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Der Lowprice -Lighter
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Der Lowprice -Lighter K LAUS F ISCHER
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ENDGÜLTIGE
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Der Lowprice -Lighter
COPYRIGHT © 1998 Asaph-Verlag, D-Lüdenscheid UMSCHLAGGESTALTUNG: Karl Gerd Striepecke, D-Varenholz DTP/EBV: Verlagsagentur H. Otto, D-Monheim DRUCK: Breklumer Druckerei M. Siegel, D-Breklum
ISBN: 3-931025-31-4 Best.-Nr.: 147531
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INHALT WILFRIED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 107 DIE EVANGELISATION . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 119 FRIEDE
AUF
ERDEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 128
FAST´N REKORD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 137 DER ABSCHIED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 147 DAS EHESEMINAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 156 URLAUB
IN DEN
BERGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 167
DER KINDERGOTTESDIENST . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 176 DIE LOBPREISTOURNEE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 184 DER BLINDDARM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 193 DER CHOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 107 DIE BUSSPREDIGT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 115 DER UMBAU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 123 DIE RÜCKKEHR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 134 SCHLUSSWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 142 ANMERKUNG
DES
AUTORS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 143
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Prolog
WILFRIED Wütend prasselte der Regen gegen die Fensterscheibe. Ich schaute seit einiger Zeit hinaus in den trüben und kalten Novembertag. Meine einzige Freude an solchen Tagen bestand darin, unseren Nachbarn (den blöden Watermeier) zu beobachten, der trotz des miesen Wetters mit seinem Hund (dem blöden Nero) rausmußte. Ob dieser Mensch sich eigentlich mal Gedanken darüber gemacht hatte, daß sein sinnloses und jämmerliches Leben mit immer größerer Geschwindigkeit an ihm vorbeiraste? Hatte er darüber nachgedacht, daß jeder weitere Tag ihn dem unweigerlichen Ende ein Stück näher brachte? Wie gut war es doch, daß ich als Christ und Lobpreisleiter klare Ziele vor Augen hatte und in aller Demut meiner himmlischen Heimat harrte. Zugegebenermaßen war dieses „Harren“ aber noch nicht übermäßig ausgeprägt, denn neben der Tatsache, daß ich eigentlich ganz gerne auf dieser Erde bin, hatte ich auch noch eine Mission zu erfüllen. Ich war dazu ausersehen, der am Boden liegenden Christenheit neues Leben einzuhauchen. Nachdem Watermeier und Nero im Haus verschwunden waren und ich mich nicht länger am Anblick der beiden nassen und frierenden Gestalten erfreuen konnte, kehrte schlagartig das Gefühl der eigenen Unzufriedenheit zurück. Ich mußte feststellen, daß meine Lebensziele innerhalb der letzten Jahre nicht gerade in greifbare Nähe gerückt waren. Sicher, ich war Lobpreisleiter der mit Abstand wichtigsten Gemeinde in Todtenhausen. Ich hatte Mitarbeiter, die tun mußten, was ich sagte. Mein Pastor ließ mich in Ruhe, weil er offensichtlich meine außergewöhnlichen Fähigkeiten erkannt hatte und wußte, daß er sich sonst einen anderen suchen konnte. Ich hatte also in meiner Umgebung eine gewisse Bedeutung erlangt. Aber konnte das alles sein?
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Für einen Christen gibt es in einer solchen Situation der Unzufriedenheit und Depression nur einen Ausweg: Fernsehen! Ich ging ins Wohnzimmer und schaute mir die Übertragung vom Helgoland-Marathon an. Genau genommen verfolgte ich das Rennen nur halbherzig, denn meine Gedanken kreisten um meine undankbare Gemeinde. Mir war schon seit längerem aufgefallen, daß einige meiner Geschwister enorme Probleme hatten, meine besonderen Fähigkeiten anzuerkennen. Es gab sogar einige, die nicht nur mich unterschätzten, sondern sich sogar noch selbst für bedeutender hielten. Warum konnten die meisten anderen nicht begreifen, wie wichtig ich bin? Innerlich haderte ich mit allen, die nicht in der Lage waren, meine außergewöhnliche Berufung (die Betonung liegt auf „außergewöhnlich“!) zu erkennen. Längst hätte es haufenweise Anfragen aus anderen (am Boden liegenden) Gemeinden geben müssen, die mich um Hilfe bitten und hinterher ihre Dankbarkeit durch Tränen und Geld zum Ausdruck bringen. Leider wußten die meisten Christen wohl gar nicht, was ihnen entging. Bedingt durch die mangelnde Anerkennung und Wertschätzung meiner Person war es natürlich auch in unserer Gemeinde nicht so recht weitergegangen: Die Mitgliederzahl hatte sich nicht verändert, da glücklicherweise unsere älteren Geschwister noch durchhielten. Wir hatten sogar einen Neubekehrten, aber dafür war unser übergewichtiger Bruder Jens Burmann nach Beendigung seines einjährigen Bibelschullehrgangs nicht wieder nach Todtenhausen zurückgekommen. Er war dem Ruf in den vollzeitlichen Dienst gefolgt, als man ihm einen guten Posten in der Bibelschulkantine angeboten hatte. Günter Siekmann hatte im letzten Sommer eine „Fahrradgebetstour“ organisiert und sich dabei ein Bein gebrochen. Ob Charismatiker eigentlich auch beten können, wenn sie die Hände am Lenkrad behalten? Mein alter Freund Paul Gossa und seine Frau Katarina hatten ihr zweites Kind bekommen. Als Paul bei uns angerufen hatte, um
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die Geburt seines Sohnes bekanntzugeben, hatte ich mich zunächst erschreckt, da er die obligatorische Frage nach dem Namen des Kindes mit „Herodes! Wir wollten einen biblischen Namen“ beantwortete. Doch dann war ich mir sicher, daß Katarina sowas nicht mitmachen würde. Sie nannten ihn schließlich Josua. Auch in unserem Lobpreisteam war alles beim alten geblieben. Elke Holbein hatte glücklicherweise eingesehen, daß sie wesentlich besser singen konnte als flöten. Mein musikalischer Mitstreiter Siggi hatte mit seinem Baß unseren Lobpreis mächtig auf Trab gebracht. Es gab einige ältere Geschwister, die davon nicht so begeistert waren, weil sie konkrete Vorstellungen zur musikalischen Gestaltung ihrer Lieblingslieder aus dem ungefähr vierzig Jahre alten „Erweckungsliederbuch“ hatten. Aber Siggi konnte sich glücklich schätzen, in mir einen aufgeschlossenen und in jeder Hinsicht gereiften Lobpreisleiter gefunden zu haben, der ihm – trotz seiner langen Haare – lästige Gemeindemitglieder vom Hals hielt. Der Marathonlauf im Fernsehen näherte sich nach zweieinhalbstündiger Übertragung dem Höhepunkt, als Gitti ins Wohnzimmer kam. „Wollen wir spazierengehen?“ fragte sie. „Steffi möchte gerne noch ein bißchen raus.“ Unsere Tochter, die mittlerweile fast vier Jahre alt war, liebte Spaziergänge über alles und unterstützte Gittis Vorschlag, indem sie mich am Arm zog. „Papa komm!“ sagte sie und schaute mich erwartungsvoll an. „Geht doch lieber alleine“, sagte ich im Hinblick auf das spannende Marathon-Finale. „Draußen ist es mir zu kalt, und ich fühle mich heute auch nicht so besonders.“ „Nein, du sollst mitkommen“, sagte Steffi. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ich wußte genau, sie würde gleich anfangen zu weinen. Da ich neben meinen ganzen anderen Qualitäten wirklich der beste Papa bin, den man sich vorstellen kann, sagte ich: „Also gut, ich komme mit.“ Als Mann hat man es wirklich nicht leicht. Ständig werden von uns in allen Lebensbereichen Höchstleistungen verlangt,
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und dabei soll man sich noch seine freundliche und gütige Ausstrahlung bewahren. Wenn man darüber hinaus noch Lobpreisleiter ist – also ein ganz besonderer Mann –, dann sind die Anforderungen natürlich noch höher. Es dauerte ungefähr eine Viertelstunde, bis Stefanie regensicher in ihrem dicken Anorak, der gefütterten Hose und den Gummistiefeln verpackt war. In dieser Zeit hätte ich mir auch gut noch die Übertragung des Billardturniers in Böblingen ansehen können, aber als guter Ehemann und Vater stand ich geduldig neben Gitti, bis sie unsere Kleine angezogen hatte. Nachdem wir endlich draußen waren, stellte ich fest, daß der Wind richtig kalt geworden war und uns heftig ins Gesicht blies. Stefanie schien das alles nicht zu stören, denn sie war mollig warm verpackt, aber ich sehnte mich nach meinem gemütlichen Fernsehsessel zurück. Als wir an Watermeiers Haus vorbeigingen, vermied ich es, in diese Richtung zu sehen. Ich wußte genau, daß er mich beobachtete und seinen Spaß dabei hatte, mich naß und frierend zu sehen. Manche Menschen haben wirklich eigenartige Vorlieben. Gitti meinte etwas später, ich würde einen ziemlich deprimierten Eindruck machen. Ich versuchte ihr zu erklären, daß in meinem Leben zur Zeit in einigen Bereichen Stillstand herrschte. Die Antwort meiner Frau, daß man hauptsächlich dann nicht weiterkäme, wenn man sich nur um sich selber dreht, fand ich nicht besonders geistreich. Ich wies sie sanft, aber bestimmt auf die Tatsache hin, daß ich als geistlicher Leiter mit Widerständen zu kämpfen habe, über deren Ausmaß sich normale Christen wie sie wohl kaum ein Bild machen könnten. Diese Bemerkung führte zu einer Anregung unseres Gespräches. Wir machten uns gegenseitig einige Vorwürfe, versuchten dabei aber, möglichst nicht zu laut zu schreien, um ein gutes Zeugnis für die Nachbarn zu bleiben. Schließlich erzählt man den Heiden ständig, daß nach der Bekehrung alles einfacher und besser wird.
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Als wir auf dem Rückweg wieder am Haus von Watermeier vorbeigingen, war meine Laune völlig am Boden. Dummerweise hatte der Regen kurz vorher aufgehört, und Watermeier fegte vor seinem Grundstück das Laub von der Straße. Da wir an ihm vorbeigehen mußten, kamen wir nicht drum herum, ihn zu begrüßen. Er erwiderte Gittis „Guten Tag, Herr Watermeier“ nur mit einem mürrischen Brummen und rief dann hinter mir her: „Sie könnten auch mal wieder Ihren Bürgersteig fegen, Herr Nuehm!“ Sowas machte er absichtlich, nur um mir den Tag zu versauen. „Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein, Sie alter Wichtigtuer!“ antwortete ich. Gitti stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite und sagte leise: „ Jetzt fang nicht an, ihn zu beleidigen. Ganz unrecht hat er ja nicht.“ Ich frage mich manchmal, ob andere wichtige Persönlichkeiten im Reich Gottes auch mit den gleichen widrigen Umständen zu kämpfen haben wie ich. Irgendwie machen bekannte Fernsehprediger wie zum Beispiel Billy Gairvine aus Colorado nicht so sehr den Eindruck, als hätten sie verständnislose Ehepartner, nervende Nachbarn oder einfach langweilige Tage, an denen sie deprimiert sind. Als wir wieder in der Wohnung waren und uns endlich in Ruhe anschreien konnten, versuchte ich Gitti klarzumachen, daß es ja wohl ganz alleine meine Sache sei, wann und wie ich den Bürgersteig fege, und daß ich mir bestimmt nicht ausgerechnet von unserem blödesten Nachbarn Watermeier irgendwelche Vorschriften machen lasse und daß sie als meine Frau gefälligst zu mir stehen muß und mir nicht andauernd noch in den Rücken fallen soll und daß ich mir nicht alles gefallen lasse, weil ich schließlich nicht der „Hans Wurst“ bin und überhaupt … Die Krönung des Tages war die Tatsache, daß mitten in der Fortsetzung unseres Ehestreites die Türglocke klingelte. Mir waren gerade vorher noch einige gute Argumente eingefallen, und ich hätte Gitti sicher endlich überzeugen können, aber ausgerechnet jetzt mußte Günter Siekmann vorbeikommen.
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„Ich wollte euch gerne mal besuchen, weil ich alleine zu Hause in meiner Dreizimmerwohnung rumsaß und mir dort die Decke auf den Kopf fiel“, sagte er. Ich hätte ihm eigentlich gerne erklärt, daß er äußerst ungelegen kam, aber Gitti sagte: „Komm doch rein.“ Als wir im Wohnzimmer saßen, begann Günter einen Monolog über die ihm bislang nicht vergönnten Vorzüge des Ehelebens: „Ihr seid so sehr gesegnet. Der Herr hat euch beide zusammengeführt, um einander in Liebe und gegenseitiger Hochachtung zu begegnen.“ Ich fürchtete einen Moment lang, Gitti würde ihm erzählen, was ich für ein Versager bin. Aber sie sagte nichts, und Günter ließ sich in seinem Redeschwall nicht unterbrechen: „Ihr seid gemeinsam stark, um den Angriffen des Feindes zu widerstehen und euch in Frieden und Vergebung zu unterstützen. Ihr ergänzt euch und führt ein harmonisches Leben in Gemeinsamkeit und Glück. Euer Leben ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Ihr tragt euch mit tiefem Verständnis durch alle Schwierigkeiten hindurch und habt Gemeinschaft.“ Er seufzte und brachte dann endlich seine Ansicht auf den Punkt: „Ich frage mich, warum der Herr mir das bislang vorenthalten hat.“ Ich wollte in meinem spontanen Frust über unseren Streit gerade sagen: „Sei froh!“, aber das hätte meine Gitti nicht verdient. Günter erklärte uns, er habe bereits alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um eine Frau zum „Auffüllen“ seiner Dreizimmerwohnung zu finden. Leider ohne Erfolg. Selbst seine Kontaktanzeige in der christlichen Singlezeitschrift „Zölibat“ war unbeantwortet geblieben: Geistlicher Leiter sucht treue und gutaussehende Gefährtin zwischen 25 und 39 für Gebets- und Lebensgemeinschaft. Dreizimmerwohnung, Mitsubishi Charisma und Glaube für höheres Einkommen vorhanden. Zuschriften mit Bild unter Chiffre 008.
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Günter ging, nachdem er bei uns Abendbrot gegessen hatte (vier Scheiben Brot und dann noch jeweils doppelt belegt!), endlich wieder zurück in seine Dreizimmerwohnung. Da ich keinerlei Lust verspürte, unser unterbrochenes Streitgespräch vom Nachmittag wieder aufleben zu lassen, schaltete ich den Fernseher ein und sah mir einen amerikanischen Krimi an. Ich schlief während des Filmes ein und verpaßte deshalb die Aufklärung eines äußerst interessanten Mordfalles. Aber im Grunde war mir sowieso von Anfang an klar, daß nur Lester Highknee, der fiese Nachbar, der Mörder gewesen sein konnte. Apropos Nachbar! Während ich schlief, hatte ich einen merkwürdigen Traum, in dem Watermeier die Hauptrolle spielte. Wir hatten gerade Gottesdienst, und ich führte die Gemeinde durch mein Orgelspiel auf neue geistliche Höhen. Plötzlich ging die Tür auf, und Watermeier kam mit seinem Hund herein. Merkwürdigerweise sagte Watermeier nichts und blickte mich nur finster an. Dafür redete sein Hund! Alle Gemeindemitglieder drehten sich zu mir, als er mit der Pfote auf mich zeigte und rief: „Seht ihn an. Er kommt jeden Sonntag hierher und tut fromm. Aber in ihm sieht es ganz anders aus. Er haßt seinen Nachbarn.“ Meine Geschwister aus der Gemeinde schüttelten die Köpfe und wandten sich von mir ab. Glücklicherweise wachte ich in diesem Moment wieder auf. Ich wußte, es war alles nur ein Traum, und meine Brüder und Schwestern hatten nicht erfahren, wie ich in Wirklichkeit war. Das beruhigte mich ungemein. Trotzdem nahm ich mir vor, Watermeier in Zukunft etwas höflicher zu behandeln. Man kann ja nie wissen, wozu solche Träume gut sind. Da ich am nächsten Tag unseren Zaun streichen mußte, war von vornherein klar, daß es zu einer Begegnung mit ihm kommen würde. Denn er ließ es sich nie entgehen, mich bei der Gartenarbeit durch irgendwelche blöden Sprüche zu nerven. Aber in diesem Fall nahm ich mir vor, mich von ihm auf keinen Fall provozieren zu lassen.
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Nachdem ich mit der Arbeit begonnen hatte, dauerte es nur ungefähr fünf Minuten, bis er auftauchte. „Wurde aber auch langsam Zeit, daß Sie Ihrem Zaun einen neuen Anstrich verpassen“, sagte er. Dies war der Moment, in dem ich am liebsten gleich wieder alles zusammengepackt hätte. Doch ein echter Lobpreisleiter läßt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Ich reagierte auf seine Bemerkung zunächst nicht. Erst als er nicht locker ließ und mich fragte, wann ich denn endlich unsere Bäume beschneiden würde, antwortete ich ruhig, aber bestimmt: „Lieber Herr Watermeier! Ich finde es äußerst nett von Ihnen, daß Sie sich so große Gedanken um meinen Garten machen. Aber da ich mich nicht in Ihre Angelegenheiten mische, sollten Sie das vielleicht auch nicht tun.“ „Sie mischen sich nicht in meine Angelegenheiten?“ fragte er. „Wer wirft denn andauernd nachts diese frommen Zettel in meinen Briefkasten und möchte mich bekehren?“ Er schaute mich vorwurfsvoll an. Ich wußte zunächst nicht, was ich sagen sollte, denn ich hatte die Einladungszettel für Gemeindeveranstaltungen immer extra in der Nacht eingeworfen, damit Watermeier mich dabei nicht überraschen konnte. „Das ist … ääh, nun … ääh …“ Ich stotterte ziemlich unbeholfen. Warum fallen einem in solchen Situationen nicht gleich irgendwelche mächtigen Worte ein, die dafür sorgen, daß der andere auf seine Knie fällt und Buße tut? Zum Beispiel hätte ich folgende Version nicht schlecht gefunden: „… auch Sie brauchen Jesus, wenn Sie eines Tages vor Ihren Schöpfer treten“, sagte ich. Watermeier schaute mich an, während seine Augen feucht wurden. Dann sank er nieder auf seine Knie und fragte: „Was muß ich tun, um gerettet zu werden?“ Ich hockte mich neben ihn und sagte: „Sprechen Sie mir einfach das folgende Gebet nach: „… Herr Jesus … Danke, daß du mich liebst … ich möchte dir mein Leben geben … und dich kennenlernen … Danke für deine Gnade … Mein Leben soll dir
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gehören … Ich will in deiner Liebe wandeln … und aufhören, meine Nachbarn zu nerven!“ Wir umarmten uns. Nachdem ich meine spontane Idee, ihn gleich in Stefanies Planschbecken zu taufen, wieder verworfen hatte, da ich mir die Diskussion über das Thema „War er wirklich ganz untergetaucht?“ ersparen wollte, lud ich ihn auf eine Tasse Kaffee ein. Ich schlug ihm vor, sich unsere Gemeinde einmal anzusehen, und er antwortete: „Da ich Sie seit vielen Jahren heimlich bewundere, muß Ihre Gemeinde wohl aus ganz besonderen Menschen bestehen. Selbstverständlich werde ich kommen …“ Leider sah die Wirklichkeit etwas anders aus: „Auch Sie brauchen Jesus, wenn Sie eines Tages vor Ihren Schöpfer treten“, sagte ich. Watermeier schaute mich an. Dann prustete er los und lachte laut. „Sie sind vielleicht ein komischer Vogel“, brachte er zwischen seinem Gelächter hervor. „Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, daß es mir besonders reizvoll erscheint, so zu werden wie Sie!“ Dann hörte er auf zu lachen und sagte ziemlich ernst: „Lassen Sie mich in Zukunft mit Ihrem frommen Kram in Ruhe.“ Ich war sprachlos. Diese Momente, in denen einem gesagt wird, daß man auf ganzer Linie versagt hat, sind nicht gerade besonders angenehm. Nachdem Watermeier sich entfernt hatte, ließ ich meine Arbeit liegen und ging erstmal rein zu Gitti. Ich fragte sie, ob ich wirklich ein so schlechtes Zeugnis sei. Gitti meinte, ihr habe es auch nie besonderen Spaß gemacht, sich mit Watermeier zu unterhalten. „Seine ständige Meckerei kann einem ganz schön auf den Wecker gehen. Aber wahrscheinlich müßten wir uns als Christen ihm gegenüber wirklich anders benehmen.“ „Jetzt kommt wieder dieses Thema, daß man auch seine Feinde lieben muß. Aber was ist, wenn diese Feinde so dermaßen fies sind, daß man sie einfach nicht lieben kann?“ fragte ich. „Watermeier hat nun wirklich keine Gnade verdient!“ „Wir sollten immer daran denken, daß Jesus uns auch geliebt hat und sogar für uns ans Kreuz gegangen ist“, meinte Gitti.
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„Ja, schon, aber es ist doch wohl leichter, jemanden zu lieben, der so ist wie ich, als so einen wie Watermeier“, stellte ich fest. Gitti schaute mich etwas merkwürdig an. „Mein lieber Arno!“ Wenn sie mich schon so nannte, dann wurde es wirklich ernst. „ Jesus liebt alle Menschen. Auch ein Mensch wie Herr Watermeier, den wir nicht besonders mögen, ist in den Augen Gottes genauso wertvoll wie wir. Ob uns das nun paßt oder nicht. Also bete für ihn, und segne ihn!“ Ich zog es vor, das Gespräch zu beenden, denn aus christlicher Sicht hatte ich eindeutig die schlechteren Argumente. Deshalb sagte ich: „Also gut, ich werde ihn segnen. Aber nur noch dieses eine Mal.“ Ich ging wieder raus und begann den Zaun zu streichen. Als hätte er nur darauf gewartet, stand Watermeier innerhalb weniger Minuten wieder neben mir. „Können Sie die Pflastersteine nicht abdecken, wenn Sie hier streichen? Ich habe hinterher jede Menge Flecken auf meiner Seite“, sagte er vorwurfsvoll. Ich wäre am liebsten explodiert. Aber Gittis Worte hatten bei mir Eindruck gemacht. Gott liebte diesen Menschen. Ich konnte absolut nicht verstehen, warum, aber er tat es. Und er erwartete von mir, daß ich ihn auch liebe. „Selbstverständlich, Herr Watermeier“, sagte ich und bemühte mich, dabei freundlich zu sein. Wahrscheinlich sah mein Gesichtsausdruck in Wirklichkeit nicht besonders freundlich aus, aber ich hatte es wenigstens versucht. Mehr konnte Gott nicht von mir verlangen. Ich stand auf und sagte: „Ich werde sofort einige alte Zeitungen holen und Ihre Steine damit abdecken.“ Watermeier schaute mich an, als käme ich aus einer anderen Welt. Er hatte sicherlich eine meiner genervten Antworten erwartet, um darauf noch genervter zu reagieren. Es kostete mich große Überwindung, freundlich und höflich zu bleiben. Ich grinste ihn an wie Karl Gohn, der Waschmittelvertreter aus der Fernsehwerbung. Während ich in unserem Keller nach alten Zeitungen suchte, betete ich: „Herr, warum mußtest du mir ausgerechnet diesen blö… ich meine, diesen Herrn Watermeier schicken?“
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Keine Antwort. Mein Blick fiel auf eine alte christliche Zeitung, die in der Gemeinde verteilt worden war. „Leben in den letzten Tagen“ stand als Überschrift über einem Artikel. Der Autor befaßte sich mit dem Thema „Verfolgung“ und schrieb einiges über die Dinge, die wir Christen noch zu erwarten haben. Artikel oder Predigten über die Endzeit machten mich immer etwas nervös. Ich wollte wirklich gerne ein guter Christ sein, aber ich hatte absolut keine Lust, dafür ins Gefängnis zu müssen oder gar eines unnatürlichen und womöglich noch schmerzhaften Todes zu sterben. Plötzlich kam mir ein Gedanke: War diese Zeitung die Antwort auf meine Fragen? Was wäre, wenn wir wirklich verfolgt würden? Würde Watermeier mich verraten? Mir wurde schlagartig klar, wieso sein Hund „Nero“ hieß. Dann war da noch … ja, die Hausnummer 24 konnte man durch sechs teilen, im Nummernschild seines Autos kam auch eine Sechs vor, und … nein, sonst fiel mir nichts mehr ein. Meine Laune verbesserte sich nicht gerade bei der Vorstellung, daß Watermeier hämisch grinsend an der Straße stehen könnte, wenn ich von irgendwelchen antichristlichen Agenten abgeholt und den Löwen zum Fraß vorgeworfen würde (oder was immer die mit den Christen in der Endzeit machen). Ich beschloß, wieder verstärkt für die Entrückung zu beten. Da ich nie so ganz begriffen hatte, ob nun zuerst die Verfolgung oder die Entrückung oder das Tausendjährige Reich oder irgendwelche Katastrophen oder eine Posaune oder was anderes kommt, fand ich es legitim, Gott darum zu bitten, Gitti, Stefanie und mich (und natürlich meine Geschwister aus der Freien Erweckungsgemeinde Todtenhausen) rechtzeitig in den Himmel zu holen, bevor die ganzen unangenehmen Sachen losgehen. Als ich wieder nach draußen kam und einige Zeitungen unter dem Arm hatte, stand Watermeier mit zwei Flaschen Bier in der Hand am Zaun. „Ich habe gedacht, wir sollten vielleicht mal ein Fläschchen zusammen trinken“, sagte er.
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War das jetzt die moderne Form des Judaskusses? Ich zögerte. „Nun kommen Sie schon.“ Er hielt mir die Flasche hin und meinte: „Oder dürfen Sie in Ihrer komischen Kirche kein Bier trinken?“ „Doch“, sagte ich. „Wir sind ganz normale Menschen, und die meisten von uns trinken ab und zu auch mal ein Bier.“ Ich nahm die Flasche. Watermeier sagte „Prost!“ Er nahm einige Züge und meinte dann: „Vielleicht war ich in den letzten Jahren nicht immer ganz fair zu Ihnen, aber wir beide können ja versuchen, in Zukunft besser miteinander klarzukommen. Übrigens, ich heiße Wilfried.“ Was für ein blöder Name, dachte ich und sagte: „Ich heiße Arno.“ „Was für ein blöder Name“, sagte er und lachte.
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DIE EVANGELISATION Nach alter Gemeindetradition führten wir in jedem Jahr Ende November eine mehrtägige Evangelisation durch, um der heidnischen Bevölkerung die Frohe Botschaft zu verkündigen und unser Gewissen zu beruhigen. Die Veranstaltungen im Hotel „Zum Flotten Otto“ sollten von dem schwedischen Evangelisten Lasse Reinkømm geleitet werden. Unsere Jugendlichen hatten überall in der Stadt Traktate verteilt. Die vier Abende zu den Themen: „Gott liebt Sünder!“ „Gott liebt Versager!“ „Gott liebt hoffnungslose Fälle!“ und „Gott liebt Beamte!“ waren an Aktualität nicht zu überbieten, und deshalb rechneten wir mit einer guten Beteiligung. Um mich intensiv auf diese Tage vorzubereiten, hatte ich ab Mittwoch Urlaub genommen. In meinem Tagebuch finden sich hierzu folgende Eintragungen: Mittwoch, 20. November 13.30 Uhr: Habe mir ein neues Tagebuch mit Ledereinband und Goldschnitt gekauft. Werde hier insbesondere meine geistlichen Erlebnisse eintragen. Spüre in der letzten Zeit einen immer stärker werdenden Ruf in den vollzeitlichen Dienst. Kann nicht mehr lange dauern, bis ich über meine Gemeindegrenzen hinaus für den Herrn tätig werde. Will jetzt beten und empfangsbereit sein, um für die Evangelisation im „Flotten Otto“ gerüstet zu sein. 14.30 Uhr: Hatte während der stillen Zeit den Eindruck, ich würde gerufen. Hörte deutlich meinen
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Namen und antwortete: „Hier bin ich. Sende mich.“ Stellte sich allerdings heraus, daß nur Paul draußen unter dem Fenster gestanden hatte und meinen Namen rief, weil unsere Klingel kaputt ist. Schade! (Ende der Eintragung) Am Donnerstag trafen Siggi und ich als erste im „Flotten Otto“ ein, um unsere Musikanlage aufzustellen. Der Wirt begrüßte uns mit den Worten: „Guten Tag. Sie gehören sicher zu der religiösen Gemeinschaft, die unseren Tagungsraum gemietet hat.“ Ich fühlte mich veranlaßt, ihm klarzumachen, daß wir keine „religiöse Gemeinschaft“ sind, sondern die „Freie Erweckungsgemeinde“, also im Prinzip die allein seligmachende Kirche. „Sind Sie denn sowas ähnliches wie die Mormonen?“ fragte er. Ich bemühte mich, ihm in kurzen Worten zu erklären, daß wir nicht zu den Mormonen gehören und daß bei uns jeder nur eine Frau hat und daß das auch völlig ausreicht und daß wir keinen „Wachtturm“ verkaufen, sondern nur einen Büchertisch haben, und daß man bei uns freiwillig spendet und niemand einer Gehirnwäsche unterzogen wird und überhaupt. Er schaute mich etwas mitleidig an und meinte, er fände es bewundernswert, wenn Menschen sich für ihre Überzeugung engagieren (was soviel bedeuten sollte wie: „Ihr habt eine Macke, aber solange ihr mich damit in Ruhe laßt, ist es mir egal.“). Siggi und ich brachten die Instrumente und Verstärker in den Tagungsraum, der sich eher als etwas zu große Besenkammer herausstellte. Während wir noch damit beschäftigt waren, die Kabel anzuschließen, um den Gästen mit musikalischen Hochgenüssen die Bekehrung schmackhaft zu machen, kamen Horst und Inge Adler, die unsere Fürbittegruppe leiteten. Sie wollten zur Vorbereitung der Evangelisation beten. Kurz danach trafen Käthe und Günter Siekmann ein, und damit war unsere Fürbittegruppe komplett. Ich war nicht gerade begeistert,
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denn als Lobpreiser hat man mit Gebet logischerweise nicht so viel am Hut. Außerdem ist es äußerst lästig, wenn man versucht, die Feinabstimmung der Mikrofone vorzunehmen, während Günter irgendwelche Anfälle hat (JAAAA! AMEN! AMEN! AMÄÄÄÄHN! JAAA!). Ehrlich gesagt war es mir schon etwas peinlich, als der Wirt kurze Zeit später reinkam und fragte, ob wir Probleme haben. Da Günter gerade lautstark für eine „große Seelenernte“, die „Zerschlagung der steinernen Herzen“, die „Erweckung der geistlichen Totengebeine“ und eine „Ausgießung des heiligen Feuers“ betete, sah ich mich veranlaßt, unserem Gastgeber seelischen Beistand zu leisten. Während ich ihm gerade zu erklären versuchte, daß abgesehen von Günter eigentlich alle anderen in unserer Gemeinde ganz normal sind, fingen Inge, Käthe und Horst an, unter Stöhnen und Tränen für bußfertige Zuhörer zu beten. Fürbittegruppen sollten sich wirklich nur irgendwo in einem schalldichten Keller treffen (und meiner Ansicht nach auch dort bleiben). Nachdem Siggi und ich unsere Musikanlage endlich aufgestellt hatten, stellten wir fest, daß uns lediglich noch etwas mehr als eine Stunde bis zum Beginn der ersten Veranstaltung blieb. Siggi schlug daraufhin vor, eine Kleinigkeit im Hotel zu essen. Ich hatte grundsätzlich nichts dagegen, wollte jedoch Gitti anrufen, damit sie sich um eine Mitfahrgelegenheit kümmern konnte. Siggi stellte mir dafür sein Handy zur Verfügung. Leider bekam ich im Hotel jedoch keinen Empfang. Wir gingen deshalb nach draußen und versuchten es noch einmal. Aber wir konnten keine Verbindung herstellen. Erst als wir ungefähr eine Viertelstunde später nach mehreren Fehlversuchen direkt neben einer Telefonzelle standen, gelang es uns, eine freie Leitung zu bekommen. Gitti war allerdings nicht erreichbar, da sie sich längst um einen Platz im Auto von Wolfgang und Elke gekümmert hatte. Uns blieb nicht mehr viel Zeit, um etwas Eßbares aufzutreiben. Der Wirt des „Flotten Otto“ versprach uns, innerhalb von
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zehn Minuten sein berühmtes Omelett zu machen. Da wir nur noch eine gute halbe Stunde bis zum Beginn der Veranstaltung hatten, nahmen wir seinen Vorschlag an. Das „Flotter Otto-Omelett“ hielt, was der Name versprach: Um 19.47 Uhr bekamen wir unser Essen. Um 19.53 Uhr waren wir fertig und begaben uns in den Tagungsraum. Um 19.56 Uhr begab sich Siggi zur Toilette, wo er sich weitere sechzig Sekunden später übergab. Um 19.58 Uhr ereilte mich das gleiche Schicksal mit dem kleinen Unterschied, daß ich es leider nicht ganz bis zur Toilette schaffte. In diesem Zusammenhang fand ich es etwas geschmacklos, daß ausgerechnet in dem Moment, als ich würgend auf dem Boden vor der Toilette hockte, Kurt mit unserem Gastsprecher vorbeikam und sagte: „Bruder Reinkømm, das ist Arno Nuehm, unser Lobpreisleiter.“ Die folgenden Stunden waren nicht gerade angenehm. Nachdem wir uns vorübergehend erholt hatten, konnten wir mit etwa zehnminütiger Verspätung den Gottesdienst beginnen. Ich mußte mich allerdings nach der ersten Strophe von „Ihr Sünderlein kommet“ erneut in Richtung WC verabschieden. Auf dem Rückweg kam Siggi mir im Laufschritt entgegen. Glücklicherweise beherrschte Elke einige Akkorde auf der Orgel und hatte zusammen mit Klaus das Lied zu Ende gebracht. Von unserem nächsten Evangelisationslied mit dem Titel „Heute bist du dran“ schaffte ich allerdings auch nur zwei Verse, bis ich wieder raus mußte. In meinem Zustand konnte ich unmöglich in den stickigen Tagungsraum zurück. Deshalb ging ich vor die Tür, um mich zu erholen. Die frische Luft vor dem Hotel war gut gegen die Übelkeit, und ich war besonders froh, als Gitti nach draußen kam. „Was ist denn los mit dir?“ fragte sie besorgt. „Du bist ja völlig bleich.“ „Mir ist schlecht“, sagte ich. Gitti nahm meine Hand, und sofort fühlte ich mich etwas besser. Als erfahrene Krankenschwe-
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ster wußte sie, daß der Abend für mich gelaufen war. Ich wollte mich damit nicht abfinden, da ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie unsere Gemeinde ohne mich klarkommen sollte. Gitti ging trotzdem rein, um meine Jacke zu holen, und brachte kurz danach Siggi mit nach draußen, den sie in relativ hilflosem Zustand vor der Toilette aufgegabelt hatte. „Ich werde euch jetzt nach Hause fahren“, sagte sie, und keiner von uns hatte die Kraft, ihr zu widersprechen. Gitti nahm Siggi mit in unsere Wohnung, weil sie ihn nicht alleine lassen wollte. Da Stefanie bei meinen Eltern war, wurde Siggi im Kinderzimmer einquartiert. Ich möchte die folgende Nacht nicht in Einzelheiten wiedergeben, aber Gitti hatte jedenfalls alle Hände voll zu tun, und am nächsten Morgen waren wir alle drei ziemlich erschöpft. Immerhin hatte sich die Lage bei Siggi und mir insoweit entspannt, daß die Nahrungsmittel mittlerweile wieder ihren üblichen Weg nahmen, allerdings in stark verdünnter Form. Das Chaos wurde nahezu perfekt, als Wolfgang Holbein bei uns anrief und erzählte, daß Elke nach der gestrigen Evangelisationsveranstaltung ebenfalls ein Omelett probiert hatte und seitdem unter ähnlichen Symptomen litt. Dadurch war Klaus Tralisch das einzige gesunde Mitglied unseres Lobpreisteams. Da ich vermeiden wollte, daß er die Gelegenheit für einen seiner gefürchteten gemeinsamen Auftritte mit Thea ausnutzte, mußte ich mich auf jeden Fall zum Hotel quälen, um die Leitung zu übernehmen. Mein Darmtrakt war immer noch in Aufruhr, und deshalb lernte ich unseren Gastprediger zunächst nur flüchtig zwischen zwei Toilettengängen kennen. Bruder Lasse, wie er sich nennen ließ, machte auf mich einen sehr sympathischen Eindruck. Leider sprach er nur eine Mischung aus Schwedisch und Englisch, und da ich davon nicht allzuviel verstand und unser Übersetzer Kent Anderstend gerade nicht da war, konnte ich nur zustimmend nicken und „yes“ sagen. Als ich kurz vor dem Gottesdienst zum dritten Mal innerhalb einer Stunde die Toilette aufsuchen mußte, fragte ich mich, ob
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bekannte Fernsehprediger wie Billy Gairvine aus Oklahoma eigentlich auch mal Probleme mit der Verdauung haben. In diesen Gedanken wurde ich jedoch durch Günter Siekmann gestört, der von draußen an die Toilettentür klopfte und rief: „Arno, bist du da drin?“ Ich antwortete zunächst nicht und hielt die Luft an. Da Günter jedoch zu den Leuten gehörte, die nicht locker lassen, klopfte er an die Nachbarkabine und wiederholte seine Frage. Von dort hörte man jedoch nur ein mürrisches Brummen: „Nein, ich heiße nicht Arno!“ Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Ich mußte einen Moment überlegen, aber dann durchzuckte mich ein Gedanke wie ein Blitz: Kollege Steinhage! Ich wußte nicht, wie es möglich war, daß dieser Mensch aus der Versandabteilung meiner Firma zu dieser Zeit an diesem Ort war, aber es gab keinen Zweifel. Ich nahm mir vor, ihn irgendwann zu fragen, ob er jemals etwas anderes tat als auf der Toilette zu sitzen. Aber in diesem Moment mußte ich zunächst versuchen, die Situation möglichst würdevoll zu überstehen. Die Tatsache, daß Günter draußen lauerte, machte meine Lage nicht gerade angenehmer, und deshalb verhielt ich mich wie ein Christ – ganz ruhig. Leider bemerkte ich zu spät, daß Günter sich hingekniet hatte, um mich anhand meiner Schuhe zu identifizieren. Ich zog zwar noch schnell meine Füße hoch, aber er hatte mich schon entdeckt. „Also bist du doch da drin“, sagte er und begann vor meiner Kabine für spontane Heilung zu beten. Die Angelegenheit wurde mir doch etwas unangenehm, als Günter rief: „Durchfall, ich befehle dir zu verschwinden!“ Da ich mir weitere Peinlichkeiten ersparen wollte, blieb ich in meiner Kabine, bis Günter und Steinhage die Toilette verlassen hatten. Wir begannen deshalb den Gottesdienst wieder mit leichter Verspätung. Elke war ebenfalls trotz ihres schlechten Gesundheitszustands gekommen. Ich übergab ihr die stellvertretende Leitung für den Fall, daß ich zwischendurch noch mal raus mußte. Dadurch konnte ich sicherstellen, daß Klaus und Thea
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nicht zu einer ihrer Tanz- und Gitarreneinlagen kamen. Wir hatten nämlich zwei gemeindefremde Gäste, und ich wollte nicht, daß sie schon vorzeitig gehen. Ich entschied mich für das Lied „Die Gnade ist für jeden“, um unsere potentiellen Bekehrungsopfer zunächst in Sicherheit zu wiegen und dann mit „Wer heut’ nicht will, kommt auf den Grill“ zuzuschlagen. Da ich kurz vor Schluß des Liedes ein Glänzen in den Augen der beiden zu sehen glaubte, hatte ich meine Aufgabe erfüllt. Unser Evangelist mußte im Prinzip nur noch „den Sack zumachen“. Ich ging zu meinem Platz mit dem sicheren Gefühl, wieder mal eine Glanzleistung für den Herrn und meine Gemeinde abgeliefert zu haben. Gitti schien ähnlicher Ansicht zu sein, denn sie sagte: „Für ein Lobpreisteam mit Durchfall habt ihr ganz gut gespielt.“ (Nur um noch mal darauf hinzuweisen: Als geistlicher Leiter lege ich natürlich keinerlei Wert auf die Anerkennung von Menschen und registriere deshalb solche positiven Äußerungen lediglich als Ermutigungen für meinen beschwerlichen Dienst.) Bruder Reinkømm, der nach Kurts Begrüßung mit seiner Predigt begann, hatte wirklich einiges drauf. Seine Botschaft war so mitreißend, daß ich es manchmal schon fast bedauerte, mich bereits vorher bekehrt zu haben. Seine – wie wir in christlichen Kreisen sagen – lebhafte Verkündigung sorgte dafür, daß wir alle sehr aufmerksam zuhörten und Günter bei jedem zweiten Satz „Amen“ sagte. Zwischendurch hätte ich eigentlich noch mal dringend auf die Toilette gemußt, aber da unser Prediger gerade dafür gebetet hatte, daß alles Böse aus dem Raum zu verschwinden habe, wollte ich doch lieber bleiben. Der abschließende Bekehrungsaufruf mit meiner Orgelbegleitung war wirklich vom Allerfeinsten. Nachdem Bruder Lasse mir wie verabredet zugenickt hatte, ging ich nach vorne und begann mit einem verminderten A-Dur. Der nahezu perfekte Wechsel über D-Dur nach E-Septime mit einem Hauch von fis-Moll hätte auch den übelsten Sünder zur Umkehr gebracht. Wirklich schade, daß die beiden Fremden schon den
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Raum verlassen hatten und deshalb gar keine Sünder mehr da waren. Am dritten Abend hatte sich auch Siggi so weit erholt, daß er wieder mitmachen konnte. Er wollte zwar zunächst wieder nach Hause gehen, denn er fühlte sich etwas erschöpft, nachdem unsere Fürbittegruppe über ihn hergefallen war. Aber schließlich konnte ich ihn überreden zu bleiben. Wir taten unser Bestes und spielten als Schlußlied den alten Bekehrungsschlager: Was ist, wenn dich heute noch ein Auto überrollt? Oder dich ein Blitz durchzuckt mit hunderttausend Volt? Wenn du aus dem zwölften Stock gleich aus dem Fenster kippst? Oder aus Versehen etwas Zyankali nippst? Refrain: Komm! Komm! Komm! Sag „ Ja!“ und werde Christ! Denn wenn du erst einer von uns bist, wirst du sehn, wie schön das Leben ist. Sei kein Frosch, der sich ver … drückt! Was ist, wenn die Sprosse deiner Leiter nicht mehr hält? Oder einem Rockerclub dein Lächeln nicht gefällt? Was ist, wenn dein Zug zur Arbeit morgen früh entgleist? Oder dir ein Hund in deine Halsschlagader beißt? Komm! Komm! Komm! … Ich bin ganz sicher, daß Hunderte von Heiden zum Glauben gekommen wären, wenn sie an der Veranstaltung teilgenommen hätten. Immerhin konnten wir als Erfolg verbuchen, daß ein älterer Herr erst beim Aufruf zur Entscheidung mitbekam, daß dieses Treffen nicht die Versammlung des Stadtrates über die Abstimmung zur Umgehungsstraße war.
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Die vierte Veranstaltung mußte leider ausfallen, da Bruder Lasse dummerweise am Vorabend Appetit auf ein Omelett gehabt hatte. Aber wir nahmen uns vor, im nächsten Jahr wieder eine Evangelisation zu machen, und dann wollte ich vielleicht sogar Wilfried Watermeier einladen! … naja, das wohl doch nicht.
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FRIEDE
AUF
ERDEN
Gitti und ich hatten – wie in jedem Jahr – vereinbart, uns zu Weihnachten nichts zu schenken. Wir wollten uns – wie in jedem Jahr – nicht diesem weltlichen Konsumrausch aussetzen und hatten deshalb nur etwas für Stefanie besorgt (und natürlich für die Eltern, Schwiegereltern, Tante Hedwig, Onkel Jochen, Gittis Schwester Silke und ihre Cousine Bettina, meinen Bruder Werner und seine Frau Heidi sowie Paul und Katarina Gossa, Wolfgang und Elke Holbein und selbstverständlich ein kleines Gemeindekarriereförderungsgeschenk für Käthe und Kurt). Ich hatte mir natürlich – wie in jedem Jahr – trotzdem etwas für Gitti ausgedacht, um ihr – wie in jedem Jahr – meine Liebe zu beweisen. Ehrlich gesagt konnte ich Männer noch nie verstehen, die viel Geld in Schmuck oder ähnlich sinnlose Dinge investieren. Da ich eher zu den Menschen zähle, die Liebe mit Nützlichkeit verbinden, kaufte ich einen neuen Wäschekorb und als Zugabe eine Kaffeemaschine. (Gitti trinkt zwar meist keinen Kaffee, aber sie kocht welchen für mich.) Unsere diesjährige Weihnachtsfeier in der Gemeinde sollte von allen Gruppen gemeinsam gestaltet werden. Unter der Leitung von Käthe probten die Kinder seit Wochen ihr obligatorisches Krippenspiel. Sara, die Tochter von Paul und Katarina, hatte sich standhaft geweigert, die Maria zu spielen und dabei mit „ Josef “ eine Herberge suchen zu müssen. „Ich gehe nicht mit blöden Jungens durch die Gegend und schon gar nicht mit ’nem Kissen unter dem Pullover!“ Die Rolle wurde schließlich von Heidi Burmann, der übergewichtigen kleinen Schwester des übergewichtigen Jens Burmann, gespielt. Sie brauchte kein Kissen, um schwanger auszusehen, und ihre ebenfalls übergewichtigen Eltern, Hannelore und Reinhold Burmann, waren mächtig stolz. Unsere Stefanie war mit ihren knapp vier Jahren noch zu klein für eine Hauptrolle. Sie durfte ein Schaf spielen und