BLÃœEMLISALP
Daniel Anker Marco Volken
SCH N EE Z AU BER U N D DIE SIEBEN BERGE
Ein neu entdecktes Werk von Paul Klee. Zusammen mit einem Freund wanderte der heute weltberühmte Maler als achtzehnjähriger Gymnasiast Anfang Juli 1898 über das Hohtürli und hinterliess diese Zeichnung im zweiten Passantenbuch der 1894 erbauten Blüemlisalphütte. «Hier mussten wir wegen Nebel 2 Tage bleiben und leben so gut es ging. Am ersten schönen Morgen stiegen wir ab nach Bundalp, Kienthal, Reichenbach, mit der Bahn nach Bern», notierte Klee im Tagebuch. Neben dem Vorwort: Ein farbenfrohes Plakat von Carl Franz Moos aus den frühen 1930er-Jahren. Die Berge freuen sich mit am sommerlichen Blumenmädchen und -märchen. Über dem Vorwort: Steinmänner am Weg vom Oeschinensee zum Hohtürli und zur Blüemlisalphütte. Es soll Wanderer geben, die dort noch weitere Steine aufeinanderlegen … Aber der Schnee wird sie alle zudecken.
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BLÜEMLISALP SCHNEEZAUBER UND DIE SIEBEN BERGE Herausgegeben von Daniel Anker und Marco Volken Texte: Daniel Anker, Thomas Bachmann, Franz Baumgartner, Michael Fischer, Annette Marti, Marco Volken Historische Texte: Walter Anker, Heinrich Dübi, Edmund von Fellenberg, Julien Gallet, Jürg Müller, Abraham Roth, Hermine Tauscher-Geduly, Fritz Zurbrügg Fotos: Marco Volken
BERGMONOGRAFIE
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Über die sieben Berge Es ist ganz einfach, zuerst: Sieben Tage hat
Zahlen! Ein Mysterium mit sieben Siegeln,
die Woche, sieben Gipfel die Blüemlisalp.
sodass wir unsere Siebensachen und sieben
Nur: Drei von diesen gehören nicht zum
Sinne siebenfach zusammenhalten müssen,
Horizont, wenn man von Norden oder gar von
die sieben Tugenden hoffentlich auch; über die
Süden schaut. Dafür strecken weiter im Westen
sieben Laster oder Todsünden breiten wir den
drei andere Gipfel ihre Gestalt kräftig in den
Anorak des Schweigens aus. Nur so viel:
Himmel. Es sind dies das Fründenhorn sowie das
Wie viele Streiche heckten Max und Moritz aus?
grosse und das kleine Doldenhorn. Macht wie-
Eben. Sieben überall und von jeher. Und wie
derum ein Siebengebirg. Eines mit Gletschern
viele Mitglieder hat die Regierung der Schweiz?
(noch). Mit schlechtem (und gutem) Fels. Mit
Adolf Ogi aus Kandersteg war während
scharfen Graten und haltlosen Flanken. Von die-
zwei Mal sieben Jahren, von 1987 bis 2000,
sem Gebirge handelt dieses Buch. Aufgeteilt in
einer der sieben Bundesräte. Sein Urgrossvater
sieben Kapitel. Vom Montag bis zum Sonntag.
Fritz Ogi stand als Erster auf Blüemlisalphorn,
Sieben Berge also. Etwas höher als diejenigen,
Fründenhorn, Oeschinenhorn und Blüemlisalp-
über die die böse Königin zu den sieben Zwer-
Rothorn, stieg als Erster von Norden auf die
gen ging. Etwas kälter auch, nämlich von Firn
Wildi Frau und als Erster durch die Südwest-
und Eis bedeckt. Etwas ausgedehnter ebenfalls.
flanken von Oeschinenhorn und Blüemlisalp-
Und trotzdem: Auch ohne Siebenmeilenstiefel
Rothorn ab – macht sieben Erstbesteigungen
kommt man gut in einem Tag vom Fuss des
und Erstbegehungen an Blüemlisalp und
ersten, des Morgenhorns, zum Fuss des siebten
Doldenhorn. Ein Zufall? Wohl kaum.
Berges, des Kleindoldenhorns. Die Erstbesteiger
Bevor wir nun losstiefeln mit Fritz Ogi und
der Wyssi Frau, des Mittelgipfels der Blüem-
Hermine Tauscher-Geduly, mit Hedi Wandfluh
lisalp, gingen 1863 noch weiter – und höher
und Friedrich Dürrenmatt, mit Ferdinand Hodler,
sowieso: von Kandersteg (1174 m) hoch auf den
Paul Klee und Polo Hofer, hier nur noch zwei
jungfräulichen Berg (3648 m) und dann durchs
Zahlen: Für Daniel ist dies die dreizehnte Berg-
Kiental hinaus bis nach Mülenen (692 m),
monografie, für Marco die – siebte!
wo sie neunzehn Stunden nach dem Aufbruch ankamen. Darauf schliefen sie ohne Unterbruch zwölf Stunden. Einer der wackeren Alpinisten heisst Abraham mit Vornamen; ein Name, der auf den siebten Himmel verweist.
Daniel Anker und Marco Volken
Inhalt
18 Montag: Morgenhorn
126 Freitag: Fründenhorn
20 In der Morgenhorn-Nordwand. Wie ich zwei Tote suchte Fritz Zubrügg, 1935
128 Bericht der Fründenhorntour 7.–9. August 1946 Walter Anker, 1946
28 Von der Frauenbalm zur Fründenhütte: Wie Blüemlisalp & Doldenhorn zu ihren Hütten kamen Marco Volken 30 Hohtürli – die Passwanderung Marco Volken 48 Dienstag: Wyssi
Frau
50 Die [erste] Ersteigung Edmund von Fellenberg / Abraham Roth, 1862 70 Die Blüemlisalp ist (fast) überall: eine Annäherung in sieben Etappen Daniel Anker 82 Die Sage von der Blüemlisalp Thomas Bachmann 84 Mittwoch: Blüemlisalphorn 86 Das Blüemlisalphorn Hermine Tauscher-Geduly, 1884 96 Dürrenmatts Blüemlisalp Michael Fischer 103 Von wilden Frauen und zahmen Mägdeleins, toten Helden und bösen Sennen Daniel Anker 106
Donnerstag: Oeschinenhorn
108 Das Oeschinenhorn (3490 Meter) Heinrich Dübi, 1874 116 Oeschinensee, siebenmalig Daniel Anker
Die auffälligen Rippen unter der Nordwestwand des Doldenstocks werden «die zwölf Apostel» genannt. Am deutlichsten treten sie im Winter hervor, schräg angeleuchtet von der Abendsonne. Ihre
Strahlen erreichen auch gerade noch die Doldenhornhütte, eine der fünf Hütten rund um die Blüemlisalp und das Doldenhorn. Dessen Gipfeldreieck leuchtet kalt und warm zugleich nach Kandersteg herab.
134 «Ziel der Reise: Skirennen» 74. Fründenrennen, 11. Juni 2017 Daniel Anker 140
Samstag: Doldenhorn
142 Eine Überschreitung des Gross-Doldenhorns (3647 m). Erster Aufstieg von Nordosten Julien Gallet, 1899 156 Vom Gletscher zum Fleck: Protokoll einer Zählung Marco Volken 165 Gefährliches Eis Marco Volken 166
Sonntag: Kleindoldenhorn
168 Klein Doldenhorn (Westgrat) Jürg Müller, 1980 170 Zwischen Zusatzverdienst und Passion: das Leben als Bergführer unter Blüemlisalp & Doldenhorn Annette Marti 178 Zwei Bergführer im Bauch der Blüemlisalp Franz Baumgartner 180
Anhang
180 195 197 200 202 204 205
Chronik Blüemlisalp & Doldenhorn Mit Ski an Blüemlisalp & Doldenhorn Trips und Tipps Literaturverzeichnis Biografien der Autorinnen und Autoren Bildnachweis Dank
Von der Kientaler Seite: links die vier Hauptgipfel der Blüemlisalp mit Morgenhorn, Wyssi Frau, Blüemlisalphorn und – etwas niedriger – Oeschinenhorn. Rechts das Fründenhorn und dann das grosse und das kleine Doldenhorn.
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DIENSTAG WYSSI FRAU (3648 m) Durchsteigung der Nordostwand am 24. Januar 1989 (Dienstag) durch André Georges und Erhard Loretan im Rahmen ihres Enchaînement «13 Nordwände in 13 Tagen».
Zehn Tage nach dem Grossen Fiescherhorn, am 24. Januar, hängen wir in einem Tag drei Nordwände aneinander: Weisse Frau, Blüemlisalphorn und Fründenhorn. Letzteres besteigen wir über eine Route, die ich in meinen jungen Jahren erstbegangen hatte. Am 26. Januar verlassen wir den Gipfel des Doldenhorns per Gleitschirm und beenden so unser dreizehntägiges, luftiges Abenteuer. Quelle: Jean Ammann, Erhard Loretan: Erhard Loretan. Den Bergen verfallen. Paulusverlag, Freiburg 1996, S. 104.
«Die Schnapsfluh»: Philipp Gosset zeichnete das Bild mit den acht Alpinisten, die 1859 zwei Besteigungsversuche der Wyssi Frau unternahmen. Aus: Roth/Fellenberg, Doldenhorn und Weisse Frau, 1863.
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«Ihr begreift sie nicht, diese Lust, die ihr nie hier oben waret.» Die [erste] Ersteigung Edmund von Fellenberg / Abraham Roth, 1862
Tag von Kandersteg aufs Doldenhorn, am 2. Juli wiederum in einem Tag auf die Wyssi Frau (3650 m), den Mittelgipfel der drei höchsten Zacken der Blüemlisalp. Mit dabei waren die Berner Oberländer Führer Johann Bischoff, Kaspar Blatter, Christian und Peter Lauener (Vater und Sohn). Wie die beiden Autoren nun die Gipfeltouren und die Versuche an der Wyssi Frau schildern, ist Lesegenuss und Augenschmaus zugleich. Hier folgt das Kapitel «Die Ersteigung»; auf Seite 84 im Original lesen wir diesen Satz: «Von den feuchten RasenZwei Urgesteine aus dem Goldenen Zeitalter des Alpinismus: Abraham Roth (1823–1880; links) und Edmund von Fellenberg (1838–1902).
50
«Blüemlisalp i re Summernacht / Nachdäm
hängen des Baches pflückten wir hell-
i ha e Bärgtour gmacht / Da ha se troffe
blühende Alpenrosen und schmückten
vor dr Hütte us.» So singt der Interlakner
damit unsere Hüte.»
Polo Hofer im Lied «Alperose», das vom TV-Publikum im Oktober 2006 zum gröss-
Die vorstehend erzählten Expeditionen
ten Deutschschweizer Hit gewählt wurde.
vom 29. August und 1. September 1859
Eines der besten und schönsten Bergbü-
hatten wenigstens den Erfolg, dass durch
cher überhaupt lässt die Helden ganz am
sie der Ruf der Unnahbarkeit der Blümlisalp
Schluss in Interlaken einfahren, «als kämen
einen unheilbaren Riss erlitt. Die völlige
Sr. Majestät des Berggeistes Ambassa-
Ersteigung ihrer beiden höchsten Gipfel
doren». Dieses Buch, «Doldenhorn und
sollte von nun an nicht mehr lange auf sich
Weisse Frau. Zum ersten Mal erstiegen
warten lassen. Schon im folgenden Jahr,
und geschildert von Abraham Roth und Ed-
1860, beugte sich das Blümlisalphorn, wie
mund von Fellenberg», erschien 1863 auf
früher bemerkt, vor Hrn. LESLIE STEPHEN.
Deutsch und Englisch zugleich. Das «erste
Näheres von dieser Tour ist uns nicht be-
Mal» stimmt eben auch für die Schilderung:
kannt, als dass die Expedition zwischen
Den Bericht von Leslie Stephen über die
der Wilden Frau und dem Blümlisalpstock
Erstbesteigung des Blüemlisalphorns im
das Gletscherrevier betrat, hierauf um den
August 1860 publizierte das «Alpine Jour-
letztgenannten Vorberg bog und in westli-
nal» erst im September 1864. Abraham
cher Richtung über den flachen Boden des
Roth, Edmund von Fellenberg und ihre
Blümlisalpgletschers setzte, dort, wo er von
Führer stiegen am 2. Juli 1862 in einem
den ersten gewaltigen Stürzen auszuruhen
scheint, um frische Kraft zur Niedersteig
Mann aus dem Kienthal, den hohen Gipfel
auf die Oeschinenalp zu gewinnen. Am
erklimmen zu wollen. An dem Umstande
westlichen Ende des Bodens musste der
scheiterte auch dieser Versuch. Die beiden
sehr unruhige Eisgrat gewonnen werden,
Kecken vermochten nur bis in das Dreieck
über welchen der einzige Zugang zur Spitze
vorzudringen.
des Blümlisalphorns führt.
So war denn der Gipfel der Weissen Frau
Die drei jungen Anstürmer von 1859
im Beginne der Saison von 1862 eine
[Fellenberg, Philipp Gosset und Hans von
noch unbetretene Höhe und durch diese
Hallwyl] wurden in jenem Jahre durch das
Thatsache unsere weitere Unternehmung
Schicksal auseinander getrieben, nach
nach Ueberwindung des Doldenhorns
Deutschland und Frankreich, so dass von
indicirt. Während der gezwungenen War-
einer Wiederholung ihrer Versuche auf
tezeit in Kandersteg hatten wir so oft, wie
die Weisse Frau für einige Zeit keine Rede
nach Letzterem, unsere Blicke nach der
mehr sein konnte. Diese Zwischenzeit
Blümlisalp gerichtet, und FELLENBERG na-
machte sich im Jahr 1861 Hr. stud. med.
mentlich drängte es mit unwiderstehlicher
WILLENER von Bern zu Nutze und er be-
Gewalt, die Scharten von 1859 auszuwet-
schloss einen neuen Angriff. Der junge
zen. Roth hatte über Nacht mit Hülfe eines
Mann hatte jedoch die allzugrosse Kühn-
Thee’s sein Fieber verschwitzt und zeigte
«Im wundervollen Monat Mai des Jahres 1862 leuchteten die Alpen sehr verführerisch zur Niederung herab», schreiben Roth und Fellenberg in ihrem Buch «Doldenhorn und Weisse Frau». Das machen die Berner Alpen immer noch, wie der Blick von der Bundesterrasse in Bern beweist. Im mächtigen Gebäude rechts war von 1904 bis 1941 die Landestopographie untergebracht; einer ihrer ersten Mitarbeiter, Johann Rudolf Stengel, zeichnete die dem Buch beigelegte «Karte der Blümlisalp- und Doldenhorn-Gruppe» im Massstab 1:50 000.
heit, mit nur einem einzigen Führer, einem
sich zu dem zweiten Gange ebenfalls ge-
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Die Blüemlisalp ist «der massigste Gebirgsstock der Berner Alpenkette», hielten Roth und Fellenberg fest. Sie strebt «in die Breite und bietet Raum für nicht weniger als sieben ausgeprägte Gipfel. […] Sie gruppiren sich zunächst in drei hohen Spitzen, denen sich im Westen noch eine niedrigere vierte anreiht, und genau vor den drei hohen stehen drei kleine.» Die beiden Autoren legten 1863 auch die bis heute gültige Nomenklatur für die sieben Gipfel der Blüemlisalp fest; einzig die Blumen wechselten sozusagen vom Blümlisalpstock (heute Ufem Stock) zum Rothorn (heute Blüemlisalp-Rothorn). Frage an die geneigten Leser: Welcher der sieben Gipfel fehlt auf dieser Postkarte?
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neigt. Von dem grossen Apparate der Füh-
die Sterne über den steilen Flühen des
rerschaft des 30. Juni hingegen sollte keine
Kandergrundes, und ihr lockender Anblick
Rede mehr sein, zumal man auch keine Lei-
beflügelte unsere Schritte auf der Heim-
ter mitnehmen wollte; und so wurden denn
kehr nach dem «Hotel Viktoria». Diesmal
die beiden Kandersteger, REICHEN und
erwartete uns kein Jodel und kein Sang auf
OGI, am 1. Juli ausbezahlt und «unter Ver-
der Strasse, die Führer wussten bereits, wie
dankung der geleisteten Dienste», wie die
unter solchen Umständen die Parole lautet:
amtlichen Schriftstücke sich auszudrücken
sie hatten sich zeitig in’s Nest begeben.
pflegen, entlassen. An diesem Tage hatten
Nur wir sorglose Springinsfelde gaben uns,
wir jedoch pflichtgemäss auch noch einen
in Kandersteg angekommen, noch allerlei
Rapport über die Doldenhornfahrt im Pfarr-
Nöthiges und Unnöthiges zu schaffen, so
hause zu Kandergrund abzustatten, wo wir
dass wir auch diese Nacht, Summa Sum-
im Laufe des Nachmittags wo möglich mit
marum, höchstens zwei Stunden schliefen.
verdoppelter Freundlichkeit empfangen
Das hinderte uns jedoch nicht, am frühen
wurden. Der Herr Pfarrer hatte sich Tags
Morgen des 2. Juli mit aller Frische dazu-
vorher mit noch einem Wohlehrwürdigen
stehen, unternehmend das Beil auf den
in’s Oeschinenthal begeben, um unsere
Rücken geschnallt oder die Hosen in die
Kletterei durch das Fernrohr zu verfolgen,
Stiefel gesteckt und die Eisenspitzen der
und die Herren sahen uns wirklich im
schweren Bergstöcke ungeduldig auf dem
Schnee über den grossen Schründen krab-
Pflaster klirren lassend, wie junge Rosse,
beln, bis die bekannte Nebelschicht unsern
die das Zeichen zur Abfahrt nicht erwarten
geheimen Rapport unterbrach und sehr
mögen.
abweichend von der gewöhnlichen Regel,
Um 2½ Uhr erfolgte der Aufbruch, und die
diesmal die Propheten zur sündigen Erde
glanzvoll über den Doldenhörnern strah-
zurückdrängte, uns Weltkinder hingegen in
lende Venus wies uns freundlichen Weg
den reinen Aether des Himmels einschloss.
nach dem Oeschinenthal. Gerade vor uns
Natürlich war es wieder Nacht geworden,
spreizte die Westseite des Blümlisalphorns
ehe wir die Schwelle des gastlichen Hauses
ihre stattliche weisse Gestalt aus, mit
verliessen. Aber wieder funkelten auch
welcher sie die ganze Nachbarschaft be-
herrscht, und rings um sie herum drängten
in jenem Winde, der dem kommenden
sich die übrigen Spitzen der Blümlisalp wie
Tage vorausgeht. Die ganze Natur athmete
Küchlein unter die Fittige der Henne: links
Jugendlust und frisches, fröhliches Stre-
die drei kleinen Spitzen hinter einander,
ben, und ermangelte nur noch der Sonne,
Rothhorn, Blümlisalpstock und Wilde Frau,
ähnlich einer gährenden Zeit, die bloss
rechts das Oeschinenhorn, und von jenem
des zündenden Wortes bedarf, um eine
räthselhaften gewölbten Firngrat im Hin-
geschichtliche That zu erzeugen. Der Tag
tergrunde, der die Lücke zwischen Blümlis-
erschien, als wir eine Stunde später den
alphorn und Rothhorn ausfüllt, wissen wir
wundersamen Thalboden von Oeschinen
heute, dass es der Gipfel der Weissen Frau
betraten. Wundersam ist dieser enge Fel-
ist. Von diesem schönen Siebengebirg fehlt
senkessel, der nur zum kleinern Theil mit
hier also lediglich das Morgenhorn, das
Alp und Tannen bekleidet ist, während den
hinter dem Rothhorn verborgen steckt.
Rest der ruhige Spiegel des Sees ausfüllt.
Der Oeschinenbach, dessen Strom wir ent-
Ringsum streben die Berge auf, in steilen
gegenstiegen, rauschte mächtig durch die
Wänden und zu mächtigen Höhen, gegen
Dunkelheit; der Schaum seiner geborstenen
7000 Fuss, die Gebirgsstöcke aber der
Wellen benetzte um die Wette mit dem
Blümlisalp und des Doldenhorns, so wie
nächtlichen Thau die umliegenden Wiesen.
des zwischen ihnen liegenden Freundhorns,
Vom Fisistock und aus den Gletschern
senden in jenem gleichen unmittelbaren
des Doldenhorns eilten Bäche zu Thal und
Absturz von 6–7000 Fuss eine Unzahl
vermischten, über Felsenwände stürzend,
Gletscher herab, und aus den Gletschern
ihre Wasser mit denen des Oeschinenba-
sprudeln wohl ein Dutzend Bäche, welche
ches. Die Wipfel der Tannen winkten leis’
sämmtlich in Gestalt von Wasserfällen die
Ganz so weiss ist die Wyssi Frau nicht mehr – das Morgenhorn zur Linken und das Blüemlisalphorn zur Rechten scheinen fast mehr von Eis bedeckt zu sein. Der Weg der Erstbesteiger über den Nordwestgrat zieht sich von der gezackten Schnapsfluh gleichmässig steil und firnig nach links oben zum felsig-schneeigen Haupt der Wyssi Frau.
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2. Das ist sie, die Blüemlisalpstadt!
William Henry Bartlett zeichnete sie gut
«Links weisen Jungfrau, Mönch und Eiger
erkennbar auf einer der 102 Ansichten für
ihre Breitseiten; rechts strahlen Blümlisalp
das auch ins Deutsche und Französische
und Doldenhorn; die siebengipflige Blümlis-
übersetzte Werk «Switzerland», aufgelegt
alp aber ist es, die es Allen an blendender
erstmals 1836. Dass der schöne Firnberg
Pracht zuvorthut und hier überhaupt die
hinten einen Namen hat, erfuhren die
Herrscherrolle übernimmt, die in Interlaken
Betrachter allerdings nicht. Anders in der
der Jungfrau angewiesen ist», schreibt
grossformatigen Publikation «Das Berner
Abraham Roth im hübsch illustrierten
Oberland» von Eduard Osenbrüggen (Text)
Führer «Thun und seine Umgebungen»
und Ludwig Robock (Bild) aus dem Jahr
von 1873. Roth, wir kennen ihn, ist einer
1872: Die Legende zum Aquarell vom
der Erstbesteiger der Wyssi Frau (am 2. Juli
Schlosshügel mit Baum und Laube lautet
1862), des Mittelgipfels der Blüemlisalp.
«Thun und Blümlisalp». Schloss und Berg
Die ersten, die von der Zähringerstadt am
verortet ebenfalls eine Ansichtskarte,
Ausfluss des Thunersees das schneeweisse
freilich nicht immer geografisch korrekt.
Gewand der Blüemlisalp bewundern, sind
Halten wir uns also an das sagenhafte
wir natürlich nicht. Heinrich Füssli rückte
Ölgemälde von Eduard Boss von 1911:
sie auf seinen Blättern unübersehbar an
Da sind Blüemlisalp und Thunersee im
den Horizont, anzuschauen im Prachtband
besten Sommerlicht eingefangen.
«Souvenir de la Suisse» von 1840.
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MITTWOCH BLÜEMLISALPHORN (3661 m) Kandersteg, 25.7.35. Gestern [Mittwoch] ist uns nun auch die zweite Fahrt gelungen: Blümlisalphorn (direkter Anstieg über die Westwand)! Eine schöne, nicht mal besonders schwere Gletscherfahrt. Morgen geht es an das Balmhorn … Postkarte von Walter Stösser (und Theo Seybold) nach Hause. Quelle: Der Bergsteiger Walter Stösser. Ein Buch der Erinnerung. Herausgegeben von Paul Hübel. Richters Verlagsanstalt, Erfurt 1940, S.193.
«Die Blümlisalp vom Oeschinengrat aus.» Aus: Roth/Fellenberg, Doldenhorn und Weisse Frau, 1863.
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«Wie ich den Fels, den frostkalten, jauchzend packte!» Das Blüemlisalphorn Hermine Tauscher-Geduly, 1884
Pionierin in Sachen Bergliteratur von Frauen: Hermine Tauscher-Geduly (1842–1923).
Auf dem Blüemlisalphorn (3661 m) stand
Spricht die Sage wahr? Ist hier wirklich
sie nicht als erste Frau. Aber sie war
eine blühende Alm versunken, oder soll
die erste, die über eine Besteigung des
dereinst all dies harte, kalte Eis zerschmel-
Hauptgipfels der Blüemlisalp einen Bericht
zen, damit des Berges frühlingsduftiger
verfasste: Hermine Tauscher-Geduly
Name begründet sei? Jetzt magst du weit
aus Pressburg, dem heutigen Bratislava.
und breit Blumen vergeblich suchen, außer
Mit dabei auf dieser Tour vom 24. Juli
denen, die in besonders rauhen Nächten
1884 waren Ehemann Béla Tauscher und
der Frost auf die Firndecke der Gletscher
die Führer Alois Pinggera und Joseph
zaubert, und doch scheint es räthselhaft,
Reinstadler aus dem Tirol und Christian
daß der Volksgenius gerade dies eine Mal
Ogi aus Kandersteg. Im 18. «Jahrbuch des
bei der Wahl der Benennung so arg fehlge-
Schweizer Alpenclub» von 1882 bis 1883
griffen hätte – Blümlisalphorn! Gewiß, es
taucht Hermine Tauscher-Geduly gleich
steigert seinen Reiz, weil Niemand erklären
zweimal auf: vorne mit einem 25-seitigen
kann, warum der Berg so heißt; voll Begier
Bericht über eine «Ersteigung der Dent
möchtest du dem Geheimniß nachspüren,
Blanche», hinten mit einem Hinweis auf
Mühsal und Gefahren nicht achtend, an
ihre «Montblancfahrt» im vierten Band der
der Eispyramide schwindligen Kanten zur
«Oesterreichischen Alpenzeitung». Dort
Höhe klimmen. Keine Frage, daß man oben
wird sie treffend als «berg- und federge-
Ungewöhnliches erlebt.
wandtes Ehrenmitglied der Section Rhätia
Als die Reisezeit kam, wollten wir ohne
S.A.C.» charakterisiert. Und das war «diese
Verzug den oft besprochenen Plan aus-
Pionierin des Alpinismus aus der alten
führen. Mit Hast eilten wir vom Hause fort
Donaumonarchie» (so Ingrid Runggaldier
über Zürich in’s Bernerland, des vielbeweg-
in «Frauen im Aufstieg») tatsächlich. Man
ten Stadtlebens mehr als je müde, lechzend
lese nur hier ihren Bericht «Das Blüm-
nach des Hochgebirges Schönheit. Und
lisalphorn» aus dem SAC-Jahrbuch von
schon beim ersten Halt sahen wir davon
1884 bis 1885: poetisch und praktisch,
die Fülle: sahen in Thun in völliger Klarheit
jauchzend, schimpfend und spottend, auch
die Wundergebilde Jungfrau, Mönch; und
über sich selbst. Einfach so frisch, als wäre
Eiger über dem blauen See riesenhoch sich
die Hermine 2017 aufs Blüemlisalphorn
thürmen und jenseits des bunt umblühten
gestiegen.
Herrensitzes der Rougemont, den Horizont verklärend, das Blümlisalphorn und die Weiße Frau im Schmuck, glitzernder Gletscher prangen.
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Der helle Tag von Thun endete aber mit
um 1 Uhr auf, ohne Ueberlegung die sehr
einem trüben Abend, den wir, gleich meh-
unpassende Zeit wählend, wo die Hitze
reren darauf folgenden, in wohlthuender
am fühlbarstem war, und ich möchte
Zurückgezogenheit in Kandersteg verbrach-
Allen, die zur Frauenbalmhütte [die alte
ten. Ein traulich anheimelnder Ort! Nicht
Blüemlisalphütte] wandern, von Herzen
unbelebt, da der stark besuchte Gemmi-
rathen, entweder am frühen Morgen oder
weg dort mündet, und doch merkwürdig
in vorgerückterer Nachmittagsstunde die
verschont vom Lärm anderer ähnlicher
Tour anzutreten, denn der ganze lange
Touristenstationen.
Weg liegt vollständig an der Sonne. Glü-
Doch als eines Morgens – am 23. Juli
hend brannte sie uns auf den Kopf, da wir
[1884] – aller Neuschnee auf den Höhen
die wiesenumsäumte Straße im Thalgrund
zu schwinden begann, weil die Sonne nach
verfolgten; die Atmosphäre hatte etwas
längerer Pause wieder zur unbestrittenen
im Gebirg ungewohnt Beklemmendes, sie
Herrschaft gelangte, erwachte alsbald
war wie von heißer Nässe geschwängert.
unsere Thatenlust und der ehrgeizige
Und droben, dicht in der Umgebung des
Wunsch, den zu verwirklichen wir nach
lichtspendenden Gestirns, schienen sich
Kandersteg kamen; das Blümlisalphorn
alle der Erde entsteigenden Dünste zu con-
wollten wir ja kennen lernen, das sa-
centriren; mehr noch als an andern Tagen
genumwobene, dessen Eisespracht so ver-
dieses Sommers war der farbig beleuchtete
führerisch lockt.
Hof um die Sonne ausgeprägt, unser leb-
Mit Führern – Alois Pinggera und Joseph
haftes Interesse erregend.
Reinstadler aus Tirol, dann der Schweizer
Vom Walde erhofften wir Linderung der
Ch[ristian] Ogi – sowie verschiedenem
Pein; fehlgerathen! Fichten und Tannen
Proviant trefflich versorgt, brachen wir
vergaßen heute ihre Aufgabe, wenn auch
Das Dreigestirn der Blüemlisalp, gesehen von Kandersteg: Blüemlisalp-Rothorn (links), Blüemlisalphorn (Mitte) und Oeschinenhorn (rechts); rechts oben die weisse Spitze des Doldenhorns. Die Strasse links der katholischen Kirche heisst seit Mittwoch, dem 27. Dezember 2000, Bundesrat Adolf-OgiStrasse.
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Das war eine bittere Lehre, bei Hochtouren die Gesellschaft Anderer abzulehnen. Zum Glück fühlte ich erst später größeren Schmerz, und so setzten wir den Aufstieg fort, kurze Zeit noch im Fels, dann mittels gehackter Stufen über Firn und Eis der Spitze zustrebend. Immer düsterer gestaltete sich die Gebirgsscenerie; dunkel war der Horizont überzogen und die leuchtenden Gipfel, bisher für Momente doch sichtbar, deckte fahles Grau. Schon fahren sausend einzelne Stöße durch die Luft und bald fegt ein wüster Schneesturm über das ganze gletscherbelastete Gebiet, das sie die Die Überschreitung vom Morgenhorn über die Wyssi Frau zum Blüemlisalphorn gehört zu den ganz grossen Touren der Berner Alpen, ja der Alpen überhaupt. Sie wird vorgestellt in Walter Pauses «Klassische Alpengipfel» (1986), Mario Colonels «Himmelsleitern. Die schönsten Grattouren der Alpen» (2004) und Robert Böschs «Schweiz Alpin. Die schönsten Touren in Fels und Eis» (2008) – um nur drei Bildbandführer zu nennen.
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Brust die triumphirende Empfindung: «dort
Blümlisalp nennen.
standest du einst oben!» aber sogleich
Um 8½ Uhr erreichten wir das Ziel, aller-
bekannte ich ehrlich, zu dem wild aufge-
dings nicht in siegesfreudiger Stimmung,
bäumten Dämon hinsehend: «gut, daß es
aber keineswegs mißvergnügt; das wäre
geschehen ist.»
Undank für die zahllosen glücklichen
Schon waren die lichten Bilder verschwun-
Bergfahrten, deren wir uns rühmen dürfen.
den und wir wieder von Nebel umfangen.
Und ging’s auch heute schief, etwas Gutes
Vor uns lief beinahe senkrecht eine schma-
war doch dabei: der Abschied fiel uns nicht
le schneegefüllte Rinne aufwärts; «die
schwer, da ein ungnädiger Himmel alle
soll uns rascher fortbringen», meinte mein
Herrlichkeit verbarg, die wir sonst von die-
Führer. Um dorthin zu kommen, mußten
ser Höhe geschaut hätten.
wir jedoch eine schlimme vereiste Stelle
Ein Besserwerden des Wetters ließ sich
quer hinüber traversiren. Mit bedächtiger
kaum erwarten und die grimmige Kälte
Vorsicht führte Ogi und schlug in den
trug dazu bei, daß wir ohne Aufenthalt
glasigen Ueberzug der Wand Stufen, die
umkehrten. Von eisigem Dunst umwogt,
Reinstadler sorgsam nachbesserte, wäh-
gegen den Sturm ankämpfend, erhielt
rend wir Andern, die geringste Bewegung
ich mich mit Anstrengung in den glatten
vermeidend, reglos ausharrten. Da kracht
Stufen und meine erstarrenden Finger ver-
es oben; ein Stein, nein, ein Felsblock fällt,
mochten gar nicht, die Axt fest genug ein-
fliegt gerade über mir! «Du bist verloren»,
zuschlagen, daß sie mir Stütze sei bei den
das denke ich noch klar, dann ist’s aus mit
folgenden Tritten. Ein seltsames Gefühl, so
meiner Besinnung. Nur Pinggera’s Schrei
in den Wolken zu wandeln, auf schlüpfri-
gellt mir in den Ohren: «Sepp, hilf die Frau
gem, jäh abschießendem Grund, mit dem
halten!» und wieder ein Krachen, der Klotz
Bewußtsein, daß neben uns schaurige
ist angeprallt, in drei Theile zerschellt – ach
Tiefen gähnen! Ich sah keine drei Meter
mein Kopf! Ich werfe mit heftigem Ruck
weit; aus dem Nebel klangen dumpf die
den Oberkörper zurück – – Gott sei Dank,
Stimmen meiner Genossen, die ich auch
der Schlag hat mir nur die Hüfte getroffen.
nicht sah; es galt, sich selbst zu schützen,
Aber es vergehen Minuten, ehe ich athmen
wenn der Wind, die frischen Schneemassen
kann.
aufwirbelnd, mir in die Augen schnitt, es
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sen und müssen neuerdings dessen einstige Oberläufe als selbstständige Gletscher vermessen, als ob sie eine völlig eigene Geschichte hätten. Wie wenn ein Historiker ein Leben lang über Jugoslawien geforscht hätte, und jetzt ist es weg, dafür hat es viele neue Staaten, die irgendwie dazugehören, aber nicht zusammengehören und eigenständig sind. Er muss seinen Bezugsrahmen und seine Nomenklatur neu ausrichten. Aber eigentlich wollten wir über die Firnflecken sprechen. Auch die sind zahlreicher geworden. Zeigte die Dufourkarte von 1854 bloss etwa drei, vier eigenständige solcher Flecken, sind es heute – gemäss unserer Auswertung der Landeskarte – etwa dreissig. Was auch an der vorgeSéracs am Blüemlisalpgletscher, um 1910. Gewisse Bereiche des Gletschers sind nach wie vor stark zerschrundet. Ein guter Riecher für die beste Route, etwas Glück und manchmal auch handfeste Eisarbeit helfen ungemein beim Durchqueren (oben).
Biberggletschers, der früher flächig mit
gebenen Auflösung und begrenzten Detail-
dem Doldenhorngletscher verbunden war
liertheit der Karte liegt. Bei einem feineren
– dort, wo jetzt eine öde Geröllflanke den
Massstab wären es bestimmt noch mehr.
sommerlichen Abstieg vom Doldenhorn zur
Unbedeutend sind sie übrigens nicht:
Mühsal macht. Wenn wir richtig rechnen,
Einer dieser Flecken zum Beispiel dient der
sind es zwölf an der Zahl. Oder ist das
Blüemlisalphütte als Wasserquelle.
Biberggletscherüberbleibsel schon in den
Wie viele Gletscher gibts also im Blüem-
Rang eines Firnfleckens geschmolzen?
lisalpmassiv? Die Antwort ist glasklar:
Als Gletscherflecken gelten der Fule- und der Silleregletscher auf der Westseite der Doldenhörner (rechte Seite oben), ebenso der Eisstreifen auf dem Nordwestrücken des Fründenhorns (rechte Seite unten).
Die Firnflecken
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Es kommt darauf an. Oder noch präziser: viele.
Allmählich dämmert uns, dass eine genaue Zahl unrealistisch ist – weil sie der
Wo sind sie, die verschwundenen
komplizierten Realität nicht entsprechen
Gletscher?
kann. Wir ahnen die Schwierigkeiten,
Ein Vergleich mit der Zeit um 1850,
mit denen sich die Glaziologen herumzu-
als die Gletscher während der Kleinen
schlagen haben. Wie im Fall des bereits
Eiszeit einen Höchststand erreichten,
erwähnten Unteren Grindelwaldgletschers.
liefert Verblüffendes zutage. Das Revier der
Damit bezeichnete man bis vor wenigen
Gletscher ist geschrumpft, die Eisflächen
Jahren das Eisgebilde, das zwischen Eiger,
sind kleiner geworden, kürzer, dünner.
Mönch, Fiescherhörnern, Lauteraarhorn
So weit, so gut. Aber: So gut wie alle
und Schreckhorn Richtung Grindelwald
Gletscher von damals sind noch da, noch
floss. Die Zubringer sind nun so weit
keiner ist völlig weggeschmolzen. Dafür
geschrumpft, dass der Untere Grindel-
sind viele in kleine Stücke auseinander-
waldgletscher, früher eine Ikone der
gebrochen – was zum Paradoxon führt,
Bergmalerei und -dichterei, gar nicht mehr
dass es heute weniger Eis, aber mehr
existiert. Einfach weg. Also können ihn die
Gletscher hat als damals.
Gletscherforscher auch nicht mehr erfas-
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Chronik Blüemlisalp & Doldenhorn Daniel Anker 1606: Die Bezeichnung «auff der Frawen»,
im Blankeis des Nordwestrückens umkeh-
1861: Dritter Besteigungsversuch der
vielleicht nur die Wildi Frau, vielleicht
ren, rund 70 Höhenmeter unter dem Gipfel.
Wyssi Frau durch den Berner Medizin-
aber auch die ganze Blüemlisalp meinend,
1. September 1859: Zweiter Versuch an
studenten Willener mit einem Führer aus
taucht auf in Hans Rudolph Rebmanns
der Wyssi Frau durch die nämlichen; sie
dem Kiental. Scheitert ebenfalls am Nord-
Landes- und Weltkunde mit dem ziem-
müssen wegen des eisigen Sturmwindes
westrücken.
lich langatmigen Titel «Ein Neuw, Lustig,
wieder umdrehen.
29. Mai 1862: Erstbesteigung des Klein-
Ernsthafft, Poetisch Gastmal, vnd Gespräch
27. August 1860: Erstbesteigung des
doldenhorns (3475 m) durch John St. Boalt
zweyer Bergen, In der Löblichen Eydgnos-
Blüemlisalphorns (3661 m) durch die Eng-
aus Ohio, Edmund von Fellenberg und
senschafft, vnd im Berner Gebiet gelegen:
länder Leslie Stephen und Robert Liveing,
Philipp Gosset aus Bern mit den Führern
Nemlich dess Niesens vnd Stockhorns, als
James Kent Stone aus Boston mit den
Johann Bischoff und Christian Lauener aus
zweyer alter Nachbaren …» Noch 1850
Führern Melchior Anderegg aus Meiringen,
Lauterbrunnen sowie mit Christian Ogi aus
steht in «Das Panorama von Bern» von
Fritz Ogi aus Kandersteg und Pierre Si-
Kandersteg. Von Kandersteg über die Fisi-
Gottlieb Studer: «Im Kienthal heißt dieses
mond aus Chamonix. Von Kandersteg aus,
alp und durch das Brünnlital zum Fuleglet-
Gebirge die Frau und der mittlere Gipfel
mit Übernachtung auf der Oeschinenalp
scher, dann durch die Westflanke auf den
vorzugsweise das Frauenhorn.»
und dann mit Auf- und Abstieg über den
Gipfel. Dort merken die sechs Alpinisten,
1705: Der Name Blümlisalphorn erscheint
Nordwestgrat vom Rothornsattel aus – die
dass sie ihr eigentliches Erstbesteigungs-
in Samuel Bodmers Marchbuch über die
Normalroute also. Im September-Heft 1864
ziel, das grosse Doldenhorn, verfehlt ha-
Grenzen des Kantons Bern. Er meint damit
des «Alpine Journal» erscheint ein knapp
ben und nicht erreichen können. «My Gott
aber die Jungfrau …
zweiseitiger Bericht von Stephen, darin
Seel’, da chunt keis Gamschi düre!», wird
1783: Auf seinem Panorama von der Alp
er die Schönheit des Oeschinensees als
Lauener im Buch «Doldenhorn und Weisse
Iselten bei der Schynigen Platte setzt Sig-
«quite unrivalled in any of the high alpine
Frau» zitiert. Anstatt zurück auf die Fisialp
mund Gottlieb Studer erstmals den Namen
districts» lobt und die Bettstatt, die ihm
zu gehen, steigen sie ins Gasteretal hinab.
Blümlisalp für die Blüemlisalp.
ein Älpler auf der Oeschinenalp überlässt,
Neunzehneinhalb Stunden nach Aufbruch
1790: Den Namen Doldenhorn liest man
als zu kurz für seine Grösse beklagt. Auf
im Hotel Victoria sind die Erstbesteiger
erstmals auf Sigmund Gottlieb Studers
dem Gipfel entfällt ihm das Thermometer,
zurück. Noch ein Wort von Gosset, der die
Panorama «La Chaîne d’Alpes, vue
zu seinem «unexpressible delight», weil
englische Ausgabe des erwähnten Buches
depuis les environs de Berne». Der Name
er für wissenschaftliche Beobachtungen
besorgte und vier Zeichnungen beisteuer-
kommt von der Alp Dolden am Südfuss
während des Bergsteigens nichts übrig
te, zu Boalt: «The American, being on a
im Gasteretal. Die Hirten im Oeschinental
hat. Und beim Abstieg notiert Stephen «an
visit to Switzerland, longed with a spirit
andererseits kannten das grosse und
interview with a herd of chamois». Stone,
of enterprise characteristic of his nation
das kleine Doldenhorn als «bei den
als erster US-Amerikaner in den Alpine
forthwith to attack one of these majestic
weißen Hörnlein».
Club aufgenommen, trat 1869 zum Ka-
eminences.» Was ihm auch gelang, ob-
29. August 1859: Von der Bundalp aus
tholizismus über und nannte sich im Alter
wohl es nur das kleine statt das grosse
erster Versuch der Besteigung der Wyssi
Father Fidelis.
Doldenhorn war.
Frau durch Edmund von Fellenberg, Philipp
30. Juni 1862: Erstbesteigung des Dol-
Gosset und Hans von Hallwyl, die Führer
denhorns (3638 m) durch Edmund von Fel-
Christian Lauener und Johann Bischoff und
lenberg und Abraham Roth mit den Füh-
die Träger Pfister, Feuz und von Almen. We-
rern Christian Lauener, Johann Bischoff,
gen eines Schneesturms müssen sie oben
Kaspar Blatter und Gilgian Reichen sowie den Trägern Peter Lauener (Sohn von
Leslie Stephen hinterliess seine Spuren im Führerbuch (1863–1896) von Fritz Ogi: «A strong willing man.» Oben der Eintrag zur Überschreitung des Tschingelpasses am 7. Juli 1866, unten der nachträgliche zur Erstbesteigung des Blüemlisalphorns am 27. August 1860. 180
Christian) und Christian Ogi, direkt von Kandersteg aus in knapp neun Stunden auf der seither üblichen gewordenen Route via Biberg, Spitzstein und vergletscherter Nordwestflanke, darin tiefer Schnee die Fortbewegung erschwerte. Auf dem Gipfel wird eine «mächtige eidgenössische Fahne» an einer tief in den Firn getriebenen
Die acht Erstbesteiger des Doldenhorns am Leiterflühli, Farbendruckbild aus «Doldenhorn und Weisse Frau» (links). Ein nur halbwegs netter Eintrag von W. A. B. Coolidge im Führerbuch von Fritz Ogi (rechts); «my aunt» ist Meta Brevoort. Zwei Frauen auf der Wildi Frau; links die Wyssi Frau, rechts das Blüemlisalphorn (unten).
Stange gehisst, dann fasst Fellenberg
Englisch im Verlag von Karl Baedeker in
einen Zipfel der Fahne, giesst ein Trank-
Koblenz. Darin wird die noch heute gültige
opfer «vom besten Wein auf den Gipfel
Nomenklatur der Blüemlisalp festgelegt.
und taufte ihn, feierlichen Tones, im Na-
Nur schade, dass die Landeskarte der
men seiner Ueberwinder: ‹Grosses Dolden-
Schweiz den Namen für den Felsen unten
horn›.» Für den Abstieg brauchen die acht
am Nordwestrücken von der Wyssi Frau
Erstbesteiger gut fünf Stunden. Singend
nicht übernommen hat: Die Erstbesteiger
ziehen sie in Kandersteg ein, «nicht wenig
tauften ihn «Schnapsfluh». Warum, ist
bewundert von den Thalleuten, welche uns
nicht schwer zu erraten.
das Kraftstückchen nicht zugetraut hatten.
1863: Erstbesteigung der Wildi Frau
Nun strichen sie die Segel ihres Zweifels
(3274 m) durch Oberst Carl Schrämli,
«Alpine Journal» schreibt Coolidge nur
vor der Doldenhornflagge.»
Mitbegründer des Alpenclubs Thun (der
von einer «lady». Das Blüemlisalphorn war
2. Juli 1862: Erstbsteigung der Wyssi Frau
späteren SAC-Sektion Blümlisalp) mit dem
einer der ersten Gipfel, den Meta Brevoort
(3650 m) durch Abraham Roth, Edmund
Führer Peter Polier.
in ihrer erfolgreichen Bergsportkarriere als
von Fellenberg, Johann Bischoff, Kaspar
18. Juli 1868: Zweite Besteigung – und
erste Frau bestieg.
Blatter, Christian und Peter Lauener. Der
erste durch eine Frau – des Blüemlisalp-
14. Augst 1869: Erstbesteigung des
Bericht ab S. 50.
horns durch die US-Amerikanerin Meta
Morgenhorns (3623 m) durch Hugo Bäde-
1863: Das Buch «Doldenhorn und Weisse
Brevoort, ihren Neffen W. A. B. Coolidge
ker, Mitglied der SAC-Sektion Bern, mit
Frau. Zum ersten Mal erstiegen und ge-
und die Grindelwalder Führer Christian
den Führern Johann Bischoff und Ulrich
schildert von Abraham Roth und Edmund
Almer und Peter Roth, mit Start auf der
Lauener.
von Fellenberg» erscheint auf Deutsch und
obersten Oeschinenalp. Im Kurzbericht im
18. Juni 1870: Erstbesteigung des bis 1972 Blümlisalpstock genannten Gipfels Ufem Stock (3221 m) durch Emil Ober, Ferdinand Springer mit den Führern Johann Bischoff und Abraham Ogi. Bischoff ist der erfolgreichste Erstbesteiger an den zehn Gipfeln zwischen Morgen- und Kleindoldenhorn, die drei vorgelagerten Gipfel der Blüemlisalp mitgezählt: Fünf Mal steht er als Erster oben. Fritz Ogi von Kandersteg ist bei vier Erstbesteigungen dabei. 8. Juli 1871: Erstbesteigung des Fründenhorns (3369 m) durch Ferdinand Corradi, Lehrer an der Kantonsschule Bern, den Arzt Emil Ober und die Führer Fritz Ogi aus Kandersteg und Peter Rubi aus Grindel181
«Ihr begreift sie nicht, diese Lust, die ihr nie hier oben waret.» Abraham Roth und Edmund von Fellenberg: Doldenhorn und Weisse Frau, 1863
Weit leuchten die Berner Oberländer Gipfel Blüemlisalp, Fründenhorn und Doldenhorn mit ihren Firnen ins schweizerische Mittelland. Ganz nah aber werden hier ihre sieben Gipfel vorgestellt: in diesem schönen Buch, das schreibgewandte Alpinisten und Bergsteigerinnen, berühmte Schriftsteller, Maler und Sänger mit ins Seil knotet. Und Schiffe und Ski, Hütten und Haken für die Reise einsetzt. «Imposante Massen, in feinstes Weiss gekleidet, das sich wieder wunderbar schön vom dunkeln Blau des Himmels abhebt, bieten sich selten in so ergreifendem Totaleffekte dar.» Doldenhorn und Weisse Frau, 1863
ISBN 978-3-906055-28-2 ISBN: 978-3-906055-77-0