöhleneiterung, noch einmal zum Nachspülen kommen müsste, hätten mich keine zehn Pferde mehr dahin bekommen. Beim kleinsten Verdacht auf eine derartige Entzündung, inhaliere ich auch heute noch, um mir diese widerliche Behandlung zu ersparen. Warum mein Vater mich dorthin begleitete und nicht meine Mutter? Diese befand sich gerade in der Klinik, um meiner kleinen Schwester das Leben zu schenken. Natürlich hatte ich diesmal, zu meinem Bedauern ihre Schwangerschaft bemerkt. Aber gleichzeitig, dass dieses von ihr nicht unbedingt gewollt war. Ihre Laune war nicht so rosig, wie es bei einer werdenden Mutter sein sollte. Der Einzige, der sich zu freuen schien, war mein Vater. Vor fremden Leuten versicherte er immer wieder, wie kinderlieb er doch sei und auf ein Kind mehr oder weniger, würde es jetzt auch nicht mehr ankommen. „Pah, wenn die wüssten, was er unter Kinderliebe verstand!“ Vielleicht mag es ja sogar sein, vorausgesetzt man wäre ein perfektes Kind, aber wehe, wenn nicht. Aber Kinderliebe hin, Affenliebe her, nun würde ich mit noch einem Wesen mehr ringen müssen, um die Gunst meiner Eltern zu erlangen. Als ich dann aber erfuhr, eine Schwester zu haben, hielt sich meine Eifersucht in Grenzen. Schließlich war sie auch ein Mädchen und stellte somit keine Konkurrenz für mich dar. Ja, meine eifersüchtigen Gefühle lösten sich fast in Luft - 57 -


auf, als ich ihren Namen aussuchen durfte. Wir einigten uns auf Marie, ein Name, der meine Kindergartenfreundin in Erinnerung behalten ließ. Als ich sie das erste Mal zu Hause erblickte, war ich entzückt von diesem kleinen Baby, das sehr zerbrechlich auf mich wirkte. Aber das Beste an ihr, dass sie ja auch ein Mädchen war, brachte mich schon jetzt zum Grübeln, wie wir wohl zusammen gegen meinen Bruder ankämpfen würden. Eigentlich irrsinnig, aber ich betrachtete sie von nun, an als meine Verbündete. Doch zu meinem Bedauern durfte ich sie, wegen Befürchtungen meiner Eltern, nicht einmal berühren. Schließlich konnten sie ja nicht wissen, was sich in meinem Kopf abspielte und deshalb trauten sie mir nicht über den Weg. „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“, wäre ein passender Ausdruck dafür gewesen. Von nun an waren wir also drei Kinder, von denen zwei von Anfang an nicht perfekt waren. Ich hoffte dennoch, dass sie es leichter haben würde, die Liebe meiner Eltern zu ergattern. Obwohl mein Altersunterschied doch sehr groß war, verbrachte ich jede freie Minute mit meiner Schwester. Irgendwie wurde durch sie mein Beschützerinstinkt geweckt und prägte meinen Gerechtigkeitssinn. Dieser wurde auch durch unsere Kinderoma bekräftigt, bei der wir gut aufgehoben waren. Sie hatte genug Liebe für alle drei und immer ein offenes Ohr für mich. Weil Mutters Hauptinteresse dem Geschäft galt, ging sie kurz nach dieser Entbindung, wieder ihrer beruflichen Tätigkeit nach. - 58 -


Wie schon einmal, schien es für mich unverständlich lieber zu arbeiten, als Mutter zu sein. Doch zurzeit hatte ich mit anderen Problemen zu kämpfen. Der Leistungs-Druck, sich unter Geschwistern hervorzuheben war es wohl, was mich dazu trieb, mich von nun an noch intensiver dem Musizieren zu widmen. Obwohl mein Hauptinteresse dem Akkordeon galt, konnte ich mitunter auch Klavier, Gitarre, Melodica, Flöte, Orgel und ein wenig Geige spielen. Mittlerweile war mein Vortrag so gut, dass mein Vater beschloss, mich an einer Meisterschaft teilnehmen zu lassen. Um ihn nicht zu enttäuschen, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und tat ihm den Gefallen. Eigentlich war ja auch gar nichts dabei, denn dieses Lied beherrschte ich schon im Schlaf. Anfangs war ich etwas nervös wegen der vielen Leute, aber als ich mit meinem Vortrag begann, vergaß ich alles andere um mich herum. Vor Publikum und Preisrichtern trat ich auf, und bekam zu meiner Verwunderung, den 1. Preis mit ausgezeichneten Leistungen zuerkannt. Für so gut hatte ich mich gar nicht eingeschätzt. Schließlich handelte sich nicht um irgendeinen Preis, nein, ich war die Gewinnerin der Fränkischen Meisterschaft im Akkordeonspielen und das im zarten Alter von 10 Jahren. Nebst Urkunde und Pokal, die mir nicht so wichtig erschienen, konnte ich den Stolz aus Vaters Blick erkennen. Von ihm akzeptiert und gelobt zu werden, war mir viel wichtiger! Selig über meinen Sieg schien mein Selbstwertgefühl zu - 59 -


steigen. Wenn das alles gewesen sein sollte, um für meinen Vater perfekt zu erscheinen? Was mir allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst war, dass dies nicht meine einzige Präsentation gewesen sein sollte. Wie es sich herausstellte, verlangte mir mein Vater mit der Zeit immer mehr und bessere Leistungen ab. Logisch, „gibt man manchen Menschen den kleinen Finger, wollen sie die ganze Hand“. Und obwohl er den „Spatz in der Hand hatte, wollte er um jeden Preis die Taube auf dem Dach“. Sein Ziel bestand darin, ein Vorzeigekind aus mir zu erschaffen, welches nicht nur ausgezeichneter, sondern hervorragender Leistungen, fähig wäre. Ein sogenanntes Wunderkind, dessen Formgeber einzig und alleine er war. Dieser Kreations-Spleen einer Perfektion entwickelte sich utopisch! Wobei man durchaus sagen konnte, dass das Sprichwort „mit Zuckerbrot und Peitsche“, seine Erziehungsmethoden am Treffendsten beschrieben. Wie oft saß ich in diesem Kämmerchen und übte und übte, nur um mir hinterher anhören zu müssen, dass es noch nicht genug sei, um eine Bayerische Meisterin werden zu können. Was ich dabei dachte und fühlte, interessierte ihn nicht und so kam es, dass ich den innerlichen Groll immer öfter auf meinen Bruder ausließ. Der hatte mittlerweile schon das zarte Alter von drei Jahren erreicht und bekam immer noch alles in den Schoß gelegt, ohne - 60 -


irgendetwas dafür zu tun. Seine Existenz war für meine Eltern Grund genug, ihn alles in den Hintern zu schieben. Dies ließ mich innerlich kochen und erreichte das Gegenteil, indem es meine Eifersucht nur noch verstärkte. Ablehnung und Lieblosigkeit erreichten bei mir nur Gegenteiliges, welches diesen Teufelskreislauf nicht beenden konnte. Vielleicht lag es auch an meinem angeschlagenen Gehirn, wie meine Eltern meinten, die ja durch mein Koma auf Folgeschäden vorbereitet waren, dass ich eine gewisse Bösartigkeit entwickelte. Egal, insgeheim schmiedete ich einen Plan, wie ich meinen Bruder am besten loswerden würde. Und so kam es, dass sich eines Tages die mir passende Gelegenheit, ergeben sollte. An unserem Haus befand sich ein großer Balkon, der sich mit Geländer und Treppen vom darunter liegenden Garten abgrenzte. Dieser Treppenaufgang war mit einem kleinen Türchen geschützt, welches nur mit einem Schieberiegel verschlossen war. Mein kleiner Bruder, dessen Name für mich irrelevant war, fuhr mit seinem roten Elektroauto auf diesem erwähnten Balkon. Was so ein Balg in diesem Alter alles besaß! Den Spaß den er dabei hatte, konnte ich gewiss nicht mit ihm teilen. Was läge da näher, ihn ein wenig den Spaß zu verderben? Ohne an die Folgen zu denken, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe und öffnete unauffällig den Riegel. Ich überzeugte mich, meine Kinderoma mit Marie beschäftigt zu sehen und ging, um das Türchen zu öffnen. Nachdem ich mich versichert hatte, - 61 -


dass nun alles seinen Lauf nehmen würde, eilte ich mit einem zugegebenermaßen befriedigten Gefühl hinein, wo gerade Marie von Oma gewickelt wurde. Schließlich wollte ich ja am Tatort nicht gleich entlarvt werden und besorgte wie mir schien, ein passendes Alibi. Einige Minuten später hörten meine nichts ahnende Kinderoma und ich ein lautes Poltern, welches mit einem Aufprall endete. Was das Geräusch zu bedeuten hätte, wusste ich sofort und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Schließlich hatte ich ja die Tat geplant, war mir aber vorher über die möglichen Folgen nicht klar geworden. Nach dieser Schrecksekunde war ich sichtlich erleichtert, meinen Bruder schreien zu hören. Jetzt erst wurde mir bewusst, was ich da eigentlich angerichtet hatte. Zwar war ich noch immer eifersüchtig auf ihn, wünschte mir aber in diesem Moment, dass ich dies nie getan hätte. Schnell eilten wir in den Garten zum Unfallort. Da lag er nun, schreiend mit dem Gesicht nach unten auf seinem Elektroauto, welches sich halb auf der letzten Treppe und halb im Garten befand. Dass er tatsächlich so dumm und diese Treppe hinuntergefahren war, hätte ich nicht gedacht, doch wer weiß schon, was in den Köpfen dreijähriger Jungs vorgeht? Meine Kinderoma hob vorsichtig den quietschenden Jungen von seinem Auto und erschrak über seinen Anblick. Auch mir wurde ganz mulmig, denn so etwas habe ich nicht gewollt. Sein ganzes Gesicht war blutverschmiert, eine große Beule zierte seine Stirn und die - 62 -


Nase schwoll so an, dass man seine Augen nicht mehr erkennen konnte. Es glich fast dem eines Boxers nach einem unermüdlichen Kampf. Irgendwie war mir zum Heulen und der Schreck saß mir, wegen des schlechten Gewissens in den Knochen. Oma kühlte sofort mit Eisbeuteln die Wunden meines Bruders und alarmierte meine Mutter. Weil heute Mittwoch war, gab mein Vater nicht wie üblich zu Hause Musikunterricht. Mittwochs unterrichtete er nämlich in seinem zweiten Musikstudio, ca. 25 km entfernt. Oma nahm ihn beschützend auf ihren Schoß und versuchte ihn zu trösten. Auch mir tat er leid, in seinem jämmerlichen Zustand. Vorsichtig nahm ich sein Händchen und drückte es sanft. Nur wenig Zeit verstrich, bis meine Mutter mit der Kinderärztin eintraf, die ihn sofort in die Klinik brachte. Dort stellte sich heraus, dass seine Nase gebrochen war und er eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Meine Mutter war außer sich, wegen ihres geliebten Jungen und schimpfte laut vor Zorn. Ich kann nicht sagen auf wen sie wütender war, vielleicht sogar auf sich selbst. Ihr wäre so eine Dummheit bestimmt nicht passiert. Wie sagt man so schön: „Mutter werden ist nicht schwer, Mutter sein dagegen sehr!“. Zu meinem großem Erstaunen, nahm die Kinderoma allerdings die ganze Schuld auf sich und entlastete mich damit. Warum sie das tat, weiß ich nicht, doch vielleicht ahnte sie, was auf mich in diesem Fall zugekommen wäre und wollte es mir ersparen. So erzählte sie, dass sie - 63 -


versehentlich vergessen hatte, das Gartentürchen zuzumachen. Als sie kurz mit Marie beschäftigt war, musste dieses Malheur passiert sein, welches sie sehr bedauerte. Im wahrsten Sinne des Wortes hat sie ihren „Kopf für mich hingehalten“, damit ich meinen ungehindert aus der Schlinge ziehen konnte. Was sie damit für mich getan hat, werde ich ihr nie vergessen. Als Vorsichtsmaßnahme ziert seit diesem Tag, das Türchen ein Schloss, dessen Schlüssel nur noch meine Eltern besaßen. Meine Einstellung zu meinem Bruder veränderte sich seitdem ein wenig, denn meine Kinderoma gab mir das Gefühl liebenswert zu sein, indem sie sich für mich bei diesem Unfall einsetzte. Doch wie sich dieser, noch einmal glimpflich ausgegangene Fehler ereignet hat, behielt ich bisher aus gutem Grund, nur für mich. Es war nicht so, dass ich von nun an meinen Bruder liebte, nein, ich lernte eher sein Dasein zu respektieren. Wie man so schön sagt: „Aus Fehlern lernt man“, traf diese Tatsache passenderweise auch auf mich zu, denn ich konnte daraus lernen, dass man nicht perfekt sein muss, um geliebt zu werden. Meine Oma, wie ich sie von nun an nannte, hatte genug Liebe für uns drei und kannte keinen Unterschied zwischen Junge oder Mädchen. Sie war einfach gerecht und konnte auch so manches Geheimnis für sich behalten. Die Erziehung meiner Eltern glich, zu meinem Bedauern, in keinster Hinsicht der meiner Oma. - 64 -


Wir Mädchen hatten es schon immer schwerer als mein Bruder. Ich war diejenige, die sich mittlerweile daran gewöhnt hatte, denn jeder Widerspruch schien zwecklos. Also fügte ich mich und litt stillschweigend. Aber alle Kinder sind anders und reagieren unterschiedlich, so auch meine Schwester. Bei Marie merkte man doch sehr früh, dass sie die Erziehungsmethoden meiner Eltern nicht einfach so hinnahm. Im Gegensatz zu mir versuchte sie nicht, das brave Mädchen zu sein, sondern wehrte sich mit allen ihr verfügbaren Mitteln. Man konnte durchaus behaupten, dass sie als dickköpfiges Kind immer versuchte, ihren Willen durchzusetzen. Dieses kostete Mutters letzten Nerv, denn es schien, dass sie diesen kleinen „Teufelsbraten“ nicht unter Kontrolle halten konnte. Wenn sie geschimpft wurde, kreischte und sträubte Marie sich mit aller Kraft. Weil dies meine Mutter, laut ihrer Meinung, nicht durchgehen lassen konnte, wurde ihr meines Erachtens, ihr Willen gebrochen. Außerdem ließ sich meine Mutter ihr gegenüber durchaus anmerken, dass sie nicht unbedingt von ihr gewollt worden war. Da meine Eltern Anhänger der autoritären Erziehung waren, mussten wir Kinder parieren und bei jeglicher Widersetzung gab es eine Strafe, die durchaus handfest war. Da wunderte es Niemand, dass Marie mit drei Jahren nichts weiter sprechen konnte, außer den Worten „lila und Bonbon“. Für meine Mutter führte das aber lediglich zu der Vermutung, dass Marie zurückgeblieben war. - 65 -


Sie war sie mehr oder minder „ein Dorn im Auge“. Anstatt Geduld aufzubringen, behandelte sie nach dem Motto: „Bist Du nicht willig, so brauche ich Gewalt“. Doch dies ließ Marie sich schon bald nicht mehr gefallen und wehrte sich auf ihre eigene Art. Wahrscheinlich war sie schon damals schlauer als man dachte, denn immer, wenn mein Vater die Hand gegen sie erhob, setzte sie sich auf den Küchenboden und übergab sich, wie auf Kommando. Ich selbst sah erstaunt, wie effektiv ihre Methode doch war, denn die war wirklich treffend. Meine Mutter die perfekte Steril-Hausfrau konnte derartige Gerüche immer schon nicht riechen, ohne sich gleichfalls zu übergeben. Deshalb überlegten sie sich in Zukunft zweimal, ob sie dieses Kind mit Schlägen strafen sollten. Apropos Gerüche! Die wenigen Male, die uns meine Mutter als Baby wickelte, waren für sie immer mit Brechattacken verbunden und ohne, dass sie sich die Nase mit Wäscheklammern verschloss, war es für sie ein Ding der Unmöglichkeit. Ich allerdings fand das sehr lustig, nur war ich viel zu gutmütig, einfach anders als Marie, um mit derartigen Maßnahmen mich den Prügeln zu entziehen. Dass mein Bruder sich die bekommenen Klapse an einer Hand abzählen konnte, war ja selbstverständlich. Schließlich war er der verwöhnte, perfekte Junge, außerdem ruhig, ohne Trotzreaktionen und sehr intelligent. Vielleicht sogar so intelligent, dass er sich vorher sein Han- 66 -


deln genau überlegte, um im Bedarfsfall, die Schuld auf mich zu schieben. Es war für ihn auch unmöglich, ein Geheimnis für sich zu behalten. Immer wenn er einen Vorteil für sich sah, petzte er bei Gelegenheit das Passende, um gut dazustehen. Leider waren meine Eltern immer auf seiner Seite, und ich, aufgrund dessen, das „schwarze Schaf“, welches für alles herhalten musste. Diese Ungerechtigkeit hasste ich so sehr, dass ich die Schmerzen der Prügel kaum mehr spürte. Für alles war ich der Sündenbock! Ich ließ mich derart unterdrücken, dass ich schon vor Angst zusammenschrak, wenn mein Vater mich ernst ansah. Nun hatten meine Eltern ja jemand gefunden, an dem sie ihre Aggressionen auslassen konnten und ich stand einfach teilnahmslos, ängstlich da und ließ es geschehen. Derartige Ablehnung und Wut, lösten bei mir immer wieder Weinkrämpfe und Verzweiflung aus. Nie konnte ich irgendetwas richtig machen, sei es zu Hause oder in der Schule. Wie oft ging ich mit schlechtem Gefühl nach Hause, denn meine schulischen Leistungen waren verständlicherweise nicht immer nur sehr gut. Selbst bei einer drei oder vier, musste ich mit Rüge rechnen, denn mein Vater verlangte vollkommene Leistungen, in der Schule, wie auch in der Musik. Hatte ich einmal nicht das gewünschte Ergebnis, wurde ich als Versagerin abgestempelt. Mir kam es so vor, dass er mir all das abverlangte, was er selbst in seinem Leben nie erreicht hatte

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und dies mit einer Selbstverständlichkeit, bei der mir die Worte fehlten. Mittlerweile blieb mir nichts anderes übrig, als durch den Leistungsdruck zu wachsen, indem ich ihm durch mein Musizieren das Gegenteil bewies. Nicht aus Freude, sondern missmutig und gedemütigt, übte ich wieder tagelang, um mich der nächsten Prüfung stellen zu können. Das utopische Ziel dessen Perfektion mein Vater allein bestimmte, war eine nie mehr endende Qual. Es schien sich zu meiner einzigen Lebensaufgabe zu entwickeln. Aber war es wirklich das, was ein Kind brauchte? Meine Antwort lautet eindeutig nein. Eine unbeschwerte Kindheit wäre mir lieber gewesen. Kinder brauchen Liebe, Freiheit und Geborgenheit, um sich in ihrer Persönlichkeit entfalten zu können. Doch davon konnte ich vorläufig nur träumen. Trotzdem brachte ich die nötige Ausdauer auf, um den Wunsch meines Vaters zu entsprechen. Mein Musizieren brachte mir schon bald weitere Erfolge ein, die meinen Vater von großer Bedeutung schienen. Nämlich die, dass ich insgesamt dreimal Fränkische Meisterin und sogar zweimal Bayerische Meisterin im Akkordeonspielen wurde. Dieser Triumph gab ihm den Verdienst und die Anerkennung, doch auch die Ideen für weitere Utopien, was meine Zukunft anbelangte. Über die Herzlosigkeit meines Vaters, zerbrach ich mir lange den Kopf, denn ich litt unheimlich unter dem seelischen Druck. - 68 -


An meine letzte Meisterschaft kann ich mich noch sehr gut erinnern, denn die sollte für mich in eine körperliche Qual ausarten. So etwas vergisst man nicht so schnell. Auch in andere Dinge, die meine Eltern über meinen Kopf für „mein Wohl“ entschieden, musste ich mich fügen. Aber hatte ich denn eine andere Wahl? Mich hätte sowieso Niemand nach meiner Meinung gefragt, als ich im neuen Schuljahr die Schule wechseln sollte. Obwohl ich am Gymnasium keine schlechten Noten hatte, beschlossen meine Eltern, mich auf die kaufmännische Realschule zu schicken. Na ja, was soll´s, dann musste ich wohl oder übel hier weiter lernen. Diese Schule war für mich anfangs eine Leichtigkeit, die sich in sehr guten Noten widerspiegelte. Außerdem gab es auch künstlerische Fächer, die mir sehr lagen. Neben Deutsch, nahm ich auch gerne am hauswirtschaftlichen Unterricht, wie Kochen teil. Deutsch war mein Favorit, denn ich mochte es, aus einer beliebigen Anzahl von Buchstaben, treffende Sätze in deutscher Sprache zu formulieren. Es war für mich die Ausdrucksform der Kommunikation. Hier konnte ich alle Gedanken zum Leben erwecken und mich mitteilen. Wenn auch nur in Aufsätzen oder in meinem Tagebuch, den einzigen treuen Begleiter, den ich all meine Sorgen anvertrauen konnte. Im Großen und Ganzen versuchte ich allen Fächern etwas Freude abzugewinnen, nur Handarbeiten hasste ich. Irgendwo sah ich nicht den Sinn dieser Arbeit,

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wo es doch Geschäfte gibt, die so viel von der Sorte Socken haben, dass sie die sogar verkaufen müssen. Nun gut, Spaß beiseite, als sich die Freitags-Nähstunde dem Ende neigte, sollten wir diese alten, versenkbaren Nähmaschinen zusammenklappen. Ich hatte nur einen kurzen Augenblick lang nicht richtig aufgepasst und schon war es passiert. Der Ringfinger meiner rechten Hand war zwischen Maschine und Klappschrank eingezwickt. Sicherlich verspürte ich einen Schmerz, aber im Moment schossen mir viel wichtigere Dinge durch den Kopf. Und zwar, wie sollte ich mit diesem Finger eine Meisterschaft auf dem Akkordeon spielen können? Ich merkte, wie es mir heiß und kalt den Rücken hinunterlief, bei dem Gedanken, meinem Vater mein Missgeschick mitteilen zu müssen … Mein Fingernagel hatte ein bläulich-schwarzes Aussehen, von einem Bluterguss gekennzeichnet und der bloße Anblick, ließ mich erschaudern. Wer glaubt, dies hätte meinen Vater von seinen Plänen abgehalten, der irrt, denn anstatt mich zum Arzt zu bringen, beschimpfte er meine Tollpatschigkeit und zwang mich dazu, am nächsten Tag diese Meisterschaft zu spielen. Mein Finger schockte und schmerzte, war sehr geschwollen und bei der kleinsten Berührung wäre ich am liebsten an die Decke gesprungen. Das Nagelbett umrandete den Nagel mit einer seltsamen gelblichen Farbe, bei dem sicherlich auch Laien gesehen hätte, dass dies ein - 70 -


Anzeichen von „unter Eiter stehen“ war. Mit bleichem Gesicht, den Angstschweiß auf der Stirn, ging ich nun in diesen Saal, von welchem aus die Jury richten sollte. So schnell wie möglich wollte ich meinen Vortrag hinter mich bringen. Die Angst zu Versagen trieb mich wohl dazu, meinen schmerzenden Finger für diese wichtigen Minuten zu vergessen. Ich spielte das von mir monatelang geübte Stück und fühlte die entsetzen Blicke, die wohl meinem Finger gelten sollten. Gleichzeitig war es mucksmäuschenstill im Raum, nur mein Akkordeon war zu hören, das diese phantastischen Töne erzeugte. Das Musikstück, das ich vortrug, brachte ein Erstaunen in die Gesichter der Preisrichter. Noch nie zuvor, hatten sie etwas Derartiges von einem Kind zu hören bekommen. Es handelte sich um ein Prüfungsstück, welches Bestandteil der Musiklehrerprüfung war und welches mein eigener Vater bei seinem Lehrer-Abschluss vorgetragen hatte. Im „Schweiße meines Angesichts“ gab ich alles, um ein perfektes Bild abzuliefern. Dieses Stück gab mir bei meinem Vortrag das Gefühl eins mit meinem Akkordeon zu sein, und ich spielte „wie ein junger Gott“, wie es mir auch heute noch so zu Ohren kommt. Nach meinem letzten Akkord verharrten die Zuhörer einige Sekunden in absoluter Stille, welches mich schon wieder zweifeln ließ, ob es ihnen gefallen hatte. Doch der daraufhin tosende Applaus, bereinigte meinen Irrtum sofort und ließ mich für einen kurzen Augenblick dem Per- 71 -


fekten unheimlich nah sein. Strahlend verbeugte ich mich mehrmals und vernahm das lobende Nicken meines Vaters im Augenwinkel. Der Stolz erfüllte mich und wirkte wie ein Schmerzmittel für meinen Finger. Als die damalige Weltmeisterin im Akkordeonspielen mir persönlich zu meiner Darbietung gratulierte, fühlte ich mich wie im siebten Himmel. Ganz zu schweigen von dem Pokal und der Urkunde, die ich für die „hervorragende“ Leistung überreicht bekam. Diese Leistung wird in der Musik eher selten aberkannt. Die Erwähnenswerten staffeln sich in „gut“, „sehr gut“, „ausgezeichnet“ sowie „hervorragend“, wobei das Letztere, fast ein Ding der Unmöglichkeit ist. Nie im Leben hätte ich gedacht, einen solchen Ruhm zu ernten. Auch mein Vater lobte mich, denn er hätte nie geglaubt, dass ich es schaffen würde, diese Bayerische Meisterschaft zu gewinnen. Tja, so kann man sich täuschen! Mit meinem mittlerweile sehr entzündeten und eiternden Finger, ging er höchstpersönlich mit mir zum Arzt. Zwar erst am Montagvormittag, dennoch war ich froh, diesen schmerzenden Fingernagel nun endlich los zu werden. Unter örtlicher Betäubung entfernte ihn der Arzt, ohne dass ich etwas davon merkte. Innerhalb weniger Minuten war ich von dem lästigen Übel befreit und fühlte mich froh und befreit. Vor allem aber konnte ich mit dem Verband wegen des abgenommenen Nagels, für eine gewisse Zeit nicht üben. In der Zwischenzeit konnte ich ja ausgiebig über die grauenhafte Gefühllosigkeit meines Va- 72 -


ters nachdenken und beschloss von nun an, mich zu wehren. Natürlich tobte er, als ich ihm verkündete, dass ich ab sofort, an keiner Meisterschaft mehr teilnehmen werde. Er drohte mir und wollte mich einschüchtern - doch vergebens. Was könnte mir schon passieren? Vielleicht würde ich Prügel einstecken? Aber auf ein paar Ohrfeigen mehr oder weniger würde es mir nicht ankommen. Dies schreckte mich nicht ab, im Gegenteil. Denn mittlerweile hatte ich mir eine dicke Schale zugelegt, die sich schützend um meinen weichen, verletzlichen Kern schmiegte. Und diesmal vertrat ich endlich meine Meinung! Nichts konnte mich davon abbringen, aus meinem goldenen Käfig auszubrechen. Genau seit diesem Zeitpunkt, bei dem ich meinen ganzen Mut zusammen genommen hatte, versuchte ich nicht nur das zu tun, was meine Eltern von mir erwarteten. Es machte ziemlich viel Spaß, wenn man bedenkt, was ich mir dabei alles einfallen ließ, um von nun an mein Leben ein bisschen nach meinem eigenen Willen auszurichten. Und glauben Sie mir, ich nutzte jede, die sich mir bietende Gelegenheit. „Not macht erfinderisch“ wäre wieder mal ein derartig passendes Sprichwort. So kam ich auf die Idee, meine wöchentliche Gelegenheit von nun an Mittwochnachmittags zu nutzen. Diesen einen Nachmittag in der Woche, wie man sich erinnert, befand sich mein Vater nämlich nicht im Hause und die Oma, die uns Kinder beaufsichtigte, war natürlich auf meiner Seite. Sie verstand die strengen Erziehungsmethoden meiner Eltern auch - 73 -


nicht. Deshalb ließ sie mir die Freiheit dieser Nachmittage, nachdem ich nach vorheriger Absprache, immer pünktlich auf die Minute wiedergekommen war. An diesen Tagen fühlte ich mich frei wie ein Vogel und unternahm etwas mit Schulfreundinnen oder saß einfach so für mich in der Stadt, auf dem Fenstersims der Eisdiele, um die Menschen zu beobachten. Wie lange schon hatte ich auf dieses bisschen Freiheit verzichten müssen … Verständlicherweise, dass ich jede einzelne Sekunde davon auskostete. Durch Beobachten kann man tatsächlich viele interessante Leute kennen lernen. So kam es auch, dass ich den Kontakt zu einer Motorradclique fand, die sich öfter an der besagten Eisdiele traf. Ein Junge fiel mir besonders auf, der für meine Verhältnisse absolut cool war. Seine hellbraunen Haare fielen in langen Locken auf die Schulter und er war der stolze Besitzer einer Kawasaki. Aber was mir am Besten an ihm gefiel, war sein wunderbares Lachen, das mein Herz fröhlich stimmte und mir das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Sein Spitzname war „Katzenfuß“, was wohl davon abzuleiten war, dass er ein wenig hinkte, welches mich aber nicht im Geringsten daran hinderte, mich mit ihm anzufreunden. Voller Stolz saß ich nun jeden Mittwochnachmittag als Sozia auf seiner Kawasaki und ließ mir den Fahrtwind um die Nase pfeifen. Es war eine wundervolle Zeit, voller Glück und Abenteuer; und wie eben Teenager sind, wollte ich natürlich auch das Wunder der Liebe erfahren. Zwar war ich von Zuhause nie aufgeklärt - 74 -


worden, doch hatte ich durch Illustrierte genug Gelegenheit, mich diesem Thema mächtig zu machen. Doch nur theoretisch wollte ich mich auf Dauer nicht zufrieden geben. Wieder einmal kam die Mittwochsgelegenheit wie gerufen für mein Vorhaben, ihm meine Unschuld zu schenken. Dietmar hatte ein eigenes Zimmer im Dachgeschoss seines Elternhauses und konnte ungestört Besuche empfangen. Ich war so neugierig auf dieses erste Mal, dass ich die Praxis fast nicht erwarten konnte. Obwohl mich Dietmar nie drängte, ließen wir diesen Nachmittag unseren Gefühlen freien Lauf. Bei Schmuse-Musik machten wir es uns gemütlich und genossen unsere Zweisamkeit. Da er einige Jahre älter war als ich, hatte er schon Erfahrung auf diesem Gebiet. Rücksichtsvoll und zärtlich waren seine zaghaften Annäherungsversuche. Erregung knisterte im Raum, während unsere Körper sich eng umschlungen ineinander schmiegten. Ich spürte ihn in seiner Männlichkeit, war aber zugleich erschrocken. Anstatt des Wahnsinnsfeelings, fühlte es sich eher unangenehm und schmerzhaft an. Eigentlich war mein erstes Mal gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, sondern eher eine unangenehm blutige Angelegenheit. Dietmar erklärte mir einfühlsam, dass es vielen Frauen so gehen würde wie mir, und dass ich mir keinen „Kopf machen“ soll. Er meinte, wenn ich erst einmal auf - 75 -


den Geschmack gekommen wäre, würden sich die richtigen Gefühle auch noch einstellen. Seine Feinfühligkeit ließ mich glücklich und stolz zugleich sein, von nun eine richtige Frau geworden zu sein. Diese Tatsache, dass ich noch eine Jungfrau war, als ich in die Clique eintrat, brachte mir unheimliches Ansehen an, das sogar soweit ging, ab sofort als „Maskottchen“ mit ihnen überall hinzufahren. Der Zusammenhalt dieser „Rocker“ war so groß, dass kein anderer außer Dietmar versuchte, mit mir anzubandeln. Dies würde als verpönt gelten und gegen die Rocker-Regeln verstoßen, jemand anderen „Braut“ anzubaggern. Wenn meine Eltern allerdings davon erfahren hätten, welche „schlimmen Taten“ ihre Tochter an jeden Mittwochnachmittag vollbracht hat, wäre ich bestimmt in einem Heim für schwererziehbare Kinder gelandet. Doch „was Niemand weiß, macht keinen heiß“, dachte ich mir schmunzelnd und schwieg. Diese traumhafte Zeit der Freiheit genoss ich mit jeder einzelnen Zelle meines Körpers. Eigentlich fand ich es schade, immer alles zu verheimlichen, doch gerade das machte es so aufregend. Wenn ich an meine Mutter dachte, war alles so organisiert und langweilig, dass ich schon des Öfteren gezweifelt habe, ob sie je jung gewesen war? Mit der „Rockerzeit“ veränderte sich nicht nur mein bisher nicht vorhandenes Selbstbewusstsein, sondern auch - 76 -


meine Haarfarbe. Mein mausgraues Aschblond entwickelte sich kurzerhand in ein leuchtendes Platinblond. Die Verbote und Androhungen meiner Mutter konnten mich nicht davon abhalten, meine Haare nun endlich so zu tragen, wie ich sie gerne hätte. Nach jahrelangem Kurzhaarschnitt züchtete ich sie auf eine schulterlange, blonde Mähne. Es war für mich wie eine Art Verwandlung von dem hässlichen Entlein in einen schönen Schwan, denn auf einmal fühlte auch ich mich hübsch und attraktiv. Gerne zeigte ich meine bisher ungeliebten Grübchen in den Wangen, die sich beim Lachen so ähnlich wie zwei tiefe Krater hineinwölbten. Nur dass ich so klein und zart war, ließ den Leuten mein tatsächliches Alter unterschätzen. Von meiner Körpergröße von 157 cm mal abgesehen, übte ich durchaus eine gewisse Anziehungskraft auf das andere Geschlecht aus. Dies wurde mir jeden Mittwochnachmittag aufs Neue bewusst. Und ich genoss es, endlich einmal Menschen um mich herum zu haben, die mich einfach akzeptierten und mochten. Diesen Mittwoch gab es eine Party im Freien, in unserer „Galaxis“, wie wir sie auch nannten. Die Clique und einige andere Leute feierten zusammen ihre Geburtstage und ließen es so richtig krachen, wie man so schön sagt. Natürlich wollte ich mir so etwas nicht entgehen lassen und nahm gerne daran teil. Meine Kumpels begrüßten mich mit großem Hallo und machten Platz in ihrer Mitte. Einige Leute waren mir bisher unbekannt, aber das würde - 77 -


sich innerhalb der Fete noch geben. Als Teenager kommt man ja schnell ins Gespräch. Neugierig musterte ich sie aus der Nähe und lächelte freundlich in die Runde. Mein Blick wanderte, während ich einer Unterhaltung über den nächsten Motorradausflug lauschte. Da sah ich ihn zum allerersten Mal. Ein Junge von ca. 175 cm, dunkle wellige Haare und sagenhaft dunkelbraune Augen, die von langen Wimpern umrahmt waren. Auch er schien gerade in dieser Sekunde in meine Richtung zu schauen. Diesen Augenblick, indem sich unsere Blicke zum ersten Mal trafen, werde ich wohl nie vergessen, denn er berührte auf seltsame Art und Weise mein Herz. Und zwar in dem Maße, dass ich im Moment wie von Sinnen war. Diesen Jungen musste ich einfach kennen lernen, dachte ich mir und starrte noch immer wie gebannt in dessen Richtung. Dieser bewegte sich nun lächelnd auf mich zu, in einer Art, dass ich es fast für möglich gehalten hätte, dahinzuschmelzen. Von der Nähe betrachtet, sah dieser Junge noch viel besser aus, als ich annahm. Je näher er kam, umso stärker pochte mein Herz, in einer Lautstärke, dass es unmöglich gewesen wäre, es zu überhören. Freundlich ertönte seine Stimme, die mich nach meinem Namen fragte, um scheinbar ein Gespräch anfangen zu können. Wie auf Wolken schien ich neben ihm her zu schweben, obwohl mir sichtlich die Knie schlodderten und meine Stimme einer heißeren Krähe ähnelte. Mir versprach es glatt die Sprache wie in dem Lied „Frosch im Hals und - 78 -


Schwammerl in die Knie“. Gerne hätte ich die Zeit für einige Sekunden festgehalten, nur um noch etwas länger neben ihn zu verweilen. Aber leider muss man immer gehen, wenn es am Schönsten ist. Schlagartig fiel mir ein, dass ich schon längst zu Hause hätte sein müssen, bevor mein Vater käme und so schlug ich vor, die Unterhaltung ein anderes Mal fortzusetzen. Ich hätte mir in diesen Sekunden in den Hintern beißen können! Doch auf keinen Fall konnte ich es verantworten, meine heimlichen Nachmittage jetzt auffliegen zu lassen. Schweren Herzens verabschiedete ich mich und versprach ihn, auch auf seiner Party anwesend zu sein. Diese sollte genau eine Woche später wieder hier stattfinden. Sein Blick sagte mehr als tausend Worte, als ich ihn einfach stehen lassen musste, um nach Hause zu radeln. Gerade noch pünktlich kam ich ganz außer Puste zuhause an und schätzte mich glücklich, mich auf Omas Diskretion verlassen zu können. Die nächsten Tage waren schwer und wollten einfach nicht vorübergehen. So hörte ich oft Liebesballaden wie „Über 7 Brücken musst Du gehen“ in meinem Zimmer, um wenigstens in Gedanken bei diesem Traumtyp zu sein. Meine Phantasie malte sich schon wahre Wunderwerke von ihm aus und ich konnte dieses Wiedersehen kaum erwarten. Mein Herz litt unter Liebeskummer, obwohl ich nicht mal sicher war, dass meine Gefühle erwidert wurden. Meine Gefühle fuhren Achterbahn, ohne dass ich diesen Typ überhaupt kannte. Liebe auf den - 79 -


ersten Blick war mir bisher unbekannt, doch ab sofort hielt ich alles für möglich. Vor lauter rosa Wolken, hätte ich fast vergessen, dass bereits ein anderer daran dachte, mein Herz zu besitzen. Also beschloss ich, beim nächsten Treffen diesen Irrtum aufzuklären. Auf „zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen“ wollte ich nicht und es Dietmar verheimlichen, fand ich nicht fair. Mit schlechtem Gewissen, besuchte ich ihn an diesem Mittwochnachmittag und erklärte ihm meine Gefühle. Sicher war es enttäuschend für ihn verlassen zu werden, aber ich konnte nicht anders. Kurz bevor ich meinen Traumtyp sehen würde, beendete ich die Beziehung zu Dietmar. Eigentlich skrupellos, wie herzlos ich handelte, doch meine Gedanken kreisten unaufhörlich um diesen einen, so dass mir alles andere unwichtig vorkam. Logisch dass Dietmar gekränkt war, doch er rechnete es mir hoch an, ihm „reinen Wein“ eingeschenkt zu haben, ohne ihn vorher zu betrügen. Für die Zukunft versicherten wir uns gegenseitig gute Freunde zu bleiben. Dankbar nahm ich diesen Vorschlag an, denn wahre Freunde sind rar. Seine Freundschaft war mir sehr wichtig, denn er stellte ja unter anderem einen besonderen Mann in meinem Leben dar. Mein letztes Stündlein schlug und in wenigen Minuten würde ich „ihn“ wieder sehen. Die Freudensprünge meines Herzens waren durchaus mit Herzrhythmusstörungen zu vergleichen, als ich ihn erblickte. Das Lächeln - 80 -


seiner perfekt geformten Lippen galt tatsächlich mir und als er mich zur Begrüßung gleich freundschaftlich umarmte, spürte ich deutlich den knisternden Funken, welcher mein Herz entflammte. Ich war hin und weg von diesem Jungen, und sein Name „Joshua“, klang wie eine Melodie in meinen Ohren. Wir setzten uns nebeneinander aufs Gras und unterhielten uns unauffällig, wegen der anderen. Weil auf Partys gerade „Flaschendrehen“ in war und alle Welt dieses Spiel freudig begrüßte, kam es für mich in diesem Moment wie gerufen. Bei diesem Spiel wurde eine Flasche auf der Erde gedreht und derjenige auf dem sie beim Anhalten zeigt, sollte diejenige, die von der Flasche beim nächsten Mal ausgewählt wurde, küssen. Wie das Schicksal so spielt, hielt diesmal die Flasche bei Joshua an. Instbrünstig hoffte ich, während sie sich ein zweites Mal drehte, dass sie bei mir anhalten würde. Ob es Zufall war oder mein Wunschdenken kann ich nicht sagen, aber tatsächlich hielt diese Flasche wie durch Zauberhand, direkt vor mir. Zögernd, doch bestimmt, nahm mich Joshua in den Arm und küsste mich tief und zärtlich. Seine Lippen fühlten sich an wie ein weicher, warmer „Schokoladenpudding“, und mit Sicherheit, war dies der atemberaubendste Kuss meines Lebens. So hinreißend, dass es mir sogar ein wenig schwindelig wurde. Nicht nur seine roten Ohren verrieten mir, dass er meine Gefühle in diesem Moment erwiderte. Nach diesem Kuss machte mein Herz Freudensprünge, denn es sollte ab - 81 -


sofort nicht der einzige und letzte von ihm bleiben. Zu meinem Bedauern ist die Zeit an diesem Nachmittag wie im Flug vergangen und da ich ja wie üblich, pünktlich zu Hause sein musste, verabschiedete ich mich mit der Bitte, dass wir uns in einer Woche wieder sehen müssen. Wie ich allerdings diese, mir wie eine Ewigkeit vorkommenden Tage ohne ihn, überleben sollte, wurde mir erst in meinem Zimmer klar. Die Sehnsucht machte mich fast wahnsinnig, in meiner öden, lieblosen Umgebung, denn dieser eine Kuss war es, der mich ihm verfallen ließ. Als einzig rettenden Strohhalm meines damaligen Lebens sah ich ihn und so war ich erleichtert, als endlich diese fürchterliche Woche vergangen war, um ihn wieder zu sehen. Dass meine Eltern mir, meiner Meinung nach, nichts anmerkten, lag an ihrem Desinteresse in Gefühlsdingen und ihren vielen wichtigeren Dingen, die sie im Leben immer an erster Stelle setzten. Worüber ein so dummer Teenager in meinem Alter nachdachte und sich sorgte, kümmerte sie nicht im Geringsten. Ich zählte die Sekunden bis mein Vater das Haus verlassen hatte und fieberte meinem ersten Besuch bei Joshua zu Hause entgegen. Meine Finger zitterten, als ich den Klingelknopf der Haustür betätigte, doch als er freundlich öffnete und mich gleich seiner Mutter vorstellte, waren alle Befürchtungen wie weggeblasen. Überraschenderweise sind nicht alle Eltern so wie die eigenen! Sie war - 82 -


das genaue Gegenteil meiner Mutter, ruhig, gelassen, liebevoll und nahm sich alle Zeit der Welt. Vor allem hatte sie keinen Putzfimmel! Sogleich forderte sie mich auf, ich möchte mich doch zu ihr und Joshua, in die chaotisch aussehende Küche setzen. Diese Unordnung war ziemlich neu für mich, doch auf keinen Fall empfand ich es als unangenehm oder abstoßend, sondern fühlte mich einfach pudelwohl. Sie strahlte Geborgenheit aus und gab mir das Gefühl willkommen zu sein. Ich war schwer beeindruckt, denn mit so viel Wärme, hatte ich nicht gerechnet. In ihrer Küche stand eine große Nähmaschine, mit der sie sich als gelernte Schneiderin nebenbei ihr Taschengeld verdiente. Wir aßen einen selbstgebackenen Nusskuchen, dessen Geschmack mir heute noch auf der Zunge liegt und tranken Kaffee. Danach zeigte mir Joshua sein Zimmer im Obergeschoss des kleinen Reihenhauses und es wunderte mich, dass seine Mutter ganz und gar nichts dagegen hatte. Schließlich war ich diese Art von Erziehung und Besuche von Freunden nicht gewöhnt. Dieses Zimmer bestand aus einer einzigen großen Kuschellandschaft auf dem Boden, mit vielen Kissen, die er, wie er stolz berichtete, selbst gebastelt hatte. Außerdem gab es eine Stereoanlage darin, die er sogleich anschaltete und sich dann gemütlich auf dieser Kuschelecke platzierte. Überrascht und glücklich lümmelte ich mich neben ihn und wurde augenblicklich mit tausenden von Küssen überschüttet. Wir waren bis über beide - 83 -


Ohren ineinander verknallt, wie man zu sagen pflegte. Von nun an war auch ich ein Teil seines Lebens, welches mich mit wahnsinnigem Glück erfüllte. Unsere Treffen wiederholten sich ab sofort immer mittwochs und wurden von Mal zu Mal schöner, so dass ich mein Glück gar nicht fassen konnte. Doch mit der Zeit wurde die Sehnsucht einfach zu groß, um sich nur einmal wöchentlich zu sehen. Irgendwie musste uns da etwas einfallen! Die glorreiche Idee kam ihn eines Tages, mitten in der Nacht. Er war kein Traumtänzer, sondern setzte seine Wünsche in die Tat um, die ihn auf seiner geliebten „Kreidler“ zu mir fahren ließen. Ich staunte nicht schlecht, als ich von den Steinchen, die meine Fensterscheibe trafen, wach wurde und schlaftrunken nach draußen sah. Leise öffnete ich das Fenster und lugte verstohlen hinaus. Unter meiner Fensterbrüstung stand er grinsend und fröhlich wie immer. Mein Herz machte Freudensprünge bei seinem Anblick, dennoch konnte ich meinen Gefühlen keinen freien Lauf lassen. Fast wie in „Romeo und Julia“ fühlte ich mich in dieser Situation. Da ich Angst hatte entdeckt zu werden, flüsterten wir nur einige Minuten in sehr leisem Ton. Schade eigentlich, denn ich hätte ihm so viel zu erzählen gehabt. Doch im Zimmer nebenan schliefen meine Eltern, die das nächtliche Geschehen niemals erfahren durften. Hätten sie jemals davon erfahren, wäre alles kaputtgegangen und al- 84 -


lein die Vorstellung, war unerträglich für mich. Deshalb ließen wir es auf sich beruhen und verabschiedeten uns nach kurzer Zeit. In Gedanken würde ich ja bei ihm sein können bis wir uns wieder sähen. Diese nächtliche Aktion wiederholte sich von nun an immer öfter, doch irgendwann wollte er sich mit einer Unterhaltung nicht mehr zufrieden geben. Verständlicherweise! Wenn man frisch verliebt ist, möchte man jede Minute zusammen verbringen. Unsere Herzen schienen nur noch für den anderen zu schlagen und darauf zu warten, endlich wieder vereint zu sein. Diese sehnsuchtsvolle Warterei auf das nächste Treffen bereitete nicht nur mir qualvolle Stunden. Es war an der Zeit, dies zu ändern. „Beim nächsten Mal würde ich zu ihm hinuntergehen, koste es was es wolle“, dachte ich. Aufgeregt wartete ich, bis alle anderen schliefen und lauschte mit geöffnetem Fenster den Tönen der Nacht. Da vernahm ich es, das dumpfe Geräusch seines auffrisierten Mopeds, dessen Klang man kilometerweit hören konnte. Zitternd vor Aufregung schlich ich mich vorbei am Schlafzimmer meiner Eltern. Ich wagte es kaum zu atmen, als ich mich sachte den langen, dunklen Flur entlang bewegte. Am Treppengeländer hangelte ich mich lautlos ins Kellergeschoss, während mein Herz mir bis zum Halse schlug. Nun musste ich erst einmal kräftig durchatmen, bevor ich ein Kellerfenster öffnete. Durch das zwängte ich mich nach Draußen, denn schließlich war ich nicht im Besitz eines Hausschlüssels. Dieses Fenster ließ ich spalt- 85 -


breit geöffnet, um später wieder unbemerkt hinein zu gelangen. „Endlich frei“, schien lautlos mein Innerstes zu schreien, als ich die frische Luft der Nacht in mich einsog. Selbstbewusst wunderte ich mich über mich selbst, dass ich diesen Schritt gewagt hatte. Mein Mut erstaunte auch Joshua, als er mich leibhaftig vor sich sah und mich verdutzt in die Arme schloss. Freudig warf er mich in die Luft und begrüßte mich begeistert. Seine minutenlangen Küsse, die der Begrüßung folgten, machten mich fast wahnsinnig und süchtig nach mehr. Fast eine geschlagene Stunde standen wir nun hier und nur der Mond war Zeuge unserer heimlichen Liebe. Nicht nur ich bedauerte es, dass die Zeit so schnell vergangen war und mein Gefühl appellierte, dass ich besser gehen sollte. Nach einer unendlich langen Verabschiedung, begab ich mich vernünftigerweise wieder auf den Rückweg. Vorsichtig und leise schlüpfte ich durchs Kellerfenster und schlich mich in mein Zimmer. Aufatmend winkte ich ihm ein letztes Mal aus meinem Fenster zu. Nachdem alles „wie am Schnürchen“ funktioniert hatte, beschlossen wir das Vorangegangene zu wiederholen. Nun endlich, schien sich eine Möglichkeit aufzutun, die es erlaubte, uns so oft zu sehen, wie wir wollten. Dennoch ging mir die absurde Erziehung meiner Eltern ziemlich auf den Keks. Trotz meines Alters wurde mir noch immer nicht erlaubt, Freunde einzuladen, geschweige denn - 86 -


alleine auszugehen. Deshalb war ich regelrecht gezwungen, die Interessen einer Jugendlichen heimlich zu verfolgen. Meine Heimlichtuerei war zwar riskant, machte aber andererseits Spaß und lohnte das Verbotene zu tun. Diese Art von Vergnügen hätte ich in diesem Sinne gar nicht kennen gelernt. Vielleicht hätte ich auch das Ganze nicht so sehr genossen, wenn alles erlaubt gewesen wäre, wer weiß? Aber eines wusste ich genau, es war ungemein stressig und aufregend, nicht entdeckt zu werden. Außerdem erforderte es viel Mut und Geschick meinen „inneren Schweinehund“ zu überwinden - … doch was tut „Frau“ nicht alles, wenn sie die erste Liebe erfährt? Für „ihn“ hätte ich die Sterne vom Himmel geholt … Unsere nächtlichen Treffen wiederholten sich nun ständig und meine Risikobereitschaft stieg. Das lag auch daran, dass ich gern etwas mit ihm unternommen hätte und für einige Stunden mit ihm zusammen zu sein. Wie sooft zuvor wartete er im Dunkeln, vor dem Haus meiner Eltern auf mich. Pochenden Herzens umarmte ich ihn und flüstere in sein Ohr, dass ich es diesmal wagen wollte, mit zu ihm zu fahren. Alles ohne ihn schien so sinnlos, nur er war in der Lage, Farbe in mein Leben zu bringen. Kurzentschlossen stieg ich auf sein Zweirad und umklammerte fest seine schmalen Hüften. Einen kurzen Augenblick meldete sich mein Gewissen, doch der frische Fahrtwind, der mir um die Nase blies, schien die Angst hinfort zu nehmen. Bei ihm angekommen, tappten wir leise durch den - 87 -


Garten, um uns durch den Hintereingang, in seinen Partykeller zu schleichen. Dieser Raum war sein größter Stolz, denn er hatte ihn eigenhändig mit Holz vertäfelt und urgemütlich eingerichtet. Seine Eltern hatten nichts dagegen, dass er ab und zu einmal eine Fete in diesem Raum gab oder mich zu sich einlud. Trotzdem hatten wir zu so später Stunde, ein mulmiges Gefühl. Wie Kinder, die heimlich „die Kirschen aus Nachbars Garten“ stibitzten. Eng umschlungen machten wir es uns auf der gemütlichen Kuschelcouch bequem und zündeten eine Kerze an. Aus dem Plattenspieler ertönten Lovesongs von den „Beatles“, zu denen es sich prima schmusen ließ. Unsere Gefühle sorgten für die nötige Stimmung, um unsere Körper eins werden zu lassen. Zum ersten Mal empfand ich das kribbelnde Verlangen, das Freude und Lust in mir entfachte. Das schönste aller Gefühle, wenn zwei Menschen sich liebten und zwar im vollkommenen Sinne. Die Betonung lag auf liebten, nicht nur in sexueller Hinsicht, denn als das Lied „A whiter pale of shale“ ertönte, flüsterte er mir „Ich liebe Dich“ ins Ohr. Es waren für mich die schönsten Worte, die ich je hörte, nach denen sich mein Selbst so lange gesehnt hatte. Ab sofort ließen sich die Worte „Glück und Liebe“ auch für mich definieren und mich im siebten Himmel schweben. Dieses Lied war ab sofort unser Lied und es berührte mich auf seltsame Weise, weil ich es seitdem mit - 88 -


ihm in Verbindung bringe. Leider ging diese Nacht viel zu schnell vorbei, und es war Zeit zum Abschiednehmen. Liebestrunken und glücklich zugleich brachte er mich nach Hause, als die ersten Sonnenstrahlen den Himmel durchdrangen. Bis über beide Ohren verliebt und vollem frohen Mut, schwebte ich durch meinen heimlichen Schleichweg in mein Zimmer. Von nun an konnte mich niemand und nichts daran hindern, meiner Liebe zu ihm freien Lauf zu lassen. Ich liebte ihn so sehr, dass das bloße Gefühl, Herzschmerzen verursachte. Meine Gedanken drehten sich nur noch um ihn, alles andere wurde nebensächlich in meinem Leben. Wen wundert es da, dass auch meine schulischen Leistungen darunter litten? Plötzlich war ich nicht mehr die Musterschülerin, die immer nur sehr gute Leistungen brachte. Doch anstatt zu hinterfragen, was denn mit mir los war, bestraften mich meine Eltern mit Prügeln oder Extraarbeiten. Vielleicht ist ihnen sogar die Idee gekommen, dass ich einen Freund haben könnte. Um das Eventuelle zu unterbinden, wurde nun jeder meiner Schritte kontrolliert und meine Zimmertür allabendlich von Außen verschlossen. Solche Flausen würde mein Vater mir schon austreiben, solange ich meine Füße unter seinen Tisch streckte. Er versuchte sogar, mein gerade gewonnenes Selbstvertrauen zu zerstören, indem er mich weiterhin als Versagerin abstempelte. Nun schien ich - 89 -


ihn ja genügend Grund dazu zu geben! Schlechte Schulnoten und dass ich mit dem Akkordeonspielen fast aufgehört hatte, konnte er weder verkraften noch akzeptieren. Es mag ja sein, dass ich ihm seinen Traum genommen hatte, doch war das noch lange kein Grund, sein eigenes Kind zu manipulieren, tyrannisieren oder gar als Versager zu beschimpfen. Versagt haben meiner Meinung nach nur meine Eltern! Ihren ganzen Frust ließen sie an mir aus und hielten mich wie im goldenen Käfig, anstatt die nötige Liebe und Geborgenheit ihrem Kind zu schenken. Der Sinn des Lebens liegt wohl in der Liebe und da ich sie nie durch meine Eltern erfahren hatte, lernte ich ihre wahre Bedeutung erst durch Joshua kennen. Aufgrund dessen war ich ihm so richtig verfallen und tat alles, um ihn nicht zu enttäuschen. Eines dieser Dinge war auch, dass ich ab und zu die Schule schwänzte, um einen Vormittag mit ihm zu verbringen oder um andere wichtige Dinge zu erledigen. Dazu zählte auch, das erste Mal einen Frauenarzt zu konsultieren, um mich über weitere Verhütungsmethoden zu informieren. An einem Mittwochnachmittag konnte ich dies nicht erledigen, weil alle Ärzte in dieser Zeit geschlossen hatten. Trotz meiner Panik, die logischerweise in Gegenwart eines Arztes aufkam, begab ich mich mit einem mulmigen Gefühl in das Wartezimmer dieses Frauenarztes, in dem außer mir, keine weiteren Patientinnen saßen. Seine Praxis lag in einem alten Haus in der Innenstadt, die - 90 -


mir von einer Schulkameradin empfohlen wurde. Mutig nahm ich in dem abgedunkelten Raum Platz, der grauenhaft medizinisch roch. Die Sprechstundenhilfe nahm meine Personalien auf und erkundigte sich nach dem Datum meiner letzten Menstruation. Irgendwie peinlich antwortete ich ihr, ohne zu wissen, welchen Zweck diese ganze Fragerei hatte. Im gleichen Moment ertönte eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher, der über der Tür des Behandlungszimmers befestigt war und nannte meinen Namen. Mit zittrigen Händen öffnete ich die Tür und ging langsam hinein. Ein netter älterer Mann in Weiß und einer Zigarette im Mundwinkel, schüttelte mir freundlich die Hand und bat mich Platz zu nehmen. Er wollte wissen, ob ich jemals bei einem Frauenarzt gewesen war und welche Probleme ich hätte. Natürlich war es mir ein bisschen peinlich, einem wildfremden Mann zu sagen, dass ich die Pille verschrieben haben möchte. Sein verständnisvoller Blick gab mir jedoch den Mut, den ich für die bevorstehende Untersuchung nötig hatte. Mit ruhiger Stimme erklärte er mir, dass ich mich zu diesem Zweck in der Umkleidekabine frei machen sollte. Mit hochrotem Kopf stieg ich voller Unbehagen auf den mir seltsam vorkommenden Untersuchungsstuhl. Voller Scham lag ich da in meiner Nacktheit und hoffte, dass es bald vorüber sein würde. Mutig harrte ich aus, denn schließlich wollte ich ja unbedingt die „Pille“ haben. Der Arzt meinte, ich soll ganz locker bleiben, als er mich mit - 91 -


einem kalten, metallenen Vaginalinstrument untersuchte. Gleichzeitig tastete er meinen Bauch ab und fragte mich, woher ich die große Bauchnarbe hätte. Als er erfuhr, dass ich vor vielen Jahren einen Darmverschluss hatte, beendete er die Untersuchung und bat mich, wieder in meine Klamotten zu schlüpfen. In der Zwischenzeit telefonierte er mit dem Krankenhaus, um nähere Informationen über mich einzuholen. Wieder angezogen und ihm gegenüber sitzend, bemerkte ich ein Stirnrunzeln, während er medizinische Fachausdrücke mit seinem Telefon-Partner austauschte. Nach Auflegen des Hörers teilte er mir mit, dass er mir die Pille nicht verschreiben könnte oder besser gesagt, ich die Pille gar nicht bräuchte. Verwundert und enttäuscht zugleich, wollte ich die Gründe dafür erfahren, denn ich hatte es satt, auf andere Verhütungsmittel auszuweichen, wo es mit der Pille doch so einfach wäre. Mitleidsvoll sah mich der Frauenarzt nun an, so als ob er mit mir fühlen würde. Vorsichtig teilte er mir nun mit, dass ich mit 99%iger Sicherheit keine Kinder bekommen könne. Seine Meinung wäre durch das Telefonat mit dem Krankenhaus, lediglich bestätigt worden. Durch meine damalige Operation wären irreparable Verletzungen und Verwachsungen an der Gebärmutter aufgetreten, die eine Kinderlosigkeit zur Folge hätten. Geschockt nahm ich diese Tatsache zur Kenntnis und verabschiedete mich gleichzeitig etwas erleichtert. Ein Kinderwunsch in meinem Alter war völlig absurd und somit versuchte ich - 92 -


die Gegebenheit zu verdrängen. Eigentlich war es ganz praktisch, nun auf die Verhütung keinen Wert mehr legen zu müssen. Vor allem würden mir die leidlichen Frauenarztuntersuchungen vorläufig erspart bleiben. Das war die Hauptsache, denn über „ungelegte Eier“ würde es noch genug Gelegenheit geben, sich den Kopf zu zerbrechen. Weil ich mit meinen Eltern, wie man sich denken kann, nie über solche Themen redete, hütete ich mich, einen Ton davon verlauten zu lassen. Vielleicht wussten sie ja diese Tatsache schon lange und hielten es nicht für nötig, sie mir zu dieser Zeit schon mitzuteilen. Aber egal, nun konnte ich mich danach richten und brauchte keine weiteren Krankenscheine mehr von meinen Eltern zu stibitzen. Ein für ein Quartal gültiger Krankenschein, hatte nur Gültigkeit mit der Unterschrift des Versicherungsnehmers. Weil meine Mutter nie eingewilligt hätte, mir für einen Frauenarztbesuch einen auszustellen, unterschrieb ich kurzentschlossen mit ihrem Namen, für diese Untersuchung. Mein schlechtes Gewissen erinnerte mich zwar, dass dies nicht richtig war, doch was sollte ich denn tun? In meiner Not, sah ich mich zu solchen Mitteln regelrecht gezwungen, obwohl dies Joshua nicht befürwortete. Er glaubte tatsächlich, dass es besser gewesen wäre, mit meiner Mutter zu reden. Er hat leicht reden, denn er kannte ihr wahres Gesicht ja nicht, das keinesfalls mit dem seiner Mutter vergleichbar war. Aber was soll’s, ich konnte nur darauf hoffen, dass es nicht aufflog. - 93 -


Natürlich hatte ich ihm auch von dem Ergebnis meiner Untersuchung und deren traurigen Wahrheit berichtet. Joshua bedauerte zwar, dass ich keine Kinder bekommen könne, doch tröstete mich mit liebevollen Worten und Gesten. Zum jetzigen Zeitpunkt würde dies für ihn noch keine so große Rolle spielen und wenn es mal soweit wäre, würde er sicherlich eine für uns passende Lösung finden. Schließlich gäbe es ja außer Kindern auch noch andere Gemeinsamkeiten, die unser Leben erfüllten und es lebenswert machte. Wir hörten dieselbe Musik, bastelten beide gern an Mopeds, obwohl meine Aufgabe mehr darin bestand, das Chrom auf Hochglanz zu polieren, genossen die Natur, mochten Tiere, hatten beide die verrücktesten Ideen, feierten gerne spontane Feste, wozu braucht man da noch Kinder? Na eben! Wir genossen das Leben in vollen Zügen und liebten uns von ganzem Herzen. Sogar einem Sport sind wir nachgegangen und spielten mit Begeisterung Billard, eine unser beider Lieblingsbeschäftigung. Dazu trafen wir uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit in unserer Stammkneipe „Theka“. Diese Kneipe strahlte eine gewisse Warmherzigkeit aus, wenn man davon absah, welche skurrilen Gestalten unter anderem darin verkehrten. Die gemütlichen Uraltsofas luden zum Kuscheln ein und der Sohn der Wirtin legte immer die allerneusten Musikplatten auf. Ab und zu traten dort auch mal Live-Gruppen auf, bei deren Abenden echt die Hölle los war. Die Wirtin verstand - 94 -


die Probleme der Jugendlichen, drückte gerne einmal wegen des Alters ein Auge zu und servierte den besten KäseToast mit Zwiebeln, den ich je gegessen hatte. Als ich mich wieder einmal eines Morgens wegen „Schule blaumachen“ in der Theka aufhielt, ereignete sich etwas sehr Unangenehmes für mich. Zur damaligen Zeit war es strafbar, sich als Jugendlicher unter 16 Jahren, in derartigen Kneipen aufzuhalten und deshalb gab es ab und an Polizeikontrollen. Und wie das Schicksal spielt, sollte es an diesem Tag wieder eine geben. Nachdem der Polizeiwagen sichtbar vorgefahren war, schubste mich die Wirtin sofort in das Hinterzimmer der Kneipe, um mir Schutz zu gewähren oder auch um ihr Gewissen rein zu halten. Ich lauschte und bekam mit, dass die Polizisten eine Jugendliche suchten, die laut ihren Angaben nur ich sein konnte. Die Wirtin wimmelte sie mit einem Bedauern ab, schlug ihnen jedoch vor, doch einmal bei meinem Freund Joshua, Ausschau nach mir zu halten. Tausend Gedanken gingen mir nun durch den Kopf, denn wie sollte die Wirtin denn wissen, dass unsere Freundschaft geheim gehalten werden musste. Mit Sicherheit würden meine Eltern nun von meinen „Straftaten“ mit der Schule und dann auch noch von meinem Freund erfahren. Pech für mich, bekanntlich haben „Lügen kurze Beine“, oder? Am liebsten wäre ich in den Boden versunken, vor Angst was nun auf mich zukommen würde. Mit Tränen in den Augen bedankte ich mich bei der Wirtin für ihre Loyalität und berichtete ihr von - 95 -


meinen Sorgen. „Na, den Kopf wird man dir schon nicht abreißen“, ermutigte sie mich und forderte mich auf, doch tapfer zu sein und nach Hause zu gehen. Sie konnte ja nicht wissen, wie engstirnig meine Eltern über solche Sachen dachten und so machte ich mich mit Gewissensbissen auf den Heimweg. „Irgendwann würde ja die Wahrheit ans Licht kommen müssen“, dachte ich und fürchtete mich vor den nächsten furchterregenden Augenblicken, in denen ich meinen Eltern unter die Augen treten musste. Und meine Befürchtungen sollten sich bewahrheiten, denn in dem Moment, als ich auf dem Absatz unserer Haustür stand, riss meine Mutter diese auf und klatschte mir mit aller Wucht mitten ins Gesicht. Meine Nase fing an zu bluten, doch das Schlimmste war, ihre Beschimpfungen zu ertragen, die sie mir hysterisch entgegen warf. „Du Schlampe, Du Hure, Du Versager“, schrie sie in einer LautStärke, dass ihre Stimme fast überschnappte. Ich konnte nur regungslos und stumm dastehen und die verletzenden Worte an mir abprallen lassen, unfähig mich zu wehren. Mein Vater, der mich ins Haus zerrte, war außer sich vor Wut. Er verprügelte mich und beschimpfte mich, in einer für wahr unbeschreiblichen Form. Ab sofort sah er mich als missratenes Kind, das nicht mehr würdig war, sich seine Tochter zu nennen. Es wäre für ihn leichter zu verdauen gewesen, wenn ich damals bei meiner Operation gestorben wäre, als die Familie - 96 -


in so schlechten Ruf zu bringen. Kalt und herzlos äußerte er, dass die Blutkonserven die mir verabreicht wurden, mit Sicherheit von einem Verbrecher gestammt haben müssen. Wie konnte er seinem eigenen Kind solche Worte an den Hals werfen? Ich wusste keine Antwort darauf und litt stillschweigend. Die Leere der Gefühle meinen Eltern gegenüber, war das Einzige was ich wahrnahm. Wahrscheinlich verstünde ein Außenstehender den Tobsuchtsanfall meiner Eltern nicht und hätte ihn falsch beurteilt, weil sie nur den äußeren Schein der Gesellschaft wahrten. In dieser gaben sie sich immer nett, höflich und Ansehen erstrebend, doch wie es „hinter den Kulissen“ aussah, ging niemanden, außer ihnen selbst, etwas an. Zurück zu mir und den rabenschwärzesten Tag meines bisherigen Lebens. Was an jenem Tag aufgedeckt wurde, waren eigentlich nur unglückliche Zufälle der Ereignisse, doch für mich eine einschneidende Veränderung meines Denkens. Zuallererst fragte die Musiklehrerin meiner Schule bei meinen Eltern, zwecks meines Fehlens nach. Es wäre mit der Zeit auffällig geworden, da ich zwar eine Entschuldigung hatte, aber mich in der Abschlussklasse befand, deren Klassenzielerreichung gefährdet war. Meine Mutter überzeugte sich persönlich, dass die Unterschriften der Entschuldigungen gefälscht waren. Niemals hatte sie etwas Derartiges für mich geschrieben. Die Blöße die sich für sie dadurch ergab, weckte natürlich ihren Zorn und befürwortete ihr Verhalten mir gegenüber. Keine Ahnung - 97 -


wie ich reagiert hätte, wenn ich in ihrer Lage gewesen wäre. Sicher auf eine andere Art wie sie, aber die Enttäuschung über „mein Kind“ hätte mich durchaus wachgerüttelt. Doch damit nicht genug! Außerdem erwartete eine andere Lehrerin einen Unfall-Bericht und ein Schuldeingeständnis meinerseits, wegen ihres beschädigten Autos. Ihre „Ente“ war nämlich von mir, mittels eines Mofas, auf dem Pausenhof angefahren worden und sie wartete auf oben Erwähntes. Der Clou an der Sache aber war, dass das Mofa nicht einmal mir gehörte, sondern einer Klassenkameradin, die es mir für eine Probefahrt geliehen hatte. Natürlich forderte man nun von mir, für die Reparatur des beschädigten Mofas aufzukommen. Bisher hatte ich wohlwissend verschwiegen, woher meine gequetschten Fingernägel und die Bauchschramme, samt der blauen Flecken stammten. Die Wunden zog ich mir beim Aufprall zu, bei dem sich mir der Mofalenker in den Bauch stemmte und mir die Handbremse die Finger einquetschte. Pure Angst und Gewissensbisse zwangen mich zu einer Notlüge, die mir für die Verletzungen passend erschien. Auch diesmal hatten Lügen kurze Beine und ich war die Gelackmeierte, die nun alles ausbaden musste. Weiterhin wurde aufgedeckt, dass ich beim Rauchen erwischt worden war, sowie in dieser verruchten Kneipe öfter verkehren würde. Diese ganzen Sachen und - 98 -


Strafen, hätte ich schon irgendwie verdaut, doch als das einzige, was mir am Herzen lag, auch noch aufflog, wäre ich am liebsten gestorben. Durch das Auffliegen meiner Freundschaft zu Joshua, wurde mir jedoch mein derzeitiger Sinn am Leben genommen. So, als ob man mir bei lebendigen Leib das Herz herausgerissen hätte. Sicherlich kamen da viel zu viele Streiche auf einmal ans Licht, weil meine Eltern bis dato ein ganz anderes Bild von ihrer Tochter hatten. Verständlicherweise stürzte an diesem Tag in ihnen eine Welt zusammen, an der ich zugegebenermaßen nicht ganz unschuldig war. Doch anstatt endlich aufzuwachen, machten sie alles für beide Seiten nur noch schlimmer. Schlimmer geht’s nicht, würde sich manch einer denken. Oh doch! Denn ein winzig kleiner Tropfen schien noch zu fehlen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Dieser Tropfen hieß Mutter, die mit Polizeischutz wie eine Furie, in das Elternhaus von Joshua eindrang, um mich zu suchen und mir jeglichen Umgang mit „Asozialen“, wie sie sich ausdrückte, zu untersagen. In ihrer Wut urteilte sie kopflos über Menschen, die sie gar nicht kannte. Aber das war ja nichts Neues für mich und genau deshalb sollte sie niemals von meiner Freundschaft zu Joshua erfahren. Über das Verhalten meiner Mutter waren Joshuas Eltern sehr schockiert, wie ich später erfuhr. Gut, dass sie mich schon eine Weile kannten und mich nur bedau- 99 -


erten, dass ich eine so egozentrische Mutter hätte. Ich schämte mich für ihr Verhalten, das für mich als ein Zeichen von Schwäche und eigenes Versagen galt. Die „nackten Tatsachen“ des heutigen Tages und meine miserablen Schulleistungen, trieben meine Eltern zu immer größeren Verboten und Vorschriften mir gegenüber. Was auf der einen Seite auch zu verstehen war, aber trotzdem für mich als unmenschlich galt. Ab sofort galt für mich strenges, überwachtes Lernen von einer Nachhilfelehrerin und ein Leben mit elterlicher Verachtung mir gegenüber, so, als ob ich gar nicht vorhanden war. Striktes Ausgehverbot, welches soweit ging, dass ein Elternteil mich zur Schule brachte und auch wieder abholte. Bei jeder Widersetzung oder Lüge, drohten mir eine Tracht Prügel. Tägliches Üben des Akkordeons von mehr als drei Stunden, und sämtliche Türen im Haus nachts zu verschließen, waren einige der Strafen. Auf dass ich nun endlich zur Besinnung kommen würde und über meine Missetaten nachdenken konnte. Das Schrecklichste aber war, mir jeglichen Umgang mit Joshua strengstens zu untersagen. Nachdem ich ihm am Telefon unter Tränen alles mitteilte, meinte er, dass ihm schon was einfallen würde, um mich aus der Misere zu retten. Egal was geschehen war, würde er zu mir halten. Seine tröstenden Worte waren es wohl, die mich tapfer weiter kämpfen ließen, um meinen täglichen Anforde- 100 -


rungen Kraft zu verleihen. Wäre er nicht mein einziger Hoffnungsschimmer gewesen, hätte es für mich wohl keinen weiteren Lichtblick gegeben. Auch wenn mein einziger Draht zu ihm das Telefon war, das ich wie besagt, nur mittwochs ungestört verwenden konnte. Weil ich diese Mittwoche mit meinen Vater in Verbindung bringe, fühle ich fast ein wenig schuldig, dass er sich ungefähr von diesem Tag an, sichtlich veränderte. Irgendwie hatte ich seinen Ruhm zerstört und deshalb versuchte er, seinen verletzten Stolz oder auch Kummer, wie man es nennen mag, im Alkohol zu ertränken. Genau am Höhepunkt seines beruflichen Erfolges seiner perfekt geschaffenen Welt. Er hatte viele Schüler, Konzerte, Reisen, ein schuldenfreies Haus, ein Geschäft, genug Geld, zwei Autos, eine Frau und drei gesunde Kinder. Leider war ihm eines, also ich, aus dem Rahmen gefallen und drohte seine Scheinwelt zu zerstören. Dieses Unperfekte fand einfach keinen Platz in seinem irrationalen Denken, vermutete ich und verursachte meinerseits durchaus Gewissensbisse. Denn meine Erziehung ließ mich so eingeschüchtert und verängstigt denken, dass ich bei mir die Schuld suchte. Vaters Reaktion war durchaus mit dem Sprichwort: „Wenn es dem Esel zu gut geht, geht er aufs Eis“, vergleichbar. Sicherlich hatte er schon immer ab und zu etwas Alkoholisches getrunken, denn wer tut das nicht, aber bei ihm artete es aus und wurde zur unkontrollierbaren Sucht. - 101 -


Nun stieg er auf „harte Drogen“ um und konsumierte flaschenweise Cognac und Bier. Die leeren Flaschen deponierte er an unmöglichen Plätzen im Haus, in der Hoffnung, dass meine Mutter sie nicht finden würde. Auf Alkohol war sie nicht gut zu sprechen und je weniger sie das akzeptierte, umso mehr trank er. Es war der Anfang eines unendlichen Teufelskreises, welcher mir ganz schön zusetzte, mich aber auch unheimlich abschreckte. Und deshalb schwor ich mir, auf Alkohol bis auf wenige Ausnahmen zu verzichten. Niemals wollte ich in so eine Abhängigkeit geraten wie er. Er war Vorbild und Abschreckung zugleich. In seinem betrunkenen Zustand durfte man ihm nicht zu nahe kommen, denn er beschimpfte und verprügelte jeden, der ihm in die Quere kam, was auch meine Mutter des Öfteren zu spüren bekam. Ich würde ihn jedoch zu diesem Zeitpunkt noch als „Quartalssäufer“ bezeichnen, denn während seiner Arbeit trank er nicht oder nur so wenig, dass man ihm seinen Zustand nicht anmerkte. Trotz dieser schlimmen Umstände, wollte ich mein Leben so gut es ging weiterleben und setzte nun alles daran, meine Mittlere Reife doch noch zu bestehen. In Physik, Geschichte und Chemie waren meine Leistungen so schlecht, dass ich den gesamten Jahresstoff in einer Prüfung, die der Direktor persönlich überwachte, absolvieren sollte. Diese Fächer fand ich so unsinnig, dass ich nie dafür gelernt hatte. Nun musste ich die vier Wochen Zeit nutzen, um mein - 102 -


Versagen auszubügeln und fing an, das erste Mal in meinem Leben für diese Prüfungen zu lernen. Normalerweise hielt ich Lernen für absolute Zeitverschwendung, denn bisher fiel es mir immer leicht, gut in der Schule mitzukommen. Aber wenn man öfter dem Unterricht nicht beiwohnte, wie ich, kennt man sich im Stoff nicht mehr aus. Überhaupt, wo ich ganz andere Flausen im Kopf hatte, als diese langweiligen, unbrauchbaren Fächer. Entgegen jeder Erwartung, war ich jedoch gut vorbereitet und bestand diese Prüfungen mit sehr guten Zensuren. Somit hatte ich das Klassenziel doch noch erreicht und durfte auf der Abschlussfeier mein Mittlere Reife Zeugnis, erleichtert in Empfang nehmen. Dieses bestandene, aber keinesfalls perfekte Zeugnis hielt ich natürlich auch meinem Vater unter die Nase, der vorher wie üblich behauptet hatte, dass ich Versagerin es sowieso nicht schaffen würde. Doch anstatt eines anerkennenden Blickes, zerriss er kurzentschlossen dieses wichtige Dokument in tausend Fetzen, weil es nicht gut genug für ihn war. Beschämt und frustriert musste ich mir am nächsten Tag in der Schule die Blöße geben und ein Ersatzzeugnis ausstellen lassen, mit der Ausrede, dass meine kleine Schwester dieses Papier versehentlich in die Hände bekommen hatte. Die Wahrheit traute ich mich vor Scham nicht zu sagen, denn wie hätte ich vor allen anderen dagestanden?

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Weil in meiner Jugend die Lehrstellensuche noch nicht so schwierig war, schrieben wir in der Klasse, gegen Ende des letzten Schuljahres erst unsere Bewerbungen. So kam es, dass einige Mitschülerinnen und auch ich, an eine große Firma eine Bewerbung, zwecks einer kaufmännischen Ausbildung schickten und zu mehreren Eignungsprüfungen eingeladen wurden. Diese Prüfungen sollten aus ca. 200 Bewerbern die besten herausfiltern, die letztendlich einen Ausbildungsplatz erhalten sollten. Sie waren so ähnlich wie IQ-Tests aufgebaut, denn genau das sollten diese Prüfungen auch widerspiegeln, um dadurch die Schüler mit den höchsten IQs heraus zu picken. Es waren insgesamt fünf Tests, an jedem folgenden durfte man nur teilnehmen, wenn man den vorherigen bestanden hatte, so eine Art Aussiebungs-Prinzip. Das alles fand ich ziemlich spaßig und nahm es locker, denn ich hatte ja nichts zu verlieren und war schließlich unter den letzten 20, bis zum allerletzten Test durchgekommen. Selbst über mich erstaunt, bestand ich auch diesen und konnte es kaum glauben, als ich meinen dadurch errechneten IQ von 160 erfuhr. Das konnte doch gar nicht sein, die müssen sich doch gewaltig geirrt haben, denn ich war es doch, das unperfekte Mädchen, die Versagerin, wie es mir im Hinterkopf dämmerte. Dass ich mich wirklich unter den fünf einzustellenden Lehrlingen zur Industriekauffrau befinden sollte, glaubte ich erst, als ein großer Briefumschlag dieser Firma, in den nächsten Tagen für - 104 -


mich zu Hause ankam. Mit einer Selbstverständlichkeit, wurde dieser, an mich adressierte Umschlag, dann von meiner Mutter geöffnet, wie sie das immer tat, denn ein Briefgeheimnis betreffend der Kinder-Post, gab es in unserem Hause nicht. Über den Inhalt dieses Briefes, nämlich den Lehrvertrag, welcher von meinen Eltern zu unterschreiben wäre, wurde allerdings kurzer Prozess gemacht. Denn die hatten schon andere Pläne für mich, die sie von niemand kreuzen ließen, erst Recht nicht von einer Lehre, die sie nicht befürworteten. Nicht einmal diese Testergebnisse, von deren Identität sie durch diesen Brief unterrichtet wurden, konnten sie beeindrucken, geschweige denn umstimmen. Außerdem wollten sie in jedem Fall unterbinden, dass ich diesen Joshua wieder begegnen würde, der laut ihrem Wissen auch bei dieser Firma beschäftigt war, denn solange ich meine Füße unter ihrem Tisch hatte, musste ich das tun, was von sie von mir verlangten. Was sie zu diesem Zeitpunkt zu meinem Glück nicht wussten war, dass meine Beziehung zu Joshua noch immer bestand. Dies wurde ihnen erst bewusst, als dieser mich entgegen meiner Warnung, eines Abends zu Hause aufsuchte. Er konnte es einfach nicht länger mit ansehen, dass ich mich so behandeln lassen musste und wollte ein klärendes Gespräch mit meinen Eltern führen. Wie er glaubte, müsse doch auch mit solchen Menschen zu reden sein und ließ sich von seinen Vorhaben nicht abhalten. Also klingelte er an diesem Abend an unserer Haustür, gut - 105 -


angezogen, mit einem Blumen-Strauß für meine Mutter, in der Hoffnung eingelassen zu werden. Mein Vater öffnete die Tür, doch bat ihn nicht herein, sondern ließ ihm im Hausgang stehen, um ihn sofort mit Beschimpfungen einzuschüchtern. „Das ist ja wohl der Gipfel, eine Frechheit, sich auch noch hier her zu trauen“, schrie er ihn an. Seine Tochter würde sich nicht mit Asozialen abgeben und was er denn überhaupt noch von mir wolle, nachdem er mir den Umgang mit ihm strikt verboten hätte! Mittlerweile hatte sich auch meine Mutter teilnahmslos dazugestellt, doch verriet mir ihr enttäuschender Gesichtsausdruck mehr als tausend Worte. „Vielleicht sollte ich etwas zu unserer Verteidigung vorbringen“, schoss es mir durch den Kopf, rannte zu Joshua und stellte mich in meiner Verzweiflung schützend vor ihn. So schnell, wie ich den Schlag ins Gesicht bekam, konnte ich gar nicht reagieren, geschweige denn der Worte folgen, die mir mein Vater soeben zurief, die mit Sicherheit nicht nur obszön galten, sondern auch so gemeint waren. Als Joshua einschreiten wollte, drängte ihn mein Vater mit einer Wucht weg, hinaus zur Tür und knallte sie ihm mit den Worten: „In meinem Haus herrschen Zucht und Ordnung“ vor der Nase zu. Tränenüberströmt und zitternd vor Wut suchte ich Schutz bei meiner Mutter, doch als ich mich verzweifelt bei ihr anlehnen wollte, drückte sie mich mit einem Schubs weg. Sie strahlte auf mich so eine erschreckende Kälte aus, die auch ich in so einem Moment nicht für - 106 -


möglich gehalten hätte, obwohl ich schon sehr viel gewöhnt war. „Warum hatte so eine Frau jemals Kinder in die Welt gesetzt?“, fragte ich mich. „War sie denn niemals in meinem Alter?“, oder hatte sie Ähnliches oder Schlimmeres erlebt, um so verbissen und kaltblütig zu werden? Ich wusste es nicht und wollte es auch vorläufig nicht herausfinden. Obwohl ich mit dieser Reaktion nicht gerechnet hatte, versuchte ich noch immer die Gefühle einer Mutter in ihr zu finden. Das Gute in einem Menschen muss doch ausfindig zu machen sein. Doch dafür war es der falsche Zeitpunkt! Denn auch ich hatte vorläufig mein eigenes Päckchen zu tragen, mit Joshua und den weiteren Plänen, die meine Eltern schon für mich zurechtgeschmiedet hatten. Diese Pläne sahen vor, dass ich meine Lehre nicht in vorher erwähnter Firma anfangen sollte, nein, sondern entweder Musik an einem weit entfernten Konservatorium studieren oder im elterlichen Geschäft Einzelhandelskauffrau lernen sollte. Zugegeben keine große Auswahl und eine zermürbende Aussicht, doch blieb mir eine andere Wahl? Schließlich war ich erst 16 Jahre alt und noch auf mein elterliches Zuhause angewiesen. Die erste Variante, das Studieren, verweigerte ich, schon allein wegen der örtlichen Trennung von Joshua und auch darum, weil ich auf gar keinen Fall Musiklehrerin werden wollte. Ein Studium an einer Kunstschule für Grafik hätte ich liebend gerne vorgezogen, doch da die „brotlose Kunst“, wie mein Vater sie bezeich- 107 -


nete, nicht von ihm unterstützt werden würde, entschied ich mich für das Letztere. Wobei man es eine Entscheidung keinesfalls nennen konnte, aber so war mir wenigstens die Nähe von Joshua sicher, obwohl ich mir seiner, nach diesen Vorfällen, nicht mehr so sicher war. Nachdem ich ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte, nutzte ich die mir nächstliegende Gelegenheit eines Samstagabends. Meine Eltern wollten in ein Konzert gehen, zu dem ich auf keinen Fall dabei sein wollte, denn, wie schon gesagt, hatte ich ja Besseres vor. Also nahm ich am Nachmittag meinen ganzen Mut zusammen, trank ein Glas Seifenwasser und erhitzte das Fieberthermometer unter heißem Wasser, bis auf ca. 39°. Wie übel mir nach diesem Drink war, kann man sich ja bildlich vorstellen. Mit dieser Mine traute ich mich nun auch noch tatsächlich meinen Eltern entgegenzutreten und präsentierte ihnen das Thermometer, wobei ich vorsichtshalber zuvor meinen Kopf mit Rotlicht erhitzt hatte. Nie hätte ich geglaubt, mit meinem Täuschungsmanöver meine Eltern davon zu überzeugen, aber es klappte tatsächlich und ich durfte zu Hause bleiben. Natürlich nicht allein, meine Kinderoma hütete meine kleinen Geschwister, deren Vertrauen ich ja immer noch genießen durfte. Kurz nach der Verabschiedung meiner Eltern weihte ich sie ein und trat mit meiner Bitte an sie heran. Sie war nicht sonderlich überrascht, zu welch drastischen Mitteln - 108 -


ich gegriffen hatte, doch verriet mir ihr Schmunzeln, dass sie mein Vorhaben unter Einhaltung des pünktlichen Nachhausekommens genehmigte. Glücklich eilte ich zum Telefon und rief Joshua an, der freudig überrascht über diese positive Nachricht schien und mir versicherte, mich gleich abzuholen. Nach wenigen Minuten konnte ich sein Moped aufheulen hören und rannte ihm überglücklich in die Arme. Die Sehnsucht nach ihm und die Ungewissheit hätten mich fast aufgefressen, waren aber im selben Moment wie weggeblasen, ja es kam mir fast so vor, als wären sie nie da gewesen. Ich liebte diesen Mann mit allen Sinnen, so stark, dass es fast schmerzte. Liebend gern hätte ich die Zeit angehalten, wenn es mir möglich gewesen wäre. Nach diesem gefühlsstarken Wiedersehen brausten wir zu ihm nach Hause und machten es uns im Wohnzimmer gemütlich. An jenem Abend hatten wir sogar „freie Bude“, weil seine Eltern übers Wochenende verreist waren. Wir redeten über die vergangenen Wochen, in denen wir uns nicht sehen konnten und was jeder von uns so erlebt hatte. Nach einer Weile bemerkte ich, wie er ernster wurde und irgendwie rumdruckste. Als ich ihn fragte, was er denn hätte, oder ob ich etwas falsch gemachte hatte, brach er in Tränen aus. Schluchzend beteuerte er mir, es nicht gewollt zu haben und es bereute, dass er mich mit einem anderen Mädchen betrogen hatte. Irgendwie fühlte er sich so einsam ohne mich und tröstete sich deshalb mit einer anderen. Es war am letzten Wochenende passiert, - 109 -


nachdem er sich mit Kumpels in einer Kneipe betrunken hatte. Gleichzeitig versicherte er mir, dass es ein Ausrutscher gewesen wäre und dass er dies nie mehr zu tun würde, denn er wolle mich nicht verlieren. Mit einem Kniefall bat er mich flehend um Verzeihung. In diesem Augenblick schien für mich eine Welt zusammen zu stürzen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, die über meine Wangen ronnen, denn mit so einer Enttäuschung hatte ich nicht gerechnet. Die tiefe Wunde, die er in mein Herz gerissen hatte, hatte ich nicht verdient, doch würde sie mich daran hindern, ihn noch immer zu lieben? Gekränkt und teilnahmslos saß ich auf dem Sofa und brachte keinen Ton über meine Lippen. Fassungslos ließ ich es jedoch zu, dass er mir die Tränen mit seinen Küssen trocknete. Schließlich erwiderte ich seine Umarmung, trotz der zwiespältigen Gedanken, die in meinem Kopf umherschwirrten. Weil ich seiner Reue Glauben schenkte, wollte ich ihm verzeihen und wagte einen Versöhnungsversuch. Trotz alledem war das Gefühl der Liebe zu ihm stärker als die Enttäuschung, denn enttäuscht wurde ich schließlich schon öfter in meinem Leben und war es somit gewöhnt. Doch Liebe zu erfahren, war für mich vor seiner Gegenwart unbekannt und so versuchte ich, seinen Ausrutscher zu vergessen. Das Risiko ihn zu verlieren, konnte und dufte ich nicht eingehen. Ohne ihn hätte mein Leben den Sinn verloren. Meine Liebe zu ihm war stärker und ließ alles andere nichtig erscheinen. Eng - 110 -


umschlungen versuchten wir uns gegenseitig zu trösten und das Vorgefallene zu vergessen. So klang dieser Abend, trotz seines Geständnisses doch noch glücklich aus. Als er mir immer wieder versicherte, dass er nur mich lieben würde, schenkte ich seinen Worten Glauben. In den nächsten, für mich unerträglichen Wochen, konnten wir nur telefonisch Kontakt halten, in der ich viel Zeit zum Nachdenken hatte. Die Sehnsucht nach ihm war grauenvoll und bereitete mir schlaflose Nächte und zermürbende Tagträume. Jemand muss ein Einsehen mit mir gehabt haben, denn unerwartet sollte sich mir erneut die Gelegenheit bieten, ihn zu treffen. Meine Eltern wurden auf einer Musikmesse erwartet, zu der sie jedes Jahr fuhren, wie auch dieses Wochenende. Wie immer war auf die Kinderoma Verlass, wenn es darum ging meinen jugendlichen Bedürfnissen nachzugehen. Schnell informierte ich ihn telefonisch und fieberte sehnsuchtsvoll dem Treffen entgegen. Endlich konnte ich wieder stundenlang in seinen Armen liegen und mit ihm träumen oder einfach nur das tun, wozu wir Lust hatten. Pünktlich wartete er am vereinbarten Treffpunkt, um mich abzuholen. Bis zu unserer Haustür hätte er es wegen unserer Nachbarn nicht gewagt, denn diese neugierigen Plappertaschen hätten alles zerstören können. Und dies nun aufs Spiel zu setzen, wäre reine Dummheit. Glücklich vereint fuhren wir in unsere alte Lieblings-Kneipe, in der am - 111 -


heutigen Abend ein Live-Konzert gegeben wurde. Die Bude war brechend voll, die Stimmung tosend, als die Kumpels uns mit einem freudigen „Hi ihr Turteltauben“ begrüßten. Ich fühlte mich hier einfach „sauwohl“ mit Joshua an meiner Seite, deshalb feierten wir und freuten uns des Lebens und der Liebe, die uns ja noch immer verband. Der Höhepunkt dieses Abends war aber eine Überraschung von ihm, und die berührte mich so, dass ich die ganze Welt umarmen hätte können. Ich sollte die Augen schließen, was ich natürlich ohne zu Zögern tat und dann die linke Hand ausstrecken. Währenddessen flüsterte er mir ins Ohr, ob ich denn für immer „sein Mädchen“ sein wollte und steckte mir einen silbernen Beweis an meinen Ringfinger. Es kam mir vor wie in einem kitschigen Liebesroman, doch gleichzeitig war ich ergriffen von dem beglückenden Ereignis und willigte mit strahlenden Augen in unsere Verlobung ein. Nun konnte ich sämtliche Zweifel der letzten Tage über Bord werfen und mich meines Glückes freuen, so sehr, dass ich es gar nicht fassen konnte. Es war wie ein Traum für mich, in dem es keine ungerechten Lieblosigkeiten gab. Vielleicht war sogar eine gerechte höhere Macht am Werke, die mich mit diesem Mann zusammengeführt hatte. Die folgenden Stunden, die ich mit ihm verbringen durfte, zählten wohl zu den glücklichsten in meinem bisherigen Leben. Ab sofort waren wir verlobt und planten stolz in Gedanken und Worten schon unsere - 112 -


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