147339

Page 1

KLAUS FISCHER

LOWPRICELIGHTER DRY (III)



KLAUS FISCHER

L OWPRICELIGHTER D RY (III) M IT

EINER

E INLIGHTUNG

VON

A RNO N ÜHM


4/Lowpricelighter Dry 4

Copyright © 2004 by Asaph Verlag, D-Lüdenscheid 1. Auflage 2004 Umschlaggestaltung und Illustration: Vision C, Karl Gerd Striepecke, D-Varenholz Satz/DTP: d.m.s., D-Leverkusen Druck: Breklumer Druckerei M. Siegel, D-Breklum Printed in the EU ISBN 3-935703-39-2 Bestellnummer 147339 Für kostenlose Informationen über unser umfangreiches Lieferprogramm an christlicher Literatur, Musik und vielem mehr wenden Sie sich bitte an:

ASAPH D-58478 Lüdenscheid E-Mail: asaph@asaph.net www.asaph.net


5

F ÜR K ARL


6/Lowpricelighter Dry


Einlightung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 009 Der Auserw채hlte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 013 Die Beerdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 025 Es geht weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 035 Erntedankfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 045 Das Seminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 053 Midlife-Crisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 067 Der Krankenbesuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 077 Billy Gairvine kommt nach Deutschland . . . . . . . . Seite 087 Die Jagd beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 101 Geistlicher Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 115 Besuch im Seniorenheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 125 Die Aufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 135 Der Durchbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 145 Alles wird gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 153 Nachschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 155


8/Lowpricelighter Dry


EINLIGHTUNG/9

Zehn Jahre waren vergangen. Ich war immer noch dazu ausersehen, der am Boden liegenden Christenheit neues Leben einzuhauchen. Allerdings hatten große Teile dieser Christenheit sich sowohl meiner zunehmenden geistlichen Reife und Weisheit als auch meinen außergewöhnlichen musikalischen Fähigkeiten verweigert und lagen deshalb weiterhin am Boden. Weder in unserer Gemeinde noch in unserem Land war auf geistlicher Ebene sonderlich viel passiert. Lediglich in China hatte es eine Erweckung gegeben. Allerdings muss ich fairerweise darauf hinweisen, dass ich damit wohl nur relativ wenig zu tun hatte. Insofern waren die letzten zehn Jahre auch an meinem Umfeld nahezu spurlos vorbei gegangen … außer an meiner Frau Gitti, die mittlerweile doch merklich älter geworden war. Na gut, trotz ihres biblischen Alters von 44 Jahren hatte sie sich einigermaßen gehalten und sah wenigstens immer noch besser aus als die meisten anderen Frauen in unserer Gemeinde. Gut, dass Gott wenigstens uns Männern eine natürliche Schönheit mitgegeben hat, die mit zunehmendem Alter noch attraktiver wirkt … … zehn Jahre, in denen unsere Tochter Steffi vom kleinen Mädchen zu einer jungen Frau herangereift war. Sie ging mittlerweile schon in die neunte Klasse und tat leider nicht immer


LOWPRICELIGHTER DRY nur das, was ihre Erziehungsberechtigten für geboten hielten. Aber im Großen und Ganzen war sie immer noch unsere „Lieblingstochter“ (zumal sie unser einziges Kind war …) … zehn Jahre, in denen sich unsere Freie Erweckungsgemeinde kaum verändert hatte. Kurt hatte das Amt des Pastors und Gemeindeleiters nach seiner Rückkehr aus dem Ruhestand wieder übernommen. Er war mittlerweile schon fast fünfundsiebzig Jahre alt und hatte bereits mehrfach betont, er müsse aus gesundheitlichen Gründen langsam etwas kürzer treten. Das hatte jedoch niemand ernst genommen, denn noch kürzer als ein Pastor konnte man ja wohl nicht treten, oder? … zehn Jahre, in denen Horst Adler aus Altersgründen aus dem Ältestenkreis ausgeschieden war. Deshalb hatten wir nach einem fähigen und geistlich gereiften Mitarbeiter Ausschau gehalten, der geeignet schien, die enorme Verantwortung neben Wolfgang Holbein, unserem anderen Ältesten, zu tragen. In aller Demut darf ich sagen, dass die Wahl auf mich gefallen war, obwohl ich mir ja aus Titeln und Positionen nichts mache … … zehn Jahre, in denen ich als Gemeindeältester, Lobpreisleiter, Worshipleader, Psalmist, Leiter des musikalischprophetischen Dienstes und Musical Art Director meine Brüder und Schwestern jeden Sonntag an neue geistliche und musikalische Quellgründe geführt hatte. Die – überfällige – internationale Anerkennung als geistlicher Leiter inklusive entsprechender Einladungen als Konferenzsprecher war mir dennoch bisher leider verwehrt geblieben. Nicht, dass das für mich persönlich wichtig gewesen wäre; es war nur schade um den Segen, der großen Teilen der am Boden liegenden Christenheit während dieser Zeit vorenthalten geblieben war. … zehn Jahre, in denen Günter Siekmann trotz etlicher verzweifelter Versuche immer noch keine Frau gefunden hatte.


EINLIGHTUNG/11 11 Genau genommen hatte zwar Else Baluschek Interesse an einer Beziehung zu Günter bekundet. Sie war aber von ihm mit folgenden Worten zurückgewiesen worden: „Die Frau, die der Herr für mich bereit hält, ist mindestens 30 Jahre jünger als du. Und sie sieht ungefähr so aus wie Jennifer Lopez und nicht wie die dicke Schwester von Inge Meysel.“ … zehn Jahre, in denen Else Baluschek einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Rente für kostspielige Besuche bei Coiffeur Serge und Silly Kohn’s Beauty-Center investiert hatte, um so ähnlich auszusehen wie Jennifer Lopez. Der Erfolg hatte sich jedoch in Grenzen gehalten, was bei Else Baluschek zu nervlichen Problemen führte. Darüber hinaus hatte sie mehrfach versucht, ihre musikalische Mitarbeit im Lobpreisteam durchzusetzen, was jedoch am erbitterten Widerstand der Sänger und Musiker gescheitert war. Insbesondere unser Bassist Siggi, der früher mal beim christlichen Gesangsduo Arno & Arthur gespielt hatte, durchschnitt nach wie vor die Kabel, wenn Else sich auf weniger als fünf Meter einem Mikrofon näherte. … zehn Jahre, in denen unser Lobpreisteam drei verschiedene Gitarristen namens Klaus ausprobiert hatte. Unser neuer Mann hieß überraschenderweise Achim und war eine echte Bereicherung für uns, da er doppelt so viele Akkorde beherrschte wie sein Vorgänger: sechs. … zehn Jahre, in denen der Hund meines Nachbarn Wilfried mindestens einmal wöchentlich vor unserem Hauseingang sein Geschäft erledigt hatte (ich konnte ihn leider nie dabei erwischen, aber ich spürte ganz tief in mir, dass nur er das sein konnte …) Im Grunde genommen war also alles ganz „normal“ gelaufen. Und es hätte auch weitere zehn Jahre so weiter gehen können, wenn nicht … Na ja, am besten, Sie lesen selbst …


12/Lowpricelighter Dry


EINLIGHTUNG/13

In den letzten Jahren hatte ich mich in den sentimentalen Momenten meines Lebens manchmal gefragt, ob der Tod von Onkel Herbert eigentlich wirklich durch meinen versehentlichen Samba-Rhythmus auf dem Keyboard ausgelöst worden war. Die genauen Umstände seines plötzlichen „Heimgangs“ waren ja nie geklärt worden. Ich beruhigte mich dann aber immer wieder damit, dass Onkel Herbert jetzt, nach so vielen Jahren, auch ohne „Großer Gott, wir loben dich“ und ohne Samba ganz bestimmt schon gestorben wäre. Und vielleicht hatte ich ihn ja auch vor einem langen Leidensweg oder einem schmerzhaften Tod bewahrt. Ja, ganz bestimmt sogar! Im Grunde genommen konnte er mir also dankbar sein. Und darüber hinaus hatte ich ihn in der Lobpreisleitung ja nicht nur ersetzt, sondern durchaus für neue Maßstäbe gesorgt. Nicht zuletzt durch meine Mitarbeit war es unserer Gemeinde gelungen, die Zahl unserer Mitglieder in den letzten zehn Jahren von 84 auf 86 hoch zu schrauben. Von einer kleinen Erweckung zu sprechen erscheint also durchaus nicht übertrieben. Am Tod unseres Pastors Kurt Ring traf mich aber auf jeden Fall keine Schuld. Denn erstens hatte ich im entscheidenden Moment gar kein Keyboard dabei! Zweitens hatte ich keinen Samba gespielt und drittens war Kurt auch schon schwer krank, als ich zu ihm kam. Aber alles der Reihe nach.


LOWPRICELIGHTER DRY Es geschah an einem Samstag. Ich kam gerade mit meiner Tochter Steffi vom Tippi-Toppi-Markt, wo wir unseren Wocheneinkauf erledigt hatten. Als ich in unsere Straße einbog, sah ich bereits den blauen Opel Viagra von Holbeins direkt vor unserem Haus. Wolfgang hatte den Wagen erst vor kurzem bei dem neuen polnischen Importhändler Wintaczek zu einem Schnäppchenpreis gekauft. Ich vermutete zunächst, dass Elke Holbein bei meiner Frau Gitti zu Besuch war und dass die beiden mal wieder miteinander quatschten und Tee tranken, statt sich im Haushalt nützlich zu machen. Als ich jedoch ins Haus kam, stellte sich heraus, dass nicht etwa Elke bei Gitti war, sondern dass Wolfgang auf mich wartete. Hätte ich (… ein Gemeindeältester) geahnt, dass Wolfgang (… ein anderer Gemeindeältester) mich (… also einen Gemeindeältesten) in meinem Haus (… also dem Haus eines Gemeindeältesten) empfängt, dann wäre die Kiste mit den Weinflaschen natürlich zunächst im Auto geblieben. Normalerweise kommen Gemeindeälteste nur zu Besuch, wenn man irgendwas ausgefressen hat. Deswegen überlegte ich kurz, ob ich möglicherweise was Sündiges angestellt hatte. Nein, da war nichts, na ja, außer vielleicht … aber das konnte Wolfgang unmöglich mitgekriegt haben. „Hallo Arno“, begrüßte mich Wolfgang und riss mich aus meinen Gedanken. „Gitti hat mir gesagt, dass du bald zurück sein würdest. Deshalb habe ich auf dich gewartet.“ Ich versuchte, ihn möglichst unschuldig anzusehen. „Hallo Wolfgang. Schön dich zu sehen. Gibt’s was Wichtiges?“ „Kurt liegt im Sterben“, sagte Wolfgang. Er musste eine Pause machen, bevor er weiterredete: „… Käthe hat mich angerufen. Kurt hat darum gebeten, dass ich um zwölf Uhr bei ihm im Krankenhaus vorbeikommen soll. Und du sollst zu halb eins noch mal zu ihm fahren.“ Ich war natürlich ziemlich geschockt. Gleichzeitig wunderte ich mich über diese konkreten Zeitangaben, denn eigentlich hatte Kurt bisher nicht die Angewohnheit gehabt, Termine wie


DER AUSERWÄHLTE ein Zahnarzt zu vergeben. Wolfgang bemerkte wohl meinen fragenden Blick und sagte: „Käthe hat mir am Telefon diese Zeiten genannt.“ Die schlechten Nachrichten kamen ziemlich überraschend. Zwar hatte es in letzter Zeit einige Gerüchte über Kurts Gesundheitszustand gegeben, aber dass es so ernst war, damit hatte niemand gerechnet. Wir setzten uns ins Wohnzimmer. „Käthe hat gesagt, dass Kurt Probleme mit dem Herzen hat“, erzählte Wolfgang. „Sein Zustand ist wohl so kritisch, dass der Arzt ihn nicht operieren wollte. Käthe sagte, Kurt geht davon aus, dass seine Zeit hier auf der Erde zu Ende ist.“ „Mist!“, sagte ich. Keine besonders schlaue Bemerkung für einen Gemeindeältesten, aber was Besseres fiel mir nicht ein. „Käthe hat erzählt, dass er schon dabei ist, seine Nachfolge zu regeln“, sagte Wolfgang. „Wenn ich sie richtig verstanden habe, dann will er mich sozusagen kommissarisch zum Pastor ernennen, bis wir einen Nachfolger gefunden haben. Und ich nehme an, dass er mit dir schon mal die Musik für seine Trauerfeier durchsprechen will.“ Ich fand diese Vorstellung ziemlich makaber. In Krankenhäuser gehe ich sowieso nicht gerne, aber zur Planung einer Beerdigung – zumal mit dem Betroffenen – schon gar nicht. In diesem Moment kam Gitti aus der Küche und sagte: „Wollt ihr vorher noch was essen, bevor ihr zu Kurt fahrt? Ich habe Linsen gemacht. Die reichen für uns alle.“ Wolfgang nahm das Angebot gerne an. Offensichtlich war er auch nicht so versessen darauf, ins Krankenhaus zu fahren und Kurt einen Besuch abzustatten. Was mich anbelangt, so hatte ich aufgrund der schlechten Nachrichten sowieso keinen Appetit mehr. Und auf Linsensuppe schon gar nicht. Ich hatte Gitti wohl schon hundertmal gesagt, dass ich keine Linsensuppe mag, aber sie kocht trotzdem immer wieder dieses Zeug. Na ja, das ist jetzt ein anderes Thema – für ein Seminar für Frauen von geistlichen Leitern …


LOWPRICELIGHTER DRY „Wenn ihr nichts dagegen habt, dann fahre ich jetzt schon zu Kurt, um die Sache möglichst hinter mich zu bringen“, sagte ich deshalb. Wolfgang entgegnete: „Ich komme nach, sobald ich die herrlich duftende Linsensuppe probiert habe.“ (Schleim!) Ich lud zusammen mit Steffi die restlichen Kartons aus dem Auto und machte mich dann auf den Weg zur Klinik. * Es war etwa zehn vor zwölf, als ich dort ankam. Ich erkundigte mich beim Pförtner, wo ich Herrn Kurt Ring finde. Der Mann in der Auskunft schaute auf seinen Computer und sagte dann: „Kurt Ring? Den haben wir hier nicht. Kann es sein, dass der schon tot ist?“ „Ich hoffe nicht. Zumindest soll er heute Morgen noch gelebt haben.“ Der Mann schaute noch mal auf den Bildschirm und meinte dann: „Ach ja, hier … Doch, der müsste noch leben, wenn Sie sich beeilen. Intensivstation 3, Zimmer 332, dritter Stock. Sie können den Aufzug nehmen, falls die Servicefirma die Stahlseile schon erneuert hat. Und wenn die es nicht richtig gemacht haben, dann können sie gleich hier bleiben.“ Er grinste mich an. Diese Art von Humor kann ich nun wirklich überhaupt nicht ab. Ich nahm die Treppe. Als ich endlich im 3. Stock angekommen war, stellte ich fest, dass meine Kondition offenbar auch nicht mehr die beste war. Zumindest schnaufte ich nicht wie ein leicht übergewichtiger Mitvierziger, sondern wie ein dicker alter Mann. Na ja, meine Tochter behauptete immer, ich sei ein dicker alter Mann, aber das ist jetzt ein anderes Thema – für ein Seminar mit Töchtern von geistlichen Leitern … In diesem Moment fiel mir ein, dass es wohl besser gewesen wäre, bei einem Krankenbesuch ein kleines Geschenk mitzubringen. Ich ging also die Treppen noch mal runter und


DER AUSERWÄHLTE machte mich im Krankenhaus-Kiosk auf die Suche nach einem geeigneten Mitbringsel. Wie wäre es mit einer Zeitung? Aber welche Zeitung bringt man einem Pastor mit? Fernsehzeitschriften mit spärlich bekleideten Frauen kamen ja wohl kaum in Betracht. Und meine Fachzeitschrift „Tastenwelt“ für Orgelspieler hätte ihn wohl auch nicht so interessiert. „Haben Sie eine Zeitschrift für Pastoren?“, fragte ich die Verkäuferin. „Nö, ich glaube, das letzte Exemplar von Preacher’s World ist schon weg“, sagte sie und empfahl mir dann einen Obstkorb. Ich nahm den Korb, obwohl der 18,50 Euro kosten sollte. Das würde ich dann mit den nächsten Kollekten verrechnen, so viel war klar. Auf dem Flur traf ich Günter Siekmann, der in unserer Gemeinde immer noch für seine gelegentlichen Aussetzer bekannt war. „Arno, willst du auch zu Kurt? Dann können wir gemeinsam gegen den Geist der gesetzlichen Krankenversicherung beten“, sagte er. Ich ahnte Schlimmes und überlegte, ob ich nicht doch lieber am Nachmittag noch mal wiederkommen sollte. Günter entschied sich für den Fahrstuhl, deshalb nahm ich erneut die Treppe. Ich hoffte, Günter würde mit seiner peinlichen Gebetsaktion fertig sein, bevor ich oben ankam, deshalb ging ich betont langsam. Als ich oben auf der Station war, gab mir die zuständige Schwester einen grünen Kittel und einen Mundschutz. Ich versuchte mich zu wehren und sagte: „Ich will hier niemanden operieren, sondern nur Herrn Ring besuchen.“ „Das ist Vorschrift, damit die Patienten sich nicht infizieren“, sagte die Schwester. Widerstand schien zwecklos und ich verkleidete mich als Arzt. „Zimmer 332“, sagte sie dann kurz und knapp. Ich machte mich auf den Weg mit einem etwas mulmigen Gefühl und klopfte schließlich an die Zimmertür von Raum 323. Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, stutzte ich zunächst. Im Zimmer standen drei Betten, von denen zwei belegt waren. Keiner der Pa-


LOWPRICELIGHTER DRY tienten sah aus wie Kurt. Ich fragte: „Ich möchte zu Herrn Ring, Pastor Kurt Ring.“ Die beiden Kranken schauten mich an. Derjenige, der sein Bett direkt am Fenster hatte, meinte: „Wir haben hier keinen Pastor.“ Der andere, dem es ziemlich schlecht zu gehen schien, richtete sich leicht auf und sagte: „Ich warte schon seit gestern auf meinen Pastor.“ „Wozu? Um dein Leben in Ordnung zu bringen?“, fragte der Mann am Fenster. „Das kannst du immer noch, wenn du da oben bei Petrus ankommst.“ „Ja, genau!“, sagte ich und verabschiedete mich schnell. Nachdem ich das Zimmer verlassen hatte, wurde mir jedoch bewusst, dass man diese Aussage nicht so stehen lassen konnte. Ich kehrte deshalb noch mal um und sagte zu den beiden: „Äh, nur mal so ein kleiner Tipp: Wenn die Sache mit dem Himmel klar gehen soll, dann bringen Sie Ihr Leben doch lieber noch hier auf der Erde in Ordnung …“ Dann machte ich mich auf den Weg zu Kurt und erkundigte mich bei einem Krankenpfleger: „Wo finde ich Herrn Ring?“ „Den Herrn der Ringe? Im Kino …“, sagte er und freute sich wie Gollum über sein Wortspiel. Ich schaute ihn strafend an, um endlich eine vernünftige Antwort zu bekommen. „Sie meinen den Prediger von dieser komischen Sekte?“, fragte er dann, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Ja, genau den!“ Er deutete auf Zimmer 332. „Da drin.“ „Danke! Und noch was: Wir sind keine Sekte!“, rief ich ihm hinterher. „Ja, ja, das sagen sie alle. Besonders die von den Sekten!“, sagte er und lachte schon wieder. Ein echter Komiker. Ich hatte keine Zeit für weitere Diskussionen und klopfte deshalb jetzt an Zimmer 332. Als ich eintrat, spürte ich eine gewisse Bedrückung. Kurt lag in einem der beiden Betten, das andere war leer. Günter Siekmann war zum Glück entweder noch nicht da oder schon wieder weg. Als ich näher kam, konnte ich sehen, dass Kurt wirklich schlecht aussah.


DER AUSERWÄHLTE „Hallo Kurt“, sagte ich. „Wie geht es dir?“ Kurt richtete sich in seinem Bett mühsam auf und sagte: „Schön, dass du da bist, Wolfgang!“ Ich stutzte. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass Wolfgang etwas von starken Medikamenten erzählt hatte, die Kurt bekommen würde. Möglicherweise nebelte das seinen Verstand ein und er war deshalb etwas durcheinander. Außerdem konnte er mich im Kittel und mit Mundschutz ja vermutlich sowieso nicht so genau erkennen. „Ich bin nicht der Kurt, sondern Arno, Wolfgang … äh, ich meine, ich bin nicht der Wolfgang, sondern Arno, Kurt.“ Er schien gar nicht richtig zuzuhören. „Schönen Gruß von Gitti“, sagte ich dann. „Gitti?“, murmelte Kurt, als könne er sich nicht mehr an sie erinnern. Er schien wirklich ziemlich verwirrt zu sein. „Gitti ist meine Frau, Kurt“, erklärte ich deshalb. „Ja“, sagte Kurt. „Gitti ist eine gute Frau!“ „Na ja …“, rutschte es mir heraus, aber Kurt schien das gar nicht gehört zu haben. „Ich möchte gerne für dich beten“, sagte Kurt. „Ich bin aber nicht …“, versuchte ich zu sagen, aber Kurt hatte mir in diesem Moment schon die Hand auf den Arm gelegt und die Augen geschlossen. Und wenn ein Pastor anfängt zu beten, dann hält man am besten die Klappe. „Dann ist es wohl sein Wille …“, sagte Kurt. Was war wessen Wille? Jetzt war es an mir, verwirrt zu sein, aber ich hatte nicht die Zeit, darüber nachzudenken, denn Kurt betete bereits: „Lieber Herr und Erlöser. Du hast mir Kraft gegeben, deine Gemeinde in Todtenhausen zu leiten. Ich spüre, dass es an der Zeit ist, diese Aufgabe weiter zu geben.“ Kurts Hand zitterte leicht, aber seine Stimme war fest und klar, als er zu mir gewandt sagte: „Im Namen Jesu segne ich dich als mein Nachfolger. Du sollst der Gemeinde als Leiter und Prediger dienen, bis ein geeigneter Pastor gefunden ist. Amen!“ „Amen“, sagte ich wie als Reflex, doch im nächsten Moment wollte ich widersprechen: „Nein, nicht ,Amen‘, denn …“


LOWPRICELIGHTER DRY „Doch ,Amen‘!“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah Käthe, die unbemerkt ins Zimmer gekommen war. Sie trug ebenfalls so einen albernen grünen Kittel und einen Mundschutz, aber ich hatte ihre Stimme natürlich sofort erkannt. „Sieh das als Willen Gottes an!“, sagte sie. „Aber er wollte doch eigentlich Wolfgang …“, versuchte ich zu widersprechen, obwohl ich wusste, dass bei Käthe jeder Einspruch zwecklos sein würde. Kurt ließ sich müde in sein Bett zurückfallen. Käthe richtete ihm liebevoll sein Kopfkissen und sagte zu ihm: „Du hast nicht für Wolfgang, sondern für Arno gebetet. Jetzt muss er wohl dein Amt übernehmen.“ „Herr, erbarme dich“, murmelte Kurt, als hätte er einen Fehler gemacht. Was sollte das denn nun wieder? Wieso musste Gott sich immer erbarmen, wenn ich damit zu tun hatte? „Lass mich offen mit dir sein“, sagte Käthe zu mir. „Kurt und ich haben seit einiger Zeit darum gebetet, wer die Gemeinde für eine Übergangszeit führen kann. Wir beide waren der Meinung, dass Wolfgang die richtige Wahl wäre. Er ist seit vielen Jahren ein guter und treuer Mitarbeiter. Aber wir wollten, dass in dieser Angelegenheit nicht unser Wille, sondern der Wille Gottes geschieht, und deshalb haben wir heute Morgen dafür gebetet, dass derjenige, der als Erster diesen Raum betritt, der Richtige sein wird. Und du warst der Auserwählte.“ „Apropos Auserwählter“, sagte ich, noch etwas verwirrt. „Wieso ist eigentlich Günter noch nicht da? Der hätte eigentlich schon vor mir hier sein müssen.“ Im nächsten Moment ging die Tür auf und Wolfgang kam herein. „Entschuldigt meine Verspätung“, sagte er. „Aber Gitti hatte mich noch zu einem Teller Linsen eingeladen und da konnte ich nicht widerstehen. Außerdem steckt der Fahrstuhl wohl fest.“ „Du kommst zu spät!“, sagte Käthe, und wer sie kannte, der hörte genau diesen feinen, leicht vorwurfsvollen Unterton in ihrer Stimme.


DER AUSERWÄHLTE Wolfgang schien nicht zu verstehen. „Aber …?“, er sah zu Kurt und deutete auf das Messgerät für die Herzfrequenz. „Er ist doch noch … Ich meine …“ „Kurt hat Arno bereits zu seinem Nachfolger gemacht!“, sagte Käthe. „Lasst uns nach draußen gehen. Ich werde dir alles erklären. Kurt muss sich jetzt ausruhen.“ Wir folgten ihr auf den Flur. Wolfgang schien mindestens genauso verstört zu sein wie ich, denn er stammelte nur vor sich hin: „Aber er wollte doch mich … er hat doch mit mir … ich bin doch viel bess…“ „Du solltest den Willen Gottes respektieren“, sagte Käthe zu ihm. „Nimm es als Zeichen des Herrn, dass dir die Linsensuppe wichtiger war.“ Dann erklärte Käthe ihm das, was sie kurz zuvor auch mir gesagt hatte. Mit anderen Worten: Wäre Wolfgang gleich ins Krankenhaus gefahren, statt bei uns noch Suppe zu essen, dann wäre er jetzt an meiner Stelle Gemeindeleiter geworden. Ich wusste doch immer, dass Linsensuppe nur Nachteile hat. Wolfgang schlug aus Verzweiflung mit der Faust gegen die Wand. „Ein Linsengericht!“, rief er, „ein Linsengericht ist mir zum Fluch geworden!“ Irgendwie kam mir diese Geschichte bekannt vor. Ich weiß nicht genau woher, aber ich musste eine ähnliche Handlung schon mal in einem Film gesehen haben. Wahrscheinlich in einem dieser christlichen Filme wie „Der Posaunator“ oder „Sonne, Sand und heiße Teens – Traktateinsatz in Malibu“, die zu Abschreckungszwecken ab und zu bei evangelistischen Veranstaltungen gezeigt werden. Käthe sprach noch eine ganze Weile mit uns. Sie sagte zu mir, ich solle mich durch Gebet und Fasten auf mein neues Amt vorbereiten. Ich nickte, obwohl Fasten natürlich aus gesundheitlichen Gründen nicht in Frage kam. An Wolfgang gewandt sagte sie, dass es seine Aufgabe sei, mich nach Kräften zu unterstützen und sich nicht von Neid oder Ärger vom Weg abbringen zu lassen.


LOWPRICELIGHTER DRY Auf dem Weg zum Ausgang hörte ich, dass der Fahrstuhl mittlerweile wieder funktionierte. Angeblich hatten die Leute von der Servicefirma einen völlig verstörten Mann aus der Kabine befreit, der immer irgendwas von „Ich binde den Geist zwischen Stockwerk 1 und 2 …“ gerufen hätte. Was wäre eigentlich passiert, wenn Günter als Erster in Kurts Zimmer gewesen wäre? Als ich nach Hause kam, fragte Gitti: „Was ist mit Kurt?“ „Es geht ihm sehr schlecht und er hat mich zu seinem Nachfolger ernannt.“ „Dich?“, fragte sie völlig verdattert, als hätte ihr gerade jemand erzählt, dass Arnold Schwarzenegger Politiker geworden sei. Ich meine, ein bisschen mehr Respekt vor dem eigenen Mann – zumal, wenn er Gemeindeleiter ist – wäre ja wohl schon angebracht, oder? * Abends um kurz vor neun kam Käthe bei uns vorbei. „Kurt ist eingeschlafen!“, sagte sie, nachdem ich die Haustür geöffnet hatte. „Das ist schön“, meinte ich, denn ich hoffte, er würde durch den Schlaf wieder zu Kräften kommen. Käthe schaute mich mit einem erschreckend leeren Blick an und fügte hinzu: „Er ist beim Herrn, Arno.“ „Oh, das ist … ich hatte … also dann, mein Beileid, Käthe. Wenn wir irgendwas für dich tun können …“ Ich nahm Käthe in den Arm und bat sie in unsere Wohnung. Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Ich hätte natürlich eigentlich ganz gerne den Krimi im ZDF zu Ende gesehen. Zumal ich mir ziemlich sicher war, dass die schwulen Maurer und der Musikproduzent ganz dick in den Mordfall verwickelt waren. Aber wenn man eine Frau zu Besuch hat, deren Mann gerade gestorben ist, dann macht man doch wohl besser den Fernseher aus.


DER AUSERWÄHLTE „Als zukünftiger Gemeindeleiter wirst du dann wohl die Beerdigung leiten müssen“, sagte Käthe. Ich konnte nicht antworten, denn ich war total geschockt. Eine Beerdigung? Tja, Gemeindeleiter müssen auch Beerdigungen halten. Daran hatte ich nicht gedacht. Und ich hatte erst recht keine Ahnung, wie man so was macht. Das ist ja schon was anderes, als sonntags vorne zu stehen und den anderen zu erzählen, welche Sünden sie in der kommenden Woche lieber bleiben lassen sollen. Da sitzen jede Menge Leute in einer fremden Friedhofskapelle und man muss nicht nur eine Predigt halten, sondern auch noch hinter dem Sarg herlaufen und irgendwas mit „Asche zu Asche, Wasser zu Wein“ oder so was Ähnliches sagen. Wie sollte ich das hinkriegen? An diesem Abend betete ich erstmals wirklich ernsthaft, Jesus möge noch vor nächsten Mittwoch wiederkommen.


24/Lowpricelighter Dry


EINLIGHTUNG/25

„Haben Sie ein Buch über Beerdigungen?“ Die Verkäuferin sah mich etwas merkwürdig an. „Suchen Sie etwas über heidnische Totenkulte?“ „Nein, eher etwas über christliche …“, sagte ich. Ihr Blick wurde noch fragender. „Ich suche etwas, wo man ein paar Tipps für Beerdigungen bekommt“, versuchte ich zu erklären. „Ich muss übermorgen eine Beerdigung leiten.“ „Ich fürchte, da haben wir nichts auf Lager“, sagte sie. „Aber ich kann mal im Computer nachschauen.“ Sie begann auf der Tastatur etwas einzutippen und starrte dann auf den Bildschirm. „Also, wir haben hier unter dem Stichwort ,Beerdigung‘ 745 verschiedene Titel. Das meiste ist zum Thema ,Nekrophilie‘. Das dürfte Sie nicht interessieren.“ „Nein, der Verstorbene ist ein Weißer“, sagte ich. Sie sah mich etwas irrritiert an. Manchmal wundert man sich, wieso das Verkaufspersonal in bestimmten Läden nicht besser geschult wird. „Aber vielleicht dieses hier“, sagte sie und deutete auf den Bildschirm. „Hier haben wir ein Buch mit dem Titel ,Die Geschichte der Gräber von der Antike bis zur Neuzeit‘ von Ben Galisch für neun Euro fünfundneunzig. Das könnten wir bis morgen früh beschaffen.“ „Neun Euro fünfundneunzig?“, fragte ich erstaunt. „Meine Güte, die Buchpreise werden auch immer happiger. Na gut, bestellen Sie das. Kriegt man als Prediger Rabatt?“


LOWPRICELIGHTER DRY Sie schaute mich schon wieder so merkwürdig an. „Sie sind Prediger?“ „Ja“, sagte ich. „Und dann wissen Sie nicht, wie eine Beerdigung geht?“ „Ich bin erst seit vorgestern Prediger!“, antwortete ich. „Wenn Sie mir nicht glauben, dann können Sie gerne am Mittwoch um 14 Uhr zur Beerdigung auf den Waldfriedhof kommen. Ich hole dann das Buch morgen früh ab.“ Ich ließ sie stehen, denn ich wollte noch bei Käthe vorbeischauen. Gitti und Elke hatten sich schon morgens getroffen, um Käthe bei den nötigen Formalitäten mit dem Beerdigungsunternehmen zu helfen. Käthe wirkte sehr ruhig und gefasst. „Ich weiß, dass er jetzt bei Jesus ist!“, sagte sie. „Das ist mein Trost, auch wenn ich ihn sehr vermisse.“ Sie sagte das mit einer festen Stimme, während ich einen dicken Kloß im Hals hatte. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich möglicherweise nicht nur Probleme beim organisatorischen Ablauf der Beerdigung, sondern auch bei der eigentlichen Predigt bekommen könnte. Was wäre, wenn ich mittendrin anfange zu heulen? Wenn ich nicht mehr weitersprechen kann? Ich meine, ein Gemeindeleiter darf doch wohl nicht einfach anfangen zu flennen, oder? Bisher hatte ich bei Beerdigungen ja immer nur Orgel gespielt. So was kann man mit ein bisschen Erfahrung auch noch mit Tränen in den Augen. Aber predigen? Eigentlich sollte ich ja eher derjenige sein, der Käthe jetzt Trost spendete, aber ich sagte einfach ganz offen zu ihr: „Käthe, ich weiß nicht, ob ich das hinkriege. Ich hab keine Ahnung, wie man so was organisatorisch macht, und ich weiß auch nicht, ob ich mitten in der Predigt heulen muss.“ In diesem Moment war es schon so weit und meine Augen füllten sich mit Tränen. „Denk an Josua“, sagte Käthe. Ich nickte hilflos und versuchte herauszufinden, was sie damit meinte. Josua war doch der, den seine Brüder nach Ägypten verkauft hatten. Oder war


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.